Am 30. Juni 2021 schrieb ich:
Mit Abschaffung des Begriffs der Rasse verschwindet der Rassismus leider nicht.
Das kann ich jetzt präzisieren, und zwar mit Hilfe eines Buches von Robin DiAngelo: White Fragility (2018). Über dieses Buch meint Martin Mahner, es sei Antiwissenschaft. Für mich ist das Buch zwar keine Wissenschaft im Sinne des kritischen Rationalismus, aber es enthält einige bemerkenswerte Aussagen und Denkansätze. Der Denkrahmen ist hier eben nicht gegeben durch die Naturwissenschaften, die Biologie und ihre Taxonomien, sondern durch die »Totalität« (Adorno) der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Robin DiAngelo schreibt (S. 41 f.):
One line of [Martin Luther] King’s speech in particular – that one day he might be judged by the content of his character and not the color of his skin – was seized upon by the white public because the words were seen to provide a simple and immediate solution to racial tensions: pretend that we don’t see race, and racism will end. Color blindness was now promoted as the remedy for racism, with white people insisting that they didn’t see race or, if they did, that it had no meaning to them. […] While the idea of color blindness may have started out as well-intentioned strategy for interrupting racism, in practice it has served to deny the reality of racism and thus hold it in place.
(Eine Zeile von [Martin Luther] Kings Rede – dass er eines Tages nach dem Inhalt seines Charakters und nicht nach seiner Hautfarbe beurteilt werde möge – wurde von der weißen Öffentlichkeit aufgegriffen, weil sie eine einfache und unmittelbare Lösung für die rassischen Spannungen bieten würde: Tun wir so, als ob wir die Rasse nicht sehen, und der Rassismus wird aufhören. Farbenblindheit wurde nun als Heilmittel gegen Rassismus propagiert, wobei die Weißen darauf bestanden, dass sie die Rasse nicht sahen oder, wenn sie sie doch sahen, dass sie keine Bedeutung für sie hatte. […] Während die Idee der Farbenblindheit vielleicht als gut gemeinte Strategie zur Überwindung des Rassismus begann, hat sie in der Praxis dazu gedient, die Realität des Rassismus zu leugnen und ihn somit aufrechtzuerhalten.)
Wenn Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, sagt, der im Grundgesetz genutzte Begriff »Rasse« solle unbedingt darin erhalten bleiben, der Begriff erinnere an die deutsche Geschichte, vor allem
an die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen, in erster Linie Jüdinnen und Juden; an die Schrecken der Schoa,
dann verstehe ich ihn so, dass er Rasse als Konstruktion im Rahmen sozialer und struktureller Gegebenheiten sieht und weniger als Gegenstand biologischer Klassifizierung.
Robin DiAngelo bezieht ihre Motivation aus den US-amerikanischen Verhältnissen. Sie benennt aber auch die Ursachen, und da kommt sie auf das westliche Wertesystem zu sprechen, auf das sich die Politiker angesichts der Krisen in der Ukraine und Gaza gerne berufen. Die Wurzel des Übels Rassismus liegt für sie im fraglos akzeptierten Denkrahmen (S. 9):
We make sense of perceptions and experiences through our particular cultural lens. This lens is neither universal nor objective, and without it, a person could not function in any human society. But exploring these cultural frameworks can be particularly challenging in Western culture precisely because of two key Western ideologies: individualism and objectivity.
(Wahrnehmungen und Erfahrungen gehen durch unsere besondere kulturelle Brille. Dieser Blick ist weder universell noch objektiv, und ohne ihn könnte der Mensch in der menschlichen Gesellschaft nicht funktionieren. Die Erforschung dieses kulturellen Rahmens kann jedoch in der westlichen Kultur eine besondere Herausforderung darstellen, und zwar gerade wegen der beiden wichtigsten westlichen Ideologien: Individualismus und Objektivität.)
Über Kulturen und Wertesystemen wurde in diesem Hoppla!-Blog bereits mehrfach diskutiert, unter anderem unter dem Titel Zeitenwende.
Hintergrund (Nachtrag 22.4.2024)
Die USA gelten als erste moderne Demokratie. Von den aufklärerischen Grundsätzen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ist nur der erste in die US Verfassung eingegangen. Die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 nennt „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“.
USA, die erste moderne Demokratie? Diese Ehre gebührt ihr: Die USA sind Geburtsort und Heimstatt der modernen Propaganda, schamhaft Public Relations genannt. Das erklärt zum Teil auch ihren Ruf als vorbildliche Demokratie.
Zum Thema Rassismus in den USA: Von den frühen Präsidenten hielten acht während ihrer Amtszeit Sklaven. Das geht natürlich nur, wenn man ein gutes Gewissen dabei hat. Und dieses besorgte man sich bei der Wissenschaft.
In der klassischen Epoche (Barock) war das Klassifizieren und Ordnen groß in Mode. Herausragend: Das Ordnungssystem des Carl von Linné.
Der Klassifizierungsdrang erfasste Pflanzen und Tiere und machte vor den Menschen nicht halt. Man teilte die Menschheit in die Hautfarbentypen weiß, gelb, rot und schwarz ein und ordnete diese den Kontinenten zu.
Soweit, so gut. Aber darüber hinaus erfolgte eine Unterscheidung von höheren und niederen Rassen, wobei dann der Weiße die Spitze der Skala besetzte und der Schwarze das untere Ende. Derartige Qualifizierungen erwiesen sich später als unhaltbar. Für die Mächtigen erfüllten sie damals den politischen Zweck.
Erst mit dem Ende des Sezessionskriegs kam es zum Bürgerrechtsgesetz (Civil Rights Act) von 1866, das allen Bürgern den gleichen Schutz durch das Recht zubilligt und die Diskriminierung nach Rasse und Hautfarbe aufhebt.
In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist dieses Gesetz bis heute nicht gänzlich angekommen. Von der noch bestehenden institutionellen Diskriminierung der Afroamerikaner zeugen viele Berichte in den Mainstream-Medien, die sicherlich nicht USA-feindlich ausgerichtet sind. Die Diskriminierung findet Ausdruck in der Klage von Schwarzen: „I Can’t Breathe“.
Es gibt also auch für den Antirassisten gute Gründe dafür, den Begriff der Rasse beizubehalten. Insofern schließt dieser Artikel an den Beitrag Darf „Rasse“ im Grundgesetz stehen? an.