Blickumkehr

Peter Scholl-Latour ist vor nun neun Jahren gestorben. Sein Buch Die Welt aus den Fugen von 2012 ist mir erst jetzt in die Hände gekommen (14. Auflage 2022). Da es viele Themen anspricht, die auch in diesem Hoppla!-Blog behandelt worden sind, werde ich Passagen aus dem Werk wiedergeben und den Zusammenhang herstellen. Zur Einstimmung zitiere ich aus einer Amazon-☆☆☆☆-Kritik (4.11.2012):

Das Interessante auch an diesem neuen Buch Scholl-Latours sind die weiten Bögen die er spannt. Der Autor hat ein gutes Einfühlungsvermögen in kulturelle und religiöse Gegebenheiten und Zusammenhänge. Man spürt sein tiefes Interesse auch für die geschichtlichen Hintergründe. Dazu kommt, dass er seit Jahrzehnten mit vielen Konflikten dieser Welt vertraut ist. Ob man ihm in den verschiedenen Bereichen immer Recht gibt oder nicht – Scholl-Latour bietet guten Stoff, um über Gegenwart und Zukunft der Welt nachzudenken.

Wer den Frieden will, sollte sich auf den allgemeinen physikalischen Grundsatz von Actio und Reactio, das dritte Newtonsche Gesetz, besinnen. Das Reziprozitätsprinzip in den verschiedenen Ausprägungen gilt auch für das Zusammenleben der Menschen und Nationen. Die Blickumkehr und Erweiterung des Blickfelds hilft gegen Rechthaberei. Angesichts des Elends auf dieser Welt, heute gerade in der Ukraine, fällt uns diese Blickumkehr schwer. Die Erinnerung an die Erfahrungen und Einsichten des Peter Scholl-Latour können helfen, die Emotionen halbwegs im Zaum zu halten.

Mein vager Verdacht, dass es eine Sehnsucht nach Autoritäten gibt, wird durch Scholl-Latour konkretisiert. Gleich zu Beginn schreibt er (S. 22):

Man sollte sich nicht einreden, dass die Welt zwangsläufig auf eine liberale Gesellschaft zusteuert.

Wir Kinder der europäischen Aufklärung sehen das nach Selbstbestimmung strebende Individuum im Zentrum der Gesellschaft. Was aber, wenn das Individuum gar nicht souverän sein will?

Scholl-Latour bewegt uns zu einem Perspektivwechsel, weg vom freiheitssuchenden selbstbestimmten Individuum westlicher Prägung. Für maßgebend hält er den islamischen Philosophen Ibn Khaldun (Ibn Chaldūn) aus dem Spätmittelalter (S. 82):

In weiten Teilen der islamischen „Umma“ [Gemeinschaft der Muslime] ist heute die Hoffnung auf die Wiedererrichtung einer höchsten geistlichen und weltlichen Autorität lebendig geworden. „In Abwesenheit eines Propheten“, so dozierte Ibn Khaldun, als sich die „Zeit der Düsternis“ über die Völker des Orients senkte, „bedarf eine religiöse Gemeinschaft einer Person, die Autorität über sie ausübt und in der Lage ist, die Menschen zu zwingen, in Befolgung der offenbarten Gesetze zu leben.“

Andererseits war Ibn Khaldun ein Vertreter der islamischen Aufklärung und Vorbereiter moderner soziologischer Denkweisen.

Unter US-amerikanischer Ägide macht sich unsere Außenministerin für die weltweite Verbreitung der Menschenrechte und der parlamentarischen Demokratie stark. Ein Perspektivwechsel im eben beschriebenen Sinne täte Annalena Baerbock gut. Wir haben ja genügend viele Beispiele, dass Missionierungen und Anstrengungen des Nation Building schrecklich schief gehen können. Dem Aufruf des Peter Struck vom 4. Dezember 2002, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt, folgte im Jahre 2021 ein schmachvoller Rückzug. Die Bundeswehr beklagt 59 tote Soldaten. Die Menschenrechtssituation in Afghanistan hat all das nicht gebessert. Das war wohl absehbar. Scholl-Latour schreibt (S. 63):

Zur Stunde deutet alles darauf hin, dass nach Beendigung der ISAF-Mission das Regime des Präsidenten Karzai in Kabul binnen kurzer Frist zusammenbrechen wird. Am Hindukusch dürfte dann ein rigoroser koreanischer Gottesstaat entstehen und das Gemetzel der Stämme neuen Auftrieb finden.

Sogar im Westen kommen Zweifel auf, ob das volle Demokratie-Paket wirklich unverzichtbar ist: individuelle Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und allgemeine, freie und geheime Wahlen. Wirklich notwendig ist die Möglichkeit eines gewaltfreien Machtwechsels. Und da schneidet China gar nicht so schlecht ab (S. 19):

Seit dem Tod Mao Zedongs hat der Wechsel in den obersten Führungsgremien im Abstand von vier Jahren ziemlich regelmäßig stattgefunden, was nach dem Ausscheiden des genialen Reformerd Deng Xiaoping immerhin eine gewisse Ausbalancierung der Tendenzen zu signalisieren scheint. Jedenfalls wäre hier der Vergleich mit der weltweit verbreiteten Alleinherrschaft von Militärdikatoren und Despoten, die sich zwanzig, dreißig, sogar vierzig Jahre lang an ihre Willkürherrschaft klammern, völlig unangebracht.

Heute würde Peter Scholl-Latour das möglicherweise nicht mehr in so rosigem Lichte sehen, denn 2018 ließ der amtierende Präsident Xi Jinping die Amtszeitbegrenzung aufheben, was ihm eine Amtsführung auf Lebenszeit ermöglicht.

Die Welt ist nicht schwarz-weiß.

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11 Antworten zu Blickumkehr

  1. Pablo sagt:

    Nur weil in China der Präsident wechselt, ist das kein wirklicher Machtwechsel. Es bliebt dauernd die kommunistische Partei an der Macht.

  2. Timm Grams sagt:

    @ Pablo

    Trotz des Einparteiensystems gab es Machtverschiebungen und Machtwechsel. Wie die Chinesen das hinkriegen, ist mir rätselhaft. Aber offenbar bilden sich unterschiedlich motivierte Führungsgenerationen heraus. Aber wie sieht’s denn bei uns aus? Da lösen sich Parteien in der Regierungsverantwortung ab, die Lobbyisten bleiben. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen wird die Bahn seit Jahrzehnten heruntergewirtschaftet und der Autoverkehr verlässlich gepampert.

    • Realo sagt:

      Timm Grams 1. Oktober 2023 17:41 Uhr

      Ich habe Scholl-Latour ungemein geschätzt. Einerseits wegen seinem sachlichen Realitätssinn, andererseits hatte er stets den ideologisch – kulturellen Background im Blick.

      Ich vermute, in China ist der Kommunismus eine Art „Staatsphilosophie“, die vermutlich von Karl Marx gar nicht beabsichtigt, auf das Harmoniestreben der chinesische Tradition/Philosophie (Konfuzianismus) aufbaut. Vor allem baut sie nicht nicht auf das westliche Konkurrenzdenken auf.

      Der Kommunismus konnte in China erfolgreich auf den natürlich vorhandenen „Gemeinsinn“ aufbauen, zumal auch die Gesellschaft wesentlich homogener war, als z.B. in der Sowjetunion.

      Dort ist der Kommunismus, vermutlich aus psychologischen Gründen, an den „egoistischen Denkmustern“ und der Inhomogenität der nach dem Krieg besonders „bunt zusammengewürfelten“ Gesellschaft gescheitert.

      In China gibt es höchstens verschiedene „Denkrichtungen“ auf der Suche nach „Wohlstand und Harmonie“. Alles innerhalb der vorgegebenen Philosophie….

      Mit der „Harmonie“ zwischen den Gruppen ist es im Westen (z.B. Amerika, Israel, EU,…), vorsichtig gesagt, „nicht weit her“. Ein Zerfall der Gesellschaft, nicht einmal Bürgerkriege sind ausgeschlossen. Unsere (grünen) „Missionare“ könnten sich in der Welt lächerlich machen, wenn sie mit solchen „Werten“ auch noch „hausieren“ gehen…

      [Moderator: Hier eine Hilfestellung für Leser, die mit dem Konfuzianismus nicht vertraut sind: Rückbesinnung auf die Lehre der Harmonie.]

  3. Realo sagt:

    Ergänzung zu meinem Text:
    Es dürfte sich zwar auch in China so verhalten wie bei uns, dass viele ältere Menschen vereinsamen, und die Jüngeren ihren „Lebenssinn verlieren“. Dennoch scheint das Chinesische Volk eher traditionell mit „Gemeinsinn“ und „Harmonie“ verwurzelt, als mit „Konkurrenz und Wettbewerb“.

    Ich hatte eher den weniger kritischen, folgenden Link im Auge:
    https://relilex.de/konfuzianismus-philosophie/#:~:text=dr%C3%BCcke%20die%20Eingabetaste.-,Konfuzianismus,-(Philosophie)

  4. Frank Wohlgemuth sagt:

    Die verlinkte „Rückbesinnung auf die Lehre der Harmonie“ rückt einiges gerade, weil sie auf die Lebensrealität sieht:

    Im Grunde genommen ist die Renaissance des Konfuzianismus eine rein akademische, die an den Universitäten stattfindet, betrieben wird, die aber inzwischen auch von der Staatsleitung her mitfavorisiert wird und zwar deswegen, weil man meint, über den Konfuzianismus China wieder auf die Bahn der Moral bringen zu können.

    Deshalb ist auch der Blick ins philosophische Lexikon bei dem Thema ziemlich irrelevant : Wenn ich mir nur ansähe, was unseren Spitzenmanagern in ihren „persönlichkeitsbildenden“ Führunges-Seminaren erzählt wird, da werden sie mit Sätzen von Konfuzius, Jesus, Seneca, Thomas von Aquin, Kant usw. gefüttert, dann käme ich zu dem Ergebnis, dass unsere Wirtschaft nach ethischen Prinzipien geführt wird …..

    Wenn diese konfuzianische Kultur tatsächlich in den Gesellschaften gelebt würde, die sie für sich beanspruchen, bräuchte es die gigantischen Unterdrückungsapparate nicht, die in China ebenso existieren wie in Nordkorea. Was im Volk davon noch vorhanden war, ein Gehorsam gegenüber der Autorität, der sich auch in dem Gehorsam gegenüber den Vorfahren zeigte und mit dem Patriarchat tradiert wurde, ist aber mit der Industrialisierung der Gesellschaft praktisch verschwunden, weshalb der Staat versucht, das wieder zu beschwören. Wenn wir den Nationalsozialismus oder die DDR ähnlich „kultursensibel“ betrachten würden, wie es teilweise mit der Diktatur Xis gemacht wird, könnten wir auch da Äquivalente zum Konfuzianismus entdecken.

    Aber vielleicht wäre es sinnvoller ganz aktuelle Beobachtungen zu verallgemeinern: Unser Christentum gönnen wir uns nur, solange es uns gut geht geht, wenn nicht, werden wir wieder fremdenfeindlich, intolerant und pfeifen zugunsten der Deppen, die uns einfache Lösungen auf Basis dieser wiederentdeckten Leidenschaften versprechen, auf die Demokratie.

    Damit will ich nicht behaupten, dass unsere Kultur keinen Einfluss auf uns hätte, sondern nur, dass der sich im Wesentlichen auf der Ebene des persönlichen Miteinanders abspielt und hauptsächlich in der Aggression zu kollektivfähigen Gefühlen führt.

    • Realo sagt:

      Ich wollte doch nur eine Antwort auf die Frage, warum sich die Kommunistische Ideologie in Europa (in der „Heimat“ von Karl Marx), praktisch von selbst zerlegt hat, aber in China höchst erfolgreich ist und es China innerhalb kurzer Zeit zu Wohlstand gebracht hat.

      Meine Vermutung ist, dass es an den „traditionellen Werten“ liegt. In China wird „von innen heraus“ „Gemeinsinn“ und „Harmonie“ angestrebt, im Westen „Konkurrenz und Wettbewerb“. Diejenigen die Arbeiten müssen, sehen es bei uns, meiner Meinung nach zurecht, nicht so gerne, wenn sich andere „aushalten“ lassen.

      Es scheint immerhin positiv, dass man in China Fehlentwicklungen mit einer Renaissance des Konfuzianismus beheben möchte. Bei uns ruiniert man die traditionellen Religionen absichtlich mit den Missbrauchsvorwürfen und will sie durch eine „künstliche grüne Religion“ ersetzen. Nach wenigen Jahrzehnten droht die bereits an den inneren Widersprüchen (Energie, Klima, Heizung,…) zu scheitern.

      Neben parasitären Abzockerbanden (Geldanleger, Privatpensionabzocker,…) gibt es bei uns durchaus viele höchst kreative Unternehmer die ethisch einwandfrei agieren. Sie erzeugen oder vertreiben begehrte Güter, schaffen viele Arbeitsplätze, zahlen viele Steuern und müssen jeden Tag ihre „Marktprüfung“ ablegen.

      Auch wir haben einen „Sicherheitsapparat“ und z.B. „Reichsbürger landen“ im Knast. Da die aber immer wieder mit dem „Strick abrechnen wollen“ und bei Demos sogar mit kleinen „Galgen“ auf der Straße herumlaufen, sind sie im Knast gut „aufgehoben“. (In China wie auch in Deutschland).

      Die Kirchen waren allerdings nach dem Krieg, als die Menschen die „Nazi Bretter vorm Hirn“ wieder loswurden, relativ stark besucht. Man wollte wieder Hoffnung schöpfen.

      Wenn sich die Armenier und die Aserbaidschaner, die Russen und die Ukrainer, die Juden und die Palästinenser, die Hutus und die Tutsis, …. gegenseitig „Blumen streuen“ würden, dann würde ich Zuwanderungen und die gegenseitige „Befruchtung von Kulturen“ begrüßen, es ist aber nicht so, verschieden Gruppen fallen immer wieder über einander her und schlagen sich gegenseitig den Schädel ein….

    • Frank Wohlgemuth sagt:

      @ Realo

      Ich wollte doch nur eine Antwort auf die Frage, warum sich die Kommunistische Ideologie in Europa (in der „Heimat“ von Karl Marx), praktisch von selbst zerlegt hat, aber in China höchst erfolgreich ist und es China innerhalb kurzer Zeit zu Wohlstand gebracht hat.

      Ich bin etwas verwundert über diese Frage, weil sich in China zwar die Struktur, auf die sich die Xi stützt, noch Kommunistische Partei nennt, aber der wirtschaftliche Erfolg dieses Staates erst nach einer Privatisierung eines wesentlichen Teils der Industrie entstand, mit ganz normal kapitalistischer Ausbeutung der Arbeitnehmer durch die kapitalistischen Unternehmer.

      Laut einer Studie der Peking-Universität verdienten die reichsten 5 Prozent der chinesischen Bevölkerung im Jahr 2012 das 34-fache der ärmsten 5 Prozent. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung verdienen somit 18-mal mehr als die ärmsten 10 Prozent; in Deutschland beträgt das gleiche Verhältnis zum Vergleich 6,9.

      (Wikipedia)

      Das klingt kaum nach einem kommunistischen Staat. Wobei man auch die Erfolge, die ein Staat nach einer vorgeblich angewandten Ideologie erringt, nicht unbedingt als die Erfolge dieser Ideologie bezeichnen sollte. Was die Chinesen immerhin von den Russen unterscheidet, ist, dass sie es geschafft haben, eine Industrie aufzubauen, die einigermaßen zum Land passt, statt wie in Russland im Wesentlichen eine Kleptokratie aus mafiösen Strukturen und Parteispitze mit den Erlösen von Rohstoffexporten zu mästen.

      Meine Vermutung ist, dass es an den „traditionellen Werten“ liegt. In China wird „von innen heraus“ „Gemeinsinn“ und „Harmonie“ angestrebt, im Westen „Konkurrenz und Wettbewerb“.

      Das mögen die offiziellen Ziele der Regierung sein. Sie werden praktisch durch ein System der konsequenten Überwachung und Unterdrückung erreicht. Individual-Menschenrechte existieren selbst auf dem Papier nur mit der Einschränkung, dass sie die Rechte des Staates nicht beeinträchtigen dürfen. Was Recht ist, wird dabei von der Partei festgelegt. Menschenrechte können also nicht eingeklagt werden. Das heißt, dass China selbst nicht auf die Existenz dieser „traditionellen Werte“ in der Bevölkerung vertraut und sich die Bevölkerung nach den Erfahrungen auf dem Platz des himmlischen Friedens nicht mehr traut, nach persönlicher Freiheit zu rufen.

      Dass hier bei uns „Konkurrenz und Wettbewerb“ sehr verbreitete Erziehungsziele in Elternhaus oder Schule sind, deckt sich nicht mit meinen Erfahrungen in jahrelanger Elternarbeit an der Schule. Was ich das sah, war, dass die Eltern (mehr unbewusst) immer stärker versuchen, die Erziehung an die Schulen zu delegieren (das ist wahrscheinlich auch eine Folge dessen, was ich als Kulturbruch bezeichne s.u.).

      Bei uns ruiniert man die traditionellen Religionen absichtlich mit den Missbrauchsvorwürfen und will sie durch eine „künstliche grüne Religion“ ersetzen.

      Die Kirchen waren allerdings nach dem Krieg, als die Menschen die „Nazi Bretter vorm Hirn“ wieder loswurden, relativ stark besucht. Man wollte wieder Hoffnung schöpfen.

      Sehen wir mal von dem Unsinn mit der „grünen Religion“ ab und betrachten nur die Rolle der Kirchen bzw. des Christentums. (Was verstehen Sie eigentlich unter einer Religion?)

      Historisch:
      Wir hatten in der Weimarer Republik einen Anteil von ca 98% der Bevölkerung in den beiden großen Kirchen organisiert. Während des „3. Reiches“ wurde von sehr wenigen führenden Nazis eine Art Neopaganismus mit germanischen Göttern propagiert, im Programm das NSDAP galt das „positive Christentum“ als angestrebte Staatsreligion. Praktisch stand die Mehrheit des katholischen wie des evangelischen Klerus auf Seiten der „Bewegung“, die passte auch zu gut in das spätwilhelminische Weltbild, in dem die meisten sozialisiert waren. Insofern ging vom Nationalsozialismus selbst bis auf wenige Ausnahmen kaum ein Druck gegen die religiöse Orientierung der Bevölkerung aus und die Leute gingen nach dem Krieg nicht WIEDER in die Kirche, sondern sie bleiben da im Gehorsam gegenüber der Kultur ihrer Eltern.

      Aber gleichzeitig fand die Auslösung des Kulturbruches wahrscheinlich mit dem oft unbewussten, auch verdrängten, Erleben dessen statt, dass diese elterliche Kultur eben nicht gereicht hatte, uns vor der Beteiligung an den Gräueln der NS-Zeit und dem Krieg zu bewahren. Das führte zu einer eher zögerlichen Weitergabe genau dieser Kultur an die nächste Generation und äußerte sich u.a. in einer stetig wachsenden Zahl der Kirchenaustritte seit dem Ende des zweiten Weltkriegs bis heute – die Mehrheit der Deutschen ist nicht mehr konfessionell gebunden. Das aber als Folge der Missbrauchsvorwürfe zu sehen, ist eine Verkehrung von Ursache und Wirkung: Erst die Abkehr von den Kirchen und die Entfernung vom Patriarchat machten es möglich, die Missbräuche und seine Vertuschung sowohl in den Familien als auch in den Kirchen wahrzunehmen. (Ein derartiges Abbrechen religiöser Überlieferung nicht nur ohne staatlichen Zwang sondern sogar gegen den erklärten Willen des Staates – siehe z.B. Gottesfurcht als Erziehungsziel in einigen Länderverfassungen, die Präambel des Grundgesetzes usw. – dürfte übrigens historisch einmalig sein)

      Wenn ich in dem Zusammenhang dann von einem „absichtlichen Ruinieren der traditionellen Religionen mit den Misbrauchsvorwürfen“ lese, sag mir das zum Einen, dass Sie keine Ahnung von den Strukturen des hiesigen Journalismus haben, zum Anderen muss ich Sie fragen, wie sie sich das Verheimlichen der Tatbestände, die da hochkamen, denn vorstellen.

  5. Realo sagt:

    Frank Wohlgemuth 12. Oktober 2023 um 11:55 Uhr

    Mir ist auch aufgefallen, das Chinas Politiker sehr „flexibel“ sind und der „Edelkapitalismus“ etabliert wurde.

    Dagegen dass hoch kreative Unternehmer begehrte Güter zu günstigen Preisen produzieren, viele Arbeitsplätze schaffen, viele Steuern bezahlen, jeden Tag ihre „Marktprüfung“ am fairen Markt ablegen müssen, dabei Kapital für Investitionen anhäufen müssen, dagegen habe ich nichts.

    Nur wenn sich „Kapitalisten“ parasitär in Geschäftsprozesse einbinden, den “Brotkorb“ für das Volk möglichst hoch hängen, besonders im Kranken- und Pensionssystem fest abzocken, die eingezahlten Gelder zu einem großen Teil bei Anlegern, Provisionsjägern, der Werbewirtschaft landen und nicht bei den Ärzten und Krankenschwestern, dagegen bin ich.

    Nach 1989 als man uns die „Amimethoden“ besonders beim Kranken- und Pensionssystem „aufzwingen“ wollte, hat sich hauptsächlich Lafontaine erfolgreich dagegen gewehrt.

    Schwierig ist der Wohnbau. Da dürfen nicht nur wir, sondern auch die Chinesen Probleme haben.

    Fakt ist aber, dass China höchst erfolgreich ist und es innerhalb kurzer Zeit zu allgemeinem Wohlstand gebracht hat, wie es auch deutsche Politiker wie Adenauer, Erhard, Schmidt, Schröder, Merkel, geschafft haben.

    Zitat: „Laut einer Studie der Peking-Universität verdienten die reichsten 5 Prozent der chinesischen Bevölkerung im Jahr 2012 das 34-fache der ärmsten 5 Prozent. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung verdienen somit 18-mal mehr als die ärmsten 10 Prozent; in Deutschland beträgt das gleiche Verhältnis zum Vergleich 6,9.
    (Wikipedia)“

    Ich vermute, dass in D möglicherweise die Schicht der „wirklich arbeitenden Klasse“ von einer noch „unteren“ gar nichts „arbeitenden Klasse“ (die sehr wohl arbeiten könnte) abgezockt wird.

    Zitat: „Was die Chinesen immerhin von den Russen unterscheidet ist, dass sie es geschafft haben, eine Industrie aufzubauen, die einigermaßen zum Land passt, statt wie in Russland im Wesentlichen eine Kleptokratie aus mafiösen Strukturen und Parteispitze mit den Erlösen von Rohstoffexporten zu mästen.“

    Da Russland reich an Rohstoffen ist, hat sich die Industrie angepasst um diese Rohstoffe zu fördern. Abgesehen vielleicht von der Gasproduktion, ist der Bergbau kein „Honig lecken“.
    Allerdings die Sache mit den „Kleptokraten“, sehe ich diametral anders.

    Ich vermute dass es den Ukrainekrieg nur deswegen gibt, weil sich die mafiösen westlichen „Kleptokraten“, bei uns nennt man sie vornehm „Anleger“, irgendwann die russischen Bodenschätze „unterm Nagel reißen“ wollen. Das ist der eigentliche Sinn der „Nato Osterweiterung“. Würde in Russland nur „Sauerkraut wachsen“ gäbe es diesen Krieg nicht.

    Unser System beruht auf „Konkurrenz und Wettbewerb“, das ist einfach Fakt. Das kritisiere ich auch gar nicht, es hat auch Vorteile. Nur besteht eben Entartungspotential, wie bei jeder Ideologie/Religion, letztlich kann alles entarten und man versucht dagegen vorzugehen. Auch bei uns könnten Demonstrationen entarten….

    Religionen versuchen das Zusammenleben der Menschen positiv zu steuern, besonders auch die weitere Existenz gegen „Aussterben“ zu sichern.

    Ihre historische Sicht und ihr Resume entspricht der Denke gehobener Schichten. Die vielen „kleinen Leute“ dürften andere Prioritäten haben.

    Kriege haben eher mit der Unzulänglichkeit der Menschen zu tun. Daran können Religionen/Ideologien nichts ändern, das war schon immer so.

    Die Menschen wollten nach dem Krieg ihre neue „politische Freiheit“ genießen, einfach jegliche „Vormundschaft abschütteln“.

    Es galten neue, freiere Erziehungskonzepte für die Kinder und die „Kultur des Konsum“.

    Ich finde es gut, wenn sich die “Grünen“ für Gesundheit einsetzen und den Produzenten der Lebensmittel „auf die Finger schauen“. Herrn Habeck halte ich für einen realistisch denkenden, absolut integren Politiker.

    Andererseits entsteht schon der Eindruck, viele Grüne möchten anderen Menschen „Vorschriften“ machen.

    Die Missbrauchsvorwürfe tragen zur Auflösung der Traditionen bei. Ich vermute, das ist beabsichtigt. Nicht zur „Aufklärung“, es ist ohnehin völlig klar, dass es derartiges überall in der Gesellschaft gibt, bei uns und in jeder anderen Kultur.

    Mich ärgert nur, dass so getan wird als würden die Kirchen absichtlich derartige Verbrechen fördern, obwohl in Wirklichkeit, besonders die Kirchen, gegen jegliches noch so kleine „Fehlverhalten“ gewettert haben….

    Die Medien wollen an Macht gewinnen und uns ihre Sichtweisen ins Gehirn drücken. Sie wollen die „ideologischen Platzhirsche“ entfernen, uns z.B. „Kriegslüstern“ machen, aus eindeutig finanziellen Interessen (frische Rohstoffaktien) gewisser Gruppen.

    Die Journalisten bilden einen Schwarm von „Plapperern“ die Sensationen in die Welt hinaus posaunen, die die Neugier anderer „Schwärme“ befriedigen. Dafür bekommen sie ihr „Futter“.
    Dass so mancher „Schwarm Führer“ „Interessen“ hat, da habe ich keine Zweifel.

    Es geht darum, die Sachverhalte korrekt einzuordnen. Dass es unter Pfaffen genau so „schwarze Schafe“ gibt wie bei den Metzgergesellen, bei der Feuerwehr oder der Polizei. Trotzdem käme keiner auf die Idee, diesen Institutionen Schuld zuzuweisen

    • Frank Wohlgemuth sagt:

      Zur Rolle der Kirchen:

      Die evangelische Kirche bekommt natürlich in Sachen Missbrauch eine gehörige Menge von dem mit, was die katholische an guten Ruf verliert. Aber an diesem Rufverlust der katholischen Kirche ist die selbst schuld: Die kirchenunabhängige Aufbereitung der alten wie auch der neueren Fälle zeigt immer wieder, dass die Kirche ihre Sünder zwar versetzt, aber immer wieder so, dass sie in ihrem schädliche Umgang mit Kindern nicht gehindert wurden. Es ging also nie um eine wirkliche Aufbereitung, die zu einem Schutz der Schafe hätte führen müssen, sondern um Vertuschung, um Rufbewahrung.

      Zum Entstehen dieser grundsätzlichen Situation brauche ich nicht mein eigenes Menschenbild zu bemühen, es gab auch ein Gutachten eines im Klerus ziemlich hoch angesiedelten Priesters dazu, der selbst auch als Therapeut „schwarze Hirten“ betreut und noch mehr befragt hatte (Ich weiß den Namen nicht mehr und zitiere deshalb aus dem Gedächtnis):

      Je höher der moralische Druck einer Gesellschaft in Richtung der klassischen Zweigeschlechtlichkeit ist, desto schwieriger wird das „coming out“ einer Person. Der Heranwachsende merkt unter diesem Druck nur, dass mit seiner Sexualität etwas nicht stimmt – Sexualität wird zum Problem. Vor dem Hintergrund wird die Abwesenheit der Sexualität im zölibatären Priesterleben als ein positives Versprechen empfunden, das von diesem Problem erlöst. Das führt in der Folge dazu, dass der Anteil von Menschen mit einer anderen Sexualität im katholischen Klerus gegenüber der übrigen Gesellschaft stark erhöht ist. Wenn man diese Leute dann in einem quasi obrigkeitlich geschützten Raum mit Kindern allein lässt, oder – religiös gesprochen – einer permanenten Versuchung aussetzt, sind Unfälle vorprogrammiert.

      Es geht darum, die Sachverhalte korrekt einzuordnen. Dass es unter Pfaffen genau so „schwarze Schafe“ gibt wie bei den Metzgergesellen, bei der Feuerwehr oder der Polizei.

      Diese Aussage hat also nichts mit der Realität zu tun, weil das „Versprechen“ des Zölibats zu einer besonderen Verteilung sexueller Veranlagungen im katholischen Klerus führt. Dass darüber berichtet wird, hat dann nichts damit zu tun, dass die Presse die Kirche zerstören will, sondern einfach damit, dass die Tabus gefallen sind, auch über Missstände in der Kirche zu berichten. Ansonsten trifft sich im Journalismus im Wesentlichen ein Querschnitt geisteswissenschaftlich gebildeter Menschen.

      Zur Tradition monotheistischer Religionen:

      Ein evolutionärer Vorteil dieser Religionen liegt in der Ähnlichkeit des Gottesbildes mit dem frühkindlichen Vaterbild in patriarchalischen Gesellschaften. Das Patriarchat funktioniert aber in einer Industriegesellschaft, in der beide Ehepartner arbeiten nicht mehr so richtig und zeigt deshalb Auflösungserscheinungen. Die Psychologie stellt das dann fest, indem sie herausfindet, dass auch die C.G.Jungschen Archetypen in Auflösung begriffen sind – die waren nämlich nicht, wie Jung gedacht hat, universell, sondern Ausdruck der Kultur, in der er lebte.

      Es ist in einer Industriegesellschaft kaum ohne Gewalt möglich, die alte Stellung der Kirchen zu erhalten. Es bedarf auch keiner bösartigen Journaille, um den Einfluss dieser Kirchen zu mindern.

  6. Timm Grams sagt:

    Blickweitung und Blickumkehr stehen im Verdacht der Relativierung.

    Was ist, wenn für die Relativierung der Maßstab fehlt, einer, der für alle Beteiligte Gültigkeit hat? Sind dann Blickweitung und Blickumkehr verboten?
    Rache löst kein Problem. Soweit ich sehen kann, reagiert Israel zur Zeit besonnen.

    [Moderator: Die Mahnung, was die Länge der Kommentare angeht, wurde gelöscht. Mancher Gedankengang erfordert eben viel Text. Es bleibt bei der Bitte, sich möglichst kurz zu fassen.]

  7. Realo sagt:

    Medien wollen eine ähnliche Rolle übernehmen wie früher die Kirchen. Sie wollen einerseits einen positiven steuernden Einfluss auf die Menschen nehmen und andererseits profitieren. Die Medien noch weitaus mehr als die Kirchen. Sie wollen einfach deren „Geschäftsanteile“ übernehmen und die „Pfaffen in die Wüste schicken“…..

    Die Medien verbreiten massenhaft „Schlechtigkeiten“ der Menschen um an der Neugier Geld zu verdienen. Nur so ganz nebenbei erheben sie den „Zeigefinger“.

    Bei den Krimis ist es noch ärger, besonders was die Auswirkungen auf die Kinder betrifft. Kinder übernehmen die gezeigten (oft grausamen) Handlungsmuster und drehen sogar selber Handyvideos…

    Die negative „Vorbildwirkung“ ist sehr groß. Kirchen verweisen zwar auf die „Schlechtigkeiten“ in der Welt, vermeiden es aber sorgfältig, ins Detail gehende „Muster“ zu verbreiten, die fast schon zur Nachahmung „einladen“.

    Kirchen „mischen“ sich nicht mehr in die Rechtsprechung ein, anders als ehemals zu Zeiten der „Hexenprozesse“. Auch nicht wenn sie bei Ihren „therapeutischen Dienstleistungen“ (z.B. „Beichte“) etwas erfahren. (Wie auch Rechtsanwälte oder Ärzte).

    Missbrauchsvorwürfe waren teilweise nicht berechtigt. Es gab, besonders bei der Kinderbetreuung, Probleme bei der korrekten Beurteilung von „Distanz und Nähe“. Einerseits musste das Personal zumindest „heucheln“, Kinder zu mögen, wer will schon Erzieher die Kinder nicht mögen, andererseits konnte dies große Probleme bereiten, wenn es einen Erzieher nicht gelungen ist, die „richtige Distanz“ zu finden.

    Ich habe einmal gehört, dass ein „bedenklicher Erzieher“ zur geistlichen Betreuung von alten Ordensschwestern in ein Altenheim versetzt wurde.

    Dass es auch in kirchlichen Kreisen eine Lobby gibt, die Verbesserungen für das Personal durchsetzen will, dass z.B. die Ehelosigkeit aufgehoben wird, ist klar. Dass sie dazu auch das „Missbrauchsproblem“ als Argument bemühen, ist naheliegend.

    Nur bekommt die Kirche zusätzliche Probleme, nicht nur weil das Personal mehr Geld für die Familie brauchen würde. Das Ansehen der Kirche würde zusätzlich leiden, wenn z.B. die Kinder einer Pfarrersfamilie mit Drogen handeln, Eheprobleme öffentlich würden, oder es womöglich Femizide geben würde…..

    Das Problem zwischen „Distanz und Nähe“ kann bei der Sexualität grundsätzlich große juristische Probleme bereiten. Ein Bekannter war etwas ungeschickt und hatte ein Verfahren wegen Vergewaltigung am Hals und das hat sein weiteres Leben, übrigens als Jurist, schwer beeinträchtigt.

    Im kirchlichen Dienst landen eher intelligente „Spätentwickler“ die kirchliche Internate „überstanden“ haben, denen „Verantwortung“ für eine Familie zu übernehmen unerträglich hoch scheint und die lieber ein „gesichertes Leben“ vorziehen. Ich weiß nicht, ob es Studien gibt, die bei dieser Gruppe ein relevant erhöhtes Risiko für Pädophilie nachweisen?

    Viele „moderne“ Berufsgruppen (Psychologen, Therapeuten,….) ersetzen/erweitern die Religionen positiv. Die Journaille nicht…..

    [Moderator: Wir kommen zu weit vom Thema ab.]

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