In der Skeptikerbewegung habe ich schon manche Peinlichkeit erlebt. In der Auseinandersetzung mit dem seinerzeitigen Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken hatte ich es mit jemandem zu tun, der Linientreue mit intellektueller Schärfe verband. Ich fand den Disput nervig, manchmal peinlich, aber auch bereichernd.
Dann kam ein Putsch, von dem sich diese Gesellschaft offenbar nicht erholt hat. Das zeigt jetzt ein Artikel des Nikil Mukerji, nun Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken, dessen Tonfall aber alles abgeht, was man von einem Skeptiker erwarten kann – eine weitere Peinlichkeit. Ich begnüge mich damit, ein paar Kostproben aus dem Text zu geben.
Scientific skepticism functions as part of society’s adaptive epistemic immune system.
Der Autor ist offenbar in dem Teil des gesellschaftlichen Organismus zuhause, der für die geistige Gesundheit des Ganzen sorgt; und da ist volle Wachsamkeit geboten, denn der angreifende Krankheitskeim ist besonders bösartig:
Recently, pseudoscience sympathizers, disguising themselves as skeptics. […] They infiltrated a skeptical organization—GWUP—through a metaphorical Trojan Horse and seized control.
Und darum geht es:
The Trojan Horse Strategy is not just theoretical. In 2023, pseudo-skeptics used it to gain temporary control of the German skeptical organization GWUP. […] They adopted skeptical views on topics like astrology and homeopathy, participated in debunking pseudoscientific claims, expressed support for scientific inquiry, and made friends in the community, thus avoiding detection. […] Pseudo-skeptics at GWUP sought to shut down all skeptical activities regarding woke ideology. They declared gender studies, postcolonial studies, queer studies, and similar fields “off-topic,” aiming to shut down GWUP’s epistemic vigilance regarding these areas. […] Death is always an unintended consequence of a pathogen’s interference with vital processes. In the case of woke pseudo-skepticism, death would have been the inevitable outcome for GWUP.
Diese Kriegsrhetorik ist abstoßend. Sie ist ein eklatanter Verstoß gegen die Seid-nett-zueinander-Regeln am Ende des Aufsatzes.
Dabei ist es so einfach: Mit dem Skeptiker-Instrumentarium, Kritischer Rationalismus genannt, lässt sich Wissenschaft bearbeiten, also all das, wofür man eine denkunabhängige und unveränderlich regelhafte Realität straflos voraussetzen darf. Das ist wohl das, was man unter „The organization’s mission“ verstehen muss.
Wer bei diesem einmal gewählten engen Denkrahmen bleiben will, was ich für zulässig halte, sollte keine Urteile über Dinge abgeben, die über den Denkrahmen hinausreichen; dazu gehören nun einmal gesellschaftliche Fragen, die Gegenstand der Wokeness-Bewegung sind.
Die Skeptikergesellschaft scheint noch nicht von allen guten Geistern verlassen zu sein, wie ein interner Kommentar zu dem genannten Artikel zeigt:
Ich frage mich allerdings, ob Nikil da nicht selber eine handfeste Verschwörungstheorie fabriziert.
Mancher Kommentar zum Aufsatz selbst, erschienen im Blog von Michael Shermer, geht in dieselbe Richtung:
This kind of language implies that those who disagree are irrational or mentally unwell, while positioning oneself as enlightened and immune to such thinking.
Auch Positives zum Artikel lässt sich dort finden.
Beim „Glaubenskampf im Namen der Aufklärung“ geht es letztlich um den „Glauben an nützliche Fiktionen“ ganz unabhängig davon, ob es „wirkliche Wahrheiten“ sind.
Allerdings „will man selbst“ schon an „Wahrheiten“ glauben und man geht eher davon aus, dass es „Wahrheiten“ gibt. Menschen „stricken“ sich eben gerne ihre eigenen „Wahrheiten“ (oder „Gruppenwahrheiten“) und sind mehr oder weniger „glücklich“ darüber, möchten auch andere „missionieren“. Der Zweck ist an sich offensichtlich.
Die Mathematiker haben sich ihre eigenen, „streng abgegrenzten Gärtchen der Wahrheit“ geschaffen die sie „liebevoll beackern“. Das Problem ist nur, die Welt ist nicht eng abgegrenzt.
Zitat zu den Argumenten des „ontologischen Naturalismus“:
„Den Kern des ontologischen Naturalismus bildet die Keine-Übernatur-Hypothese: Die Welt ist kausal geschlossen und es gibt keine Wechselwirkung mit so etwas wie einer Übernatur.“
Die Welt ist vermutlich derart (fast unendlich) „komplex“, dass es sinnlos ist, von einer „kausalen Geschlossenheit“ auszugehen. Meiner Meinung nach gibt es zwar keine „Übernatur“, aber vieles liegt dennoch über den menschlichen Verständnismöglichkeiten. Mit ganz gut skalierbaren technischen KI Systemen wird man die Grenzen erweitern können….
Vermutlich wird man sogar Sachverhalte die derzeit ausgeschlossen werden, besser verstehen (z.B. Homöopathie). Manches wird „ewig verborgen“ bleiben….
Es scheint irgendwie nicht verstanden worden zu sein, dass der kritische Rationalismus gerade dieses „Immunsystem“ darstellt. Durch Kritik soll Falsches aussortiert werden, Bewährtes bleibt. Das Konzept wird ja noch nicht einmal über veranschaulichende Metaphern verstanden, umso schlimmer sieht es aus, wenn darauf verzichtet wird. Kritizismus bedeutet im Übrigen nicht Urteilsenthaltung im Sinne von „beliebiges ist möglich“. Letzteres ist nur eine leere Aussage. Die subjektivistische Standpunkttheorie wiederum ist nicht nur mit Wissenschaft inkompatibel, sondern behauptet sogar die Unmöglichkeit einer Kommunikation zwischen bestimmten Gruppen. Damit Kritizismus überhaupt möglich wird, braucht es aber das Konzept von intersubjektiv falschen Aussagen. Übersehen wird auch gerne, dass dass es in den Sozialwissenschaften heute einen starken Trend in Richtung eines Dogmatismus gibt. Weder Dogmatismus noch Subjektivismus bieten Spielraum für einen rationalen Diskurs und gehören daher nicht ins wissenschaftliche Arbeiten.
http://www.scientifictemper.org/de/science/skepsis-und-wissenschaft
@ Feodor
Gegen den Kritischen Rationalismus hat hier niemand Stellung bezogen. Ich nenne mich hin und wieder sogar einen Popperianer. Freilich darf ein jeder die Kritische Theorie der Frankfurter Schule für irrelevant halten. Sie mit einem tödlichen Krankheitserreger zu vergleichen, widerspricht den Regeln der Fairness, und diese werden ja zum Schluss des Aufsatzes gepriesen. Diese Regeln haben übrigens deutlich weniger Substanz als die Skepsis des Moses Maimonides oder des René Descartes.
Ich denke Dogmatismus ist tatsächlich tödlich für die Wissenschaft, wenn er die Oberhand gewinnt.
Die empirische Wissenschaft basiert auf der Annahme, dass es eine denkunabhängige Realität gibt, die von unveränderlichen Naturgesetzen regiert wird. Der eine nennt das eine regulative Idee, der andere ein Dogma. Wir sollten das nicht noch einmal ausrollen. Was für die Wissenschaft wirklich tödlich ist, ist das Freund-Feind-Denken, das in dem Artikel von Nikil Mukerji Ausdruck findet.