Corona-Impfung: Risikoreduktion relativ und absolut

Im letzten Hoppla!-Artikel Impfen: Intuition und Reflexion sprach ich vom abenteuerlichen Jonglieren mit Risikomaßen durch Impfgegner. Bei Christian Felber klingt das so: „Die Wirksamkeit der Impfung kann unterschiedlich dargestellt werden. Die Wissenschaft unterscheidet zwischen Relativer Risiko-Reduktion (RRR) und Absoluter Risiko-Reduktion (ARR).“ Beistand holt er sich vom renommierten Medizinjournal The Lancet: „Je nachdem, wie der Effekt dargestellt wird, ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild.“  Und weiter: „ARRs werden üblicherweise ignoriert, weil sie eine deutlich weniger beeindruckende Wirkung ergeben als RRRs: 1,3% für die Impfung von AstraZeneca–Oxford, 1,2% für Moderna–NIH, 1,2% für J&J, 0,93% für Sputnik V/Gamaleya, und 0,84% für Pfizer–BioNTech.“

Das soll heißen: Staatliche Stellen werben für ihre Corona-Impfkampagnen mit Angaben zur relativen Risikoreduktion, weil sie beschönigend wirken. Die Angabe der absoluten Risikoreduktion würde demgegenüber den Leuten die Augen öffnen und zeigen, dass die Impfwirksamkeit die Nebenwirkungen nicht aufwiegen kann.

Sabine Weiler vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung zitiert im Dezember 2020 eine BioNTech-Studie:  „BioNTech berichtete, dass insgesamt etwa 43.000 Menschen an der Studie teilnahmen, etwa die Hälfte davon wurde geimpft und die andere erhielt ein Placebo. Sieben Tage nach der zweiten Dosis gab es insgesamt 94 bestätigte Covid-19 Fälle. Im Studienprotokoll von Pfizer findet man die Definition der Wirksamkeit: Hierzu wird der Anteil der Covid-19-Fälle in der Impfgruppe dividiert durch den Anteil der Covid-19-Fälle in der Kontrollgruppe. Dieser Wert wird von 1 abgezogen und mit hundert multipliziert, so dass man es bequem in Prozenten ausdrücken kann. Daraus folgt, es muss in der Impfgruppe 8 Fälle und in der Placebogruppe etwa 86 Fälle gegeben haben, was einer Reduktion von rund 90 Prozent entspricht (bei den 95 Prozent waren es dann 8 versus 156 Fälle).“

Die absolute Risikoreduktion (ARR) beträgt (86-8)/(43.000/2), ist also gleich 0,36%. Sie bezieht sich auf alle Studienteilnehmer. Demgegenüber ist die relative Risikoreduktion (RRR) gleich 1-8/86, und das sind mehr als 90%. Sie bezieht sich ausschließlich auf die Covid-19-Fälle.

Die Aussagekraft der verschiedenen Risikomaße verdeutlicht Gerd Gigerenzer in seinem Buch Risiko. Er zeigt, dass bei seltenen Krankheiten das absolute Risiko das geeignete Maß ist, insbesondere wenn die Gegenmaßnahmen mit großen Nebenwirkungen verbunden sind.

Im Falle Corona geht es aber um eine Pandemie. Ohne Gegenmaßnahmen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit jeder Bürger betroffen. Die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen, insbesondere Impfen, wird hier am besten auf der Basis des relativen Risikos verdeutlicht. Etwas Schulmathematik hilft, das einzusehen.

Wie im Hoppla!-Artikel Wirksamkeit der Impfungen gegen Corona bezeichne ich die Hospitalisierungswahrscheinlichkeit (das Hospitalisierungsrisiko) der Geimpften mit x und das der Ungeimpften mit y. Die absolute Risikoreduktion ist gleich yx und die relative gleich 1-x/y. Letztere wird hier im Hoppla!-Blog als Impfwirksamkeit bezeichnet.

Wir haben momentan bundesweit eine 7-Tage-Hospitalisierungsinzidenz von etwa 6 (Hospitalisierte je Woche und je 100.000 Einwohner). Bei einer angenommenen Durchbruchquote von d = 6% und einer Impfquote von q = 60% errechnen sich die Hospitalisierungswahrscheinlichkeiten zu etwa x = 0,000006 und y = 0,000141 (Werte korrigiert am 2.12.21).

Die absolute Risikoreduktion für Hospitalisierung beträgt für eine Woche demnach 0,000141 – 0,000006. Das ist gleich 0,000135. Die relative Risikoreduktion für denselben Zeitraum ist gleich 1 – 0,000006/0,000141 = 0,96 = 96%. (Dass in The Lancet auch die absolute Risikoreduktion in Prozenten angegeben wird, ist nicht falsch aber irreführend. Es werden Wahrscheinlichkeiten  voneinander abgezogen. Es ist möglich, aber nicht üblich, diese in Prozent anzugeben.)

Die absolute Risikoreduktion lässt die Impfung nicht gut aussehen. Das Bild ist aber nicht komplett. Es berücksichtigt nur eine einzige Woche. Wenn die Hospitalisierungswahrscheinlichkeiten in der Folgewoche etwa gleich aussehen, dann verdoppeln sich die Hospitalisierungswahrscheinlichkeiten für den Zweiwochenzeitraum in etwa und damit auch ihre Differenz. Das heißt, dass mit einer Vergrößerung des Betrachtungszeitraums die absolute Risikoreduktion größer wird, in etwa proportional zur Länge des Betrachtungsintervalls. Die Impfung erscheint auch absolut gesehen in einem immer besseren Licht.

Beim relativen Maß wirkt sich die Vergrößerung im Zähler wie im Nenner des Bruchs in etwa gleich aus. Sie kürzt sich heraus. Das Maß eignet sich für das Monitoring der Impfmaßnahmen. Es ist weitgehend unabhängig von der Größe des Betrachtungsintervalls.

Da in der Pandemie mit einem großen und vorab unbestimmten Zeitraum zu rechnen ist und da die Randbedingungen sich über den Verlauf der Pandemie fortlaufend ändern, scheidet das absolute Maß für ein Monitoring der Impfwirksamkeit aus.

Literaturhinweis

Gigerenzer, Gerd: Risiko. Wie man richtige Entscheidungen trifft. Bertelsmann, München 2013

Weiler, Sabine: Unstatistik des Monats: Der Impfstoff ist „zu 90 Prozent wirksam“. https://www.rwi-essen.de/unstatistik/109/ (www.unstatistik.de, 02.12.2020 11:49)

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