Angela Merkel: Teufel oder Heilige?

Angela Merkels Buch Freiheit habe ich mir sofort nach Erscheinen am vergangenen Dienstag, den 26.11.24 besorgt. Mehr als den Prolog habe ich noch nicht geschafft, denn der Wälzer braucht Zeit. Die werde ich mir nehmen. Schon die auch bei mir auf DDR und BRD aufgeteilte Biografie schafft Verbundenheit.

Einmal, so erinnere ich mich, habe ich Angela Merkel auch gewählt. Ich bin halt Wechselwähler. Jedenfalls fand ich seinerzeit, dass sie einiges richtig gemacht hat: Im nachbarschaftlichen Verhältnis zu Russland und in der Flüchtlingskrise 2015/2016. Ihren Gebrauch des Wortes „alternativlos“ fand ich aber schon immer grässlich. Dann kamen die AfD und Putins Angriffskrieg. Die „Wahrheit“ wurde neu kalibriert.

Abgesehen vom Prolog ist mein Informationsstand zum Buch gegeben durch die Videos der Interviews mit Anne Will am Vortag und am Tag der Buchvorstellung im Deutschen Theater.

Was mich heute schon zu einem Artikel provoziert, sind die stante pede erschienenen 38 Rezensionen bei Amazon – so der Stand heute, zwei Tage nach Erscheinen des Buches.

Aktuelle Amazon-Rezensionen

Über die Hälfte davon sind Verrisse in dieser Tonlage:

Wie banal kommt sie daher, ohne kritische Reflexion, ohne ein Eingeständnis ihrer Fehler.

Eine andere:

Merkel vermeidet konsequent, Fehler einzugestehen. Weder die umstrittene Energiewende noch die Herausforderungen der Eurokrise oder die Polarisierung der Gesellschaft durch ihre Migrationspolitik werden kritisch beleuchtet.

Es geht noch toller:

Sowohl der Titel als auch der Preis für dieses Schundwerk sind eine Frechheit.

Auf der Gegenseite heißt es:

Einen so tiefen und ehrlichen Einblick, ohne sich zu bemitleiden oder zu bejubeln, habe ich selten seitens eines Politikers gelesen.

Und:

Frau Merkel war das beste Staatsoberhaupt das wir je hatten.

Den meisten Rezensenten geht es nicht um das Buch, sondern um die Politik. Sie müssen das Buch also gar nicht gelesen haben. Die Rezensionen spiegeln Zerrissenheit und Polarisierung unserer Gesellschaft. Darin sind die USA Vorreiter und kein gutes Vorbild.

Der Tumult um das Buch führt uns einen weiteren Irrtum vor Augen, nämlich das, was ich die Erinnerungsfalle nenne. Der Volksmund sagt: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Die Verzerrung der Wirklichkeit kann sich in die eine oder die andere Richtung auswirken, als Beschönigung oder als Übertreibung. Dabei ist das, was man im Nachhinein für falsch hält, oftmals nur ein ganz Normaler Irrtum. Ich neige dazu, auch die Nord Stream Pipeline für einen solchen zu halten. Was das Buch selbst angeht, werde ich mich später noch einmal melden.

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Who Watches the Watchmen?

Ein gewisser Guy Foxx hat im Facebook-Forum „Mathematik & Physik“ den folgenden Kommentar zum letzten Artikel abgeliefert:

Timm Grams Bist du wirklich so dumm? Ich habe doch gerade klar gesagt: „Klassiker mit Hüten oder Gesichtern sind sinnvoller.“

Und was machst du? Du schickst mir ein Beispiel mit den Muddy Faces. Muss ich meinen Kommentar echt noch übersetzen, weil du selbst nicht in der Lage bist, mitzudenken?

Die Originalaufgaben wie „Hats“ oder „Muddy Faces“ sind sinnvoller als deine idiotische Umschreibung mit Rückennummern. Der Grund ist simpel: In den Originalen kann jede Person den Hut oder das Gesicht aller anderen sehen – nur eben nicht den eigenen.

Bei deiner Version mit Rückennummern ist das völlig unbrauchbar. Wie soll denn jede Person die Rückennummer aller anderen sehen? Genau deshalb gibt es das Rätsel im Original mit Hüten und Gesichtern – weil es dann funktioniert. Darum meine Kritik: Denk doch mal über die Machbarkeit deiner Umschreibung nach, die wirklich selten dämlich ist.

Ergo: Wenn du schon Klassiker kopierst (was allein schon nicht gerade ein Zeichen von Kreativität ist), dann sorg wenigstens dafür, dass deine Abwandlung auch Sinn ergibt.

Den übergriffigen Tonfall kenne ich von GWUP-internen Diskussionen, die mich eigentlich hinreichend hätten abhärten sollen. Dennoch habe ich mich zu einer Meldung an die Gruppenadministratoren hinreißen lassen, was ich aber sofort bereut habe. Von Tugendwächtern halte ich nämlich gar nichts. Guy Foxx will offenbar mitspielen, die Frage ist nur, in welcher Rolle. Spielt er den Tugendwächter oder ist er ein Fall für Tugendwächter?

Ein weiteres Beispiel: Wenn jemand harte Strafen für Klimakleber fordert, widerspreche ich vehement: Eine kalkulierte Übertretung strafbewehrter Regeln muss in einer Demokratie möglich sein. Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit.

Der Skeptiker stellt Autoritäten infrage und hält das für eine Tugend. Er hat verinnerlicht, dass Irrtum grundsätzlich möglich ist und vor Autoritäten nicht haltmacht. In den Basics für Skeptiker schreibe ich darüber.

Eine grassierende Unsitte ist derzeit, Meinungen als Faktenchecks zu verkaufen. So etwas machen auch die öffentlich-rechtlichen Medien. Einer solchen Verlautbarung sollten wir grundsätzlich misstrauen. Woher soll Vertrauen auch kommen: Die Faktenchecker sind in den irrtumsträchtigen Prozess des Wissenserwerbs genauso eingebunden wie jeder andere. Wir sollten stets davon ausgehen, dass auch der Faktencheck interessengeleitete Meinung ist.

Das lässt sich nicht verhindern, vor allem nicht durch übergeordnete Überwachungsapparate. Diese sorgen nur für Machtballung und für die weitere Erschwernis der Kontrolle.

Wer diesen Faden weiterspinnen will, der wird seinen Spaß an dem im Titel angesprochenen Superheld*innen-Comic haben. Auch die Youtube Videos des Wirtschaftswissenschaftlers Christian Rieck nähern sich dem Thema auf unterhaltsame Art, beispielsweise wenn Rieck vom Vertrauenswürdigen Hinweisgeber spricht und fragt: „Wer kontrolliert den Kontrolleur?“

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Auf den Schlag – Denksport

Die Zahl der Bewerber für ein begehrtes Logikseminar übersteigt die Zahl der freien Plätze. Der Professor hält alle Bewerber für gleichermaßen hochbegabt und trifft eine Zufallsauswahl.

Für die endgültige Zulassung müssen die Kandidaten aber noch eine Prüfung bestehen. Er heftet allen Bewerbern einen Zettel auf den Rücken. Auf den Zetteln der Ausgewählten steht ein X und auf den anderen ein O. Keiner der Kandidaten weiß, ob er ausgewählt wurde oder nicht, aber er sieht all die anderen Zettel und er weiß folglich, welche der anderen Bewerber ausgewählt wurden.

Der Professor sagt den Bewerbern nicht, wie viele er insgesamt ausgewählt hat, aber wenigstens einer sei es ganz bestimmt. Er greift sich einen Gong und sagt: „Ich schlage jetzt etwa alle fünf Sekunden den Gong. Wer beim Gongschlag weiß, dass er ein X auf dem Rücken trägt, verlässt den Raum. Gibt er auch noch eine stichhaltige Begründung dafür, bekommt er einen Platz im Seminar.“ Damit beginnt er, den Gong zu schlagen. Tatsächlich verlassen alle Auserwählten gleichzeitig den Raum. Beim wievielten Gongschlag geschieht das?

Nachtrag

Die Teilnehmer dürfen sich während der Prozedur untereinander weder durch Wort noch Tat verständigen. Andernfalls wäre das Rätsel witzlos.

Wer Musterlösungen vermisst, der findet auf der Seite Denksport die Gründe dafür.

Weiter geht’s in den Kommentaren.

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Zerstört Donald Trump die Demokratie?

Nein, Donald Trump zerstört die Demokratie nicht, denn die US-Demokratie hat nie als die Demokratie funktioniert, als die sie uns weisgemacht wurde. Demokratie ist ja auch ein selbstwidersprüchliches Unterfangen und in Reinform nicht existenzfähig. Ich erinnere mich an ein paar Gedanken, die mir und den Kommentatoren dieses Hoppla!-Blogs bereits in den Jahren der Präsidentschaft von Trump und Biden gekommen sind.

2017: March for Science: zu spät!

Donald Trump ist momentan wegen seiner Post-Truth-Masche ein gern genommenes Angriffsziel.

2019: Dornröschen und die subjektiven Wahrscheinlichkeiten

Mag sein, dass wir, Donald Trump folgend, lernen müssen, mit subjektiven Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen.

2019: Joker Trump

Trump zielt meines Erachtens darauf ab, dass seine Gegner zu unüberlegten und niederträchtigen Gegenangriffen übergehen. Dann kann er sagen, dass seine Gegner auch nicht besser seien als er selbst. Das immunisiert ihn und er kann ungestraft Lügengespinste als Wahrheiten ausgeben. Bei seinen Anhängern verfangen diese offenbar. Seine Gegner haben, falls Trumps Rechnung aufgeht, keine wirksame Handhabe dagegen. Es läuft wie bei der Tu-quoque-Strategie des Jokers.

Es gibt auch eine Analogie zwischen den USA und Gotham City: Die desolaten Zustände der öffentlichen Versorgung, unter denen viele zu leiden haben, das Auseinanderdriften von Arm und Reich bilden das Milieu, das den Joker ermöglicht. Diese Lage hat der Joker nicht zu verantworten.

2020: Darf „Rasse“ im Grundgesetz stehen?

Das Aufbegehren der amerikanischen Mittelklasse gegen die „politische Korrektheit“ hat zum Aufstieg des Donald Trump beigetragen.

2023: Oberflächenkompetenz

Die aufsehenerregenden Aktionen haben kaum etwas mit den eigentlichen Zielen zu tun. Bekanntheit ist alles, was für den Erfolg nötig ist. Großmeister in diesem Spiel ist Donald Trump. Ein Amerikaner eben.

Als mustergültiger Amerikaner gilt mir Phineas Taylor Barnum, The World’s Greatest Showman („All we need to insure success is notoriety“).

2023: Aiwanger, Trump und die Demokratie

Sowohl Trump als auch Aiwanger erzählen die Geschichte einer Hexenjagd, deren Opfer sie seien. Belege dafür bleiben sie schuldig. Solche Erzählungen können die Demokratie zerstören, denn offenbar finden sie viele Anhänger unter den Bürgern, die mit dem Staat nicht zufrieden sind. Diese zerstörerische Gewalt wurde sichtbar bei der Erstürmung des Capitols am 6.1.2021 und bei der versuchten Stürmung des Bundestags am 29.8.2020.

2023: Demokratie oder Plutokratie?

Überall auf der Welt regiert das Geld. Wenn es anderswo ist, nennen wir es Oligarchie. Ich habe immer wieder den Verdacht geäußert, dass auch unsere Form der Demokratie im wesentlichen eine Geldherrschaft ist, und zwar von Anfang an. Wenn unsere feministische Außenpolitikerin der ganzen Welt etwas von den westlichen Werten erzählt, meint sie im Grunde die Werte einer Plutokratie.

2024: Das Relative

Auch wenn ich an den Leitspruch MAGA, Make America Great Again, von Donald Trump anknüpfe, um Trump geht es mir nicht. Die wirklichen Probleme sitzen viel tiefer. Diese werden in jüngerer Zeit auch verkörpert durch Clinton (Bill und Hillary), Bush junior, Obama und Biden, vor allem aber durch Ronald Reagan.

Ergänzender Kommentar:

Donald Trump sieht Amerika im Abstieg und will den Krieg in Europa beenden. Er könnte das Verschwinden des amerikanischen Imperialismus einleiten. Damit verbunden ist das Erstarken der US-Mittelklasse – Trumps Hauptziel, soweit ich sehen kann. Aber welch ein Tyrann und Lügner!

Andererseits haben wir Kamala Harris‘ Versprechen/Drohung, die hegemoniale Politik fortzuführen:

Als Oberbefehlshaber werde ich dafür sorgen, dass Amerika stets über die stärkste und tödlichste Kampftruppe der Welt verfügt.

Heute, mit der Wahl Donald Trumps zum 47. Präsidenten der USA, werden die Paradoxien des Westens deutlich sichtbar.

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Glaubenskampf im Namen der Aufklärung

In der Skeptikerbewegung habe ich schon manche Peinlichkeit erlebt. In der Auseinandersetzung mit dem seinerzeitigen Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken hatte ich es mit jemandem zu tun, der Linientreue mit intellektueller Schärfe verband. Ich fand den Disput nervig,  manchmal peinlich, aber auch bereichernd.

Dann kam ein Putsch, von dem sich diese Gesellschaft offenbar nicht erholt hat. Das zeigt jetzt ein Artikel des Nikil Mukerji, nun Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken, dessen Tonfall aber alles abgeht, was man von einem Skeptiker erwarten kann – eine weitere Peinlichkeit. Ich begnüge mich damit, ein paar Kostproben aus dem Text zu geben.

Scientific skepticism functions as part of society’s adaptive epistemic immune system.

Der Autor ist offenbar in dem Teil des gesellschaftlichen Organismus zuhause, der für die geistige Gesundheit des Ganzen sorgt; und da ist volle Wachsamkeit geboten, denn der angreifende Krankheitskeim ist besonders bösartig:

Recently, pseudoscience sympathizers, disguising themselves as skeptics. […] They infiltrated a skeptical organization—GWUP—through a metaphorical Trojan Horse and seized control.

Und darum geht es:

The Trojan Horse Strategy is not just theoretical. In 2023, pseudo-skeptics used it to gain temporary control of the German skeptical organization GWUP. […] They adopted skeptical views on topics like astrology and homeopathy, participated in debunking pseudoscientific claims, expressed support for scientific inquiry, and made friends in the community, thus avoiding detection. […] Pseudo-skeptics at GWUP sought to shut down all skeptical activities regarding woke ideology. They declared gender studies, postcolonial studies, queer studies, and similar fields “off-topic,” aiming to shut down GWUP’s epistemic vigilance regarding these areas. […] Death is always an unintended consequence of a pathogen’s interference with vital processes. In the case of woke pseudo-skepticism, death would have been the inevitable outcome for GWUP.

Diese Kriegsrhetorik ist abstoßend. Sie ist ein eklatanter Verstoß gegen die Seid-nett-zueinander-Regeln am Ende des Aufsatzes.

Dabei ist es so einfach: Mit dem Skeptiker-Instrumentarium, Kritischer Rationalismus genannt, lässt sich Wissenschaft bearbeiten, also all das, wofür man eine denkunabhängige und unveränderlich regelhafte Realität straflos voraussetzen darf. Das ist wohl das, was man unter „The organization’s mission“ verstehen muss.

Wer bei diesem einmal gewählten engen Denkrahmen bleiben will, was ich für zulässig halte, sollte keine Urteile über Dinge abgeben, die über den Denkrahmen hinausreichen; dazu gehören nun einmal gesellschaftliche Fragen, die Gegenstand der Wokeness-Bewegung sind.

Die Skeptikergesellschaft scheint noch nicht von allen guten Geistern verlassen zu sein, wie ein interner Kommentar zu dem genannten Artikel zeigt:

Ich frage mich allerdings, ob Nikil da nicht selber eine handfeste Verschwörungstheorie fabriziert.

Mancher Kommentar zum Aufsatz selbst, erschienen im Blog von Michael Shermer, geht in dieselbe Richtung:

This kind of language implies that those who disagree are irrational or mentally unwell, while positioning oneself as enlightened and immune to such thinking.

Auch Positives zum Artikel lässt sich dort finden.

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Links blinken, rechts abbiegen

Das Thema Propaganda lässt mich nicht los. Die europäischen Kriege, in denen eine nicht dem Territorium Europas zugehörige Macht Hauptakteur ist, zeigen, wie wichtig das Thema ist. In der Diskussion zum letzten Artikel kam zur Sprache, wie eng Kriege und Klimakrise miteinander verwoben sind. Fangen wir mit dem Klima an.

Der gute Wille ist da

Aus dem Freundeskreis erhalte ich die gut gemeinte Aufforderung, ich möge mich gegen den Klimawandel zusammen mit anderen mächtig ins Zeug legen. Die Anregung dazu gab ein TED-Vortrag von Johan Rockström

Der erste und größte Teil dieses Vortrages bringt Variationen über einen allgemein bekannten Sachverhalt, den Friedrich Engels in diese prägnanten Worte gefasst hat:

Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solcher Siege rächt sie sich an uns.

Rockström meint, dass das Erdsystem immer größere Rechnungen an die Gesellschaften auf der ganzen Welt schicke: in Form von Dürren, Überschwemmungen, Hitzewellen. Das fange an, weh zu tun, sowohl in Bezug auf die sozialen Kosten für die Menschen als auch die wirtschaftlichen Kosten.

Das macht uns betroffen und wir wissen auch, was zu tun ist: Wir müssen den Gürtel enger schnallen. Aber keiner nimmt das so richtig ernst und ein „jeder fummelt am Gürtel des Nachbarn herum“ (Norbert Blüm, 1935-2020).

Das Fazit ist, dass sich kaum jemand gegen den Klimawandel ins Zeug legt. Ernst Friedrich Schumachers Parole von 1973 „Small is beautiful“ hat in unserer Gesellschaft keine Chance. Die Fortschrittsapologeten treten ans Mikrofon und erklären uns, dass auch weiterhin wirtschaftliches Wachstum wie gewohnt möglich sei, dank der zu erwartenden Innovationen.

Overshoot

So scheint auch Johan Rockström zu denken. Er verweist auf das Unvermeidliche, nämlich, dass wir die auf der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 vereinbarte Schranke für den Temperaturanstieg nicht einhalten können. Aber er macht Hoffnung: Nach einem vorübergehenden leichten Überschießen des globalen Temperaturanstiegs könnten wir das 1,5 Grad Ziel doch noch erreichen.

Overshoot

Dem aufmerksamen Konsumenten des TED-Videos wird nicht entgehen, dass der „optimistische Realist“ Rockström, was die Rettung der Erde angeht, einen ungedeckten Wechsel präsentiert. Er spricht von CO2-Absorption und meint damit vermutlich eine Technik, die unter Carbon-Capture firmiert. Rockström demonstriert das anhand einer Grafik, die ab Minute 13:10 unter dem Titel „Overshoot“ erscheint.

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Militarismus ist gut für dich!

The easiest way to inject a propaganda idea into most people’s minds is to let it go through the medium of an entertainment picture when they do not realize that they are being propagandized.

Elmer Davis

Seit dem 24.2.2022 vergeht kaum ein Abend, ohne dass uns das deutsche Fernsehen mit Bildern von Panzern in voller Fahrt und feuerspeienden Raketenwerfern bombardiert – alles mit dem Unterton von Effizienz und Wirksamkeit für die Sache der „Guten“. Für mich ist das Gehirnwäsche. In meiner Kindheit in der DDR habe ich gegen so etwas eine Übelkeit entwickelt („Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“).

Kampfpanzer Leopard 2 A5 bei einer Lehr- und Gefechtsvorführung.

Für das, was hier passiert, hat J. William Fulbright im Kalten Krieg passende Worte gefunden. Damals ging es um ein Abwehrsystem gegen ballistische Raketen (ABM), die Worte scheinen aber zeitlos zu sein, ich übertrage sie auf deutsche aktuelle Verhältnisse (Fulbright, 1970, S.11)1:

Es ist eine Sache, wenn das Militär Regierung und Parlament in Fragen der nationalen Verteidigung berät; das ist ein Teil seiner Aufgabe. Eine ganz andere Sache ist es, eine konzertierte landesweite Propaganda- und PR-Kampagne zu starten, um die Unterstützung der Öffentlichkeit und des Parlaments für ein Programm zu gewinnen, dessen Wirksamkeit und Gültigkeit fraglich ist… Und das alles, um die öffentliche Meinung zu formen und den Eindruck zu erwecken, dass der Militarismus gut für sie ist.

Manch 68er erinnert sich an Senator James William Fulbright (1905-1995) als Namensgeber der Fulbright-Stipendien und Studenten-Austauschprogramme.

Fulbright sieht die Notwendigkeit von Regierungspropaganda, aber er zieht enge Grenzen. Er nennt das, was die Regierung liefern sollte, Information und nicht Propaganda. Und er sieht Grenzüberschreitungen (S.20)2:

Die Macht der Regierenden beruht auf dem Volk, das wissen muss, was die Regierenden tun, was sie zu tun gedenken und mit welchen Problemen sie konfrontiert sind. […] Um dieses Bedürfnis der Öffentlichkeit und der Exekutive zu befriedigen, haben die aufeinanderfolgenden Verwaltungen einen Public-Relations-Apparat aufgebaut, der inzwischen ein atemberaubendes Ausmaß angenommen hat.

Bereits in der Frühzeit des Films wurde dieses Medium für Militärpropaganda genutzt. Daniel Dancis (2018) berichtet von einem Meilenstein der Filmgeschichte, einem gewaltigen Werk aus der Zeit des Stummfilms3:

1915 erhielt der Filmpionier D.W. Griffith technische Beratung und alte Artilleriegeschütze von der US-Militärakademie für die Dreharbeiten zu The Birth of a Nation, dem ersten abendfüllenden Film mit einer Länge von 186 Minuten. Es war der erste Blockbuster, der lange Schlangen vor den Kinokassen auslöste. Der Film löste auch Kontroversen aus. Basierend auf dem Buch The Clansman von Thomas Dixon Jr. stellt The Birth of a Nation den Ku-Klux-Klan als Helden des Südens während des Bürgerkriegs und des Wiederaufbaus dar, was viele dazu veranlasste, den Film zu boykottieren und gegen seine Veröffentlichung in den Kinos zu protestieren. Neun Jahre später, für die Dreharbeiten zu America im Jahr 1924, wandte sich Griffith erneut an das Militär und erhielt mit Genehmigung des Kriegsministers John Weeks die Leihgabe von mehr als tausend Kavalleristen, um eine Schlachtszene aus dem Revolutionskrieg nachzustellen.

Ein aktuelleres Beispiel für Pentagon-Propaganda ist der Film Top Gun mit Tom Cruise aus dem Jahre 1986 (Wikipedia, 6.10.2024):

Die US-Marine profitierte stark von ihrer Unterstützung des Films: Neben einer Aufpolierung des Images konnte man nach dem Kinostart die meisten neuen Rekruten seit Jahren verzeichnen. Dabei waren Rekrutierungskabinen behilflich, die extra in zahlreichen Kinos in den Staaten aufgebaut wurden, weil man so Zuschauer, die noch vom Film aufgeregt waren, direkt nach der Sichtung fürs Militär gewinnen konnte.

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Paradoxien des Westens

Dieser Artikel hätte eigentlich gestern erscheinen sollen, wegen der Symbolik. Aber es war zu viel Arbeit. Eigentlich ist der 9. November das wichtigere Datum. Es war 1989 und ich war glücklich.

–– Gedankensprung ––

Die Paradoxien des Westens sind eine ziemlich angelsächsische Angelegenheit. Sie haben ihren Ursprung in der Aufklärung (John Locke) und sie wurden mit der Gründung der USA zugespitzt. Ich nenne die Paradoxien beim Namen:

1 Demokratie
2 Sendungsbewusstsein

Über Begriffe

Sendungsbewusstsein ist laut Brockhaus Leipzig 2005

die in einer Person, einem sozialen, religiösen oder polit. Verband ausgebildete Überzeugung, dass die eigenen Wertvorstellungen, Lehren oder politisch-sozialen Ordnungen auch für andere Menschen, Gruppen oder Völker verbindlich sein sollten. Sendungsbewusstsein ist oft ein konstitutiver Bestandteil einer Ideologie und dient vielfach als Rechtfertigungsgrund für Expansionsbestrebungen politischer, religiöser, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Art.

Wenn man

unter Ideologie jedes System von Ideen, Meinungen und Werten versteht, das Gruppen zur Legitimation ihrer eigenen Handlungen und zur Beurteilung der Handlungen Fremder benutzen,

dann ist die durch 1 und 2 beschriebene Denkwelt, nämlich unsere westliche, eine Ideologie. Eine solche Zuschreibung ist folglich nicht den illiberalen, totalitären Systemen vorbehalten. Damit ist eine Symmetrie hergestellt, die zu einem unverstellten Blick auf unsere eigene Lebenswirklichkeit verhelfen kann.

Paradoxien (Watzlawick, 1969/2000) sind die Essenz des modernen Lebens. Als Popperianer mag ich sie nicht, aber Hegel lehrt uns, dass wir Widersprüche akzeptieren und produktiv umsetzen müssen. Anders als bei Kant habe ich mich an Hegel noch nicht so richtig herangetraut. Deshalb nehme ich die Abkürzung über Popper (1958/1980, S. 51):

Aber was wir unsere eigene Vernunft zu nennen belieben, das ist nichts anderes als das Produkt dieser sozialen Erbschaft, das Produkt der historischen Entwicklung der sozialen Gruppe, in der wir leben, der Nation. Diese Entwicklung schreitet dialektisch, das heißt in einem Dreitaktrhythmus fort. Zuerst wird eine Thesis vorgeführt; aber sie produziert Kritik; Opponenten, die ihr widersprechen, behaupten ihr Gegenteil, eine Antithesis; und aus dem Konflikt dieser Ansichten entsteht eine Synthesis, das heißt eine Art Einheit der Gegensätze, ein Kompromiss oder eine Versöhnung auf einer höheren Ebene. Diese Synthese absorbiert gleichsam die beiden ursprünglich entgegengesetzten Positionen, indem sie sie überwindet.

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Liberal, illiberal, ganz egal?

Selbstverständlich ist es nicht egal: Liberales Wirtschaften fördert andere Ergebnisse zutage als illiberales; darum wird es mir jetzt gehen. Welches Wirtschaften vorzuziehen ist, bewerte ich nicht. Insofern ist es doch egal.

Das Smartphone ist eine süße Verlockung, der auch ich erliege. Dabei vergessen wir gerne, dass wir damit einen Großteil unserer Autonomie aufgeben. Die heutige allgegenwärtige Internetnutzung verbunden mit der überbordenden Werbung konnte nur in einer weitgehend unregulierten Gesellschaft entstehen. Die informationelle Selbstbestimmung ist zu einer hohlen Phrase geworden. Wir begeben uns weitgehend in die Verfügungsgewalt von ein paar wenigen Superreichen, die in ausdrücklicher Gegnerschaft zu jeglicher Regulierung stehen; Neoliberalismus nennt sich das.

Dabei ist der Autonomieverlust durch Propaganda keine Erscheinung, die erst durch das Internet aufgetreten ist. Im letzten Artikel war vom Propagandamodell die Rede, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg zur vollen Reife entwickelt hat.

Wenn wir unter Moral ein Regelwerk verstehen, das dauerhaftes Wohlergehen aller sichern soll, hat sich der Liberalismus an diese Stelle ein paar Minuspunkte verdient. Diktaturen als Beispiele illiberaler Gesellschaftsordnungen sind nicht besser, wie jeder von uns aus der Presse weiß. Ich werde mir Bewertungen verkneifen und auch nicht den kategorischen Imperativ Kants zitieren.

An ein paar Beispielen, teils eigenes Erleben, will ich zeigen, dass die Zuordnung, liberal ist gut und illiberal ist böse, dem eigenen Glaubenssystem entspringt und ansonsten nichts taugt.

1. Das Königreich Preußen war ein illiberales, System. Ihm haben wir die Industrialisierung unseres Landes zu verdanken – auch mittels Industriespionage im liberalen England. Es folgte der Siegeszug des Verbrennermotors und des Automobils. Auf der Lastenseite steht die Klimakrise. Hier Moralpunkte zu vergeben, fällt schwer.
2. Die Kerntechnik ist weltweit sehr stark reguliert. Wie auch im Flugverkehr sind die Sicherheitsstandards hochentwickelt. Ein Triumph der Bürokratie, jedenfalls nicht des Liberalismus.
3. Anders in der Autoindustrie. Vor vielen Jahren habe ich für eine Fachtagung zum Thema Sicherheitstechnik in der Automobilindustrie einen Festvortrag gehalten. Ich war erstaunt über die dort offenbare Rückständigkeit, gemessen am Stand der kerntechnischen Sicherheit. Als Begründung wurde mir gesagt, dass die Automobilfirmen in Konkurrenz zueinander stünden und folglich Standardisierungen und sicherheitstechnische Normen keine große Aufmerksamkeit genössen.
4. Meine Arbeitgeber in den 70er Jahren haben nicht nur Großanlagen, wie die Gepäckbeförderungsanlage des Frankfurter Flughafens, Schnellboote und Kernkraftwerke gebaut, sondern auch Produkte für den allgemeinen Markt, wo Konkurrenz wirksam wird. Damals war ich auch im Vorfeld der Normung tätig. In solchen Gremien waren alle großen ET-Firmen vertreten: Siemens, SEL, AEG, BBC. Die Begeisterung für die Verabschiedung der Arbeitsergebnisse in Form von Normen war äußerst gering. Den Grund verriet mir ein Kollege, die unterschwellige Firmenmaxime nämlich: Einmal bei BBC gekauft, immer bei BBC gekauft. Anstelle von BBC könnte auch jeder andere Firmenname stehen.
5. Später als Professor habe ich dann geholfen, zwei Standardisierungsvorhaben zuende zu bringen. Eines der Standardisierungsvorhaben betrifft die Begriffsbildung in der Zuverlässigkeits- und Sicherheitstechnik und ist meines Erachtens erfolgreich. Das andere betrifft die Kommunikation in der Automatisierungstechnik und ist wohl ein Flop. Der Wettbewerb zwischen den Firmen spielt im ersten Fall eine geringe, im zweiten eine große Rolle. [tg: Diesen 5. Punkt geändert am 11.9.2024]

Wegbereiter der Industrialisierung Preußens war Christian Peter Wilhelm Beuth (1781 bis 1853). Der Verlag, in dem das deutsche Normungswerk (DIN) erscheint, trägt auch heute noch seinen Namen. Normung ist ein illiberales Element in unserer Gesellschaft, aber es nützt dem Verbraucher.

Mit Interesse verfolge ich die Entwicklung der Ladeinfrastruktur für Elektroautos. Der Abstand der Ladestationen und die Ladedauer sind kritische Parameter. Vor Jahren fragte ich mich, ob man mit Einheitsbatterien, die man einfach austauscht, einen Teil der Probleme loswerden könnte. Die Ladedauer spielt dann keine Rolle mehr.

Eine andere Lösung ist eine Zwischenspeicherung nach dem Klospülungsprinzip: An der Tankstelle gibt es einen Zwischenspeicher, der langsam geladen werden kann und der bei Bedarf seine Ladung schnell an das Automobil abgibt.

Der Regulierungsbedarf ist bei der ersten Lösung höher als bei der zweiten. China hat seit einiger Zeit Wechselbatterien im Angebot. Bei Mercedes quält man sich mit der zweiten Variante herum, wobei klar ist, dass durch die Zwischenspeicherung zusätzliche Energieverluste entstehen, der Wirkungsgrad des Gesamtsystems also geringer ausfällt. Das ist der Preis des Liberalismus.

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Orientierungshilfe – in eigener Sache

Von wohlmeinenden Kommentatoren bekomme ich viele Hinweise und Links auf Webseiten von Debunkern und Influencern, die zu meinem Hoppla!-Blog passen könnten. Mein Anspruch ist, dem Leser einen halbwegs verlässlichen Anlegeplatz für Meinungen zu bieten, der von gezielten Fehlinformationen möglichst freigehalten wird, denn ich möchte nicht zur Bildung von Echokammern beitragen.

Damit wird die Flut von Internetlinks tatsächlich zu einem Problem. Eine durchgängige Prüfung auf Angemessenheit ist mir nicht möglich; ich bin ja keine Nachrichtenagentur. Das Blog soll nur einen Teil meine freien Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb verfolge ich von Anfang an diese Strategie:

  1. Ich bringe nur Sachen, die mich interessieren.
  2. Ich identifiziere ein paar Ankerplätze, wo ich mich sicher mit Nachrichten und Meinungen versorgen kann.
  3. Die Zahl der Ankerplätze wird vorsichtig erweitert.
  4. Unerlässlich ist die Zurückführbarkeit aller übernommenen Aussagen auf ihre originalen Quellen.
  5. Der Leser bekommt jede Hilfestellung, so dass er diese Quellen auch tatsächlich auffinden kann.

Ich schau mir erst einmal die Ergüsse der Leute an, zu denen ich bereits Vertrauen gefasst habe. Unter anderem orientiere ich mich an Büchern von Julian Nida-Rümelin und Bernhard Pörksen. Viele Hinweise auf Unverfälschtes kann man auch in den Mainstream-Medien finden. Warum das so ist, hat Noam Chomsky in seinem Buch Manufacturing Consent unter dem Stichwort Propagandamodell erklärt (1988/1994, S. 303):

Ein Propagandamodell hat eine gewisse anfängliche Plausibilität auf der Grundlage von Prämissen der freien Marktwirtschaft, die nicht besonders umstritten sind. Im Wesentlichen sind die privaten Medien große Unternehmen, die ein Produkt (Leser und Zuschauer) an andere Unternehmen (Werbekunden) verkaufen. Die nationalen Medien richten sich in der Regel an eine Meinungselite, die einerseits ein optimales „Profil“ für Werbezwecke liefert und andererseits eine Rolle bei der Entscheidungsfindung im privaten und öffentlichen Bereich spielt. Die nationalen Medien würden den Bedürfnissen ihres elitären Publikums nicht gerecht werden, wenn sie nicht ein einigermaßen realistisches Bild der Welt zeichnen würden. Ihr „gesellschaftlicher Zweck“ erfordert aber auch, dass die Interpretation der Welt durch die Medien die Interessen und Anliegen der Verkäufer, der Käufer und der von diesen Gruppen beherrschten staatlichen und privaten Institutionen widerspiegelt.

(A propaganda model has a certain initial plausibility on guided free-market assumptions that are not particularly controversial… Übersetzt mithilfe von DeepL)

Das Entlarven von Manipulanten, auch von staatstragenden, ist meine Leidenschaft. Dazu genügt ein wenig Logik zur Aufklärung von inneren Widersprüchen und der Zugang zu maßgebenden Dokumenten. Solche Zugänge hat uns das Internet in den letzten Jahrzehnten enorm erleichtert. Ich muss mich nicht auf zufällig entdeckte Influenzer und Debunker verlassen. Zufallsfunde enthalten oft interessante Hinweise; die nehme ich gern zur Prüfung an.

Diese Vorsichtsmaßnahmen sind ein wirksamer Schutz auch gegen
Astrotufing-Kampagnen im Internet.

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