Der Scheuklappen-Effekt

Wer Scheuklappen trägt, den erschreckt nichts, was abseits seines Weges liegt. Für Pferde ist das im Allgemeinen eine gute Sache. Beim Menschen nicht immer.

Dass auch er Scheuklappen trägt, hat einen einfachen Grund: Er muss mit begrenzten mentalen Ressourcen zurechtkommen: Sein Gehirn hat nun einmal eine begrenzte Kapazität für die Speicherung und die Verarbeitung von Informationen. Der von den Sinnesorganen erfasste Informationsfluss ist um viele Millionen Male größer als das, was er wahrnehmen kann. Er muss den Scheinwerfer seiner Aufmerksamkeit auf das momentan jeweils Wichtigste ausrichten – eine im Grunde gute Sache.

Zuweilen empfiehlt es sich, die Scheuklappen abzusetzen. Nur wann? Die folgenden Beispiele geben Hinweise.

Das Neun-Punkte-Problem

Ich beginne mit einer Denksportaufgabe. Sie werden das Problem kennen: Gegeben sind neun im Quadrate regelmäßig angeordnete Punkte. Je drei nebeneinander, je drei untereinander. Diese Punkte sind in einem Zug durch vier gerade Linien zu verbinden.

Erstaunlicherweise vereinfacht sich die Lösungssuche, wenn Sie zwei weitere Punkte hinzunehmen: Einen Punkt zusätzlich in der ersten Zeile und einen in der ersten Spalte. Das Punktemuster sieht nun so aus:

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Eine Lösung ist leicht zu finden: Zuerst verbindet man die Punkte der ersten Reihe und zieht den Stift von links nach rechts, dann folgt die Diagonale von rechts oben nach links unten. Danach geht es senkrecht nach oben zurück zur ersten Zeile. Schließlich zieht man von links oben zum Punkt rechts unten. Fertig. Mit dem Elf-Punkte-Problem ist natürlich auch das Neun-Punkte-Problem gelöst.

Warum ist es bei den neun Punkten so schwer, die Lösung zu finden, und warum ist es bei den elf Punkten so leicht? Einfach weil der Denksportler bei der ursprünglichen Aufgabe die Scheuklappen absetzen muss. Er muss seinen Blick weiten und erkennen, dass er zur Lösungsfindung den vorgegebenen Rahmen, der durch die neun Punkte abgesteckt ist, verlassen darf.

Verzerrte Stichproben

Mit der Statistik wird viel Schindluder betrieben. Spektakuläres und stimmige Storys engen das Blickfeld ein. Ich berichtete darüber im Artikel Proben mit Stich.

Besonders dreist geschieht das bei den sogenannten TED-Umfragen, die von den Tageszeitungen, dem Rundfunk oder auch im Internet initiiert werden. Niemand weiß etwas über den Teilnehmerkreis einer solchen Umfrage, nur die Antworten sind bekannt. Das Ergebnis solcher Umfragen ist genauso interessant und informativ wie das wöchentliche Horoskop.

In einem Fall wurde um Antwort gebeten auf die Frage „Glauben Sie an (den christlichen) Gott?“ Für die Antwort konnte aus fünf Abstufungen gewählt werden. Fast alle Teilnehmer wählten eine der beiden Extremantworten: Ja oder Nein. Die Agnostiker waren zusammen mit den Wachsweichen der einen oder anderen Neigung klar in der Minderheit. Man sieht: Um sich zur Teilnahme aufraffen zu können, braucht man schon etwas Enthusiasmus. Der ist sowohl bei den Gläubigen als auch bei den Atheisten offenbar vorhanden. Wahrlich keine weltbewegende Erkenntnis.

Ebenso unsinnig ist es, die Besucher eines Kneipenviertels danach zu fragen, wie oft sie hierher kommen und dann deren Antworten zum Maßstab der Beliebtheit des Viertels zu machen. Da man nur die fragen kann, die da sind, müssen die Vielbesucher in der Stichprobe zwangsläufig überrepräsentiert sein.

Risikofaktoren

Im Artikel über Wundersame Geldvermehrung erzähle ich von einem Politiker, der uns weismachen will, dass der Ankauf von Staatsanleihen ursächlich für den Zusammenbruch einer Währung ist. Nach derselben „Logik“ könnte man aus der Tatsache, dass den meisten Auto-Karambolagen eine Vollbremsung vorausgeht, folgern, dass die Vollbremsung ein Risikofaktor ist und deshalb besser unterbleiben sollte.

In dem Artikel können Sie auch sehen, wie professionelle Unfallforscher zum Opfer des Scheuklappeneffekts werden. Das geschieht beispielsweise dann, wenn bei der Analyse von Unfallursachen nur die tatsächlichen Unfälle in Betracht gezogen werden. Charles Perrow stellte anhand einer Statistik fest, dass bei einer Reihe von Schiffszusammenstößen in den meisten Fällen ein Ausweichmanöver vorausgegangen ist. Er macht dann die Ausweichmanöver für die Kollisionen verantwortlich. Das ist zu eng gesehen.

In Weitwinkelperspektive geraten auch die Beinaheunfälle ins Blickfeld, die durch Ausweichmanöver verhindert worden sind. Das Urteil, dass Ausweichmanöver ein Risikofaktor sind, relativiert sich dann.

Patientenzufriedenheit

Eine Studie zur Patientenzufriedenheit ermittelte für zufällig ausgewählte Arztpraxen das Verhältnis aus erzielter Zufriedenheit in Relation zu den Anforderungen der Patienten. Die Einschätzungen der Ärzte und Medizinischen Fachangestellten wurde mit dem Ergebnis einer Patientenbefragung abgeglichen.

Die Patientenbefragung ergab einen Durchschnittswert von 48,6%. „Die in den Praxen arbeitenden Ärzte gingen davon aus, eine Betreuungsqualität von 81,4% zu erzielen, also nahezu das Optimum. Das Personal zeigte sich hingegen mit einer mittleren Einschätzung von 53,9% deutlich kritischer.“

Der Bericht über die Studie trägt die Überschrift „Der Scheuklappen-Effekt: Gravierende Diskrepanzen zwischen Eigen- und Fremdbild in Arztpraxen“.

Ballerspiele für Terroristen und Amokläufer

Dem Bericht „Unter Beschuss“ der Zeitschrift Stern vom 4.8.2016, S. 112-115, entnehme ich: Der 18-Jährige, der vor Kurzem in München neun Menschen erschoss, hatte Shooter-Spiele auf seinem Computer, ebenso die Schützen von Littleton (1999), der Menschenjäger auf der Insel Utøya, die Jugendlichen, die 2002 in Erfurt und 2009 in Winnenden insgesamt 27 Menschen töteten.

Der Schluss liegt nahe, dass Ballerspiele auf dem Computer Böses mit sich bringen, dass sie ursächlich für die Taten sind.

Weiten wir den Blick. Virtuelle Ballerspiele werden immer beliebter. Heute werden sie von etwa 17 Millionen Deutschen gespielt. So steht es in dem Stern-Artikel. Die Zahl der Tötungsdelikte sank in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten auf weniger als die Hälfte. Ein möglicher negativer Einfluss von Ballerspielen wird offensichtlich durch mildernde Effekte überdeckt. Vielleicht gibt es diesen negativen Einfluss gar nicht.

Will man etwas über die Kausalbeziehung zweier Erscheinungen erfahren, sollte man immer in Betracht ziehen, dass ein Drittes die gemeinsame Ursache beider Erscheinungen sein kann. Das ist eine einfache Technik der Blickfelderweiterung.

Der Stern hat Experten zu den Einflussfaktoren, die Gewaltbereitschaft betreffend, befragt und ein paar Antworten erhalten: Traumata, Flucht, Vergewaltigung, geraubte Kindheit, genetische Veranlagung. „Die Biografien und Befunde jener Täter, deren Gewaltakte uns einfach nicht in den Kopf wollen, legen tiefe seelische Wunden und womöglich auch psychische Deformationen als hauptsächliche Ursachen nahe. […] Es leuchtet ein, dass jemand, der das Leiden anderer als Befriedigung erlebt, auch Spaß am virtuellen Töten haben kann. Der Umkehrschluss hingegen gilt nicht – wer ‚Counter-Strike‘ mag, ist nicht schon Sadist.“

Prognosen: Laien schlagen Experten

Der Spiegel (33/2016, S. 124-125) berichtet unter der Überschrift „Anleitung zum Wahrsagen“, dass gerade die Gurus eines Fachgebiets mit ihren Prognosen daneben liegen. Mehrere Gründe werden gesehen.

Der Experte hat seine Theorie, mit der er steht und fällt. Er ändert sie möglichst nicht, da er Gesichtsverlust befürchtet. Er trifft auf Menschen, die jede Erklärung begierig aufgreifen, die ihnen halbwegs stimmig erscheint. Eine gute Geschichte oder eine halbwegs plausible Analogie stellen sie zufrieden. Außerdem haben die Menschen ein ziemlich schlechtes Gedächtnis, was die Prognosen der Vergangenheit angeht. Die Treffergenauigkeit eines Experten wird daher kaum infrage gestellt. Alles zusammen fördert den Rechthaber-Mechanismus. „Je bekannter ein Experte ist, desto schlechter sind seine Prognosen.“ So zitiert der Spiegel den Psychologen und Politikwissenschaftler der University of Pennsylvania Philip Tetlock.

Sie ahnen es schon: Es liegt an der Blickverengung. Vielleicht aber haben Sie auch noch andere Erklärungen.

Tetlock stellte den Expertenaussagen die Aussagen von Laien gegenüber. Unter diesen Laien gab es Superprognostiker, die besser abschnitten als beispielsweise die Analysten der Geheimdienste. Was zeichnet sie aus? „Sie lesen viele Bücher, sie informieren sich vorrangig aus sogenannten Qualitätsmedien, sie können gut mit Zahlen umgehen. Und sie zählen zu den intelligentesten 20 Prozent der Bevölkerung. Aber: Sie sind, gemessen an ihrem Intelligenzquotienten, keine Genies.“ Philip Tetlock charakterisiert die erfolgreichen Prognostiker als offen, vorsichtig, selbstkritisch und bescheiden. Sie nutzten die Meinungsvielfalt der Masse und sie kombinierten die verschiedenen Perspektiven. Und das geschehe in einem einzigen Kopf.

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