Von den Gelehrten des Naturalismus wird mir vorgeworfen, ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff der Realität und erst recht mit dem der Wahrheit im Sinne einer zutreffenden Beschreibung derselben. Das aktuelle Heft von Spektrum der Wissenschaft (8/2017) gibt mir Gelegenheit zu erläutern, warum mir diese Begriffe tatsächlich suspekt sind.
„Was ist Wahrheit?“ steht bereits auf der Titelseite des Hefts. Der Hauptartikel „Erkenntnistheorie – Wissenschaft, Erkenntnis und ihre Grenzen“ versucht eine Antwort: Wahrheit ist, was die Realität zutreffend beschreibt. Michael Esfeld meint, dass es gute Gründe gebe anzunehmen, dass die Physik die Realität wenigstens ungefähr so beschreibt, wie sie ist.
Realismus ist Metaphysik
Er macht sich ein Bild von der Realität. Der Physiker, so schreibt Michael Esfeld, zerlege die Natur in immer kleinere Einheiten: „Je weiter diese Zerlegung fortschreitet, desto mehr verlieren die Objekte an individuellen Eigenschaften.“ Zu Ende gedacht, sei die Welt als eine sehr große Menge von ausdehnungs- und eigenschaftslosen Punktteilchen zu beschreiben.
Diese Teilchen erinnern mich an den unsichtbaren Drachen in meiner Garage. Ich habe große Schwierigkeiten, andere von der Existenz dieses Wesens zu überzeugen. Michael Esfeld wird es mit seinen eigenschaftslosen Punktteilchen nicht besser ergehen.
Helmut Zinner beispielsweise kommt mit dem Konzept des eigenschaftslosen Punktteilchens nicht zurecht (Online-Diskussionsbeitrag, 03.08.2017). Es sei nicht konsistent mit der üblichen Sichtweise der Ontologie. „Eine Eigenschaft ist eine Fähigkeit, andere reale Dinge zu beeinflussen oder von ihnen beeinflusst zu werden.“ Michael Esfeld stimmt dem zu: „Deshalb kann man Eigenschaften als Beziehungen zwischen den Dingen verstehen, statt als etwas, das einzelnen Dingen unabhängig von ihren Beziehungen innewohnt.“
Auch in der klassischen Physik ist Schwere eine Körpereigenschaft, die sich erst dann offenbart, wenn andere Körper hinzukommen. Was nun? Hat das Punktteilchen nun Eigenschaften, oder hat es keine? Überlassen wir es Michael Esfeld, darauf eine Antwort zu finden. Mir geht es hier mehr um den von ihm grundsätzlich propagierten wissenschaftlichen Realismus, der unter Philosophen zurzeit ziemlich populär zu sein scheint. Dabei besteht ein auffälliges Durcheinander, was die Auffassungen von der als existierend postulierte Realität angeht. Die fragwürdigen Eigenschaften der Punktteilchen sind noch das geringste Problem.
Realität ist die Vorstellung einer von unserem Denken unabhängig existierenden Außenwelt. Die Annahme einer solchen jenseitigen Realität dient der Vereinfachung unserer Sprache und entfaltet vor allem regulative Wirkung: Wir streben nach wahrer Erkenntnis dieser Realität. Dabei können wir nicht wissen, wie nahe wir ihr kommen können. Sokrates hat diese Einsicht in die Worte gefasst: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“.
Die Ontologie definiert die Wahrheit
Wer eine Ontologie wie beispielsweise die des wissenschaftlichen Realismus hat, wer das Wesen der Dinge wenigstens näherungsweise erkannt zu haben glaubt, der kann den Naturgesetzen Wahrheit zumessen. Der Wissenschaftler verlässt damit den relativ stabilen Grund seiner prüfbaren und bewährten Theorien und begibt sich ins Reich der Metaphysik und des Glaubens. Dort geht es, anders als in der Wissenschaft, um Bekenntnisse.
Zur Begriffsverwendung: Gegenstand der Wissenschaft ist das Diesseits, also die Welt der Erscheinungen. Die intersubjektiv prüfbaren und bewährten Theorien darüber stellen unser Wissen dar. In diesem Sinne wissen wir also doch etwas. Karl Raimund Poppers Falsifizierbarkeitskriterium markiert die Grenze zwischen Wissenschaft und Metaphysik.
Der Glaube ist das nicht methodisch begründete aber zweifelsfreie Für-wahr-halten. Metaphysische Sätze, die ich plausibel finde, kann ich glauben. Wissen kann ich sie nicht.
Das von Michael Esfeld dargebotene realistische Fundament ist bröckelig und von einem geübten Faktenverdreher leicht abzuräumen. Der Realist bezieht ohne Not eine schwache Position gegen vorwissenschaftliche Glaubenskrieger. Der Realismus mit seinen Wahrheitsansprüchen unterminiert die Position der Wissenschaft; es läuft also ganz anders als beabsichtigt.
Der Realist hat einen schweren Stand selbst gegenüber grobschlächtigen Angriffen auf die Wissenschaft. Was hat er noch gegen ein Glaubenssystem aufzubieten, das besagt, dass die Welt von einem Gott erschaffen wurde und dass alles was man über sie wissen muss in der Bibel offenbart wurde? Jegliche wissenschaftliche Erkenntnis, die diesem Glauben widerspricht, lässt sich abtun als eine Versuchung des Menschen durch Gott. Allein der Ungläubige findet es sonderbar, dass der allmächtige Gott sich damit abgeben soll, den Menschen an der Nase herumzuführen. Sei’s drum: Glaube steht gegen Glauben. Wahrheit gegen Wahrheit. Welchen Glauben eine Person für plausibel hält, ist allein ihre Sache.
Auf meinen Zweifel an der Nützlichkeit des Wahrheitsbegriffs antwortete Michael Esfeld in der Online-Diskussion zum Artikel (03.08.2017): „Die Aussage beispielsweise, dass Wasser aus Atomen zusammengesetzt ist, statt ein Urstoff zu sein, ist wahr.“
Das Argument geht an der Sache vorbei. Selbstverständlich können Aussagen innerhalb eines Theoriegebäudes wie Logik, Mathematik oder auch einer naturwissenschaftlichen Theorie wahr sein. Ansonsten wäre die Theorie ja nicht konsistent. Mit der Wahrheit der Theorie selbst – und um diese geht es hier – hat das nichts zu tun. Man wird Axiomensystemen ja auch nicht den Rang der Wahrheit zusprechen, sondern sie nach Nützlichkeit beurteilen. Widerspruchsfrei sollten sie allerdings schon sein, nämlich so, dass sich innerhalb ihres Gültigkeitsbereiches aus Wahrem nur Wahres deduzieren lässt. Es kommt ganz wesentlich darauf an, nach welchen Spielregeln gespielt wird.
Mit meinem Zweifel am realitätsbezogenen Wahrheitsbegriff scheine ich nicht ganz allein zu sein. Es folgen zwei weitere Stimmen aus der Diskussion des Artikels.
Wolfgang Klein (26.07.2017): „Überhaupt halte ich den Begriff ‚Wahrheit‘ im Zusammenhang mit Naturwissenschaften für vollkommen irreführend. ‚Wahrheit‘ gibt es in der Logik und der Mathematik, oder auch bei den Juristen. Dort ist sie operational wohldefiniert.“
Sebastian Dilcher (27.07.2017): „Dass die Modelle, mit denen wir die Natur beschreiben, zunächst mal Konstruktionen unseres Geistes sind, wird wohl niemand bestreiten. Wenn man darüber hinaus glauben will, dass die Welt wirklich so ist, kann man das ja tun – aber dies als ‚Realismus‘ zu bezeichnen und als eine dem Konstruktivismus überlegene Haltung, erscheint mir reichlich abenteuerlich.“
Praktische Konsequenzen
Ich bin der Überzeugung, dass jeder Wahrheitsanspruch, der ja seine Begründung nur innerhalb einer Ontologie findet, die eigene Position schwächt. Die gute Gesinnung verdrängt die wissenschaftliche Argumentation. Der erkenntnisfördernde Diskurs leidet. Wer will schon gegen einen Wahrheitsbesitzer in den Ring steigen?
Abweichlern droht die Moralkeule: „Wer in dieser Hinsicht Konstruktivist ist, schadet sogar der Menschheit“, schreibt Michael Esfeld. Diese Haltung spielt, entgegen der hehren Absicht, den Faktenmanipulatoren in die Hände: Wahrheiten stehen gegen andere Wahrheiten – unentschieden, kompromisslos.
Die Wahrheit spielt eine unrühmliche Rolle. Sie wirkt spaltend. Das kommt der menschlichen Neigung entgegen, alles klar zu gliedern, möglichst alles nach schwarz und weiß zu klassifizieren, zu vereinfachen.
Für mich ist es kein Wunder, dass sich Realisten isolieren und mit Gleichgesinnten in Echokammern einschließen. Das jedenfalls ist die Beobachtung, die ich im letzten Jahrzehnt gemacht habe – als ein randständiger Beobachter der Skeptikerbewegung. Es bildet sich eine Kampfgemeinschaft, die dieselbe Kommunkationskultur und ähnliche Riten wie ihre Gegner pflegt. Diese sind ja ebenfalls Gläubige, und zwar solche, die sich dem Intelligent Design, einer Parawissenschaft oder einer Verschwörungstheorie oder dergleichen verschrieben haben.
Unter den Wahrheitsbesitzern vom Realismustyp spricht man von unwandelbaren Naturgesetzen, Wunder werden der nichtrealen Übernatur zugeordnet und dadurch der Untersuchung entzogen. Als neuer Begriff erscheint die Scientabilität. Charakteristisch ist also eine Überbewertung der Mainstream-Wissenschaft, und diese sorgt für Empfindungslosigkeit gegenüber dem überraschend Neuen. Realisten in diesem Sinne haben ein Problem mit der Kreativität.
All das lässt sich natürlich nicht Michael Esfeld anlasten. Aber es gedeiht in dem Denkumfeld, das durch den von ihm propagierten wissenschaftlichen Realismus geprägt ist.
Letztlich schadet dieses Denken der Aufklärung, auch dem Kampf gegen den Klimawandel, der Esfeld ja besonders am Herzen zu liegen scheint.
Eine bessere Strategie bietet sich an, wenn wir zunächst einmal feststellen: Um Wahrheit geht es nicht. Es geht um Entscheidungen nach bestem Wissen.
Was bestes Wissen ist, hat uns Karl Raimund Popper bereits in seiner Logik der Forschung erklärt. Den Realitätsbezug führte er erst später ein – und das eher zögerlich.
Nichts ist wirksamer gegen Scharlatanerie, Verschwörungsgedöns, Wahrsagerei und Aberglauben als unverbrämte Wissenschaft mit klar definierten und fälschungssicher ausgeführten Prüfungen beziehungsweise verlässlichen Berichten darüber.
Auch der Realist kennt diese Sicht auf die Dinge (20.01.2017): „Wenn man einem Journalisten sagt, dass X nicht funktioniert, weil es nicht funktionieren kann oder weil es irgendwelchen Naturgesetzen widerspricht, dann ist das nett, aber man kommt leicht als dogmatischer Neinsager rüber. Wenn ich allerdings sage, wir haben schon 60 Leute erfolglos getestet, dann ist das viel überzeugender. So überzeugend, dass ich am Telefon an der sprachlosen Denkpause des Gegenübers geradezu höre, wie der letzte Widerstand, der letzte Einwand zusammenbricht, weil sie daraufhin nichts mehr entgegnen können zur Rettung des Paranormalen.“
Nach diesem Bekenntnis zeigt er den wahren Grund der Testaktion: „Also: ja, die Tests lohnen sich, auch wenn es eigentlich nicht (mehr) darum geht, dabei tatsächlich etwas herauszufinden.“
Der Test ist also PR, eine reine Werbeveranstaltung. So wird die Wissenschaft zur Garnitur für unbezweifelbare Wahrheiten.
Das funktioniert, solange geklärtes Terrain nicht verlassen wird, solange es nur um Homöopathie, Wünschelrutengängerei und dergleichen geht. Dort wo es interessant wird, in den Grenzbereichen der Wissenschaft und bei den in der Gesellschaft aktuell heiß diskutierten Themen wie Klimawandel und grüner Gentechnik kommt man mit dieser Einstellung nicht weiter. Wahrheitsansprüche schaden der eigenen Glaubwürdigkeit!
Warum heißt es denn oben „Entscheidungen nach bestem Wissen“? Warum nicht
„Entscheidungen nach bestem Glauben“? Gibt es einen Unterschied zwischen Glauben und Wissen? Was ist „bestes Wissen“? Warum wird überhaupt die Vokabel „Wissen“ verwendet? Referiert dieses Wissen auf irgendetwas und, wenn ja, worauf referiert dann dieses Wissen? Sollte Grundlagenforschung gemacht werden, ohne dass eine praktische Anwendung dieser Forschung in Sicht ist? Wie ist solche Forschung – wenn sie stattfindet – zu interpretieren? Das sind nur einige der Fragen, die sich stellen. MfG
Den Gebrauch des Wortes „Wissen“ fand ich selbst erläuterungsbedürftig und hatte deshalb nachträglich zwei kleine (eingerückte) Absätze eingeführt. Sie könnten bereits die Antworten auf die ersten sechs Fragen liefern.
Hinsichtlich der Grundlagenforschung bin ich der Auffassung, dass sie sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie nicht anwendungsbezogen ist – im Gegensatz zur angewandten Forschung. Bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen ging es um Komplettierung oder Widerlegung einer grundlegenden Theorie, wenn ich mich nicht irre. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die maßgebenden Forscher am CERN anderes im Sinne haben, als Fortschritte bei den Grundlagen ihres Fachgebiets.
Mir fallen auch Beispiele aus der reinen Mathematik ein: Évariste Galois hatte bei der Entwicklung der Theorie endlicher Körper wohl kaum Anwendungen im Sinn. Die ersten Anwendungen waren tatsächlich auch rein mathematischer Natur: Es ging unter anderem um die Frage, ob die Dreiteilung des Winkels mit Zirkel und Lineal möglich ist. Die Antwort war negativ. Das ist nichts für die praktische Anwendung, fürchte ich. Der Hardyismus, benannt nach Godfrey Harold Hardy (1877-1947), besagt, dass „das höchste mathematische Streben darauf gerichtet sein muss, ein Kunstwerk zu schaffen, das die Zeit überdauert. Sollte hin und wieder ein schönes Stück reiner Mathematik auch noch von Nutzen sein – umso besser. Doch der Nutzen muss hinter der Eleganz und der Tiefe zurückstehen.“ (Davis/Hersh: Erfahrung Mathematik, 1985, S. 86)
Erst fast zwei Jahrhunderte nach ihrer Entdeckungen fand man nützliche praktische Anwendungen der Galoistheorie – beispielsweise auf dem Gebiet der Geheimschriften unter anderem zur sicheren Abwicklung von Online-Geldgeschäften. Näheres ist unter Algebra der Public-Key-Kryptographie zu finden.
Gut, Wissenschaft referiert also auf „Erscheinungen“. Die Wissenschaft, die von Weltgegenständen handelt, bezieht sich demnach nur auf Sinnesdaten. (Der Solipsismus lässt sich übrigens über Sinnesdaten nicht widerlegen, d.h. bereits die Unterstellung der Tatsache, dass es da draußen weitere von mir unabhängige Subjekte gibt, ist streng genommen ein Glaube. Es ist aber brutal unplausibel, dass es die anderen Subjekte nicht gibt, daher wird deren Existenz generell unterstellt. Wichtig ist hier, dass der Solipsismus noch sparsamer als der intersubjektive Phänomenalismus ist, d.h. Sparsamtkeit ist offenbar kein primäres Kriterium für die (vorläufige) Akzeptanz einer Hypothese bzw. eines Postulats.)
Wenn Forschung nur unsere Sinnesdaten erforscht, wird physikalische Grundlagenforschung doch einigermaßen unverständlich, denn deren Gegenstände sind nicht sinnlich erfahrbar. Sinnlich erfahren werden oft nur Zeichen auf einem Monitor, wobei der Monitor auch nur ein Bündel sinnlicher Erlebnisse darstellt. Lügen uns die Physiker an, wenn es heißt: „Higgs-Boson entdeckt“? Sollte es nicht korrekter heißen, Kurvenverlauf auf Monitorerscheinung gesehen, die zu Berechnungen passt?
Kommen wir zu einer weiteren interessanten Frage: Wie konnte sich das Auge in der Evolution entwickeln, wenn man die Realität (das „Jenseits“ im Gegensatz zum obigen „Diesseits“) als transzendent annehmen muss?
Ein weiteres spannendes Thema ist das folgende: Sie scheinen ja dafür zu plädieren, dass man auf den Wahrheits*begriff* gänzlich verzichten sollte. Wie ließen sich dann Mordprozesse praktisch durchführen? Was bedeutet es im phänomenalistischen Sinn, wenn Forensiker sagen, dass sie die DNA des Verdächigen am Tatort nachweisen konnten? Was bedeutet es, wenn der Verdächtige behauptet, er sei nicht am Tatort gewesen, Forensiker aber dort seine DNA fanden? Wie funktioniert das alles ohne Wahrheits*begriff*, wobei man den Wahrheits*begriff* nicht mit Wahrheits*kriterien* verwechseln darf.
„Atom“ oder auch „Higgs-Boson“ sind zunächst einmal Begriffe, die Beobachtungen bündeln, aber keine „Dinge an sich“. Diese Begriffe können ihre Bedeutung auch ändern: Das Unteilbare, das Atom, wird heute als zusammengesetzt angesehen.
Begriffe machen Sprache möglich. Der naive Realist nimmt die sprachlichen Gebilde für die Realität; er landet in einer Denkfalle.
Meine Antwort auf die Frage „Wie konnte sich das Auge in der Evolution entwickeln, wenn man die Realität als transzendent annehmen muss?“ steht im Büchlein Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System (S. 269): Die Evolution hat keineswegs die Mechanismen begünstigt, die eine unverfälschte Wahrnehmung erlauben. Das belegen die optischen Täuschungen. Es ist allzu offensichtlich: Die natürliche Auslese belohnt Fitness der Wahrnehmung. Um Wahrheit geht es nicht.
Zur Beantwortung der übrigen Fragen wiederhole ich einen Gedanken aus meinem Artikel mit anderen Worten: Nur weil eine Aussage wie „Matt in drei Zügen“ durchaus wahr sein kann, werden wir die Regeln des Schachspiels nicht für wahr erklären. Es kommt immer darauf an, welches Spiel wir spielen und welche Regeln dort gelten. Im Rahmen eines solchen Regelwerks gibt es dann auch Wahrheiten. Ich bin Ingenieur und Informatiker und habe daher ständig mit solchen systemspezifischen Wahrheiten zu tun. Für mich ist es nahe liegend, dass auch der Jurist Wahrheiten kennt.
Zunächst zum Wahrheitsbegriff und seiner Anwendung:
Eine wahre Aussage über die Welt spricht – im üblichen Sprachgebrauch – über etwas, das in der Welt der Fall ist. Das ist gewissermaßen die häufigste „Spielregel“. Es fragt sich, warum diese „Spielregel“ so erfolgreich ist.
Mit ihrem „Zweifel an der Nützlichkeit des Wahrheitsbegriffs“ scheinen sie diesen Begriff gänzlich vermeiden zu wollen. Damit müsste man aber auch im Strafprozess (siehe oben) ohne diesen Begriff auskommen. Es fehlen freilich noch praktikable Ersatzvorschläge.
Andererseits wollen sie vielleicht auch nur ein anderes Begriffsverständnis vertreten. Dafür spricht zum einen die Wendung „Zweifel am realitätsbezogenen Wahrheitsbegriff“ und zum anderen die Rede von „intersubjektiv prüfbaren und bewährten Theorien“.
Des weiteren scheinen Sie sich auch nicht von der Äußerung zu distanzieren, dass es „Wahrheit“ bei den Juristen gebe. Allerdings spielen bei Gericht nicht nur gesetzliche Normen sondern auch die forensisch empirischen Wissenschaften eine Rolle. Können also wissenschaftliche Aussagen vor Gericht (jenseits vernünftigen Zweifels) „wahr“ sein und im normalen Leben nicht?
Die unklare Rede von den „Spielregeln“ deutet wiederum darauf hin, dass unüberschaubar viele Wahrheitsbegriffe unterstellt werden können, denn Spielregeln lassen sich beliebig festlegen und ändern.
Mir (und anderen Lesern) wird nicht klar, was sie vertreten wollen.
Zum Komplex Realität, Diesseits, Welt der Erscheinungen und Beobachtungsbündel:
Hier beziehe ich mich *nicht* auf den Begriff Wahrheit, es reichen Vokabeln wie „passend“ oder „adäquat“.
Im Hinblick auf Ihre Bemerkung „Der naive Realist nimmt die sprachlichen Gebilde für die Realität“ habe ich folgende Frage: Könnte sie mir bitte eine Textstelle bei Bunge oder Vollmer o.ä. nennen, die nahelegt, dass *nicht* zwischen Aussagen und Realität oder zwischen Begriff und Referenz unterschieden wird? Das wäre für mich hoch interessant und neu und außerdem würde das ihre Position enorm stärken.
Ihren Texten entnehme ich, dass sich die weltbezogene Wissenschaft ausschließlich mit „Erscheinungen“ und „Beobachtungsbündeln“, d.h. allgemeiner mit menschlichen Sinnesdaten oder vielleicht besser Sinneserlebnissen beschäftigt.
Bezieht sich der Begriff Higgsboson also *nur* auf die Sinneserscheinung einer Monitorgrafik? Ist das nicht so unspektakulär, dass man für solche Beobachtungen eher keine 3 Mrd Euro ausgeben sollte? Auch die Kosmologie müsste nun eine Wissenschaft der menschlichen Sinneserlebnisse sein. Wenn es nicht gerade das Beobachtungsbündel unseres Sonnensystems betrifft, scheinen praktische Anwendungen der Kosmologie unplausibel. Sollten für die Fernastronomie so viele Ressourcen verwendet werden, wie es aktuell der Fall ist, wenn doch nur irgendwelche Beziehungen zwischen Sinneserlebnissen ohne weiteren praktischen Nutzen dabei herauskommen? Und wenn ja, warum?
Ihre Einlassung: „Die Evolution hat keineswegs die Mechanismen begünstigt, die eine unverfälschte Wahrnehmung erlauben. Das belegen die optischen Täuschungen. Es ist allzu offensichtlich: Die natürliche Auslese belohnt Fitness der Wahrnehmung. Um Wahrheit geht es nicht.“
Zur Evolution der Sinne: In der Mainstreamwissenschaft meinen Astronomen, Paläontologen und Evolutionsbiologen, dass die Erde ca 4,5 Mrd Jahre alt ist. Lebewesen sollen sich später entwickelt und an die Verhältnisse auf der Erde angepasst haben. Die hierbei entstandenen energieaufwändigen Sinnesorgane müssen – so die Evolutionsbiologie und auch die evolutionäre Erkenntnistheorie – relevante *überlebensadäquate* Informationen über die Außenwelt liefern. Das wird etwa durch Befunde gestützt, dass sich Augen auch wieder – etwa bei Bewohnern dunkler Höhlen – zurückbilden. Biologen versichern uns auch, dass die Präzision der Wahrnehmungsleistung von Tierart zu Tierart beträchtlich variiert, dass manchmal aber auch – etwa bei gewissen Raubtieren – eine außerordentlich genaue und empfindliche Wahrnehmungsfähigkeit zum Überleben nötig ist. Ein Falke mit Sehschwäche hat keine Chance. Kurz: Es braucht keine „unverfälschte Wahrnehmung“, aber eine ausreichend genaue Wahrnehmung. Und: Es wird generell angenommen, dass Wahrnehmung sich auf etwas Außergeistiges bezieht. Soweit die Mainstreamwissenschaft.
Wenn nun aber die Welt nur ein Bündel Sinneserlebnisse ist, müssten sich die Lebewesen an ihre eigenen Sinneserlebnisse angepasst haben, was eine Art „Kurzschluss“ darstellt. Anders ausgedrückt, die Lebewesen erschufen die Welt oder besser viele Welten, wodurch automatisch perfekte Fitness entstand. Ist es das, was sie meinen, oder meinen Sie etwas anderes?
Wenn die Welt das Bündel unserer Sinneserlebnisse ist, wie können wir dann überhaupt von „optischen Täuschungen“ reden?
Können wir einem Beobachtungsbündel ein Alter zuschreiben, das unser eigenes übersteigt?
Worüber berichte ich, wenn ich sage: Vor meinem Haus steht ein Kleinbus? Ist das ein Bericht über meinen aktuellen Geisteszustand? Ist es ein Bericht über die Außenwelt?
Wenn ich gegen eine Straßenlaterne laufe, kollidiere ich dann mit meinem eigenen Beobachtungsbündel?
@Körkel
Sie schreiben: „Damit müsste man aber auch im Strafprozess ohne diesen Begriff [Wahrheit] auskommen.“ Dass dem nicht so ist, habe ich in dem hier erforderlichen Detaillierungsgrad bereits dargelegt. Wir können gern etwas tiefer gehen. Die „Spielregeln“ der Beweisaufnahme vor Gericht werden beispielsweise für die Beurteilung technischer Anlagen vom Gesetzgeber explizit festgelegt. Für Anlagen mit hohem Gefährdungspotential wird der Stand von Wissenschaft und Technik zugrunde gelegt. Also: Gerichtsverfahren finden nach Maßgabe von implizit oder explizit festgelegten Regeln statt. Diese bestimmen, was vor Gericht Wahrheit ist und was nicht. Es ist nicht die Rede davon, dass diese Regeln Wahrheiten über die Realität beinhalten.
Sie schreiben: „Die unklare Rede von den ‚Spielregeln‘ deutet wiederum darauf hin, dass unüberschaubar viele Wahrheitsbegriffe unterstellt werden können, denn Spielregeln lassen sich beliebig festlegen und ändern.“ Was soll das? Ich kann doch nicht in einen Schachklub gehen und meine eigenen Regeln mitbringen. Wer Wissenschaft treibt, tut das nach den Regeln des kritischen Rationalismus. Letztere definieren ja geradezu, was unter Wissenschaft zu verstehen ist. Da gibt es keine Beliebigkeit.
Ich habe keine Veranlassung, die Werke von Bunge und Vollmer nach gewissen Textstellen zu durchsuchen. Ich habe sie weder wörtlich noch indirekt zitiert. Für Haarspaltereien sollte uns die Zeit zu schade sein.
Ihre Rede von den „Beziehungen zwischen Sinneserlebnissen ohne weiteren praktischen Nutzen“ hat mit der von mir vertretenen Auffassung offensichtlich nichts zu tun.
Ihrem Exkurs zum Thema Evolution der Wahrnehmung widerspreche ich nicht. Er trägt aber auch nichts weiter zum Fortschritt der Diskussion bei. Die Vorstellung, „dass Wahrnehmung sich auf etwas Außergeistiges bezieht“ mag hilfreich sein. Ich habe nichts dagegen. Sie ist Ausdruck eines schwachen Realismus, der für die Beurteilung von Beobachtungen aber auch entbehrlich ist.
Sie schreiben: „Wenn nun aber die Welt nur ein Bündel Sinneserlebnisse ist, müssten sich die Lebewesen an ihre eigenen Sinneserlebnisse angepasst haben, was eine Art ‚Kurzschluss‘ darstellt. Anders ausgedrückt, die Lebewesen erschufen die Welt oder besser viele Welten, wodurch automatisch perfekte Fitness entstand.“
Da die Sinneserlebnisse nicht von uns selbst gemacht sind, existiert der von Ihnen vermutete Kurzschluss nicht. Es sind evolutionär erworbene Mechanismen im Spiel: bei der Wahrnehmung und bei der Konstruktion des Bildes von der Umwelt. Wer nach den Ursachen der Sinneserlebnisse und Wahrnehmung fragt, der landet in einem Zirkel: Er hat zur Klärung der Situation ebenfalls nur Sinneserlebnisse und Wahrnehmungen zur Verfügung.
Sinneserlebnisse lassen sich anreichern, unter Zuhilfenahme eines Zirkels und eines Lineals beispielsweise, wenn es um die optischen Täuschungen geht. Also: Täuschung ist bei dürftiger Datenlage möglich und die Täuschung lässt sich durch Hinzunahme weiterer Beobachtungsdaten auch erkennen.
Was soll denn das: „Wenn ich gegen eine Straßenlaterne laufe, kollidiere ich dann mit meinem eigenen Beobachtungsbündel?“ Auf die letzten fünf Fragen erspare ich uns eine Antwort.
Zum Wahrheitsbegriff:
1. So ist Wahrheit für Sie offenbar sozial konstruiert? Die „explizit festgelegten Regeln“ könnten durchaus lauten: „Das Gefährdungspotential technischer Anlagen wird durch den zuständigen Parteikommissar festgelegt.“ Oder auch: „Der Geistliche Führer legt fest, ob ein Mordfall vorliegt.“ Kurz: Die Wahrheitsbedingungen sind kontingent und von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängig.
2. „Wer Wissenschaft treibt, tut das nach den Regeln des kritischen Rationalismus.“ Nach dem kritischen Rationalismus (KR) kann man zwar nie wissen, ob man die absolute Wahrheit gefunden hat. Der KR hält aber an der Existenz der absoluten Wahrheit fest und lehnt den Relativismus, also die Abhängigkeit der Wahrheit vom Blickwinkel, ab. Das entspräche dann aber der Suche nach der „absoluten Wahrheit“. Stimmen Sie dem wirklich zu?
Zur Realismus-Frage:
1. Die Fragen dienten der Klärung, welchen Realismus oder Antirealismus Sie vertreten möchten. Das ging aus ihren Text nicht hervor.
2. Wer den von Ihnen monierten naiven Realismus vertritt, bleibt wohl ungeklärt.
3. Wenn Sie dem biologischen Konzept einer Anpassung an reale Verhältnisse nicht widersprechen, unterstellen Sie implizit einen stärkeren Realismus als den kantischen, denn im Kantianimus kann es eine solche Anpassung nicht geben. Das wäre dann immerhin ein Ergebnis.
4. In der Erkenntnistheorie gibt es, wie sie richtig bemerkt haben, immer eine Rückbezüglichkeit. Nicht alle Erkenntnistheorien können jedoch das mögliche Scheitern von Theorien im Labor oder auch gewisse Konvergenzen bei wissenschaftlichen Resultaten erklären.
@Körkel
Zum Wahrheitsbegriff:
1. Der totalitäre Staat in „1984“ hat ein Ministry of Truth; die Wahrheit wird vom Staat definiert. Das ist ein Schreckensbild. Die offenen pluralistischen Gesellschaften zeichnen sich durch gemeinsame Werte wie Freiheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit aus. Die Wissenschaft ist völkerverbindend. In diesen Gesellschaften gibt es dementsprechend eine gemeinsame Basis für das Rechtsempfinden und für „Wahrheitsbedingungen“. Wie wichtig mir Freiräume und Vielfalt sind, habe ich in meiner Abschiedsvorlesung gesagt.
2. Der kritische Rationalismus des Karl Raimund Popper (Logik der Forschung) kennt zunächst einmal nur den Begriff der relativen Wahrheitsnähe. Auch in seinem später formulierten kritischen Realismus geht er darüber nicht hinaus: „Da wir aber die Wahrheit nicht kennen, so ist wohl klar, dass wir bestenfalls immer nur die relative Wahrheitsnähe zweier oder mehrerer Theorien vergleichen können.“ (Karl Raimund Popper, Logik der Forschung, Neuer Anhang 1981: *XV. Über Wahrheitsnähe) Die objektive oder absolute Wahrheit spielt für Popper nur die Rolle eines nicht operationalisierbaren regulativen Prinzips: „Wir prüfen auf Wahrheit, indem wir das Falsche ausscheiden.“ (Objektive Erkenntnis, 1973, S. 43) Für die praktische Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Theorien ist das Prinzip also bedeutungslos: Es geht immer nur um das Testen von Theorien und um den Vergleich von Theorien untereinander, nie um den Vergleich einer Theorie mit der Wahrheit (Realität). Das wollte ich mit meinem Stöckchen-Beispiel ausdrücken.
Zur Realismus-Frage:
1. Mir genügt als Basis der kritische Rationalismus. Einen Realismus irgendwelcher Ausprägung halte ich nicht für unbedingt erforderlich. Popper sieht das wohl ebenso. Ich vertrete also keinen Realismus, einen Antirealismus aber ebenfalls nicht: Gegen den schwachen Realismus des Karl Raimund Popper habe ich nichts einzuwenden. Meine Skepsis ist wohl radikaler als diejenige Poppers.
2. Ob jemand naiver Realist ist oder nicht, soll er mit sich selbst ausmachen.
3. Von Anpassung rede ich nicht, sondern von Fitness (Klüger irren, 2016, S. 269). Ich unterstelle also keinen Realismus.
4. Da Sie mir beipflichten, werde ich nicht widersprechen. Bei der Recherche im Zuge der Antwortfindung ist mir aufgefallen, dass es bei der Konvergenz von Theorien manchmal knirscht, beispielsweise bei den Lichttheorien
Timm Grams: „Einen Realismus irgendwelcher Ausprägung halte ich nicht für unbedingt erforderlich. Popper sieht das wohl ebenso.“
Die Fachwelt scheint Poppers Position anders zu rekonstruieren: Aus https://plato.stanford.edu/entries/popper/
Poppers „commitment to the correspondence theory of truth places him firmly within the realist’s camp.“
Timm Grams: „Gegen den schwachen Realismus des Karl Raimund Popper habe ich nichts einzuwenden.“
Der Realismus Poppers ist aber offensichtlich nicht „schwach.“ Popper vertritt einen realistischen Wahrheits*begriff*. Das Reale und das (unsichere) Wissen darüber (d.h. Wahrheits*begriff* und Wahrheits*kriterien*) müssen allerdings streng unterschieden werden. Einen schwachen Realismus (einen Phänomenalismus mit einem transzendenten „Ding an sich“) vertrat z.B. Kant. Kant war aber auch der Meinung, dass es *apodiktisch wahre* synthetische Urteile über die Weltbeschaffenheit gebe. Letzteres lehnt wiederum Popper ab.
Timm Grams: „Von Anpassung rede ich nicht, sondern von Fitness. Ich unterstelle also keinen Realismus.“
Wer „keinen Realismus“ unterstellt, kann sich nicht allerdings kaum zustimmend auf Popper beziehen. Des weiteren muss jemand, der „keinen Realismus“ unterstellt, eigentlich auch die Standard-Erklärung für die Augenevolution ablehnen, wie sie von den Biologen vertreten wird.
Ich schrieb: „gewisse Konvergenzen bei wissenschaftlichen Resultaten.“ Durch die Qualifizierung „gewisse“ des Begriffes „Resultat“ glaubte ich deutlich gemacht zu haben, dass ich nicht von einer allgemeinen „Konvergenz von Theorien“ redete. Ein Beispiel für Konvergenz, das z.B. Alan Sokal und Gerhard Vollmer anführen, ist die hochgenaue Replikation von Naturkonstanten über völlig verschiedenen Verfahren.
Ich muss zugeben, dass ich die hier im Blog vertretene Position leider nicht rekonstruieren kann.
@Körkel
Zur Stützung Ihres Standpunkts berufen Sie sich auf die Fachwelt und die Biologen. Besser gedient wäre uns mit konkreten Argumenten und wörtlichen Zitaten.
Ja, Karl Raimund Popper hat sich zum Realismus bekannt. Was er unter Realismus versteht, hat er unmissverständlich kundgetan. Ich denke, dass ich Poppers Standpunkt in meinen Beiträgen durchaus korrekt wiedergegeben und zitiert habe, beispielsweise in meiner Antwort auf den Instrumentalismus-Vorwurf.
Ja, bereits Immanuel Kant hat einen schwachen Realismus vertreten, einen, der sich von dem des Karl Raimund Popper unterscheidet. Auch Poppers Realismus-Variante ist schwach, da ohne merk- und messbare Konsequenzen! Warum das so ist, habe ich in meinem Hoppla!-Beitrag Der Realismus erklärt nichts herausgestellt.
Sie schreiben: „Wer ‚keinen Realismus‘ unterstellt, kann sich nicht zustimmend auf Popper beziehen.“ Oh, ja? Popper selbst kommt in seinem Hauptwerk „Logik der Forschung“ vollständig ohne Realismus aus. Erst in den späteren Anhängen führt er ihn ein – und das eher zögerlich.
Mich wundert nicht, dass Sie „die hier im Blog vertretene Position leider nicht rekonstruieren“ können. Meine Hoffnung ist, dass der eine oder andere Leser unseres Disputs etwas damit anfangen kann.
Im Übrigen möchte ich Sie noch auf eine Asymmetrie aufmerksam machen: Anders als die Realisten stelle ich keine Behauptungen auf. Ich nehme nur deren Argumente und führe sie ad absurdum. Das könnte ich – ebenfalls in skeptischer Manier – auch mit anderen Glaubenssystemen tun. Die Argumente der Zeugen Jehovas beispielsweise interessieren mich jedoch wesentlich weniger als der Irrweg, auf dem ich die Skeptikerbewegung sehe.
Um den Kontext herzustellen muss ich leider erst zitieren:
Ich: „Zur Evolution der Sinne: In der Mainstreamwissenschaft meinen Astronomen, Paläontologen und Evolutionsbiologen, dass die Erde ca 4,5 Mrd Jahre alt ist. Lebewesen sollen sich später entwickelt und an die Verhältnisse auf der Erde angepasst haben. Die hierbei entstandenen energieaufwändigen Sinnesorgane müssen – so die Evolutionsbiologie und auch die evolutionäre Erkenntnistheorie – relevante *überlebensadäquate* Informationen über die Außenwelt liefern. Das wird etwa durch Befunde gestützt, dass sich Augen auch wieder – etwa bei Bewohnern dunkler Höhlen – zurückbilden. Biologen versichern uns auch, dass die Präzision der Wahrnehmungsleistung von Tierart zu Tierart beträchtlich variiert, dass manchmal aber auch – etwa bei gewissen Raubtieren – eine außerordentlich genaue und empfindliche Wahrnehmungsfähigkeit zum Überleben nötig ist. Ein Falke mit Sehschwäche hat keine Chance. Kurz: Es braucht keine „unverfälschte Wahrnehmung“, aber eine ausreichend genaue Wahrnehmung. Und: Es wird generell angenommen, dass Wahrnehmung sich auf etwas Außergeistiges bezieht. Soweit die Mainstreamwissenschaft. Wenn nun aber die Welt nur ein Bündel Sinneserlebnisse ist, müssten sich die Lebewesen an ihre eigenen Sinneserlebnisse angepasst haben, was eine Art „Kurzschluss“ darstellt. Anders ausgedrückt, die Lebewesen erschufen die Welt oder besser viele Welten.“
Timm Grams: „Ihrem Exkurs zum Thema Evolution der Wahrnehmung widerspreche ich nicht. Er trägt aber auch nichts weiter zum Fortschritt der Diskussion bei. Die Vorstellung, „dass Wahrnehmung sich auf etwas Außergeistiges bezieht“ mag hilfreich sein. Ich habe nichts dagegen. Sie ist Ausdruck eines schwachen Realismus, der für die Beurteilung von Beobachtungen aber auch entbehrlich ist. […] Da die Sinneserlebnisse nicht von uns selbst gemacht sind, existiert der von Ihnen vermutete Kurzschluss nicht. Es sind evolutionär erworbene Mechanismen im Spiel: bei der Wahrnehmung und bei der Konstruktion des Bildes von der Umwelt. Wer nach den Ursachen der Sinneserlebnisse und Wahrnehmung fragt, der landet in einem Zirkel: Er hat zur Klärung der Situation ebenfalls nur Sinneserlebnisse und Wahrnehmungen zur Verfügung.“
Ich finde es auch richtig, dass empirisch nur Sinneserlebnisse zur Verfügung stehen. Ich frage mich nun, warum Sie der obigen Einlassung, dass aus evolutionsbiologischer Sicht Sinnesorgane relevante *überlebensadäquate* Informationen über die Außenwelt liefern müssten, nicht widersprochen haben. Liegt es daran, dass Sie „Außenwelt“ mit „Wirklichkeit, die sich in unserem Kopf widerspruchsfrei konfiguriert“ bzw. „innerer Wirklichkeit“ identifizieren? Wenn die „Sinneserlebnisse nicht von uns selbst gemacht sind“, sind sie dann transzendent (übernatürlich) „gegeben“? Warum sind die Sinneserlebnisse nicht von uns selbst gemacht? Wer oder was gibt uns die Sinneserlebnisse? Wozu brauchen wir aufwändige Augen, wenn die geistunabhängige Welt ohnehin transzendent ist?
In diesem Zusammenhang finde ich immer noch die Frage relevant, ob ich denn mit meinem eigenen Beobachtungsbündel kollidiere, wenn ich gegen eine Straßenlaterne laufe?
Dem Satz, „dass aus evolutionsbiologischer Sicht Sinnesorgane relevante überlebensadäquate Informationen über die Außenwelt liefern müssen“, habe ich in der von mir wiedergegebenen abgemilderten Form nicht widersprochen. Ich hätte auf den Originalsatz antworten müssen. Und den unterschreibe ich tatsächlich nicht. Stattdessen würde ich es so sagen: Mechanismen, die relevante überlebensadäquate Informationen liefern, setzen sich im Evolutionsprozess durch. Dass es für die Individuen nicht um die Wahrheit geht, sondern um die Überlebensfähigkeit, demonstriert die Simulation eines einfachen Evolutionsprozesses. Im folgenden Hoppla!-Artikel Der Realismus erklärt nichts gehe ich noch einmal darauf ein.
Die Frage, „ob ich denn mit meinem eigenen Beobachtungsbündel kollidiere, wenn ich gegen eine Straßenlaterne laufe?“, ist in diesem Licht gesehen ziemlich unsinnig. Das Diesseits konfiguriert sich gemeinhin zweckmäßig. Aber es kann zu Irrtümern kommen. Dann tut man sich halt auch einmal weh. Die Frage „Wer oder was gibt uns die Sinneserlebnisse?“ führt in das Begründungsproblem, das auch im folgenden Hoppla!-Artikel zur Sprache kommt.
Unter Diesseits wurde weiter oben „innere Wirklichkeit“ bzw. „Wirklichkeit, die sich in unserem Kopf widerspruchsfrei konfiguriert“ verstanden. Nun heißt es auch „Das Diesseits konfiguriert sich gemeinhin zweckmäßig.“ Unter innerer Wirklichkeit versteht man bei üblichem Sprachverständnis mentale Vorgänge. Die „äußere Wirklichkeit“ wird oben als absolut unzugängliches Jenseits definiert. Das legt prima facie nahe, dass das „Diesseits“ als rein mentales Konstrukt verstanden wird, das sich auf nichts Außergeistiges beziehen kann. Wie unterscheidet sich das vom Solipsismus?
Die Frage „Wer oder was gibt uns die Sinneserlebnisse?“ führt zunächst nicht zu einem Begründungsproblem sondern erst mal zu einer Arbeitshypothese.
Ich wiederhole mich: „Nichts ist wirksamer gegen Scharlatanerie, Verschwörungsgedöns, Wahrsagerei und Aberglauben als unverbrämte Wissenschaft mit klar definierten und fälschungssicher ausgeführten Prüfungen beziehungsweise verlässlichen Berichten darüber.“ Den Solipsismusvorwurf sollten Sie in der Versenkung verschwinden lassen. Nichts von dem, was ich schreibe, hat etwas damit zu tun.
Wie bereits mehrfach begründet, kann die Frage „Wer oder was gibt uns die Sinneserlebnisse?“ nicht zu einer Arbeitshypothese führen. Sie führt schnurstracks in die Metaphysik und zum Begründungsproblem.
Eine Frage ist nicht identisch mir einem „Vorwurf“. Ich vermute ja, dass das „Diesseits“ sich vom Solipsismus unterscheiden soll. Es ist ja nicht schlimm, wenn dieser Unterschied ungeklärt bleibt.
Starker Tobak:
„Realität ist die Vorstellung einer von unserem Denken unabhängig existierenden Außenwelt. Die Annahme einer solchen jenseitigen Realität dient der Vereinfachung unserer Sprache und entfaltet vor allem regulative Wirkung: Wir streben nach wahrer Erkenntnis dieser Realität.“
Verdreht die Tatsachen, jedenfalls die, von denen man ein Wissen (im wissenschaftlichen Sinn) haben kann. Dass man mit Wissenschaft dieses Wissen haben KANN, ist hingegen vollkommen unbestritten. Wer sich dann aber so äußert, wie zitiert, argumentiert unwissenschaftlich.
Natürlich KANN man unwissenschaftlich argumentieren, das gibt die Sprache durchaus her. Man kann dann aber nicht davon ausgehen, dass einem jeder folgen kann/ folgen will. Lässt man das böswillige Nicht-Folgen-Wollen weg, so erkennt man dass Nicht-folgen-Wollen mit dem Nicht-folgen-Können zusammenhängt.
Die Vorstellung einer Realität erlaubt es, diese zu untersuchen. Hat man die Vorstellung nicht, gibt’s auch nichts zu untersuchen. Jemand, der Realität ablehnt, betreibt keine Wissenschaft, kommt auch nicht zur wissenschaftlichen Erkenntnis; Damit auch nicht zur Evolutionsbiologie und nicht zur Physik.
Ein solcher Jemand (der also jegliche Vorstellung einer externen Realität ablehnt) ist, wenn er selbst widerspruchsfrei bleiben wollte, ist ein Solipsist. Diese Position ist unwiderlegbar. Ein „Irrer in einem uneinnehmbaren Blockhaus“, nach Schopenhauer (Ich bin kein Fan Schopenhauers, die Beschreibung trifft aber den Nagel auf den Kopf).
Ein Solipsist muss, wenn er sich selbst ernst nimmt, was er ja vorgibt, z. B. sofort mit dem Atmen aufhören, denn es ist – glaubt er sich selbst – nur eine bisherige Erfahrung (post hoc, kein propter hoc), dass man lebt, wenn man atmet. Zudem ist nach einem Solipsisten das bisher Erfahrene nun genau das unwahrscheinlichste, was demnächst eintritt, ergo: Mit dem Atmen aufhören.
Wie man sieht, erledigt sich das Problem des Solipsismus von selbst.
Es bleibt nur die Annahme einer Realität und streiten kann man sich höchstens darüber, ob sie untersuchbar ist, ob man (Er-)Kenntnisse über sie erzielen kann, oder nicht. Wer die Untersuchbarkeit und die Erkenntnisgewinnung in Bezug auf die Realität ablehnt („Jaja, es gibt zwar Realität, aber wir können sie nicht erkennen“), lehnt logischerweise auch die Erkenntnisse, die man bereits gewonnen hat, ab: z. B. Kugelform der Erde, heliozentrisches Weltbild, Existenz von Atomen, Erfindbarkeit von Atombomben (schön wär’s, wenn sie nicht funktionieren würden, aber die Atombome lässt sich erfinden aufgrund der wissenschaftliche Erkenntnisse über die Realität), Abwesenheit von Terra Australis Incognita usw..
Erkenntnisse aus der Wissenschaft (die ja von der Existenz einer untersuchbaren Realität ausgeht) sind demnach „Zufall“ (?), „Verschwörung“ (?). Wenn das zutreffen sollte, ist es sicherlich auch durch Abwesenheit von Naturwissenschaft möglich Atombomben zu bauen? Dann sollte man genau DANN in dieser Richtung weiterzudenken verlangen/erwarten, wenn dies und anderes OHNE Naturwissenschaft gelingt, vorher nicht.
Ein Konstruktivismus als „Alternative“ im Sinne von „alles ist nur konstruiert“ müsste zudem dieses auf sich selbst anwenden und müsste zum Ergebnis kommen, da „es“ auch anders gesehen werden kann, keineswegs könnte ein Konstruktivist Konsturktivismus als (absolute) Erkenntnis ausweisen – reine Denkwillkür und inkonsistent.
Eine Haltung, die Rosinenpicking betreibt, also bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse annimmt, dafür aber andere ablehnt, ist reiner Opportunismus und kann zur Erkenntnisgewinnung (egal über was) nichts beitragen (da eben opportunistisch).
Die einzige widerspruchsfreie Gegenannahme zum Solipsismus ist der (hypothetische) Realismus. Der ist zweifellos ebenfalls nicht zu widerlegen, hat aber Vorzüge, die weit darüber hinaus gehen, als dass eine solche Annahme einen wenigstens am Leben lässt (s. o.). Jegliche Position dazwischen ist selbst-widersprüchlich.
Zurück zum Zitat – aus wissenschaftlicher Erkenntnis heraus verhält es sich eben genau umgekehrt: Die Erfahrung einer unabhängig existierenden Außenwelt, lässt Sprache erst zu einem Überlebenswerkzeug in eben dieser unabhängig existierenden Außenwelt werden. Dies mit all ihren Verkürzungen. Wer sich beim Sprechen kurz halten möchte – eine Unabdingbarkeit, wenn Sprache zur Kommunikation über die Außenwelt einsetzbar sein soll (!) – wird zwangsläufig zum sprachlichen Essentialisten. Beispiel: Wir sprechen von Gras ohne die Besonderheit jedes einzelnen Grashalms zu erwähnen (man merkt, dass das Sprechen einfach zu lange dauern würde und die Kommunikation dadurch nicht möglich ist).
Menschen sind ohne jegliche Weiterbildung zunächst „naive Realisten“, d. h., sie nehmen an von „den Dingen an sich“ zu sprechen. Von diesen nimmt man gleichsam sinnvollerweise an, dass sie irgendwie in Beziehung zueinander stehen – Bsp.: Ein Grashalm wächst, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind (Wasser und zunächst weniger offensichtlich Nährstoffe), ein Grashalm ernährt Gras fressende Tiere (denn wenn sie kein Gras fressen sterben sie) usw..
Die Sprache hilft also sich in der Realität zurechtzufinden, stellt also eine Anpassung an diese dar. Im Übrigen ist Sprache im engeren Sinne zwar auf Menschen beschränkt, im weiteren Sinne (Kommunikation im Allgemeinen) jedoch keineswegs. Vielmehr ist Sprache eine ritualisierte Kommunikation, die beschriebenen essentialistische Sicht jedoch beinhaltet (da sonst nicht sprechbar). Da sich die uns erfahrbare Realität jedoch deterministisch verhält (wissen wir aus der klassischen Physik) und wir uns mit dieser arrangieren müssen, wenn wir leben wollen (und keine sofort sterbenden Solipsisten sein wollen), dann ist es zweckmäßig Determinismus zum Denkgrundsatz zu machen und diesen auch in einer Sprache abzubilden!
Sieht man die Sache so – wofür es ja gute Gründe gibt; wir leben ja noch (!) – so macht der Urheber des Zitats bereits den Fehler, zu glauben, was er sprachlich formulieren kann. Die Formulierbarkeit von Irgendwas, bedeutet keineswegs, dass das nun auch tatsächlich der Rede Wert wäre.
Wir sehen, dass Essentialismus und Determinismus bereits in unserer Sprache angelegt sind (Gründe wurden genannt). Wenn man aus dieser Basis philosophiert, kann man nicht erwarten, zu höheren Erkenntnisebenen aufzusteigen, man kann nur Formulierbarkeiten der Sprache bis zum Exzess betreiben. Nebenbei bemerkt, kann man als Essentialist Evolutionsbiologie NICHT verstehen (Ernst Mayr).
Da es einen ganzen Haufen nicht sofort erklärbarer Phänomene gibt (Gewitter z. B.) so ist eine deterministische Sprache, die auf der Beobachtung einer Ursache und Wirkung basiert sehr wohl in der Lage etwas zu benennen (!), was es in der Realität nicht gibt – konkret: Einen Gott, der das Gewitter macht, da sonst keine Ursache dafür feststellbar ist.
Plötzlich können also Sätze gebildet werden, in denen das Wort Gott (oder irgendeine andere sprechbare Buchstabenkombination) auftritt und wir neigen, dem gesprochen Wort Glauben zu schenken (im Sinne: „Ach das gibt’s ja auch.“). Insofern kann man (das ist hier die Kurzform) also sehr wohl verstehen (auf wissenschaftlichen Erkenntnis fußend, erklären) wie es zu einer Sprache kommt, die etwas beinhaltet, was NICHT-real ist und nur real erscheint, weil die Sätze dies – grammatakalisch auch noch korrekt – beinhalten.
Nebenbei: Dieses Phänomen wird von Wittgenstein im Traktatus behandelt. (Das interessanterweise oft aber falsch zitiert wird. Meist nur der letzte Satz und dieser auch zu den unpassendsten Gelegenheiten). Es beginnt mit: „Die Welt, ist das, was der Fall ist.“
Sätze mit „Gott“ oder „das Gute“ od. ähnliches, sind nach Wittgenstein unsinnige Sätze. Und genau diejenigen sind mit dem letzten Satz des Traktatus gemeint!
Interessant, dass nun in der folgenden Philosohpie nun genau das ignoriert wird und z. T. bis zum Exzess drauflosgefaselt wird. … Aber auch das nur am Rande.
Wir „streben“ also NICHT aufgrund des Zitat-Inhalts nach der Erkenntnis der Realität. Es geht nicht darum diese anzunehmen UM leichter sprechen zu können, sondern – nochmal – die Sprache der erfahrbaren Realität anzupassen. … Diese Anpassung gelingt jedoch nur zum Teil und bei dem Vorhaben schießt man über’s Ziel hinaus, indem man auch unsinnige Sätze formuliert und dann dem Denkfehler unterliegt an diesen sei irgendetwas dran, über was es sich nachzudenken lohne. Gewinn ist allerdings: Lagerfeuergespräche, bei denen man gut „spinnen“ kann (und alle freuen sich). Zur Erkenntnisgewinnung aber untauglich.
Außerdem muss gefragt werden, wer mit „wir“ gemeint sein soll (siehe Zitat). Wir, die Menschen? Keineswegs! Die meiste Zeit über, in der Menschen existiert haben, ging es keineswegs darum diese Realität etwa wissenschaftlich (also widerspruchsfrei und …) zu erkennen. Stattdessen haben die Menschen seit eh und je es geschafft (das gelingt uns allen auch stets im Alltag noch) mit Widersprüchen wunderbar zurechtzukommen. Unsere Alltagswahrnehmung ist nicht widerspruchsfrei, genausowenig wie unsere Sprache (selbstverständlich kann ich widersprüchliche Sätze grammatikalisch korrekt formulieren). Was nicht stört, bleibt bestehen.
Wenn man das wissenschaftliche Erforschen dieser Realität meint, wenn man sagt „Wir streben nach wahrer Erkenntnis dieser Realität“, dann muss man sich anschauen, wann genau das historisch begonnen hat (führe ich jetzt hier nicht aus, kann man nachlesen). Nochmal: KEINESWEGS als Folge einer Realitätsannahme zwecks Vereinfachung der Sprache (die Vereinfachung der Sprache stammt aus der Funktion der Kommunikation ÜBER die uns erfahrbare Realität).
Nun erkennt eine wissenschaftliche Betrachtung aber sehr viel mehr von der uns umgebenden Realität und damit weit mehr als die uns lediglich so erscheinende „Wirklichkeit“. Diese sollte man eben nicht mit Realität verwechseln (das würde ein „naiver Realist“ tun).
Zitat-Fortführung: „Dabei können wir nicht wissen, wie nahe wir ihr kommen können. Sokrates hat diese Einsicht in die Worte gefasst: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“.“
Das ist ein zweitausenvierhunderjähriges Glaubensbekenntnis, das aus heutiger Sicht keinerlei belang hat. Sinnlos Platons fiktive Figur des Sokrates zu zitieren. Der Autor muss sich hier vorwerfen lassen durch eine solche Bezugnahme beim Leser Eindruck schinden zu wollen (Berufung auf andere Autoren, die ja Ansehen genießen – nur um selbst nicht argumentieren zu müssen?).
Den Wahrheitsbegriff in all seinen philosophischen Ausprägungen kann man sehr wohl kritisieren, da er ein absoluter Begriff ist und damit eher für Verwirrung als für Klarheit sorgt. Deshalb definieren Naturalisten ja den Wahrheitsbegriff auch viel enger, als man ihn (sonst noch) denken kann. In der Folge passiert dem Autor leider die Verwechslung des eng definierten Wahrheitsbegriffs, mit dem, was man „sonst noch“ darunter verstehen könnte!
Das kann man schon am folgenden Zitat bemerken:
„Wer eine Ontologie wie beispielsweise die des wissenschaftlichen Realismus hat, wer das Wesen der Dinge wenigstens näherungsweise erkannt zu haben glaubt, der kann den Naturgesetzen Wahrheit zumessen. Der Wissenschaftler verlässt damit den relativ stabilen Grund seiner prüfbaren und bewährten Theorien und begibt sich ins Reich der Metaphysik und des Glaubens.“
Hier könnte man an sich schon aufhören zu lesen, denn alles, was folgt, basiert auf diesem Missverständnis!
Aber zur Präzision:
Nein, „der Wissenschaftler“ verlässt damit KEINESWEGS „stabilen Grund seiner prüfbaren und bewährten Theorien und begibt sich ins Reich der Metaphysik und des Glaubens.““ Das glaubt man nur, wenn man dem Missverständnis unterliegt. … Nochmal: ICH bin kein Fan des Begriffs Wahrheit, da er dazu verleitet, genau solche Missverständnisse hervorzurufen. (Liest man weiter, so bemerkt man, dass der Autor durchaus zur selben Einsicht kommt, für mich jedoch unverständlich, warum hier zunächst Verwirrung gestiftet wird, … um Esfeld zu kritisieren? Da hätte es genügt gleich den Wahrheitsbegriff in Philosophie (was man sonst noch darunter verstehen kann) und im Wissenschaftskontext darzulegen.*
Schon allein die Tatsache, dass erkannte „Naturgesetze“ sehr wohl überdacht, in Frage gestellt, ergänzt, verworfen oder durch andere, bessere, umfassendere ersetzt und/oder erklärt werden können, zeigt ja bereits auf, dass es sich bei den Naturgesetzen NICHT um absolute Wahrheiten handelt. Aus diesem Grund ist der Vergleich zu einem dogmatischen Glauben schlicht nicht statthaft. Wissenschaft lebt davon an der Realität scheitern zu können, ein Glauben kann nicht scheitern! Der Vergleich (die Behauptung, das eine sei ja im Grunde nicht anders als das andere) hinkt noch nicht einmal, er ist vollkommen unsinnig!
Liest man weiter widerspricht sich der Autor sofort, indem er ja berechtigt auf die Falsifizierbarkeit (Popper) hinweist.
Niemand kann einen gottesgläubigen Menschen von seinem Glauben abhalten. Man kann den ausgedachten „Gott“ nicht wegdiskutieren. Darum geht’s auch nicht: Niemand kann Russels Teekanne wegdiskutieren! Dennoch gibt’s einen qualitativen Unterschied: Während ein Gläubiger nichts anderes sagen kann als „ich glaub’s halt“, sagt ein Realist: „Es gibt jedoch keinen Grund dazu, denn es geht viel denkökonimischer (Ockhams Rasiermesser), viel belastbarer (Erfolge und Belastbarkeit der Wissenschaft) und es geht widerspruchsfrei UND für jeden zugänglich OHNE, dass er zunächst ein Glaubenbekenntnis ablegen muss).
Die Annahme einer Realität ist eben KEIN Glaubenbekenntnis, sondern höchstens zweckmäßig. Auch, wenn die Realität eine hohe Komplexität (aber womöglich und inzwischen realtiv sicher keine unendlich große!) aufweist (wie wir ja sehen), so ist sie erforschbar und verstehbar, sie ist – erstaunlicherweise – widerspruchsfrei und kann in ihrer Komplexität auf einfache, nicht mehr sinnvoll hinterfragbare Grundtatsachen zurückgeführt werden. Die Annahme einer Realität beinhaltet ein offenes Weltbild (stets bereit dazuzulernen, diese Realität kennenzulernen, in dem man sich von ihr zeigen lässt, dass man sich in seinen annahmen durchaus geirrt haben konnte (was ja auch anzunehmen ist, wenn eben diese Realität unabhängig von Menschen existiert). Die Annahme eines Gottes beinhaltet den unbegründeten Glauben an etwas von (von vornherein schon!) unendlicher Komplexität, das zudem NICHT hinterfragbar und schon gar nicht untersuchbar ist).
Nochmal: Wer an einen Gott glauben möchte, tut das. Da helfen auch alle anderen – wie ich finde – besseren Angebote nicht. Man kann demjenigen aber aufzeigen, dass er das keineswegs MUSS. UND: Das einzige, was er wirklich austauschen würde, ist, sein geschlossenes gegen ein offenes, dazulernendes Weltbild auszutauschen!
* Ein Wissenschaftler kann also sehr wohl sagen: „Die Aussage beispielsweise, dass Wasser aus Atomen zusammengesetzt ist, statt ein Urstoff zu sein, ist wahr.“ Dann kann er es freilich nur im von ihm definierten Sinne sagen, nicht im „sonst-noch-Sinne“.
Zitat: „Unter den Wahrheitsbesitzern vom Realismustyp spricht man von unwandelbaren Naturgesetzen, Wunder werden der nichtrealen Übernatur zugeordnet und dadurch der Untersuchung entzogen.“
Nein, Wunder existieren für einen Realisten nicht, da von Wundergläubigen ja behauptet wird, sie seien übernatürlich. Von Realisten kann das nicht behauptet werden, da es für sie nichts Übernatürliches gibt. Derjenige, der also behauptet, 1. Wunder existierten UND 2. sie seien etwas Übernatürliches, entzieht sie ja damit gerade vom Untersuchbaren. Nochmal: Für Realisten gibt es keine Wunder (was nicht heißt, dass man sich nicht über etwas wundern kann oder etwa keine Bewunderung für etwas empfinden könne). Deshalb haben Realisten auch kein Probleme mit Kreativität, nur, dass die eben nicht (!) von ungefähr kommt.
Dass im Alltag wissenschaftliche Aussagen in ihrer Bedeutung unterschätzt werden, hängt damit zusammen, dass die naturwissenschaftliche Schulbildung sehr zu wünschen übrig lässt. Das (und anderes – etwa die Behauptung Realität sei ja nur eine Erfindung, eine Konstruktion eine Verabredung) öffnet Schwurblern Tür und Tor und nicht etwa der Realismus selbst!
Was sie hier schreiben, habe ich mit Martin Mahner und Manfred Feodor Körgel schon durch. Diese Debatte und deren Ergebnisse sind im Hoppla!-Blog und im Blog Menschenbilder von Stephan Schleim nachzulesen. Alle Ihre Einwendungen wurden darin bereits beantwortet. Meine Antworten müssen Sie nicht teilen, aber wenn Sie schon einen so langen Kommentar schreiben, sollten Sie sie wenigstens zur Kenntnis nehmen.
@ Timm Grams
Zunächst: Danke für den Hinweis auf den Blog. Der ist interessanterweise viel länger als mein „langer“ Kommentar! … und entspricht nicht meinen Darlegungen!
Vorab: OB ich einen langen Kommentar schreibe, oder nicht, ist meine Sache. Sie müssen sich darüber sicherlich keine Sorgen machen.
Interessanterweise behaupten Sie das sei „alles schon durch“ (habe ich auch an anderer Stelle von Ihnen lesen können), was jedoch nicht zutrifft. Mir scheint also eher, dass Sie eben nicht bereit sind Gedanken und Bedenken wahrzunehmen, die nicht Ihrem Denken entsprechen, weshalb Sie Beiträge des Öfteren mit dem genannten Kommentar abtun.
DANN – mit Verlaub – ist es freilich Zeitverschwendung sich hier zu äußern oder sich überhaupt mit Ihren (bisweilen kruden) Thesen zu befassen!
[tg: Ein ehrlicher Diskurs wird vom Kommentator offenbar nicht angestrebt. Deshalb streiche ich die überlangen weiteren Ausführungen. Die Stoßrichtung ist ja ohnehin klar geworden.]
@Moderator
Gut, Sie sind der Moderator.
Ehrlich wäre es, wenn man auf Kritik, die ich ja sehr wohl hervorbringe, einginge. Das wird offensichtlich weder von Ihnen noch von Herrn Grams (oder die gleiche Person?) angestrebt.
Es geht NICHT um „Stoßrichtungen“! Komischer Jargon.
Tja dann …
Tatsächlich habe ich Wichtigeres zu tun. …
Gut. Wir haben das Thema Realismus/Naturalismus in diesem Hoppla!-Blog und auch im Blog Menschenbilder von Stephan Schleim links und rechts gewendet und die Klärung der Positionen war dabei sehr weit fortgeschritten. Es gab einen unausgesprochenen Konsens, es dabei zu belassen. Die Diskussion war damals schon sehr ermüdend. Sie müssen verstehen, dass mir der Antrieb fehlt, das wieder aufleben zu lassen. Es würde nur auf die immer wieder gleichen Argumente hinauslaufen – Einigung weder in Sicht noch notwendig.