Der eine begnügt sich mit Besserwisserei, der andere will Anerkennung dafür, dass er ein guter Mensch ist. Jedenfalls ist es ein gutes Gefühl, überlegen zu sein. Reicht die Geisteskraft nicht aus, ist eben die Moral gefragt. Dann haben wir auch noch die, die es in beiden Fakultäten weit gebracht haben. Sie sitzen auf dem hohen Ross der Moral und der Wissenschaft.
Sollten sie nun Woke-Bashing nach Art der Cynical Theories erwarten – das wird es nicht geben. Anders als die Neue Rechte verwende ich Woke nicht als abschätzig gemeinte Kampfvokabel. Es ist zuallererst eine Selbstzuschreibung einer sozialen Bewegung (Black Lives Matter).
Wissenschaftlicher Fortschritt
Die Naturwissenschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit regelmäßigen Phänomenen beschäftigen. Der Gegenstandsbereich wird durch das Postulat definiert, dass sich Gesetzmäßigkeit finden lassen, die immer und überall gelten. Kopernikus, Galilei und Newton waren auf diesem Gebiet äußerst erfolgreich. Sie haben der Vorstellung einer denkunabhängige Realität Vorschub geleistet, die hinter den Phänomene stecken muss.
Für die Fortschrittsapologeten scheint die Sache klar zu sein: Wissenschaft und Technik schreiten voran. Eine wissenschaftliche Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie prinzipiell widerlegbar ist. Widerlegt und ersetzt wird sie durch eine umfassender bewährte, eine die näher an der Realität, näher an der Wahrheit ist. Das ist wissenschaftlicher Fortschrit.
Unsere Lebenswelt ist geprägt von großartigen Errungenschaften, die wir der modernen Wissenschaft verdanken: Technik, Chemie, Medizin. Der Kampf gegen Hunger und Krankheit scheint erfolgreich zu sein. Technischer Fortschritt und moralischer Fortschritt gehen Hand in Hand. So sehen es die Fortschrittsapologeten. Sie meinen, dass die Wissenschaft uns zu besseren Menschen mache. Für Paul Kurtz ist die Beziehung zwischen Wissenschaft und Wertvorstellungen von zentraler Bedeutung (1992, S. 288).
Dieser Ansicht widerspreche nicht nur ich. Die moralischen Normen lassen sich nicht wissenschaftlich begründen. Thomas Nagel drückt es so aus (2023, p. 5f.):
In the scientific case we understand our perceptual observations to be the result of causal interaction with the world we are investigating. […] However, in the moral case, we do not take our evaluative intuitions to be the result of causal interaction with the moral domain, and it is not clear what other kind of embeddedness or access to the moral truth moral judgment might involve.
Moralvorstellungen hängen mit den Lebensverhältnissen zusammen. Sie sind orts- und zeitabhängig. Und ganz ähnlich wie Wissenschaft und Technik entwickeln sich moralische Normen; sie haben so etwas wie eine Fortschrittstendenz.
Vor diesem Hintergrund will ich wissen, ob die aktuell heftig diskutierten Verhaltensempfehlungen einen moralischen Fortschritt darstellen – gemeint ist Wokeness und da insbesondere die diskriminierungsfreie Kommunikation und das Gendern.
Anders als in der Wissenschaft sind wir bei der Moral gezwungen von zwei Arten des Fortschritts zu sprechen. Die erste Art ähnelt der des wissenschaftlichen Fortschritts.
Moralischer Fortschritt der ersten Art
In den Naturwissenschaften pflegen wir die Vorstellung einer stabilen und ausgedehnten Realität, an die wir uns mit unseren Theorien immer stärker annähern. Für die Verhaltensnormen könnten Platons Ideale das Gleiche leisten. Tun sie aber nicht, wie Thomas Nagel feststellt (2023, pp 24f.):
Realism about morality, as I understand it, does not imply such a metaphysical picture. Instead, we should think of morality as an aspect of practical reason: it concerns what we have certain kinds of reasons to do and not to do. We should not think of those reasons as like chemical elements waiting to be discovered. Rather, facts about reasons are irreducibly normative truths about ourselves and other persons, and realism is simply the position that their truth does not depend on our believing them.