Wenn sich zwei Gruppen von Biologen einander angiften, dann kann der durch Karl Raimund Popper geschulte Ingenieur nur verwundert zusehen. Er wird keine Partei ergreifen. Aber er kann sich den Stein des Anstoßes etwas näher ansehen.
Der Streit zwischen der Nature-Fraktion, repräsentiert durch Richard Dawkins, und der Nurture-Fraktion, repräsentiert durch Edward Osborne Wilson, kam im Laufe der Diskussion des letzten Artikels ausgiebig zur Sprache.
Im Diskussionsfaden wird die Meinung vertreten, dass Edward Osborne Wilson das von ihm selbst geschaffene Gedankengebäude der Soziobiologie zum Einsturz gebracht habe. Nach dieser Auffassung
hat Wilson die Verwandtenselektion seit 2010 und vor allem in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Erde” eindeutig und komplett falsifiziert, ganz nach der von mir glaube ich auch schon mehrfach vorgebrachten Aussage: „Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ (Wilson 2013, S. 68)
Der Anlass
Stein des Anstoßes ist ein Nature-Aufsatz vom August 2010: The evolution of eusociality. Martin A. Nowak, Corina E. Tarnita & Edward O. Wilson.
Darum geht es: Wie kann sich Altruismus, allgemeiner gesprochen: soziales Verhalten, in einer Welt entwickeln, die von egoistischen Genen regiert wird.
Darin wenden sich Wilson und Mitstreiter von der Gesamtfitnesstheorie und dem Prinzip der Verwandtschaftselektion ab. Sie räumen der kulturellen Evolution Vorrang vor der genetischen ein: Nurture besiegt Nature, zumindest dann, wenn es um die Evolution sozialen Verhaltens geht.
Das konnte dem Verkünder des egoistischen Gens, Richard Dawkins, nicht gefallen. Er wurde ausfällig wie beispielsweise in seiner berühmten Besprechung des Wilson-Buchs The Social Conquest of Earth.
Der Stil in diesem Streit ist unpassend, er geht wohl auf die uns angeborene Neigung zur Kontrastbetonung zurück. Es steht mir nicht zu, zu entscheiden, wer in diesem Streit mehr recht hat. Aber eins traue ich mir zu, nämlich die Bewertung, ob der Stein des Anstoßes wirklich Anlass bietet, die Theorie der Verwandtschaftsselektion für falsifiziert zu erklären.
Das statistische Argument
Gemäß dem Lehrbuchwissen wird das Sozialverhalten staatenbildender Insekten wie das der Bienen mit dem besonders hohen Verwandtschaftsgrad innerhalb dieser Völker erklärt: Haplodiploid-Hypothese. Wilson und seine Mitstreiter halten dagegen:
The association between haplodiploidy and eusociality fell below statistical significance.
Zwei Fragen drängen sich auf:
1. Wird durch Widerlegung einer speziellen Subtheorie (Haplodiploid-Hypothese) zugleich die sie überwölbende allgemeine Theorie der Verwandtschaftsselektion widerlegt?
2. Was ist, wenn trotz bester Fortpflanzungsmöglichkeiten die auslösende Mutation für Sozialverhalten ausbleibt?
Wilson und seine Mitstreiter berichten von Arten mit Haplodiploidie, die kein Sozialverhalten entwickelt haben. Das muss ja auch nicht sein, denn die Haplodiploidie ist für das Entstehen von Sozialverhalten keine hinreichende Bedingung. Andererseits kann neben weiteren Faktoren die Verwandtschaftselektion wirksam sein, auch wenn, wie bei den Termiten, keine Haplodiploidie vorliegt. Die Haplodiploidie ist also auch im Rahmen des gängigen Wissens keine notwendige Bedingung für die Entstehung von Sozialverhalten.
Also: Das statistische Argument kann mich nicht überzeugen, und das hat nichts mit Biologie zu tun, sondern allein mit Logik. Aber das ist ja noch nicht alles. Jetzt geht es erst richtig los mit der neuen Theorie.
Der Ansatz
Die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie beansprucht, eine vollständige Theorie der Entstehung des Sozialverhaltens (eusoziale Evolution) zu sein. Sie besteht aus einer Reihe von Stufen. Dazu gehören auf den untersten Stufen präadaptive Merkmale, die zu einer engen Gruppenbildung führen, ein verteidigbares Nest (defensible nest) und das Auftreten von Mutationen, die das Ausbreitungsverhalten unterdrücken.
Zu einer falsifizierbaren Theorie wird das natürlich erst, wenn man es weiter präzisiert. Das geschieht mit einem mathematischen Modell.
Das Modell
Die Welt ist nicht in unserem Kopf. Es ist die Vorstellung von der Welt, die in unserem Kopf ist. Damit kommen wir gut zurecht, weil die Vorstellungen zunehmend besser zu unserem Erfahrungen passen. Der Mathematiker macht die Vorstellungen zu Modellen, auf deren Basis der Informatiker blendende Simulationsexperimente macht. Wir erliegen leicht einer Täuschung, indem wir die Modelle für die Realität halten.
Damit sind wir bei der Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie: Sie besteht im Kern aus mathematischen Modellen, genauso wie die Theorie der inklusiven Fitness Basis der hamiltonschen Ungleichung ist.
Diese mathematischen Modelle beruhen auf mehr oder weniger plausiblen Annahmen. Eine Verifizierung oder Falsifizierung der Theorien ist anhängig.
Im Dokument konnte ich keine Stelle finden, wo die gewählten Modellstrukturen und Parameter mit irgendwelchen Erfahrungswerten oder Messungen abgeglichen wurden. Wir haben es mit Setzungen zu tun, die dazu dienen, das qualitative Verhalten von Populationsdynamiken zu reproduzieren.
Prognostischen Wert hat das alles nicht. Und danach wollen wir doch wissenschaftliche Theorien beurteilen, oder? In der Arbeit von Nowak, Tarnita & Wilson geht es immer nur um das Modell und nicht um das, was sich in der Natur tatsächlich abspielt.
Auch die Nützlichkeit dieser Art der Modellierung, nämlich Gleichungen und Differentialgleichungen für aggregierte Größen, stelle ich für den vorliegenden Zweck infrage. Dieser Ansatz wurde seinerzeit schon im Zusammenhang mit den Grenzen des Wachstums und bei Global 2000 kritisiert. Mir schien das damals vertretbar zu sein. Auch dem Selektionsprozess in der biologischen Evolution kann man so näher kommen.
Niemand aber wird wohl auf die Idee kommen, den Geistesblitz oder den schöpferischen Prozess mit Differentialgleichungen zu modellieren. Bei der Evolution sozialen Verhaltens traut man sich das aber zu. Ich habe den Verdacht, dass da eine Pseudowissenschaft entstanden ist.
Die Schlussfolgerungen
Die Autoren schreiben
If you have a theory that works for all cases (natural selection) and a theory that works for only some cases (kin selection) and where it works, it agrees with the general theory, why not simply use the general theory everywhere?
Das besagt doch nur, dass ihre Theorie – ob richtig oder falsch – die Verwandtschaftsselektion abdeckt. Es heißt nicht, dass sie diese widerlegt.
Ich bleibe bei meinem Urteil: Wilson hat die Verwandtschaftsselektion nicht falsifiziert. Damit ist auch die Titelfrage negativ beantwortet.
@Timm
Also zunächst einmal danke dafür, dass diese Auseinandersetzung unter dem vorherigen Blog-Thema noch einmal separat zum Thema gemacht wird.
Doch andererseits ruft Ihre Begründung dafür, dass Wilson seine Soziobiologie nicht falsifiziert haben soll, bei mir Erstaunen hervor. Für mich ist das so, als würde ein vom Dogma seiner Religion faszinierter Christ heute argumentieren, dass Kopernikus und Kepler das geozentrische Weltbild nicht falsifiziert haben. Dieser Argumentation nach hätten Kopernikus und Kepler zwar mathematische Modelle entwickelt, die die seltsamen Planetenbewegungen der Epizykel erklären, aber das heißt ja nicht, dass das geozentrische Weltbild damit falsch sei. Damit gibt es für diesen Christen keinen Widerspruch zur Bibel, das geozentrische Weltbild ist weiterhin gültig und wird für ihn durch Kopernikus und Kepler mit abgedeckt. Man muss ja nur zum Himmel schauen und die Bewegung der Sonne verfolgen, um das zu erkennen.
Doch nun zu einer konkreten Kritik an Ihrer These, dass Wilson seine Soziobiologie nicht falsifiziert haben soll. Zunächst einmal sagen Sie, dass Sie keine Partei ergreifen, doch das machen Sie am Schluss schon, und zwar sehr deutlich.
Vorher sagen Sie:
„Stein des Anstoßes ist ein Nature-Aufsatz vom August 2010: The evolution of eusociality. Martin A. Nowak, Corina E. Tarnita & Edward O. Wilson. […] Darin wenden sich Wilson und Mitstreiter von der Gesamtfitnesstheorie und dem Prinzip der Verwandtschaftselektion ab. Sie räumen der kulturellen Evolution Vorrang vor der genetischen ein: Nurture besiegt Nature, zumindest dann, wenn es um die Evolution sozialen Verhaltens geht.”
Das ist in meinem Verständnis falsch. Es geht in diesem Aufsatz gerade nicht um die kulturelle Evolution, die Wilson in seinem Buch der sozialen Eroberung der Erde als nicht-genetisch definiert (das sind zwei verschiedene Paar Schuhe), sondern hier allein darum, dass die Eusozialität (Staatenbildung als spezielle Form und Sonderfall des sozialen Verhaltens) allein mit der Standardtheorie der natürlichen, genetischen(!) Selektion erklärt werden kann.
„Die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie beansprucht” daher auch nicht, „eine vollständige Theorie der Entstehung des Sozialverhaltens (eusoziale Evolution) zu sein”, sondern sie sagt nur, dass es einfacher und vernünftiger ist, die Staatenbildung mit der Standardtheorie der natürlichen Selektion zu erklären, statt mit einer zusätzlichen Theorie der genetischen Evolution durch Verwandtenselektion. Altruismus gibt es daher nur durch die Gruppenselektion der Standardtheorie, nicht als Begründung einer neuen, zusätzlichen genetischen Evolution, wodurch, wie der vorletzte Satz der Zusammenfassung des Aufsatzes in Nature lautet, es so keinen „paradoxen Altruismus” gibt (als „krasser Widerspruch” bei Voland!), der darin erklärt werden muss. Im darauf folgenden letzten Satz dieser Zusammenfassung wird bemerkenswerterweise eine Verbindung zur Kopernikanischen Wende hergestellt: „Die Epizyklen der Verwandtenselektion und inklusiver Fitness verschwinden.”
Sie zitieren am Schluss dann den Teil des Aufsatzes, über den wir beim vorangegangen Blog-Artikel auch schon als Wilson-Zitat diskutiert hatten:
„If you have a theory that works for all cases (natural selection) and a theory that works for only some cases (kin selection) and where it works, it agrees with the general theory, why not simply use the general theory everywhere?”
Sie schlussfolgern daraus: „Das besagt doch nur, dass ihre Theorie – ob richtig oder falsch – die Verwandtschaftsselektion abdeckt. Es heißt nicht, dass sie diese widerlegt.”
Ich sehe es dagegen so wie die Erkenntnis, dass eine kaputte Uhr regelmäßig zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt. Durch diese Erkenntnis wird für Sie die kaputte Uhr nicht als kaputt erwiesen, da sie doch zum Teil richtig und wahr ist. In meinem Verständnis ist diese Uhr dagegen als kaputt falsifiziert, trotzdem sie zum Teil die wahre Zeit anzeigt. Eine richtig gehende Uhr muss stets die wahre Zeit anzeigen, genauso wie eine wahre Lehre oder Theorie keinerlei Widersprüche aufzeigen darf. Bei nur einem nicht zu beseitigenden Widerspruch ist sie damit falsifiziert.
Sie haben recht, wenn Sie schreiben:
Tatsächlich geht es um den Vorrang der Gruppenselektion. Ich habe da voreilig die kulturelle Evolution ins Spiel gebracht. Die Gruppenselektion ist eine Vorbedingung für die kulturelle Evolution, wie sie Wilson beschreibt (The Social Conquest of Earth von 2012, S. 213):
Und dieses Konzept könne gleichermaßen auf Tiere wie Menschen angewendet werden.
Dass die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie beansprucht, eine vollständige Theorie der Entstehung des Sozialverhaltens zu sein, entnehme ich diesem Satz
Gleich danach gibt’s noch diesen Hinweis:
Daher wohl auch meine voreilige Bemerkung über die kulturelle Evolution.
Heftig widersprechen muss ich Ihnen, wenn Sie schreiben
Wenn ein Skeptiker einen Standpunkt kritisiert, dann heißt es noch lange nicht, dass er den Gegenstandpunkt einnimmt. Er macht es sich zwischen den Stühlen bequem.
@ Bernd 17. Februar 2024 um 12:20 Uhr
Zitat: „Ich sehe es dagegen so wie die Erkenntnis, dass eine kaputte Uhr regelmäßig zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt. Durch diese Erkenntnis wird für Sie die kaputte Uhr nicht als kaputt erwiesen, da sie doch zum Teil richtig und wahr ist. In meinem Verständnis ist diese Uhr dagegen als kaputt falsifiziert, trotzdem sie zum Teil die wahre Zeit anzeigt. Eine richtig gehende Uhr muss stets die wahre Zeit anzeigen, genauso wie eine wahre Lehre oder Theorie keinerlei Widersprüche aufzeigen darf. Bei nur einem nicht zu beseitigenden Widerspruch ist sie damit falsifiziert.“
An diesem Beispiel kann man auch aufzeigen, dass Ihre Sicht von „Falsifizierung“ bei komplexeren Sachverhalten (viele Uhren mit vielen „Fehlermöglichkeiten“) nicht „passt“. Die Anzeige praktisch jeder Uhr, ist nur zum Teil „absolut richtig und wahr“.
Genau die (weitgehend) „richtige Zeit“ zeigen einige abgeglichene „Atomuhren“ an.
Kaputte Uhren zeigen genau 2 mal die „absolut richtige“ Zeit an.
Bei vielen Uhren schwankt es etwas. Manche Uhren gehen z.B. „genau“ 1 Sekunde vor oder nach. Die zeigen (fast) nie die „absolut genaue richtige Zeit“ an. Trotzdem können es erstklassige Uhren sein.
Und dann gibt es noch, (für einen Uhrmacher) besonders „traurige“ Fälle, die Uhren „schwanken“ mehr oder weniger stark. Die zeigen, mehr oder weniger oft, „irgendwann“ die korrekte Zeit an.
Techniker machen die Erfahrung, dass es bei der „Beurteilung von Prozessen“ auf genaue „Deklarationen“, „Definitionen“, „Gültigkeitsbereiche“, … ankommt. Je allgemeiner Aussagen oder Thesen sein sollen, um so Fehler behafteter sind sie auch.
Es wäre blödsinnig zu behaupten, ein normales Benzinauto könne es nicht geben. Die „Benzinautothese“ wäre falsifiziert, weil es am Mond (zumindest an einem bekannten Ort) wegen Sauerstoffmangel offensichtlich nicht fahren kann…..
@Realo
Wenn ich von einer „kaputten Uhr” spreche, meine ich selbstverständlich diesem Ausdruck nach eine, deren Zeiger dauerhaft stillstehen, die sich nicht mehr bewegen und nicht eine, die weiterhin funktioniert, nur dabei eben ungenau geht. Die letztere ist nicht kaputt, sondern eben nur ungenau, wobei im Rahmen normaler Ungenauigkeiten diese Uhren nie am Tag zweimal die richtige Zeit anzeigen, d.h. sie zeigen stets die falsche Zeit an.
@Timm
Noch eine Klarstellung, Sie sagen im Artikel: „Wilson und seine Mitstreiter berichten von Arten mit Haplodiploidie, die kein Sozialverhalten entwickelt haben.” Und auch wieder im Kommentar: „Dass die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie beansprucht, eine vollständige Theorie der Entstehung des Sozialverhaltens zu sein.”
Es geht meinem Verständnis nach in der Auseinandersetzung nicht um die „Entstehung des Sozialverhaltens”, d.h. sowohl die haplodiploiden Arten („Mechanismus der Geschlechtsdeterminierung, nach dem befruchtete Eier sich zu Weibchen und unbefruchtete Eier zu Männchen entwickeln”, Wilson 2013, S. 206, wie viele Ameisenarten) als auch die konventionell diplodiploiden Arten entwickelten seit jeher beide Sozialverhalten. Es geht allein um die Eusozialität (Staatenbildung) als besondere Form des Sozialverhaltens. Wilson hat an dieser Stelle folgende „Annahme der Lehrbuchliteratur der 1970er und 1980er Jahre” empirisch widerlegt: „Die Annahme, Haplodiploidie und Eusozialität seien ursächlich miteinander verbunden, wurde in der allgemeinen und der Lehrbuchliteratur der 1970er und 1980er Jahre Standard.” (Wilson 2013, S. 207) Es ist darin kein statistisches Argument von Wilson, sondern ein empirisches. Das soll aber nicht heißen, dass damit die Verwandtenselektion insgesamt falsifiziert ist.
@ Bernd
Wenn ich von Sozialverhalten spreche, dann meine ich das, was Wilson und Mitstreiter unter Eusociality verstehen. Durch eine Auseinandersetzung über Wortbedeutungen verlieren wir den grundlegenden Einwand gegen die Theoriebildung und Modellierung aus den Augen. Ich will deshalb darauf zurückkommen: Ich halte das Theoriegebäude von Nowak, Tarnita und Wilson für Pseudowissenschaft.
Von wissenschaftlichen, also prinzipiell falsifizierbaren Theorien fordern wir erstens, dass sie Vorhersagen tatsächlicher Begebenheiten gestatten, dass sie also nicht nur Erklärungen bieten für Ereignisse, die bereits archiviert sind, und zweitens, dass sie einfach sind.
Die zweite Forderung beinhaltet, dass die Modelle nicht von allzu vielen Parametern und frei wählbaren Annahmen abhängen dürfen, die es ermöglichen, sie an alle möglichen Gegebenheiten anzupassen (Popper, LdF, VII. Kapitel).
Was bei Nichtbeachtung dieser Regeln passieren kann, habe ich im Artikel über Prognosen und Singularitäten gezeigt. Beispielsweise prognostiziere ich exponentielles Wachstums aus dem Nichts.
Die erste Forderung ist bei den hier in Frage kommenden Theorien und Modellen nicht erfüllbar, denn die zu beschreibende Evolution hat in allen Fällen bereits stattgefunden.
Auch die zweite Forderung ist bei der Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie nicht erfüllt: Es werden Annahmen gemacht, die nichts mit der Natur, sondern allein mit dem Modell zu tun haben. Das Verhalten der Individuen wird auf nur zwei Strategien eingeschränkt. Betrachtet wird ausschließlich der Selektionsprozess, der schöpferische Prozess bleibt außen vor. Vorausgesetzt wird, dass der evolutionäre Prozess in einen stationären Zustand mündet. Untersucht wird das Verhalten des Modells auf lange Sicht. John Maynard Keynes hatte für ein ähnliches Vorgehen in der Volkswirtschaftslehre nur Spott übrig: In the long run, we are all dead. Die Annahme eines stationären Zustands steht in grundlegendem Widerspruch zum Untersuchungsgegenstand, dem Evolutionsprozess.
Mit einer pseudowissenschaftlichen Theorie lässt sich nichts falsifizieren, also auch nicht die Soziobiologie.
Timm: „Ich halte das Theoriegebäude von Nowak, Tarnita und Wilson für Pseudowissenschaft.“
Ich halte es für wichtig, die richtigen Begrifflichkeiten zu verwenden. Der Nature-Artikel ist gerade keine (neue) Theorie, sondern eine mathematische Überprüfung der Verwandtenselektion. Da diese Überprüfung nach Aussage von Wilson nicht widerlegt worden ist, halte ich es für unangebracht, sie als Pseudowissenschaft zu bezeichnen.
@Timm
Eine andere, ingenieurmäßige Falsifizierung der Verwandtenselektion.
Die Verwandtenselektion durch Wilson:
„Zunächst die Verwandtenselektion: Ihr zufolge bevorzugen Individuen Verwandte (außer eigenen Nachkommen) und erleichtern damit die Entwicklung von Altruismus unter Mitgliedern derselben Gruppe. Komplexes Sozialverhalten kann sich herausbilden, wenn für jedes Mitglied der gesamten Gruppe der Nutzen des Altruismus (nämlich eine größere Anzahl von gemeinsamen Genen, die an die nächste Generation weitergegeben werden) die Kosten, die das Individuum dafür aufbringen muss, übersteigt.“ (Wilson 2015, S. 22).
Noch ein Zitat zur Präzisierung der altruistischen „Kosten, die das Individuum dafür aufbringen muss”:
„Um es in einem platten Beispiel auszudrücken: Sie fördern Ihr altruistisches Gen, wenn Sie selbst aus Altruismus keine Kinder haben, Ihre Schwester aber dank Ihres Altruismus ihr gegenüber mehr als doppelt so viele Kinder hat wie ohne Ihren Altruismus.“ (Wilson 2013, S. 204)
Die kritische Frage dazu: Was passiert, wenn die (altruistische) Hilfe, die die genannte „Schwester” bei der Fortpflanzung erfährt, nicht von ihrem Bruder kommt, sondern von einem Nicht-Verwandten, der genetisch so weit entfernt ist, dass er sogar eine andere Hautfarbe besitzt wie die zahlreichen Sklaven in früheren weißen Herrscherdynastien? Hat das denselben Effekt, dass dank dieser jetzt nicht altruistischen, sondern erzwungenen Hilfe diese „Schwester” ebenfalls mehr Kinder bekommen kann als ohne diese Hilfe? Bildet sich dadurch ebenfalls „unter Mitgliedern derselben Gruppe”, also der weißen Herrscherdynastie, „komplexes Sozialverhalten” heraus, so dass die genetische Fitness dieser Gruppe (nicht dagegen die der farbigen Bediensteten) gesteigert wird? Wenn es nur um die konkrete, sinnlich wahrnehmbare Hilfe geht, egal ob altruistisch oder erzwungen (was heute durch den kulturellen Fortschritt auch rein technisch erfolgen könnte), müsste es derselbe Effekt sein.
Ist es aber der mathematischen Ungleichung der Verwandtenselektion nicht! Denn dieser mathematischen Formel der Verwandtenselektion nach ist der genetische Nutzen der Hilfe direkt vom genetischen Verwandtschaftsgrad des Hilfeleistenden abhängig. Wilson schreibt dazu:
„Die Vorstellung von der Verwandtenselektion wurde zwar zuerst 1955 von dem britischen Biologen J. B. S. Haldane entwickelt, zur vollen Theorie arbeitete sie aber erst 1964 sein jüngerer Landsmann William D. Hamilton aus.[25] Die Grundformel, die gleichsam zum «e = mc2 der Soziobiologie» wurde, formulierte Hamilton mit der Ungleichung rb > c: Ein Allel, das Altruismus bewirkt, vermehrt sich in einer Population, wenn der Nutzen b (englisch benefit) für den Empfänger des Altruisten, multipliziert mit dem Verwandtschaftsgrad r (englisch relatedness), zum Altruisten größer ausfällt als die Kosten c (englisch costs) für den Altruisten. Der Parameter r stellte laut Haldane und Hamilton ursprünglich den Anteil von Genen dar, der dem Altruisten und dem Empfänger des Altruismus aufgrund der gemeinsamen Abkunft gemeinsam ist. So entsteht etwa Altruismus, wenn der Nutzen für einen Bruder oder eine Schwester doppelt so hoch ausfällt wie die Kosten für den Altruisten (r = 1/2) oder der Nutzen für einen Cousin ersten Grades achtmal so hoch (r = 1/8).” (Wilson 2013, S. 204)
Bei einem Sklaven mit dunkler Hautfarbe aus Afrika als Hilfe bei der Erziehung würde der genetische „Nutzen” dieser mathematischen Formel nach gegen Null gehen, selbst wenn dieser Sklave als „Kosten” exakt dieselbe sinnlich wahrnehmbare Hilfe leistet wie der „Bruder” der Empfängerin, während die Hilfe des „Bruders” einen sehr großen Effekt auf die Gene seiner Gruppe hat. Einem naturwissenschaftlich oder gar ingenieurmäßig denkenden Menschen sollte sich hier die Frage stellen: Woher »wissen« eigentlich die Gene der weißen Gruppe, bei denen durch die Hilfe bei der Reproduktion der Formel nach die altruistischen Gene „gefördert” werden bzw. bei denen die genetische Fitness erhöht wird, wer diese Hilfe leistet, da ja demnach die Höhe des genetischen Nutzens bestimmt wird? Es gibt ja keinen anderen Kontakt zwischen dem Helfer und den Genen der Gruppe als die geleistete Hilfe bei der Reproduktion. Gibt es da geheime, noch nicht entdeckte oder übernatürlich wirkende Kräfte, die bewerkstelligen, dass der genetische Nutzen derselben Hilfe im Fall des „Bruders” sehr viel höher ausfällt als bei einem genetisch sehr weit entfernten Sklaven, bzw. wie wirkt das überhaupt, dass geleistete Hilfe zwischen Menschen die Gene angeblich verändert?
Egal, jede noch so wirr erscheinende Idee oder Hypothese kann, wie etwa im Fall der Kopernikanischen Wende, sich trotzdem als wahre Erkenntnis erweisen. Doch das wird nicht rein theoretisch entschieden, sondern durch Praxistests oder Anwendungen bzw. naturwissenschaftliche Versuche und Beobachtungen (von Epizyklen im Fall der Kopernikanischen Wende). Also testen, testen, testen, um so den natürlichen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur zu kommen.
Doch dann lese ich bei Wilson, dass Hamiltons Ungleichung, also das „e = mc2 der Soziobiologie”, nicht ein einziges Mal konkret berechnet wurde! (vgl. Wilson 2013, S. 208 f) Wilson weiter: „die Hypothesen der Gesamtfitnesstheorie haben sich nur in ganz wenigen Extremfällen als anwendbar erwiesen, die auf der Erde oder sonst einem Planeten wohl kaum auftreten dürften. Ein Beispiel für Gesamtfitness konnte nie direkt beobachtet werden. (Wilson 2015, S. 67 f)
Da rollen sich mir mit meinem stets auf die Praxis ausgerichteten ingenieurmäßigen und naturwissenschaftlichen Denken die Fußnägel hoch. Daher ist diese Formel der Soziobiologie, die einen angeblichen Einfluss von altruistischer Hilfe auf die Gene postuliert, für mich so als behaupte jemand, dass ein häufiges Waschen des Autos die Leistung des Motors erhöht. Wenn er das nicht konkret nachweist, ist das reiner Hokuspokus.
@ Bernd 19. Februar 2024 um 09:04 Uhr
Bei Ihrer Bemerkung
musste ich mir die Augen reiben. Popper folgend, gibt es keine theorielose Falsifizierung. Nowak, Tarnita & Wilson haben den zentralen Abschnitt ihres Artikels selbst so betitelt: „An alternative theory of eusocial evolution“.
Wenn ich behaupte, dass die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie nicht falsifizierbar und deshalb nichtwissenschaftlich ist, spreche ich ihr nicht jeglichen Nutzen ab. Ich lege Gründe dafür vor, dass die Soziobiologie in der vorliegenden Form eine Pseudowissenschaft ist.
Ein ähnlich krasses Verdikt ist vom Philosophen Mario Bunge (skeptiker 2/2009, S. 68-80). Er fragt: „Ist die Standard-Volkswirtschaftslehre eine Pseudowissenschaft?“ In seiner Replik schreibt der Ökonom Ulrich Berger, dass Bunge keinen Zweifel daran lasse,
Ich neige der Meinung Bunges zu, habe aber etwas andere Gründe. Der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften geht ziemlich oft an Leute, deren „Theorien“ die Gründe für gerade überstandene Wirtschaftskrisen nachliefern, die die Gemeinde der Volkswirtschaftler nicht hat kommen sehen.
@ Bernd 19. Februar 2024 um 10:25 Uhr
An keiner Stelle habe ich die Verwandtschaftsselektion vertreten, immer nur darüber berichtet. Mehr steht dem Skeptiker auch gar nicht zu. Mich interessieren die irreführenden Argumentationsweisen und die Begründungsstrukturen.
@ Bernd / Grams
Mitlerweile macht es mir mehr als den Eindruck, dass Soziobiologie auch Phantasie hervorbringen kann sie zurück spiegeln wird und dass versucht wird, Phantasie widerspruchsfrei gesucht wird.
Es ist aussichtslos.
Warum?
Weil es plus und minus gibt,mehr oder/und weniger.
Und dann auch noch jeweils wenn-dann.
Standpunkt auf Grund von selbstverschriebenen Rollen sind doch öde
[tg: Offline wurde etwas klarer, was damit gemeint sein könnte: Bloß weil man sich Skeptiker nennt, ist man noch keiner; und eine solche Selbstbeschreibung ist bereits eine Wertung.]
@ Mussi
Skeptiker im Sinne des New Skepticism bin ich nicht, eher einer der alten Schule. Dass der Skeptiker dem Vorwurf des Positivismus im Sinne von Adorno und Horkheimer nicht gänzlich entkommen kann, davon war hier bereits die Rede , auch davon, dass ich der Gruppenselektion im Sinne von Wilson trotz ihrer Unschärfen und ihres „Phantasiegehaltes“ etwas abgewinnen kann. Das Aufdecken von Unschärfen und Denkfallen finde ich nicht „öde“.
@Timm
Ja, natürlich kann auch dieser (falsifizierende) Artikel als Theorie angesehen werden. Es geht um die Eusozialität, mit der die Vertreter der Verwandtenselektion ihre neue Theorie als neues Paradigma begründen. Nowak, Tarnita & Wilson erklären nun das Phämonen der Eusozialität dazu „alternativ”, natürlich als Theorie, aber nicht mit einem wiederum völlig neuen Paradigma wie es das der Verwandtenselektion ist, sondern allein aufgrund des alten Paradigmas der bekannten natürlichen Selektion (Darwin-Fitness oder „standard natural selection”). Das hatte ich im Sinn, d.h. der Kern der Kritik des Artikels liegt darin, dass es gar keiner neuen Theorie der Verwandtenselektion oder irgendeiner anderen neuen Theorie (als neues Paradigma) bedarf. In diesem Sinne ist die Verwandtenselektion nicht nur überflüssig, sondern auch falsch, denn das Phänomen der Eusozialität lässt sich allein auf der Grundlage des alten, vorhanden Paradigmas (als Theorie) begründen. Im folgenden Schlussabsatz der Zusammenfassung der ergänzenden Informationen zu dem Nature-Artikel ist das alles aufgeführt bzw. eben treffend zusammengefasst:
„Finally, we propose that kin selection among social insects is an apparent phenomenon which arises only when you put the worker into the center of evolutionary analysis. Kin selectionists have argued that a worker who behaves altruistically by raising the offspring of another individual, requires an explanation other than natural selection, and this other explanation is kin selection. We argue, however, that there exists a more convenient coordinate system. If the eusocial gene is in the center of the evolutionary analysis, then a standard natural selection equation determines whether or not eusociality wins. There is no paradoxical altruism that needs to be explained. The epicycles of kin selection and inclusive fitness disappear.“
In meinem Kommentar vom 19.02. hatte ich von einem ingenieurmäßigen Denken her insbesondere die mathematische Ungleichung oder Formel der Verwandtenselektion widerlegt oder zumindest kritisch hinterfragt, wie denn eine altruistische Hilfe auf der Ebene der Lebewesen und ihrer Handlungen in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad auf die Gene der diese Hilfe empfangenden Gruppe einwirken soll. Das sind in meinem Verständnis genau wie in der Kritik des Nature-Artikels von Nowak, Tarnita & Wilson die dort genannten „Epizykel” eines falschen Weltbildes bzw. einer falschen Theorie, d.h. der Begriff „Epizykel” trifft auch auf die soziobiologische Formel zu. Wie schon ausgeführt ist diese Formel, die als das „e = mc2 der Soziobiologie” gefeiert wird, in Wahrheit so unbrauchbar, dass sie gemäß Wilson nicht ein einziges Mal konkret berechnet wurde (vgl. Wilson 2013, S. 208 f). Doch stellt sich dann die Frage, warum sie für viele Wissenschaftler so faszinierend ist und so dogmatisch verteidigt wird. Dem möchte ich nachfolgend nachgehen.
Das Problem muss dazu in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden, und zwar schon beginnend bei Darwin. Zu dieser Zeit lebten die Völker noch weitestgehend in ethnisch abgeschlossenen Gruppen oder Gesellschaften, so dass Darwin wie selbstverständlich davon ausging, dass die Kultur der neu entdeckten Völker genauso ein Ergebnis der natürlichen Zuchtwahl war wie die Hautfarbe. Dabei schloss er sich der Meinung von Lubbock an, „wie unwahrscheinlich es ist, daß unsere frühesten Vorfahren hätten bis zehn zählen können, wenn man in Betracht zieht, daß so viele der jetzt lebenden Rassen nicht über vier hinauskommen.” (Charles Darwin, „Die Abstammung des Menschen”, Alfred Kröner Verlag 5. Auflage, Stuttgart 1871/2002, S. 234). So geht man bis heute fest davon aus, dass die Kultur des Menschen genetisch erworben und verankert ist. Darwin sah teilweise darin zwar „dunkle Rätsel” (Darwin 1874/2002, S. 182), doch selbst als die Anwendung dieses Verständnisses als Eugenik krachend scheiterte, war das für die Evolutionsbiologie kein Anlass dazu, einmal die Theorie hinsichtlich dieses Problems zu hinterfragen (das hat erst Wilson nach seiner Falsifizierung der Soziobiologie getan, indem für ihn Kultur gerade nichts mit genetischer Evolution zu tun hat).
Bei seiner Falsifizierung der Soziobiologie warf Wilson seinen Kritikern, die das nicht akzeptieren wollten, „Stammesdenken” vor (im Spiegel-Gespräch). Dazu möchte ich eine bestimmte Eigenschaft dieses Stammesdenkens näher betrachten, nämlich die, in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Stämmen oder Gruppen die jeweils eigene Gruppe emotional stark zu erhöhen, geradezu zu verklären, bis hin zum auserwählten Volk Gottes oder als Herrenrasse bei den Nazis. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Aspekt nicht nur schon zu Darwins Zeiten bei der Bewertung der neu entdeckten Völker mit hineingespielt hat, sondern dass diese besondere Form des Stammesdenkens bis heute das Denken in der Evolutionsbiologie bestimmt.
Als es in den 1970er Jahren durch die Soziobiologie mit ihrem Kern der Verwandtenselektion zu einer Veränderung von Darwins Lehre kam, wurde darin nicht etwa der oben genannte Fehler in Darwins Lehre erkannt und berichtigt (wie es erst Wilson ab dem Jahr 2010 endlich vollzog), sondern es wurde sozusagen noch eins draufgesetzt. Dieser Fehler wurde nicht nur beibehalten, sondern ausgebaut, vor allem durch den wohl klingenden Begriff „Altruismus” in Verbindung mit einer mathematischen Formel. Das hört sich doch gut, modern und wissenschaftlich an.
Das Besondere daran ist jedoch, dass es nicht nur nebensächlich ist, dass diese Formel gar nicht anwendbar ist und (als Albtraum eines jeden Ingenieurs) noch nie konkret berechnet und angewendet wurde, sie durfte gar nicht anwendbar sein, denn das hätte darin ja bestätigt, dass Kultur gar nicht genetisch verankert und so von vornherein für das Leben der Menschen gar nicht determinierend ist. Dann hätte diese Formel ja die seit Darwin zwischenzeitliche Lebenswirklichkeit bestätigt, dass alle Menschen, auch die ehemals „wilder Völker”, sehr wohl über vier hinaus zählen können, dass sie auch akademische Berufe ergreifen können, wenn sie nur die dazu nötige Bildung erhalten, ja dass sie sogar Anführer der führenden Gesellschaft der modernen Welt werden können, nämlich als Präsident der USA wie im Fall von Obama.
Die Formel der Soziobiologie soll also gar nicht funktionieren und in der Praxis wie eine naturwissenschaftliche Formel anwendbar sein, sie soll nur dem Gefühl oder der Emotion eines Instinkts genügen, und zwar des Instinkts des Stammesdenkens in der oben geschilderten Besonderheit. Wichtig ist, dass darin der genetische Verwandtschaftsgrad eine entscheidende Rolle spielt, und zwar als altruistische Hilfe der eigenen Gruppe, und das vollbringt diese Formel der Soziobiologie perfekt. Die genetische Fitness der eigenen, für so absolut überlegenden gehaltenen Gruppe kann nur wachsen, wenn die Hilfe von mehr oder weniger engen Verwandten dieser Gruppe erfolgt, wobei es gleichzeitig (für die genetische Fitness) kontraproduktiv ist, genetisch weiter entfernten Menschen Hilfe zukommen zu lassen. Das lässt sich flexibel dann sowohl hinsichtlich fremder Völker anwenden, als auch auf die unteren Schichten der eigenen Gesellschaft, die in diesem Verständnis ja deswegen dieser unteren Schicht angehören, weil es in diesem Evolutionsverständnis angeblich genetisch so determiniert ist.
Doch genau deswegen ist die Soziobiologie die perfekte empirische Bestätigung für den neuen Ansatz von Wilson zur Evolution des Menschen, nämlich dass der Mensch eine dichotome oder Chimären-Natur besitzt, in er oft von Instinkten gesteuert wird – selbst in der Wissenschaft.
@ Bernd
Wiederholungen machen ein Argument nicht besser. Leider muss auch ich mich wiederholen. Sie bleiben bei Ihrer Auffassung, dass Wilson seine Soziologie falsifiziert habe, unter anderem mit diesen Worten:
Ihr Begriff der Falsifikation ist ein anderer als der, den Karl Raimund Popper in seiner Logik der Forschung klar gefasst hat.
Ich hoffe, wir können es jetzt dabei belassen. In den praktischen Schlussfolgerungen sind wir ja einer Meinung, insbesondere was unsere Einstellung zum Rassismus betrifft.
Es kommt ja letztlich nicht auf den Begriff an (Falsifikation), mit dem ich einen Sachverhalt bezeichne, sondern auf den Sachverhalt selbst. Der Sachverhalt ist etwa der Nature-Artikel, der für mich eine Falsifizierung, Widerlegung , Epizykel oder wie immer man etwas Falsches sonst bezeichnen will, ist. Für Sie dagegen sind die „Epizykel“, um diesen anderen Begriff zu benutzen, nichts Falsches, sondern nur etwas Anderes, genauso Gültiges, Wahres. Das sind schon fundamentale Differenzen, die letztlich auch und besonders das Verständnis der Ursachen des Rassismus betreffen. Das sollte man schon so festhalten – aber das ist natürlich wieder meine Überzeugung.
@ Bernd
Sie adressieren mich:
Das ist eine unwahre Unterstellung.
Das ptolemäische Weltsystem war wissenschaftlich, wurde aber tatsächlich widerlegt. Tycho Brahes Rettungsversuch der Epizyklentheorie war ebenso wissenschaftlich. Damals gab es keine Prüfmöglichkeit, ob Tycho Brahes Weltsystem dem kopernikanischen überlegen oder unterlegen ist. Insofern hatte der Papst sogar recht, wenn er Galileis Behauptung widersprach, das kopernikanische Weltsystem sei das wahre. Insofern war er sogar modern (SdW 10/1982, S. 108-119). Die Inquisition verträgt sich aus heutiger Sicht natürlich nicht mit der Wissenschaft.
Jedenfalls handelt es sich bei beiden Weltsystemen um prüfbare Theorien, also um Wissenschaft. Im Laufe des Prüfprozesses obsiegte das kopernikanische Weltsystem.
Bei der Soziobiologie ist es etwas anderes: Ich halte sie, ebenso wie das Papier von Nowak, Tarnita & Wilson, für Pseudowissenschaft. Falsifizierungen im Sinne Poppers kann es deshalb nicht geben.
Dieses krasse Urteil gebe ich erst auf, wenn meine Begründung widerlegt ist.
@Timm
Sie sagen:
„Bei der Soziobiologie ist es etwas anderes: Ich halte sie, ebenso wie das Papier von Nowak, Tarnita & Wilson, für Pseudowissenschaft.“
Das ist doch ein äußerst klares Ergebnis!
Ich sage dagegen, hier liegt beim Rassismus schon bei Darwin der Fehler. Durch die Behebung des Fehlers, was Wilson konkret getan hat (Kultur nicht genetisch codiert), kann sowohl der Rassismus als auch der Irrweg der aktuellen Evolution des Menschen beseitigt werden.
Ein Soziobiologe und jeder Rassist, der vom rassistischen Instinkt des Stammesdenkens gesteuert wird, sagt dagegen, dass das gegen das Dogma ist, Darwin kann nicht geirrt haben, so zu denken ist „pervers“ (Dawkins), das muss auf den Index, ungelesen fortgeworfen werden usw.
Und was sagen Sie? Die allerbequemste Lösung, nämlich dass es sich in beiden Fällen, also Soziobiologie und die sowohl mathematische als auch empirische (Termiten usw.) Widerlegung durch Wilson um Pseudowissenschaft handelt. Echt jetzt? Sie erklären einmal kurz eine der wichtigsten Wissenschaften und ihre Auseinandersetzungen zur Pseudowissenschaft!? Bei der Evolutionsbiologie soll es sich dabei nicht um „prüfbare Theorien“ handeln? Ok, das erklärt einiges.
Aber gut, ein Theologe könnte dem hinsichtlich der Evolutionsbiologie zustimmen. Und bei Verschwörungsmythikern ist diese Lösung auch beliebt, d.h. im Fall des Klimawandels ist alles nur Pseudowissenschaft, wodurch das Problem auf sehr einfache und bequeme Weise erledigt ist und alles so bleibt wie es ist. Toll.
Sie sagen weiter: „Wenn ein Skeptiker einen Standpunkt kritisiert, dann heißt es noch lange nicht, dass er den Gegenstandpunkt einnimmt. Er macht es sich zwischen den Stühlen bequem.“
Ja, sehr bequem.
Und weiter: „An keiner Stelle habe ich die Verwandtschaftsselektion vertreten, immer nur darüber berichtet. Mehr steht dem Skeptiker auch gar nicht zu. Mich interessieren die irreführenden Argumentationsweisen und die Begründungsstrukturen.“
Ja, und dieser Bericht lautet: Sowohl Soziobiologie als auch Wilson zusammen mit dem mathematischen Beleg ist alles nur Pseudowissenschaft. Erkennt man wahrscheinlich schon daran, dass es in „Nature“ erschienen ist.
Selbstkritik, dass genau das, also die Bezeichnung von Soziobiologie und Wilson als Pseudowissenschaft, eine „irreführende Argumentationsweise“ ist??
@ Grams / Bernd
Mal eine grundsätzliche Frage: können sich widersprechende Theorien nicht für sich selbst stimmen?
Ich meine schon.
Wenn ich das in die Wirklichkeit/Realismus übertrage, dann ist der Kern dieser Annahme ein möglicher ‚Phasenwechsel‘ dazwischen. Auch Wechselwirkung genannt.
Wir können ihn nicht formalisieren, aber begreifen.
Warum ist Ihre Diskussion auch von dem Gedanken nach einer Weltenformel geleitet, aus der sich ‚alles‘ ableiten liesse?
Mir macht es mehr den Eindruck, wir leben in einer Welt von komplementären Theorien
@ Bernd
Auch Wissenschaftsjournale wie Nature bringen nicht ausschließlich Theorien, die im strengen Sinne falsifizierbar sind. Die Attributionsforschung beispielsweise untersucht, welchen Anteil der Klimawandel an Extremwetterereignissen hat (SdW 9/2023, S.42-55). Dabei handelt es sich um prüfbare Aussagen; diese werden auch fortlaufend überprüft und angepasst. Auch die Soziobiologie und die Diskussion darüber haben in solchen Zeitschriften ihren Platz.
Ich spreche von Pseudowissenschaft, wenn eine Theorie vorgelegt wird mit dem Anspruch auf Falsifizierbarkeit und wenn dieser Anspruch nicht eingelöst wird.
Und weswegen genau ist der mathematisch basierte Nature-Artikel von Nowak, Tarnita und Wilson nicht falsifizierbar bzw. eine Pseudowissenschaft?
@ Bernd
Karl Raimund Popper hat seine Logik der Forschung niemals eine Theorie genannt. Er wusste warum. Erfahrungswissenschaft ist ein Spiel nach gewissen Regeln; das kann man mitspielen oder auch nicht (LdF, 11. Die methodischen Regeln als Festsetzungen). Die Frage der Falsifizierbarkeit stellt sich nicht.
Ganz ähnlich ist es bei den Modellen der Soziobiologie. Sie funktionieren unter bestimmten Annahmen. Was dabei herauskommt, kann Charakteristika natürlicher Prozesse aufweisen. Das ist lehrreich. Die Folgerungen betreffen aber jeweils nur das Angenommene. Die Annahmen des Nowak-Tarnita-Wilson-Papiers sind durchweg künstlich und nicht der Natur abgeschaut. Eine Generalisierung in dem Sinne, dass die Folgerungen immer und überall gelten, findet nicht statt. Eine Falsifizierung anhand von Fakten ist folglich unmöglich.
@ Bernd 22. Februar 2024 um 09:34 Uhr
@ Timm Grams
Ich meine, in der Wissenschaftsfrage kommt es, besonders wenn es sich um höchst komplexe Sachverhalte handelt, um den „Typ der Aussage“ an.
Anschaulich und nicht philosophisch formuliert:
Z.B. Darwin hätte sehr „vorsichtig“ formulieren können, was er zumindest auch getan haben soll. In dem Sinne:
Die Gene können auf die körperliche als auch auf die kulturelle Entwicklung Einfluss nehmen.
Diese Aussage stimmt, selbst wenn sie nur in einem einzigen Fall (von sehr vielen Fällen) „wahr sein“ sollte, „immer“.
Definitiv falsch wäre die Aussage: Nur die Gene allein bestimmen immer die körperliche Entwicklung.
Die „Weltscheibentheorie“ ist falsifiziert, weil sie (zumindest in „unserer Welt“, bei unseren Naturgesetzen) „falsch“ ist. Bei „1000 Welten“ könnte es anders aussehen…. Wir haben (derzeit) nur die „eine, unsere“ Welt.
In dem Moment, wenn ein Wissenschaftler in hoch komplexen Systemen „verallgemeinern“ und sich festlegen will, z.B. Gruppen, Verwandte,… begibt er sich auf „Glatteis“.
Die Soziobiologie beschäftigt sich mit höchst komplexen Systemen und da ist, salopp gesagt, immer fast alles möglich, oder auch nicht, „nix ist fix“.
Vor vielen Jahren haben wir uns bei einer Diskussion (im Scherz) auf die Aussage geeinigt, es dürfte kein Lebewesen geben, das im Handstand pink….
Seit rund 10 Jahren, noch ohne KI, gibt es Videos, dass unsere „Lieblingstiere“ die Pandas, in freier Wildbahn genau das tun. Sie wollen mit ihrem „Markierungsverhalten“ ihre tierische Konkurrenz beeindrucken und ihr klar machen, in diesem Revier lebten „Monstertiere“ vor denen sie sich eher fernhalten sollten…
Die „Panda Mädels“ sollen übrigens von den „großen Tieren“ begeistert sein?
Es wäre natürlich denkmöglich, dass es sich um Fakevideos handelt, oder der Panda hat sein „Kunststück“ im Zirkus gelernt, wo er vielleicht früher „gearbeitet“ hat?
„Komplexität“ gilt nun einmal als großes, nur schwer seriös lösbares Problem der Wissenschaft. Als (vermutlich) Soziologe, sollte Ihnen nicht entgangen sein, dass Ihr Fachgebiet „kritisch“ gesehen wird. Ihre Erkenntnisse sind in einer auch noch hoch dynamischen Umwelt nicht wirklich stabil.
Eine derartige „Wissenschaft“ wird eben auch als „Pseudowissenschaft“ bezeichnet, weil sie keine stabilen und sichere Ergebnisse bieten kann und falls die Aussagen auch stimmen, es ist realistisch gesehen, oft nicht wirklich möglich, die Probleme seriös zu lösen.
Die „Lösung“ des „Klimaproblems“ würde auch bedeuten, dass z.B. Millionen von (älteren) Menschen in D. die z.B. 1500 Euro verdienen, praktisch ein neues Haus, rund 200 000 Euro für die Sanierung benötigen. Sie müssten mit Zinseszins in 20 Jahren rund 400 000 Euro zurückzahlen müssen, was völlig unrealistisch ist.
Der „Machbarkeitswahn“ der „Pseudowissenschaften“ ist das Problem.
Den Theologen ist das Problem natürlich aufgefallen und sie haben sich nach dem „Weltscheibendesaster“ aus der Wissenschaft völlig zurück gezogen (außer auf interne Studien, wo sie durchaus die Expertise haben, die aber nicht mehr veröffentlicht werden, weil ihre „Schäfchen“ nur sinnlos verwirrt würden). Sollen sich doch die „Pseudowissenschaftler“ mit ihren „täglichen Updates“ und mit ihrer „Kakophonie“ ihr Wissen gegenseitig „um die Ohren schlagen“….
Eine Diskussion über derartige Themen kann kaum funktionieren, weil jeder seinen eigenen „Glauben“ hat.
@ Timm Grams
@ Bernd
Dass „Bernd“ wegen der Zweifel an der wissenschaftlichen Methodik der Soziobiologie, vermutlich seines Fachgebietes, etwas „beleidigt“ ist, scheint nachvollziehbar.
Es ist nun einmal so, dass die Wechselwirkungen zwischen „Genetik“, „Memetik“ und „Umwelt“ extrem komplex sind. Das ist eine „Besonderheit“ und die „Methoden der traditionellen Wissenschaft“ scheinen dafür nur unzureichend geeignet.
Z.B. Aussagen, wie dass der Altruismus in Familien entscheidend ist, obwohl z.B. die meisten Morde im Umkreis der Familien geschehen. Das scheint widersprüchlich.
Es kann sozusagen „alles mit allem zusammenhängen“. Man sollte alles möglichst sachlich sehen, weniger emotional.
Man wird sich auf „realistischere Methoden“ in der Forschung einigen müssen, um mit der Komplexität zurecht zu kommen.
@ Timm Grams
@ Bernd
In der Genetik versteht man wegen der Komplexität vieles noch nicht, oder Erkenntnisse werden sehr kritisch „gesehen“.
Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die „genetischen Muster“ nicht anschaulich, sondern sehr abstrakt sind und deswegen nur sehr schwer Korrelationen mit körperlichen und funktionalen Merkmalen zu erkennen sind.
Eigentlich wäre dies ein typisches Problem für die KI. Einerseits wegen der abstrakten Muster, andererseits wegen der ungeheuren Datenmengen die ausgewertet werden müssten. Auch bestehende „Datenfriedhöfe“ der Medizin könnte man nutzen.
Wie weit „Meme“ zweckmäßig mittels KI analysiert werden können, womöglich sogar Wechselbeziehungen mit Genen, ist eine andere Frage?
Die Entstehung eines neuen Weltbildes wird oft als ein plötzlicher Akt der Falsifizierung des alten dargestellt, so auch von Bernd. Die Ablösung des geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische beispielsweise aber war ein Jahrhunderte dauernder Prozess, in dem schließlich die besseren Argumente für das neue überwogen. Galileis Beobachtung der Venusphasen und der Jupitermonde gab den alten Vorstellungen den Rest. In seinem Buch Objektive Erkenntnis von 1973/74 schreibt Karl Raimund Popper auf Seite 193:
Aufschlussreich fand ich auch den Artikel Der Fall Galilei von Owen Gingerich im Spektrum der Wissenschaft (10/1982, S. 108-119).