Menschenwürde: höchstes Gut oder Worthülse?

Das Grundgesetz ist für alle da, nicht nur für Fachphilosophen und Politikwissenschaftler.

Die Idee

Im Hoppla!-Blog sind wir bereits mehrfach auf einen Begriff gestoßen, der im Grundgesetz ganz oben steht (Art. 1):

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Weiterhin wird die Menschenwürde sogar zur Basis der allgemeinen Menschenrechte erklärt:

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Dass »Menschenwürde« nicht nur so hingesagt ist, sondern ein vor Gericht einklagbares Gut, stellt der Schlusssatz des Artikels fest:

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Wir hatten schon damit zu tun

In der Diskussion mit Realo über Künstliche Intelligenz spielte ich letzthin mit dem Gedanken, dass die KI im Gegensatz zum Menschen keine Würde besitzt. Die Stärke des Konzepts der Menschenwürde wurde mir durch die Diskussion des Theaterstücks
Terror des Ferdinand von Schirach erst richtig nahegebracht.

In der Diskussion zum Fall Brosius-Gersdorf antwortet Frank Wohlgemut auf Pablo:

Da Du die Haltung vertrittst, dass direkt nach dem Text zu urteilen sei, bist Du bestimmt in der Lage, uns zu sagen, was sich denn genau hinter dem Begriff der Menschenwürde verbirgt. Es scheint ja etwas zu sein, was wir alle besitzen. Ab wann eigentlich: Direkt nach der Befruchtung? Nach 2 Wochen, nach 3 Monaten oder nach der Geburt? Aber was es ist, ist damit noch nicht gesagt, geschweige denn, was diese Würde verletzt und was nicht.

An das von Mussi empfohlene Buch »Menschenwürde« des Dietmar von der Pfordten von 2016 knüpfe ich hier an.

Universell gültig?

Von der Pfordten schreibt auf Seite 104:

Die Eigenschaft der Selbstbestimmung über die eigenen Belange also der sekundären Wünsche und Ziele gegenüber primärer Belangen, ist ein wesentliches Merkmal der Menschen aller Zeiten und Kulturen.

»Menschenwürde« im Sinne von Selbstbestimmung ist genauso universell wie die Aussage »Der Mensch hat zwei Ohren«. Moralisch bindend wird sie erst, wenn man den Begriff ausdrücklich derartig auflädt, und in diesem Sinne fährt von der Pfordten fort:

Da die Eigenschaft der Menschenwürde neben der faktischen auch eine normative Dimension hat, bedeutet das: Die große Menschenwürde besteht nicht nur faktisch universell. Sie gilt auch normativ-ethisch universell in allen Zeiten und Kulturen.

Diese normative Dimension halte ich für wünschenswert, zwingend ist sie nicht.

Wir haben nichts Besseres

Dabei bleibe ich: Die
Universalisierung der Menschenrechte ist Ideologie! Für uns in Europa sind die Menschenrechte die Basis des Zusammenlebens. Auch wenn das Konzept der Menschenwürde nicht universalisierbar ist: Wir haben nichts Besseres. Rainer Gebauer bleibt dem Univalisierungsgedanken zugeneigt. In der Diskussion zum Artikel Aufklärung paradox drückt er es so aus:

Wenn ein verabsolutierter Wert an der Realität scheitert, glauben wir aber trotzdem, das nicht zulassen zu dürfen, weil wir das ganze Wertesystem zu gefährden meinen. Das ist das humanistische Denken. Wer sich das nicht zu eigen macht, ist auf dem Holzweg. Der mit dem Stichwort „Bevormundung“ verlinkte Artikel versucht, diese Problematik anzusprechen, aber die universellen Menschenrechte stehen zum Schluss selbstverständlich weiterhin nicht zur Disposition.

Anmerkung: Meine Amazon-Kritik des Buches »Menschenwürde« schließe ich mit der Bemerkung:

Das Buch ist klar und verständlich geschrieben, so dass auch der Nichtphilosoph den Schwachpunkt der Ideologie deutlich sehen kann.

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2 Antworten zu Menschenwürde: höchstes Gut oder Worthülse?

  1. Pablo sagt:

    Das Argument, dass wir nichts besseres haben, und deswegen auf den Menschenwürdebegriff zugreifen müssen oder sollten kann ich nicht nachvollziehen.

    Der Begriff in Verfassungen ist nicht Zweck an sich, sondern Mittel zum Zweck gegen einen übergriffigen Staat. Dieser lässt sich aber durch andere Begriffe vermeiden oder zumindest stark einschränken. Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Freiheits- bzw. Bürgerrechte können so ausformuliert werden, dass man das verhindern kann, was man verhindern möchte. Der Menschenwürdebegriff ist dazu nicht notwendig.

    Für mich ist der Begriff eine missbrauchsanfällige Formel, die von der jeweiligen absoluten Mehrheit nach Gusto interpretiert werden kann statt einer qualifizierten Mehrheit.

    Der Begriff wird gebraucht, um einen Versorgungsanspruch durch den Staat zu legitimieren, aber wird dann ignoriert, wenn es darum geht den Steuerzahler so zu schröpfen, dass er einen großen Teil seiner Arbeitszeit für den Staat arbeitet und damit auch zum Objekt degradiert wird.

    Jemanden einzusperren, tastet zweifellos die Menschenwürde an, trotzdem sperrt der Staat selbstverständlich bestimmte Straftäter ein. So absolut und unantastbar ist sie also doch nicht. Der erste Artikel des GG ist deswegen grunddämlich. Man tut so, als wäre man in einem heiligen Staat, der sich an hehre und absolute Prinzipien hält, die aber in der Praxis überhaupt nicht funktionieren.

    Der Begriff wird verwendet, um Äußerungdelikte zu legitimieren und sogenannte „Hass und Hetze“ zu bekämpfen, aber wenn es darum geht, gegen rechte und konservative Menschen zu hetzen, sie als Nazis und Rechtsextremisten zu beschimpfen und zu brandmarken, dann ist es wieder in Ordnung. Dies zeigt klar, dass nichts absolut ist, und die „Menschenwürde“ überhaupt nicht unantastbar ist und der Staat alles dafür tut, um sie zu achten und zu schützen.

    Der Begriff ist nicht gut. Der Begriff steht an oberster Stelle des Grundgesetzes und wird abgekultet, damit sich die Deutschen einreden können, ab 1945 zu besseren Menschen geworden zu sein. Man versteift sich auf leere Worthülsen, um Selbstreflexion zu vermeiden.

  2. Timm Grams sagt:

    @ Pablo

    Die Bruchlinien trennen nicht das Wahre vom Falschen. Um Ideologien geht es. Für den inneren Zusammenhalt von Gruppen oder Völkern scheinen sie unverzichtbar zu sein. Gegensätze und Feindschaften stabilisieren das System. Das ist alles andere als schön aber wohl unvermeidlich. Carl Schmitt sagt dazu:

    Die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen. Innen und außen, Krieg und Frieden, während des Krieges Militär und Zivil, Neutralität oder nicht Neutralität, alles das ist erkennbar getrennt und wird nicht absichtlich verwischt.

    Wenn ich sage „Wir haben nichts Besseres“, dann ist das
    selbstverständlich die Binnensicht des Westeuropäers.

    Über die Unvermeidbarkeit des Freund-Feind-Denkens grüble ich schon seit langer Zeit. Eigene Erfahrungen konnte ich in meiner 15-Jährigen Mitgliedschaft in der Skeptikerbewegung sammeln.

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