Statistik und Kausalität

Wie viel Wissenschaft darf es sein?

Gern lese ich die Kolumne der Meike Winnemuth. Kürzlich schrieb sie vom Mut zur Lücke. Es geht ihr „um ein Plädoyer für das Halbwahrgenommene, Halbverstandene, mit dem wir uns ohnehin durch die Welt bewegen.“ Und weiter: „Bei nahezu allen Themen, über die wir reden und gelegentlich streiten, handelt es sich eher um Gewissheit als Wissen und am Ende auch nur um Glauben. Es geht einfach nicht anders.“ (stern 5.8.2021, S. 48)

Bei einem populärwissenschaftlich orientierten Blog wie diesem hier bleibt es nicht aus, dass Gewissheiten unterschiedlicher Herkunft und Ausprägung aufeinandertreffen. Ungebremst kann das zu endlosen und zirkelhaften Debatten führen. Das konnten wir am vorletzten Hoppla!-Beitrag „Vom Erscheinen und Verschwinden des Ich“ sehen. Dort lesen wir im Kommentarteil von der „kausalen Emergenztheorie“, die Eric Hoel „mathematisch dargestellt“ und gar „bewiesen“ haben soll. Das klang für mich so interessant, dass ich mir die Theorie etwas genauer ansehen wollte. Vom Ergebnis meiner Bemühungen lesen Sie gerade.

Ein kurzer Blick in Hoels Werk genügt, um zu erkennen, welchen Anspruch die kausale Emergenztheorie vertritt. Es geht um nicht weniger als um den Nachweis von Kausalitäten mittels Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Aber Hoppla! Unter den Kennern ist vorherrschende Meinung, dass Statistiken nichts über Kausalitäten aussagen. Für diese Einstellung sind Bertrand Russell und Karl Pearson prominente Zeugen (Pearl, 2000, Epilogue). Dennoch kommt es immer wieder zu Versuchen, die Ursache-Wirkungsbeziehungen dieser Welt mittels Statistiken zu erklären. Eric Hoel scheint einen weiteren solchen Versuch zu unternehmen: “Demonstrating causal emergence requires causally analyzing systems across a multitude of scales. Luckily, causal analysis has recently gone through an efflorescence. There is now a causal calculus, primarily developed by Judea Pearl, built around interventions represented as an operator, do(X=x).”

Genau diesen Interventions-Kalkül will ich mir zunächst genauer ansehen.

Statistik: Das simpsonsche Paradoxon

Einer der Versuche, die Ursache-Wirkungsbeziehungen dieser Welt mittels Statistiken zu erklären, stammt von Judea Pearl. Ich will seine Vorgehensweise an einem einfachen Beispiel erklären. Es ist meine Version des simpsonschen Paradoxons. Ich lege die folgende fiktive Statistik einer kleinen Stadt zugrunde:

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Inländer eine Straftat begangen hat, ist gleich P(B| ¬A) = 59/14000 = 0,00421; Für einen Ausländer ergibt sich P(B| A) = 51/6000 = 0,0085 – ein mehr als doppelt so großer Wert. So kann es zu Vorurteilen kommen. Mit a, b und c benenne ich im folgenden Variablen, die für Aussagen stehen: a steht für A oder für ¬A, b für B oder ¬B, c für C oder ¬C. Die Konjunktion ab steht für die kombinierten Aussagen AB, A¬B, ¬AB oder ¬A¬B. ¬AB bedeutet demnach, dass eine beliebig herausgegriffene Person ein straffälliger Inländer ist. Die Wahrscheinlichkeit dieses Falles ist gleich 59/20000 = 0,00295. Alle der im Folgenden auftretenden (bedingten) Wahrscheinlichkeiten lassen sich auf ähnlich einfache Weise aus den Tabellenwerten ermitteln.

Betrachten wir jeden der Stadtteile für sich, erhalten wir dafür, dass ein Ausländer des Vororts straffällig wird die Wahrscheinlichkeit P(B|AC) = 50/5000 = 0,01; derselbe Wert ergibt sich für die Inländer. In der Innenstadt ist die Straffälligkeit für beide Bevölkerungsgruppen deutlich geringer, nämlich jeweils gleich 0,001. Für Diskriminierung gibt die Statistik nichts her, oder? Warten wir ab.

Kausalität: Bewertete Vermutungen

Für mehrdimensionale Wahrscheinlichkeitsverteilungen sind immer Zerlegungen nach folgendem Muster möglich:

P(abc) = P(c) P(a| c) P(b| ac).

Nehmen wir a = A, b = ¬B und c = C, dann geht die Formel über in P(A¬BC) = P(C) P(A| C) P(¬B| AC). Sie besagt, dass die Wahrscheinlichkeit, auf einen Ausländer aus dem Vorort zu treffen, der nicht straffällig geworden ist, sich einmal direkt ablesen lässt: 4950/20000. Andererseits ist sie gleich dem Produkt auf der rechten Seite der Gleichung: (10000/20000)(5000/10000)(4950/5000). Also: weshalb einfach, wenn’s auch umständlich geht.

Die Zerlegung ist Ausgangspunkt für eine Kausalitätsanalyse nach Judea Pearl. Wir folgen ihm und interpretieren die bedingte Wahrscheinlichkeit P(a| c) im Sinne einer kausalen Abhängigkeit des a vom c: ca. Ebenso verfahren wir mit P(b| ac): cb und ab. Die Zerlegung lässt sich durch einen Kausalgraphen veranschaulichen:

Halten wir uns vor Augen: Diese Zerlegung ist eine von vielen möglichen. Wir haben ein vielleicht plausibles Modell für die kausalen Abhängigkeiten, mehr aber nicht. Die folgenden Schlussfolgerungen beruhen einerseits auf der soliden Basis der Statistik und andererseits auf der allenfalls plausiblen Annahme einer Kausalstruktur.

Ein wesentliches Element der Kausalanalyse nach Judea Pearl ist das Prinzip der bedingungslosen Intervention: Will man die Wirkung beispielsweise der logischen Variablen a auf die übrigen feststellen, dann setzt man diese auf einen festen Wert und kennzeichnet das dadurch, dass man do(a) anstelle von a schreibt und die Bedingungen für a aus der Zerlegung streicht. Damit setzen wir uns über die Fakten hinweg. Deshalb heißt diese Art des Schlussfolgerns kontrafaktisch. Wir erhalten so, wegen P(do(a)| c) = 1:

P(bc|do(a)) = P(do(a) bc) = P(c) P(b|do(a) c).

Daraus folgt für a = A und b = B:

P(B | do(A)) = P(BC| do(A)) + P(B¬C| do(A))
= P(C) P(B| do(A) C) + P(¬C) P(B| do(A) ¬C)
= (10000/20000) (50/5000) + (10000/20000) (1/1000)
= 0,0055.

Auf dieselbe Weise ergibt sich P(B | do(¬A)) = 0,0055. Aus- und Inländer tendieren demnach gleichermaßen zu Straftaten. Diese Aussage passt dem Diffamierungsgegner gut ins Konzept. Aber er sollte bedenken, dass die Aussage auf wackligem Boden steht.

Weshalb sollte man eigentlich das Wohnen im Vorort als ursächlich für das Ausländersein ansehen? Wäre es nicht umgekehrt sogar gerechtfertigt, zu sagen: Ausländer zieht es aus allen möglichen Gründen eher in den Vorort. Das ergäbe eine Kausalstruktur, in der der horizontale Pfeil seine Richtung umkehrt. Das liefert die Zerlegung
P(abc) = P(a) P(c| a) P(b| ac).

Die Intervention do(a) hat nun keine kontrafaktischen Konsequenzen mehr und wir können die Folgerung auch als bedingte Wahrscheinlichkeit schreiben: P(bc| do(a)) = P(bc| a).

Wir fragen nun wieder nach den Konsequenzen des Ausländerseins auf die Straffälligkeit und erhalten
P(B | A) = 51/6000 =0,0085 und
P(B | ¬A) = 59/14000 = 0,00421.
Die bösen Geister vom Anfang sind wieder da.

Jetzt heißt es: nachdenken und nach den wahren Ursachen der Misere forschen. Die Statistik hilft jedenfalls nicht weiter. Da müssen andere Untersuchungsmethoden her. Aber das ist nicht mehr mein Thema. Hier ging es nur darum, die Grenzen aufzuzeigen, die der statistischen Analyse gesetzt sind.

Ich fasse zusammen: Die Statistik sagt uns nur etwas über Kausalitätsbeziehungen, die wir vorher postuliert haben. Die Kausalitätsbeziehungen selbst sind Ergebnis disziplinierter Spekulation und nicht weiter zu begründen. Kontrafaktisches Schließen ist vermeidbar. Man braucht die Variablen nur so anzuordnen, dass die als ursächlich angesehene nicht durch andere bedingt wird. Das ist immer möglich.

Shannons Kommunikationstheorie hilft auch nicht weiter

Immer wieder einmal wird versucht, erfolgreiche Lösungen im Bereich der Technik auf Soziologie, Biologie, Psychologie und Philosophie zu übertragen. Die Buchwissenschaften können so etwas unter der Rubrik Renommee verbuchen. Aber auch seitens der Ingenieure und Naturwissenschaftler ist man da aktiv. Herausragend dürfte das Buch „Kybernetik“ von Norbert Wiener sein. So weit ich weiß, hat seinerzeit ein Architekt, der vom kybernetischen Bauen geschwärmt hat, von Norbert Wiener eine Abfuhr bekommen: Die Gebiete hätten wohl doch weniger miteinander zu tun als vom Architekten erwartet.

Wundersam wird es, wenn die Theorie der Kommunikation von Claude Shannon als Beleg für statistisch nachweisbare emergierende Kausalität herangezogen wird: “Notably, emergence in general has proven difficult to conceptualize because it appears to be getting something for nothing. Yet the same thing was originally said when Claude Shannon debuted the noisy-channel coding theorem: that being able to send reliable amounts of information over noisy channels was like getting something for nothing. Thus, the view developed herein of emergence as a form of coding would explain why, at least conceptually, emergence really is like getting something for nothing.”

Dabei ist Fehler reduzierende Datenübertragung über gestörte Kanäle nichts Geheimnisvolles, dessen verborgene Kausalitäten erst noch zu entdecken wären. Es ist Ingenieurswerk. Alle Strukturen und Kausalitätsbeziehungen sind gewollt und Gegenstand des Entwurfs. Die Störeinflüsse können als bekannt vorausgesetzt werden. Entwurfsziel ist die fehlerarme Datenübertragung, und dabei spielt nicht der Empfänger die Hauptrolle, sondern der Sender. Er codiert die Nachrichten derart, dass Störungen ihnen möglichst nichts anhaben können. Kurz gesagt: Er wählt die Zeichenfolgen so, dass auch eng benachbarte noch weit genug auseinander liegen. Auf diese Weise wird erreicht, dass eine gestörte Nachricht meist immer noch näher beim Original liegt als bei einer der anderen möglichen Nachrichten. Das erlaubt dem Empfänger die Fehlerkorrektur: er decodiert immer in die nächstliegende der möglichen Nachrichten. Er nutzt also eine Struktur aus, die der Sender vorgefertigt hat.

Um die nötigen Abstände zwischen den Nachrichten hinzukriegen, braucht es mehr Zeichen als für die Originalnachrichten. Diese Redundanz reduziert die Übertragungsgeschwindigkeit für die Nutzinformation. Da kommt auch der gewiefteste Empfänger nicht dagegen an. Es emergiert gar nichts.

Fazit

Die Theorie der kausalen Emergenz spielt hier im Hoppla!-Blog und auch im SciLog-Blog des Stephan Schleim eine Rolle. Diese Theorie wurde eingebracht, um zu klären, was unter Bewusstsein zu verstehen ist und wie das Ich zustande kommt. Den Befürwortern ist nicht gelungen, mir die diesbezügliche Relevanz der Theorie nahe zu bringen. Nach dieser kleinen Studie weiß ich nun, warum, und auch, dass das wohl nie gelingen wird.

Literatur

Pearl, Judea: Causality. Models, Reasoning, and Inference. 2000

Hoel, Erik P.: When the Map Is Better Than the Territory. Entropy 2017, 19(5), 188; https://doi.org/10.3390/e19050188

Hoel, Erik P.: Agent Above, Atom Below. How agents causally emerge from their underlying microphysics. Departmentof Biological Sciences, Columbia University, New York. Springer Link First Online: 31. Mai 2018

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27 Antworten zu Statistik und Kausalität

  1. Ich bin beeindruckt, wie der Autor in Kurzform die Theorie von Pearl atomisiert, immerhin ein Wegbereiter der künstlichen Intelligenz und vielfach ausgezeichnet. Im Vorbeigehen wird auch gleich die Informationstheorie Tononis mit den Spülstein hinuntergezogen, immerhin die derzeit wohl respektabelste Bewusstseinstheorie.
    Der Autor nimmt eine einfache, selbstgebastelte Statistik, um zu zeigen, dass Kausalität nicht durch Wahrscheinlichkeiten begründet werden kann.
    Natürlich kann Kausalität nicht durch bloße Statistiken begründet werden, das behauptet Hoel nicht. Er setzt die Theorie Tononis voraus und prüft mittels Markov-Ketten, wie sich kausale Zusammenhänge erklären, indem er interveniert, also die Frage stellt, was passiert, wenn, oder was würde passieren, wenn. Pearls Verdienst ist es, Alltagsfragen probabilistischer Natur mathematisiert zu haben, etwa, was würde passieren, wenn ich die Variablen a,b,c so uns so ändern würde. Die ‚alte‘ Statistik konnte und kann solche kausalen Beziehungen nicht klären. Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn der Autor zum Schluss erklärt: „Den Befürwortern ist nicht gelungen, mir die diesbezügliche Relevanz der Theorie nahe zu bringen. Nach dieser kleinen Studie weiß ich nun, warum, und auch, dass das wohl nie gelingen wird.“

    • Timm Grams sagt:

      Das könnte helfen: bei der Sache bleiben und konkret werden. Wen sollen die Stellvertreter- und Autoritätsargumente eigentlich beeindrucken? Beispielsweise Tononi: Über ihn habe ich noch nie geschrieben. Ich werde ihn mir vielleicht noch vornehmen. (Die Notwendigkeit dazu sehe ich noch nicht. Ich warte ab, was die Serie „Bewusstsein“ des Spektrum der Wissenschaft dazu noch bringt.)

  2. Sie kennen natürlich das Beispiel mit dem Hahn und der Sonne. Trotzdem verweise ich darauf, falls jemand mitliest, denn es ist sehr einfach zu verstehen. Es gibt eine Korrelation zwischen dem morgendlichen Krähen des Hahns und dem Aufgehen der Sonne.
    Mit Ihrer ‚alten‘ Statistik wäre die Herstellung einer Kausalbeziehung pure Spekulation. Pearl hat nun Variablen eingeführt, die verändert werden können (was-wäre-wenn Szenario). Die Variable wäre also das Krähen des Hahns. Ich drehe ihm also eines Nachts den Hals um. Wenn die Sonne morgens dennoch aufgeht, haben wir eine Kausalität aufgezeigt. Bei komplexeren Fragen werden mehrere Variablen eingeführt, und als Ausgangslage dient eine Theorie oder mehrere.
    Nach diesem Prinzip arbeitet Hoel, indem er künstliche neuronale oder boolsche Netze untersucht und feststellt, dass auf höheren Skalen (der integrierten Information) Kausalitäten gegenüber niedrigeren Niveaus entstehen.
    Für mich ist dieser Ansatz plausibel (den ich hier verständlicherweise nicht referieren kann), so dass ich ihn in mein Modell des Organismus integriert habe, neben einer ganzen Reihe anderer Aspekte. Was ist daran nicht nachvollziehbar?

    • Timm Grams sagt:

      Meine „einfache, selbstgebastelte Statistik“ dient dazu, Judea Pearls Methode zu erklären. Das ist meine Message. Sie ist offenbar bei Ihnen nicht angekommen.

      Mit meiner ‚alten‘ Statistik sei die „Herstellung einer Kausalbeziehung pure Spekulation“, meinen Sie. Ich habe gezeigt, dass Pearls Methode an dieser Sachlage nichts zu ändern vermag.

      Was Hoels Ansatz angeht, halte ich seine Interpretation des shannonschen Kanalmodells für verfehlt.

      Da die Arbeit Hoels auch nach Jahren in der Öffentlichkeit keine Resonanz erfährt, würde ich den Diskussionsfaden gern erst dann weiterführen, wenn sich weitere Kommentatoren zu Wort melden.

    • Timm Grams sagt:

      Judea Pearl macht sicherlich nicht den Fehler, eine Kausalbeziehung nachweisen zu wollen, indem er die Wirkung und nicht etwa die Ursache manipuliert. Googeln Sie „wann kräht der Hahn“. Dann kommen Sie der Sache etwas näher.

    • Karl Kloos sagt:

      Ich verstehe nicht, wieso deswegen eine Kauslität bewiesen wurde. Man beweist lediglich, dass das Krähen des Hahnes nicht dafür ursächlich ist, dass die Sonne aufgeht.

  3. Das Schöne an der Wissenschaft ist, dass es unterschiedliche Auffassungen und Meinungen gibt. Diese zu akzeptieren, halte ich für äußerst wichtig.

  4. Vielleicht noch dieser Hinweise, weil Sie sagen, es gäbe keine Rezeption dieser Theorie (manchmal dauert es eben länger): Cancer as a disorder of patterning information: computational and biophysical perspectives on the cancer problem.

  5. Elektroniker sagt:

    @ Timm Grams

    Ich meine das Problem ist die Frage der mathematischen Abbildung der Realität. Wenn man eine bestimmte Realität, z.B. das Bewusstsein nicht versteht, können die Mathematiker auch keine korrekte Abbildung/Simulation abliefern.

    Ich nehme an es ist Ihr Fachgebiet, in der Elektronik gibt es die elektrische Realität der „Schaltung“ und ihre mathematische „Abbildung/Simulation“ im Computer.

    Man könnte sagen, das ist recht gut gelungen. Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass es auch Nutzer geben könnte, die beklagen könnten, dass es Umstände gibt die praktisch nicht berücksichtigt werden.

    Z.B. dass es bei bestimmten Variationen der Parameter (Bauteiltoleranzen), oder bei zufälligem Strahlungseinfluss, besondere Phänomene gibt, die bei der Abbildung/Simulation nicht ausreichend berücksichtigt werden können. Die werden teilweise (noch?) nicht verstanden und treten, zum Glück sehr selten, störend auf.

    Zitat: „Nach dieser kleinen Studie weiß ich nun, warum, und auch, dass das wohl nie gelingen wird.“

    Es ist eine Frage wie weit man sich mit mathematischen Methoden der Realität annähern kann.

    Es scheint jedenfalls bei neuronalen Systemen noch weitaus schwieriger als bei elektronischen Systemen. Einerseits, nehmen wir einmal an, triggern „Neuronengatter“ sozusagen nur bei ausreichend qualifizierter „Signallage“, andererseits aber spielen „Bewusstseinseffekte“ (z.B. Lust/Schmerz) eine bedeutsame Rolle.

    Manche Wissenschaftler vermuten (eher „unter der Decke“), dass ähnlich wie beim Strahlungseinfluss, Ladungsträger freigesetzt werden und dabei das Empfindungsphänomen bzw. Bewusstsein auftritt.

    Zuerst muss jedenfalls die (allenfalls sogar quantenphysikalische) Realität erkannt werden, danach können die Mathematiker ihre Abbildungen/Simulationen abliefern die möglichst weitgehend der Realität entsprechen.

    • Timm Grams sagt:

      Ja. In meinen Simulationen sind bekannte oder vermutete Wirkmechanismen die Basis der Modellbildung. Die Simulationsabläufe sollen möglichst gut die Ursache-Wirkungs-Beziehungen der Wirklichkeit abbilden. Zweck meiner Simulationen ist 1. die Prognose und 2. die Überprüfung von Theorien. Prognosen verlangen gut bestätigte Wirkmechanismen; solche liegen bei der Simulation elektrischer Schaltungen und bei Verkehrssimulationen vor. In die zweite Klasse fällt meine Evolutionsstudie KoopEgo. Unter anderem zeigte sie, dass im Zuge der Fortpflanzung allein durch Zufall (Mutation) und Notwendigkeit (Selektion) das Neue in die Welt kommt.

      Was die Mathematisierung des Bewusstseins angeht, kann ich eine Modellbildung auf Basis von erkannten oder vermuteten Wirkmechanismen nicht sehen. Vorgestellt werden Gedankenexperimente und erdachte Minisysteme und deren mathematische Behandlung nach Maßgabe der Kommunikationstheorie des Claude Shannon und es werden Analogien mit dem menschlichen Bewusstsein aufgezeigt. Mit der Kullback-Leibler-Divergenz beispielsweise wird eigentlich nur umschrieben, dass unser Hintergrundwissen zum Erkennen einen großen Anteil beiträgt. Sie besagt nichts darüber, wie es das bewerkstelligt und noch nicht einmal, in welchem Maße.

      Dieses Denken in Analogien erinnert mich an die Zahlenmystik des Pythagoras. Diese Einschätzung kann sich im Laufe der Zeit ändern. Vielleicht bringt ja das große Experiment mit den momentan diskutierten Theorien des Bewusstseins etwas mehr Klarheit in die Sache (SdW 9/2021, S. 48-53).

      Nein. Die von Ihnen in Spiel gebrachte Erklärung mittels quantenphysikalischer Prozesse ist bereits im Vorfeld der Untersuchung gescheitert.

  6. Eric Hoel gehört zur Schule Tononis, der ja in Anlehnung an Shannon seine Informationstheorie (des Bewusstseins) entwickelt hat. Hoel wollte diese Theorie mathematisch beweisen, und zwar mit neuronalen Netzen. Meiner Meinung nach ist das, was er bewiesen hat, ein allgemeineres Prinzip, nämlich die Top-Down-Regulation. Das, was er eigentlich zunächst beweisen wollte, ist m.E. noch nicht vollständig, da Bewusstsein m.E. eine entsprechende Architektur voraussetzt. Ich glaube nicht, dass Bewusstsein nur ein quantitatives Ergebnis ist. Und da sehe ich eben das ICH als eigenes System, und das spiegelt sich quasi selbst in anderen virtuellen Systembereichen und wird damit reflexiv, was in der ausgeprägten Form nur dem Menschen eigen zu sein scheint. Dies dann zu mathematisieren, finde ich allerdings eine Herkulesaufgabe.

  7. Elektroniker sagt:

    @ Timm Grams 17. August 2021 um 12:44

    Ihr Fachgebiet, dass ich allerdings nur aus Anwendersicht (Simulation elektrischer Schaltungen) etwas kenne, begeistert mich an sich. Ich sehe es absolut so wie Sie.

    Ich würde Sie bitten, kurz zu erklären warum das Konzept von den aus einem Verband gelösten Ladungsträgern, ähnlich wie z.B. beim photoelektrischen Effekt, bereits im Vorfeld der Untersuchung gescheitert ist?

    Es scheint Fakt, dass auch biologische Sensorik, z.B. Zapfen, Stäbchen im Auge, Ladungsträger emittiert. Von dieser Dynamik angestoßen, die sich im neuronalen Netz verzweigen kann, könnte das Empfindungsphänomen auftreten, bis hin zum Bewusstsein und Panpsychismus.

    Bei den vorhandenen Konzepten (Hoel, Tononi,…) kommt immer wieder eine „Dynamik“ ins Spiel, welcher grundsätzliche, letztlich physikalische Mechanismus „stößt“ diese Dynamik an???

    • Timm Grams sagt:

      Ob „das Konzept von den aus einem Verband gelösten Ladungsträgern, ähnlich wie z.B. beim photoelektrischen Effekt, bereits im Vorfeld der Untersuchung gescheitert ist“, weiß ich nicht. Ich schreibe von quantenphysikalischen Prozessen und beziehe mich auf eine Aussage des zitierten Spektrum-Artikels.

      Auf Ihre Schlussfrage hätte ich auch gern eine Antwort.

  8. In der Mainstreamwissenschaft (des Lebendigen) wird leider immer wieder derselbe Fehler gemacht: In den Phänomenen sieht man bereits ihre Erklärung, oder anders: die empirischen Daten sollen bereits Zusammenhänge erklären. Wäre das so, müsste man nur das Gehirn vermessen und es würde sich quasi von selbst Bewusstsein, Intelligenz etc. einstellen. Da dem nicht so ist, braucht es zunächst methodologische Überlegungen oder zumindest – wie es in dem zitierten Spektrumartikel heißt -Theorien höherer Ordnung. Tononis Theorie ist eine solche. Aber sie reicht m.E. nicht aus, denn ihr fehlt, wie schon oben erwähnt, eine Architektur, in welcher sich die Prinzipien des Lebendigen wiederfinden, z.B. Selbstorganisation.
    In allen Modellen wird unwillkürlich so getan, als ob man es mit Maschinen zu tun hätte. Und da stellt sich dann folgerichtig die Frage, wer stößt diese Maschine an. Wenn nicht der liebe Gott, dann sie selber. Sie selber heißt Selbstorganisation. Da kann man noch so viele technische Simulationen anstellen. So wird es nicht gelingen, die Funktion des menschlichen Hirns nachzubilden oder zu verstehen.
    Ich bin skeptisch bzgl. dieses „großen Experiments“. Man wird viele Daten erhalten und so schlau sein wie vorher. Die Quantenphysik wird übrigens überhaupt keine Antwort liefern.
    @Grams: Eine Frage zu Ihrer Simulation: Machen Sie bei zufälligen Mutationen einen Unterschied zwischen endogenen und exogenen Ursachen für Mutationen? Ich denke, in einer Simulation lassen sich nur exogene Zufälle simulieren, oder?

    • Timm Grams sagt:

      Ursachen des Zufalls spielen in meinem Modell keine Rolle. Mehr über das Programm finden Sie im Buch „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“.

  9. Elektroniker sagt:

    @ Timm Grams 17. August 2021 um 16:25

    Ich befürchte, unter „quantenphysikalischen Prozesse“ versteht man etwas ganz „hochtrabendes“. Womöglich die „spukhafte Fernwirkung“, oder die gleichzeitig „lebendige oder tote Katze“, ….

    Ich sehe es ganz banal aus Sicht eines ehemaligen Nachrichtentechnikers mit abgeschlossener HTL.

    Es geht schlicht und einfach um die in der Sensortechnik, die heutzutage extrem bedeutsam geworden ist, verwendeten Konzepte. Es verhält sich meistens so, dass die Sensorik letztlich elektrische Signale ausgibt, oder angelegte Signale systematisch moduliert. Die Dynamik der Signale spielt natürlich auch eine Rolle.

    Quantenphysiker/Chemiker suchen nach möglichst stabilen neuen Effekten und Erklärungen die als Sensorikelemente, auch als biologische Sensoren, geeignet scheinen.

    Elektroniker bereiten die Signale auf, um sie gemäß vorhandener Protokolle in die Informatik überführen zu können.

    Programmierer binden die Messgrößen in ihre Programme ein, um Autos, Prozesse in der Industrie oder in den Intensivstationen zu steuern.

    Man kann eigentlich manche biologischen Signale recht gut messen und interpretieren, z.B. direkte elektrische Signale beim EKG, EEG…

    So einfach ist es nicht immer, wie und wo will man „Lustempfindungsprozesse“, salopp gefragt, wo will man einen „Orgasmus“ messen? Welche auch visuellen elektrischen Inputmuster werden wo und wie ausgehend, von der Sensorik (im neuronalen Netz) umgesetzt, um alle komplexen psychischen (auch Empfindungs-) und organischen Prozesse entstehen zu lassen bzw. zu steuern?

    Ein besseres Verständnis würde auch die Psychosomatik erklären.

    Neurologen sollten aus ihrer beruflichen Erfahrung heraus Anhaltspunkte liefern können, wo zunächst einmal Signale gemessen werden könnten, die mit den Empfindungen zumindest korrelieren.

    Systemische mathematische Konzepte können vermutlich erst sinnvoll ausgearbeitet werden, wenn man grundsätzliche Mechanismen versteht.

  10. Elektroniker sagt:

    @ Wolfgang Stegemann 17. August 2021 um 17:42

    Zitat: „In allen Modellen wird unwillkürlich so getan, als ob man es mit Maschinen zu tun hätte. Und da stellt sich dann folgerichtig die Frage, wer stößt diese Maschine an.“

    Diese Frage ist eigentlich nur für den „Status Nascendi der Weltentstehung“ offen. Es haben sich offensichtlich Prozess gesteuerte Systeme entwickelt, die sich gegenseitig immer wieder mehr oder weniger systematisch anstoßen. Wird z.B. bei lebenden Systemen diese „Kette von Anstößen“ unterbrochen, so endet das Leben falls es nicht gelingt diesen Mangel zu kompensieren, z.B. durch einen Herzschrittmacher.

    Die Theologen haben vermutlich den Begriff „Gott“ tautologisch „deklariert“, akzeptieren die Transzendenz und sind so im Besitz der „Wahrheit“, weil Tautologien immer wahr sind.

    Sie könnten es mit dem Begriff „Selbstorganisation“ genau so machen.

    Nur, man möchte halt die Wechselwirkungen zwischen den „realen Prozessen“ und einem „geistigen, mathematisch abzubildenden Konzept“ möglichst im Detail verstehen.

    Tononis Theorie wäre vermutlich ein „Baustein“ einer umfassenden Theorie. Aber auch diese „Lebenstheorie“ müsste zumindest in möglichst vielen nachprüfbaren Bereichen mit der „Realität“ übereinstimmen, daran kommen Sie nicht vorbei.

    Es müssen immer wieder empirische Zusammenhänge zwischen den „Komponenten“ (z.B. Zellen, Stoffwechsel, Steuerung, neuronales Netz, Denken, Intelligenz, Bewusstsein ….) nachgewiesen werden.

    Maschinen sind ein hervorragendes Vorbild und erleichtern das Verständnis.

    Selbst wenn man das Gehirn vollständig versteht, man würde allenfalls erklären können wie es zu einer bestimmten „Entscheidung“ z.B. eines Potentaten kam, z.B. Krieg oder kein Krieg, womöglich abhängig davon wie er „geschlafen hat“. Aber man kann nichts präzise vorhersagen, ob er z.B. von einer Gelse im Schlaf gestört wird….

    Es dürften nicht die „großen Fragen“ der Quantenphysik (z.B. spukhafte Fernwirkung) sein die etwas erklären können, sondern vergleichsweise einfache Fragen, wie es z.B. zu den Sensoreffekten kommt. Problemlösungen die sozusagen heutzutage das „tägliche Brot“ der Quantenphysiker/Quantenchemiker sind.

  11. @Elektroniker:
    Glauben Sie, dass die oben zitierte mechanische Ente einem Tierarzt helfen würde, wenn er eine lebende Ente operieren müsste? Genauso wenig hilft eine Computeranalogie beim Verständnis des Gehirns.
    Erst wenn Sie das Prinzip verstehen, das dem Gehirn zugrunde liegt, können Sie versuchen, dies zu formalisieren. Diese Formalisierung beinhaltet dann nicht Begriffe aus der Elektrotechnik, sondern solche wie etwa Selbstorganisation, Emergenz etc.

  12. Elektroniker sagt:

    @ Wolfgang Stegemann 18. August 2021 um 13:06

    Die boolesche Algebra ist nach George Boole benannt, und geht auf dessen Logikkalkül von 1847 zurück. Vermutlich hat der Mathematiker Norbert Wiener (die Mathematiker sind immer ihrer Zeit weit voraus), grob gesagt um 1920 erkannt, dass sie auch grundlegend bei neuronalen Prozessen sein dürfte, was allerdings erst um 1940 von W. McCulloch/Turing so richtig begründet wurde.

    Die Gattersysteme der Elektronik als auch die Computer, beruhen ebenfalls auf diesem Konzept, wurden aber erst, grob gesagt nach 1950, nach der Entwicklung des Transistors so richtig erfolgreich. Die Entwicklung ist geradezu explodiert. Es wurde so richtig anschaulich, dass die Vermutungen Wieners, und von McCulloch/Turing auf die Neurologie bezogen, keine Hirngespinste waren, die kein Mensch verstehen kann.

    Die Forscher F. Rosenblatt, W. McCulloch, A. Turing, W. Pitts, D. Hebb, M. Minsky, …. haben ausgehend vom Konzept des „Perzeptron“ (das auf so etwas wie „künstliche Neuronen“ aufbaut), wichtige Vorarbeiten zur Entwicklung der KI, ausgehend vom neuronalen System geleistet. Sie haben aber auch zum besseren Verständnis neuronaler Systeme beigetragen.

    Höchstens die Wissenschaftler W. Singer und C. v. d. Malsburg (Mustererkennung im Gehirn, dynamische Bindung von neuronalen Einheiten, Zeitstruktur) dürften bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf allgemein bekannte Konzepte der Elektronik/Informatik zurück gegriffen haben, weil es derartige Denkmuster sonst nicht geben dürfte.

    • Timm Grams sagt:

      Ich halte Konrad Zuse für ein großes Genie des letzten Jahrhunderts. Ein von mir konzipiertes Z1-Addierermodell (rein mechanisch wie das Original) ist im Konrad-Zuse-Museum Hünfeld zu besichtigen. Deshalb muss dieses Wikipedia-Zitat jetzt sein:

      Die Z1 war ein mechanischer Rechner von Konrad Zuse aus dem Jahre 1937. Sie arbeitete als erstes frei programmierbares Rechenwerk mit binären Zahlen.

  13. Der Elektrochemie des Gehirns ist es völlig egal, mit welchen Analogien sie beschrieben wird. Sie arbeitet nach ihren ganz eigenen Regeln. Und bisher hat keine einzige Analogie einen wirklichen Einblick ins Gehirn gebracht. Die einzigen verwertbaren Erkenntnisse hat man durch bescheidene Techniken wie EEG und fMRT erlangt sowie durch Versuch und Irrtum, indem man Hirnbereiche stimuliert und schaut, was passiert.
    Die heutige künstliche Intelligenz hat mit menschlicher Intelligenz / Bewusstsein überhaupt nichts zu tun. KI wird sich weiterentwickeln und irgendwann wird man von außen kaum unterscheiden können, ob ein Mensch dahinter steckt oder eine Maschine.
    Um das Gehirn zu verstehen – ich wiederhole mich – sollte man zunächst jegliche Analogie vergessen, sie hindert nur, die wirklich notwenigen tiefgreifenden Fragen nach dem Gehirn zu stellen.

  14. Ralf Jakobi sagt:

    Die Entstehung von Bewusstsein in einem deterministisch arbeitenden Digitalrechner (oder anderen deterministischen Maschinen) halte ich ebenfalls für unmöglich. Meine Überlegung dazu kommt ohne die kausale Emergenztheorie aus.

    Schon 1981 hat der Philosoph Arnold Zuboff (auf den übrigens auch das Dornröschenproblem zurückgeht) ein Gedankenexperiment ersonnen, das er in Form der fiktiven Erzählung „Die Geschichte eines Gehirns“ in dem Buch „Einsicht ins Ich“ (Herausgeber D. Dennett und D. Hofstadter) veröffentlicht hat. Das englische Original („The Story of a Brain“) ist im Internet zu finden. Es geht in der Geschichte um ein vom restlichen Körper isoliertes Gehirn, das in einer Nährlösung schwimmt. Wissenschaftler, die sich darum kümmern und es am Leben erhalten, meinen es gut mit ihm. Über die Sehnerven und andere sensorische Nervenstränge spielen sie Signale ein, die dem Gehirn eine angenehme virtuelle Realität verschaffen. Für das Gehirn stellt es sich als echte Realität dar. Durch einen Unfall wird nun das Hirn in zwei Hälften zerteilt. Die Wissenschaftler könnten die Nervenverbindungen zwischen den Hälften zwar wieder durch elektronische Elemente und über Drähte verbinden, befürchten aber, dass sich durch die Signallaufzeiten Beeinträchtigungen ergeben. Sie kommen daher auf die Idee jede der Gehirnhälften mit je einer „Impulspatrone“ zu verbinden, die elektronisch genau die Signale für jede Nervenverbindung erzeugt, die die jeweils andere Hirnhälfte auch geliefert hätte. Da dieser Ansatz (scheinbar) erfolgreich ist, teilen sie das Gehirn weiter auf, bis nur noch die einzelnen Neuronen mit jeweils einer Impulspatrone existieren. Jedes Neuron sieht dabei die gleichen Signale, die es auch im vollständigen Gehirn empfangen hätte und verhält sich dementsprechend auch genau so. Eine Verbindung der Nervenzellen untereinander gibt es nicht mehr und in der Geschichte sind die einzelnen Nervenzellen mit ihren jeweiligen Impulspatronen am Ende sogar räumlich weit verteilt im Universum angesiedelt. Wenn man davon ausgeht, dass das Bewusstsein durch neuronale Aktivität entsteht, sollte es aber auch nach der Zerlegung des Gehirns genauso vorhanden sein, da ja jedes Neuron die gleiche Aktivität aufweist wie im Orignalzustand.

    Das hört sich alles seltsam an und auch den Wissenschaftlern in der Geschichte fällt schliesslich auf, das wohl irgend etwas daran nicht stimmen kann. Zuboff möchte anscheinend darauf hinaus, dass Bewusstsein wohl weniger mit der Tätigkeit von Neuronen zu tun hat, als man gemeinhin annimmt.

    Im Buch „Einsicht ins Ich“ kommentieren Dennett und Hofstadter Zuboffs Geschichte, führen aber andere Argumente gegen seine Überlegung an. Ihr „K.-o. Schlag“(sic!)-Argument sagt aus, dass ein Gesamtsystem natürlich mehr ist als Summe seiner Teile, so wie z.B. ein Buch mehr ist als die Summe der darin enthaltenen Buchstaben. Dieses Argument überzeugt mich nicht, da es in der Geschichte ja genau darum geht, dass die Verbindungen zwischen den Neuronen letztlich nichts anderes bewirken als die Impulspatronen. Das zweite Argument von Dennett und Hofstadter bezieht sich denn auch auf diese Impulspatronen. Diese wären sicher extrem komplex und wohl tatsächlich kaum zu realisieren. Falls doch, würde die Summe aus Neuron und Impulspatrone schon wieder ein komplexes System darstellen, das mit einem kompletten Gehirn vergleichbar wäre. Somit hätte dann jedes Teilsystem sein eigenes Bewusstsein.

    Betrachten wir nun aber ein anderes Gedankenexperiment, das von Vertretern der starken KI gerne angeführt wird, um zu begründen, dass auch Digitalrechner ein Bewusstsein entwickeln könnten. Die Idee ist dabei, alle Neuronen eines natürlichen Gehirns durch äquivalente Digitalschaltungen zu ersetzen. Da die Funktionalität unverändert bleibt, sollte sich also auch an der Innenperspektive des Gehirns nichts verändern.

    Nehmen wir also das Gehirn aus Zuboffs Geschichte und digitalisieren darin alle Neuronen (und deren Verbindungen). Nun ist es prinzipiell möglich, eine Digitalschaltung in jeden gewünschten, exakt definierten Zustand zu versetzen. Insbesondere kann man einen früheren Zustand des Systems zu einem späteren Zeitpunkt genau so wieder herstellen. Verfügbare Prozessoren und Speicherchips erlauben dies nicht aber grundsätzlich wäre es kein Problem, alle Speicherzellen in den Chips doppelt vorzuhalten und damit zu ermöglichen, einen bestimmten Zustand abzuspeichern und das System später wieder in diesen Zustand zu versetzen. Beispielsweise könnten wir für einen Schnappschuss des inneren Systemzustands den Zeitpunkt auswählen, an dem das digitale Hirn morgens um 6:00 Uhr durch einen (virtuellen) Radiowecker aus seinem Schlaf geholt wird. Gleichzeitig würden alle (digitalisierten) Signale, die über die sensorischen Eingänge in das Gehirn gelangen, einen Tag lang aufgezeichnet. Setzt man danach das Gehirn wieder in den Zustand zum Beginn der Aufzeichnung zurück und spielt auch die gleichen externen Signale wieder ein, so würde das Gehirn exakt denselben Tag erneut durchleben. Dies könnte beliebig oft wiederholt werden. Das Szenario erinnert natürlich an den Film „Und täglich grüsst das Murmeltier“, aber es gibt einen wesentlichen Unterschied. Während der Protagonist in dem Film weiss, dass er den Murmeltiertag schon einmal erlebt hat und er auch in der Lage ist, Änderungen zu bewirken, hat das digitale Gehirn nicht die geringste Ahnung von früheren Zyklen, denn sein eigenes Gedächtnis ist ja auch wieder in den alten Zustand zurückversetzt worden. Alles würde sich für das Gehirn wieder genauso darstellen wie beim ersten Mal und aus Sicht des Gehirns wäre auch jeder Murmeltiertag der erste und einzige.

    Stellen wir nun das digitale Gehirn in Zuboffs Geschichte vor. Die Konstruktion der „Impulspatronen“ würde nun im Prinzip extrem einfach. Es reicht, die (digitalen) Signale zwischen den Neuronen aufzuzeichnen während das Gehirn noch nicht in einzelne Zellen zerteilt ist. Eine „Impulspatrone“ könnte also aus einem oder (typischerweise) mehreren schlichten Schieberegistern bestehen, in denen die Bitströme abgelegt werden. Wenn das digitale Gehirn, wie in Zuboffs Geschichte zerlegt ist, erhält jede digitale Nervenzelle ihren Input aus den Schieberegistern. Geschieht das synchron für alle Zellen und würde man auch die externen Signale des Murmeltiertages wieder einspielen, würde jede Zelle zu jedem Zeitpunkt dieses Tages wieder exakt den gleichen Zustand annehmen wie in dem verbundenen Gesamtgehirn. Dass jedes Teilsystem sein eigenes Bewusstsein hätte, kann man hier aber kaum annehmen, denn Schieberegister (selbst wenn es viele sind) haben nur eine sehr geringe Komplexität.

    Da also die Teilsysteme unbewusst sind, die Verbindung zwischen ihnen aber keine Änderung bewirkt, muss man schliessen, dass auch das verbundene Gesamtsystem kein Bewusstsein hat. Bei einem biologischen Gehirn wissen wir aber natürlich, dass es (im Wachzustand) über ein Bewusstsein verfügt. Mir scheint das nicht-deterministische Verhalten der einzelnen Neuronen in einem biologischen Gewebe ist der wesentliche Unterschied zu dem digitalen Gehirn, weil dadurch eine Zerlegung nach Zuboffs Methode verhindert wird. Nicht-deterministisches Verhalten auf einer tiefen Systemebene wäre also eine notwendige (aber sicher nicht hinreichende) Bedingung für die Entstehung von Bewusstsein.

    • Timm Grams sagt:

      Das scheint alles zu sein, was die starke KI der Gehirnforschung zu bieten hat: Science Fiction. Übrigens: The Mind’s I (Einsicht ins Ich) ist ein tolles Lesebuch. Danke für den Tipp.

  15. Eine KI-Forschung hat der Gehirnforschung nichts zu bieten. Was sollte denn eine Maschine mit einem Organ gemein haben.
    Vielleicht ist es ja umgekehrt. Wenn man eines Tages das Prinzip erkannt hat, nach dem das Gehirn arbeitet, ja, nach dem Leben an sich arbeitet, kann man versuchen, das auf eine Maschine zu übertragen. Ob dann dort Bewusstsein entsteht oder nicht, müsste sich zeigen. Niemand kann das von vornherein ausschließen.

  16. Mike sagt:

    Es gibt von der KI-Forschung Neuigkeiten:

    Emergente Fähigkeiten von großen Sprachmodellen wie ChatGPT:
    https://the-decoder.de/versteckte-faehigkeiten-grosser-sprachmodelle-ist-emergenz-die-norm/

    Eine neue Theorie (Constructor Theory) die Shannons Informationstheorie aufgreift und dahingehend erweitert/korrigiert, das Information eine physikalische Größe sein könnte.
    Daraus ergibt sich Emergenz der Information:
    Thus it describes systems in what is possible (curious enough, the Halting problem will tell you that this is also not possible!) instead of describe what a system can do. What a system actually does is an emergent property.
    https://medium.com/intuitionmachine/a-new-theory-of-information-emergence-28de58a522c

    • Timm Grams sagt:

      Spaß mit ChatGPT

      tg, 11.4.2023: Was ist 3,14159 geteilt durch 256?

      ChatGPT: 3,14159 geteilt durch 256 ist ungefähr 0,0123.

      tg: Bitte etwas genauer. 12 Dezimalstellen wären gut.

      ChatGPT: Entschuldigung für die Unschärfe in meiner vorherigen Antwort. Das Ergebnis von 3,14159 geteilt durch 256 auf 12 Dezimalstellen gerundet ist ungefähr 0,012271088435.

      tg: 0,0122718463 wäre richtig gewesen.

      ChatGPT: Vielen Dank für die Korrektur. Sie haben Recht, das Ergebnis von 3,14159 geteilt durch 256 auf 12 Dezimalstellen gerundet ist 0,012271846354.

      Kommentar: ChatGPT greift meinen (falschen) Lösungsvorschlag dankbar auf, spinnt ihn fort und liefert eine ebenfalls falsche Antwort. Die richtige Lösung ist O,0122718359375. (Ich zähle die Dezimalstellen ab der ersten Ziffer ungleich null.)

    • John Solar sagt:

      Wie kommt man darauf ein „SPRACHMODELL“ anhand seiner mathematischen Fähigkeiten beurteilen zu wollen?

      Q:
      Chatpgt, manche Menschen versuchen dich anhand deiner mathematischen Fähigkeiten zu bewerten und versuchen dich dann als unfähig erscheinen zu lassen, kannst du dir erklären warum sie das tun? Du bist doch ein Sprachmodell, für Mathematik könnte ich doch Wolframalpha oder Maple etc benutzen..

      A:
      Ja, das ist richtig. Als Sprachmodell liegt der Schwerpunkt meiner Fähigkeiten auf Sprachverständnis und Textgenerierung. Obwohl ich grundlegende mathematische Fähigkeiten besitze und einfache Berechnungen durchführen kann, bin ich nicht auf dem gleichen Niveau wie spezialisierte mathematische Software wie WolframAlpha oder Maple.

      Möglicherweise versuchen manche Menschen, mich anhand meiner mathematischen Fähigkeiten zu bewerten, weil sie die Grenzen meiner Fähigkeiten testen oder einfach die Fähigkeiten eines KI-Modells wie mich besser verstehen möchten. Es ist wichtig zu betonen, dass ich als Sprachmodell entwickelt wurde und nicht als spezialisiertes Werkzeug für Mathematik oder andere wissenschaftliche Disziplinen.

      Trotzdem kann ich bei vielen Themen hilfreiche Informationen und Antworten liefern. Aber für fortgeschrittene mathematische Berechnungen oder spezialisierte Problemlösungen empfehle ich, auf dedizierte Tools und Ressourcen zurückzugreifen.

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