Angela Merkels Buch Freiheit habe ich mir sofort nach Erscheinen am vergangenen Dienstag, den 26.11.24 besorgt. Mehr als den Prolog habe ich noch nicht geschafft, denn der Wälzer braucht Zeit. Die werde ich mir nehmen. Schon die auch bei mir auf DDR und BRD aufgeteilte Biografie schafft Verbundenheit.
Einmal, so erinnere ich mich, habe ich Angela Merkel auch gewählt. Ich bin halt Wechselwähler. Jedenfalls fand ich seinerzeit, dass sie einiges richtig gemacht hat: Im nachbarschaftlichen Verhältnis zu Russland und in der Flüchtlingskrise 2015/2016. Ihren Gebrauch des Wortes „alternativlos“ fand ich aber schon immer grässlich. Dann kamen die AfD und Putins Angriffskrieg. Die „Wahrheit“ wurde neu kalibriert.
Abgesehen vom Prolog ist mein Informationsstand zum Buch gegeben durch die Videos der Interviews mit Anne Will am Vortag und am Tag der Buchvorstellung im Deutschen Theater.
Was mich heute schon zu einem Artikel provoziert, sind die stante pede erschienenen 38 Rezensionen bei Amazon – so der Stand heute, zwei Tage nach Erscheinen des Buches.
Über die Hälfte davon sind Verrisse in dieser Tonlage:
Wie banal kommt sie daher, ohne kritische Reflexion, ohne ein Eingeständnis ihrer Fehler.
Eine andere:
Merkel vermeidet konsequent, Fehler einzugestehen. Weder die umstrittene Energiewende noch die Herausforderungen der Eurokrise oder die Polarisierung der Gesellschaft durch ihre Migrationspolitik werden kritisch beleuchtet.
Es geht noch toller:
Sowohl der Titel als auch der Preis für dieses Schundwerk sind eine Frechheit.
Auf der Gegenseite heißt es:
Einen so tiefen und ehrlichen Einblick, ohne sich zu bemitleiden oder zu bejubeln, habe ich selten seitens eines Politikers gelesen.
Und:
Frau Merkel war das beste Staatsoberhaupt das wir je hatten.
Den meisten Rezensenten geht es nicht um das Buch, sondern um die Politik. Sie müssen das Buch also gar nicht gelesen haben. Die Rezensionen spiegeln Zerrissenheit und Polarisierung unserer Gesellschaft. Darin sind die USA Vorreiter und kein gutes Vorbild.
Der Tumult um das Buch führt uns einen weiteren Irrtum vor Augen, nämlich das, was ich die Erinnerungsfalle nenne. Der Volksmund sagt: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Die Verzerrung der Wirklichkeit kann sich in die eine oder die andere Richtung auswirken, als Beschönigung oder als Übertreibung. Dabei ist das, was man im Nachhinein für falsch hält, oftmals nur ein ganz Normaler Irrtum. Ich neige dazu, auch die Nord Stream Pipeline für einen solchen zu halten. Was das Buch selbst angeht, werde ich mich später noch einmal melden.
Ich persönlich habe Sichtweisen von Frau Merkel geschätzt. So wie ich übrigens auch manche Sichtweisen der Herren Gysi, Lafontaine oder Scholz („Friedenskanzler“) schätze.
Für mich war Frau Merkel fast so etwas wie eine „Staatspsychiaterin“. Sie konnte gut mit Menschen umgehen. Vermutlich weil sie in einer Pfarrersfamilie aufgewachsen ist und ihr Vater auch noch eine Einrichtung für „psychisch beeinträchtigte“ Menschen in der DDR leiten musste….
„Alternativlos“ bedeutet in christlich humanitären Kreisen nicht dass es keine „Alternativen“ gibt, sondern dass bestimmte „Alternativen“, die hauptsächlich mit „Brutalität und Gewalt“ zu tun haben, „verpönt“ sind, nicht einmal „angedacht“ werden sollten.
Griechenland bekam zwar eine „ordentliche Kopfwäsche“, die allerdings recht erfolgreich schien. Sie haben sich erholt und soweit ich das mitbekommen habe, ihre Schulden sogar vorzeitig zurückgezahlt….
Die Erpressungsstrategie der Invasoren (z.B. 2015 auf einem ungarischen Bahnhof) konnte praktisch nicht mit brutaler Gewalt, (wie sie Nazis bevorzugen), abgewendet werden, sondern nur mit „subtilen Optionen“ (z.B. „Türkei Deal“) beantwortet werden.
Vor vielen Jahren habe ich von einem Theologen (Religionslehrer) erfahren, dass das Konzept der „Nächstenliebe“ noch lange nicht bedeutet, dass man damit gezwungen wird sich „planmäßig ausnehmen“ lassen zu müssen…..
Wie B. Luckes Kampf gegen die „Alternativlosigkeit“ (vorerst) geendet hat, haben wir gesehen, seine neue Partei wurde einfach gekapert….
Nun bin ich dabei, das Buch kreuz und quer zu lesen. Die Sätze sind prägnant und lassen den Humor der Angela Merkel durchscheinen. Das ist Zeitgeschichte von einem Insider und das zu lesen, ist ein Gewinn. Für den einen oder anderen Leser mag das Lesevergnügen beeinträchtigt sein, da es sich auch um eine Rechtfertigungsschrift handelt.
Eine Denkfalle ist, „im Nachhinein ist man immer schlauer“ zu rufen, wenn einem im Vorhinein Leute die ganze Zeit ins Gesicht gesagt haben, dass etwas schief läuft und man das ignoriert hat. Das nennt man Rationalisierung.
@ Pablo
Es ist nun wirklich nicht überraschend, dass es bereits damals welche gab, die es besser wussten, besonders diejenigen, die aus damaliger Sicht Leidtragende der Entscheidung waren.
Die Frage ist doch, wie deutlich die Warnzeichen waren und ob sie ernst genommen wurden. Und ja: Merkels Biografie ist in Teilen eine Apologie und muss im Prozess der Nachbereitung ihrer Amtszeit als solche gesehen werden.
Aber auch ohne inhaltliche oder gar moralische Bewertung lässt sich ein Grundmechanismus ausmachen: Stets existiert eine Vielzahl von alternativen Prognosen. Manche realisieren sich, und andere eben nicht. Mit dieser Erkenntnis kann man es gar zum Börsenguru bringen.