Ding und Idee – Körper und Geist – Sache und Wert

Anna-Lena Baerbock scheint in den vergangenen Monaten die Sphären gewechselt zu haben. Sie nähert sich einer geopolitischen Bewertung der Krisen dieser Welt: „Der Angriff Russlands auf die Ukraine macht die EU-Erweiterung um den Westbalkan zu einer geopolitischen Notwendigkeit.“ Es nicht sehr lange her, da war ihr noch die wertegeleitete Außenpolitik ein besonders Anliegen. Ich werde zum Schluss noch einmal auf den mutmaßlichen Sinneswandel zurückkommen.

Im vorletzten Hoppla!-Artikel habe ich über meine Ratlosigkeit angesichts der aktuellen Nachrichtenlage geschrieben. Die Kommentare zum Artikel haben die Verwirrung nicht beseitigt sondern eher noch gesteigert. Das Widersprüchliche scheint der Wesenskern der Politik zu sein und ist vermutlich grundsätzlich nicht eliminierbar.

Leib und Seele

Im Laufe der Aufklärung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Seele ohne den Leib nicht sein kann. René Descartes hat das noch anders gesehen. Dann wurde die Seele zum irdischen Geist reduziert und der Leib als Körper verallgemeinert. Das heißt aber nicht, dass sich das Verhältnis der beiden zueinander entspannt hätte.

Um die gedankliche Aufspaltung des Lebens in zwei Sphären kommt man nicht herum. Wer aber genau wissen will, wie die Bereiche zueinander stehen, landet in schier unüberwindlichen Schwierigkeiten. Für Emil du Bois-Reymond ist es das fünfte Welträtsel.

Dazu hatten wir eine ausgiebige Diskussion, die ich hier nicht erneut aufgreifen will. Ich will den Leser nur an meiner Verblüffung teilhaben lassen darüber, wo überall die Zweiteilung des Menschen eine Rolle spielt. Es beginnt bei den alltäglichen Auseinandersetzungen.

Aus einer Diskussion

Jüngst habe ich einen Diskussionsfaden des Hoppla!-Blogs gewaltsam beendet. Dort finde ich die Klage, dass die „grüne Ideologie an der Realität scheitert“. So wird ein mutmaßlich falsches Bewusstsein dessen, was sein SOLL, dem gegenübergestellt, was nach Ansicht des Diskutanten tatsächlich IST.

Was sein soll, ist Angelegenheit des Geistes. Was tatsächlich ist, gehört zur Welt der Körper. Auch das, was ist, wird über den Geist vermittelt. Aber wir haben ein gutes Verständnis dessen, was Fakten sind und was nicht.

Die Ideologie ist ausschließlich, Geistesprodukt. Ihr Prüfstein ist die mögliche zukünftige Realität, nicht die aktuelle. Den flüchtigen Charakter des Geistigen macht Realo deutlich.

Der Kommunismus scheint völlig vernünftig, viele Intellektuelle haben daran „geglaubt“. Aber der Mensch ist nicht wirklich „vernünftig“ und der Kommunismus hat sich in Europa von selbst zerlegt.

Selbst die Fakten sind nicht leicht dingfest zu machen, wie der folgede Gegenangriff des NonRealo zeigt:

Der Kommentator Realo zieht gerne irgendwelche geglättenen Zahlen und Durchschnittswerte heran, ignoriert, wie man diese Zahlen manipulieren kann, ignoriert, wie der Energiemarkt funktioniert, anstatt die Realität zu sehen… Hier soll im Sinne der neoliberalen Panikpropheten manipuliert werden, so mein Eindruck.

An dem kleinen Gesprächsausschnitt zeigt sich, warum sich solche Diskussionen endlos fortsetzen lassen: Es gibt vage Vorstellungen von zwei Sphären, der Versuch einer Präzisierung sorgt für neue Unklarheiten.

Wenn Gedanken die Seite wechseln

Gesetze und Regeln sind Geistesprodukte. Aber einmal aufgeschrieben und von maßgebenden Institutionen für verbindlich erklärt, werden sie zu Fakten. Was aber hat es mit den Grundrechten auf sich? Für die Bundesrepublik sind sie in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes gefasst. Dieser Wertekatalog enthält die Zielvorgaben der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (GG Artikel 5, 3, 14 Absatz 2). Dazu kommen die Prinzipien der Marktwirtschaft: Schutz des Eigentums und des Erbrechts (GG 14). Die Sorge gilt vor allem dem Individuum.

Es gibt Alternativen dazu. Das Wertesystem des Konfuzius beispielsweise stellt die Gemeinschaft in den Vordergrund.

All diesen Wertesystemen ist gemeinsam, dass sie auslegungsbedürftig sind. Das Grundgesetz bindet Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (GG Artikel 1). Der Justiz wird ein großer Gestaltungsspielraum eingeräumt. Dieser wird vom Bundesverfassungsgericht auch genutzt, wie wir am Urteil vom 15. November 2023 zum zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 erfahren durften: Die werteorientierte Politik schlägt zurück.

Geopolitik und Wertebindung

Wenn wir von Wert reden, dann meinen wir zunächst einmal den Tauschwert einer Sache. Sogar in der Ökonomie ist der Wert einer Sache keine ihrer intrinsischen Eigenschaften: Der Wert der Dinge wird in der Marktwirtschaft durch ihren Preis bestimmt, und nicht etwa der Preis durch den Wert.

In der Politik wird der Wertbegriff transzendentiert. Er wird erklärungsbedürftig.

Die wertegeleitete Außenpolitik ist ein Beispiel dafür, was Carl Schmitt als Die Tyrannei der Werte bezeichnete. Es verwundert nicht, dass sich einer der Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid, durch Hinzufügen eines „o“ zu seinem Vornamen von diesem Namensvetter abgesetzt hat.

Mit der Hochschätzung der Werte geraten wir in ein Paradoxon: Die Wertfreiheit der Wissenschaft ist für uns ein hoher Wert der Wissenschaft.

Die Werteorientierung hat praktische Folgen: die Verneinung eines negativen Wertes ist ein positiver Wert. Dieser Satz erlaubt es,

Böses mit Bösem zu vergelten und auf diese Weise unsere Erde in eine Hölle, die Hölle aber in ein Paradies der Werte zu verwandeln.

Dieser Gedanke des ehemaligen Nationalsozialisten Carl Schmitt (Die Tyrannei der Werte, 1967/2020, S. 51) hat nun wohl auch Annalena Baerbock erreicht. Auch das ist paradox, oder etwa nicht?

Drei Tipps für Kommentatoren: Ideen haben dann eine Chance, wenn sie hartnäckig und ausdauernd vertreten werden. Die Wiederholung des Immergleichen ist die auch in der Werbewirtschaft geschätzte Holzhammermethode zur Durchsetzung von Meinung. Die Produktion von riesigen Mengen an Text ist ermüdend für den Leser; das dünnt die Gegnerschaft aus. Sie werden obsiegen.

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6 Antworten zu Ding und Idee – Körper und Geist – Sache und Wert

  1. Realo sagt:

    Ich meine, dass gemeinsame Wert für Gruppen wichtig sind, die unter bestimmten, eher schwierigen Umständen leben und diese Situationen bewältigen müssen um überhaupt existieren zu können.

    Es scheint aber verrückt, „Werte“ anderen Gruppen aufzwingen zu wollen, die ganz andere Probleme haben. Eine „wertegeleitete Außenpolitik“ läuft Gefahr, „Werte“ als „Rammbock“ zur Durchsetzung eigener Interessen zu missbrauchen.

    Andere Staaten können völlig andere, höchst erfolgreiche Traditionen und Optionen der Problemlösung haben. Die sind nicht auf unsere Werte angewiesen. Das kann zu Existenz bedrohenden Konflikten führen. Es ist fast „Kriegstreiberei“ mit „seinen eigenen Werten“ in der Welt „hausieren“ zu gehen.

    Typisch der Islam. Die sehr strikten Werte und Regeln des Islam sind extrem wichtig in Saudi Arabien, dort ist ihr Mittelpunkt die Kaaba. Moderne Optionen wie die Aufbereitung von Salzwasser, Wasserleitungen und Kühlschränke nehmen Einfluss auf die Lebensstände und längerfristig auf die „Werte“.

    Für Eskimos sind völlig andere Werte und Regeln wichtig. Sie würden nie auf die verrückte Idee kommen, ihre Wert den Saudis aufzuzwingen.

    Die Hamas will recht offen und direkt zur Durchsetzung ihrer „heiligen Werte“ Israel „an den Kragen“. Völlig klar, dass sich Israel das nicht gefallen lässt.

    Die „westlichen Werte“ und das anfeuernde „Gekläff der Medien“, haben immerhin dazu geführt, dass man in so manchen Staaten, die die „geheiligten Werte der Demokratie“ hoch halten wollen, nicht mehr sehr weit von einem Bürgerkrieg entfernt ist.

    Dass in so einer Situation die Außenministerin, der die Situation vielleicht nicht klar scheint, nicht gerade mit offenen Armen empfangen wird, scheint auch naheliegend. Es könnt aber auch eine Flucht nach Vorne sein, um von den eigenen Problemen abzulenken.

    Zitat: „Das Widersprüchliche scheint der Wesenskern der Politik zu sein und ist vermutlich grundsätzlich nicht eliminierbar.“

    Der Grund ist vermutlich, dass ein „Anderer“ dafür aufkommen muss, wenn der „Eine“ etwas will. Haben beide einen Vorteil, so ist es meistens nachteilig für die „Umwelt“.

    Den „Leib und Seele Dualismus“ führe ich auf den „Hardware Software Dualismus“ zurück. Wirklich offen und nur schwer lösbar, scheint das „Empfindungsphänomen“. Und wenn ich den folgenden „Link“ richtig verstanden habe, vermuten Physiker „Muster bestimmter Teilchendynamiken“ dahinter.
    https://www.youtube.com/watch?v=weKSf000ENk
    (Die Zusammenfassung unter dem Bild finde ich gut!)

    Die Sache mit der „grünen Ideologie“ könnte man recht anschaulich darauf herunterbrechen, dass es aus Klimagründen zweckmäßig wäre, “sofort, absolut konsequent und auf der Stelle“ aus den „fossilen Energien auszusteigen“.

    Die Folge wäre salopp gesagt, dass in D, sagen wir die Hälfte der Einwohner den Winter nicht überleben würden. Einerseits würden die Menschen erfrieren, andererseits nicht mehr in den Job kommen, verhungern (Lebensmitteltransporte), oder eben sterben weil sie lebenswichtige Medikamente nicht mehr bekommen könnten.

    Die „Denkprobleme“ ergeben sich meiner Meinung daraus, dass unser „Denken“ auf „vage Muster“, einer „vagen Logik“ und noch den üblichen Problemen aufbaut, die Psychologen herausgefunden haben, z.B. individuelle Interessen und verborgene „Motivationen“.

    Der Spielraum den die Justiz einnehmen sollte ist heikel. Einerseits sollte sie zweifellos gegen Verbrechen und Vergehen vorgehen. Es wird aber sehr fragwürdig, wenn sie sich in das politische Geschehen einmischt und sich in die (unvermeidbare) „politische Intrige einspannen“ lässt. Dann besteht die Gefahr, dass sie ihre Glaubwürdigkeit verliert und aus lauter „Rechthaberei“ der Bürger der Staat ruiniert wird….

    Dann wird womöglich Ihr nachstehendes Zitat Realität.

    Zitat: „Böses mit Bösem zu vergelten und auf diese Weise unsere Erde in eine Hölle, die Hölle aber in ein Paradies der Werte zu verwandeln.“

  2. Timm Grams sagt:

    @ Realo
    Die wertebasierte Außenpolitik ist kein Ausrutscher und hat sicherlich nichts damit zu tun, dass der Außenministerin „die Situation vielleicht nicht klar scheint“ und auch nichts mit einer „Flucht nach vorne“. Sie steht im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ der Ampelkoalition:

    Unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden wir wertebasiert und europäischer aufstellen.

    Fortschritts- oder Illusionskoalition? Das fragt der Ernüchterte.

    (Bitte fassen Sie sich kürzer. Das liest sonst doch keiner mehr. Mein Geduldsfaden ist lang, aber endlich.)

  3. Realo sagt:

    @ Timm Grams

    Zitat: „Fortschritts- oder Illusionskoalition?“

    Genau so könnte man es sehen.

    Junge Leute „glauben“ oft selbst ernsthaft an ihre „Werte“ (Illusionen), erwarten womöglich, dass man sie damit gerne überall „willkommen heißt“.

    Für „Alte“ ist klar, da geht wieder einmal eine Illusion den Bach hinunter….

  4. Renate sagt:

    Damit Werte nicht diffus bleiben, müssen sie sich wohl in Taten zeigen. Peter Jedlicka (CHELIF Werteprofil) nennt das „Wertebeweise“. Finde ich klug.

    LG Renate

    • Timm Grams sagt:

      Ich wollte wissen, was es mit dem Buch auf sich hat. Der aufschlussreichste Kommentar war der einer Sonja aus Krems an der Donau:

      Das „CHELIF Werteprofil“ halte ich für die Partnersuche für VÖLLIG ungeeignet…
      Wofür die Buchstaben stehen: (Im Original Englisch)
      C – Karriere
      H – Sport-und Gesundheitsorientierung
      E – Bildung und Kreativitätsorientierung
      L – Life Style und Ergebnisorientierung
      I – Idealistische Wertorientierung
      F -Freunde und Familie

      Die Werbung für Lebenshilfe-Ratgeber ist im Hoppla!-Blog nicht so recht am Platz.

  5. Kinseher Richard sagt:

    zum fünften Welträtsel: Bewusstsein

    In ca. 2 Wochen ist mein neues Buch im Handel:
    Kinseher Richard:
    ´Auflösung großer Fragen: Was ist BEWUSSTSEIN? Was ist ZEIT?´

    – Darin wird – mit Beispiel – beschrieben, wie DENKEN funktioniert, WIE + WARUM ein ´ICH-Bewusstsein´ entsteht und was ´Bewusstsein´ ist.
    – Außerdem wird eine Definition für ´ZEIT´ vorgestellt.

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