Ist Wokeness die bessere Moral?

Der eine begnügt sich mit Besserwisserei, der andere will Anerkennung dafür, dass er ein guter Mensch ist. Jedenfalls ist es ein gutes Gefühl, überlegen zu sein. Reicht die Geisteskraft nicht aus, ist eben die Moral gefragt. Dann haben wir auch noch die, die es in beiden Fakultäten weit gebracht haben. Sie sitzen auf dem hohen Ross der Moral und der Wissenschaft.

Sollten sie nun Woke-Bashing nach Art der Cynical Theories erwarten – das wird es nicht geben. Anders als die Neue Rechte verwende ich Woke nicht als abschätzig gemeinte Kampfvokabel. Es ist zuallererst eine Selbstzuschreibung einer sozialen Bewegung (Black Lives Matter).

Wissenschaftlicher Fortschritt

Die Naturwissenschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit regelmäßigen Phänomenen beschäftigen. Der Gegenstandsbereich wird durch das Postulat definiert, dass sich Gesetzmäßigkeit finden lassen, die immer und überall gelten. Kopernikus, Galilei und Newton waren auf diesem Gebiet äußerst erfolgreich. Sie haben der Vorstellung einer denkunabhängige Realität Vorschub geleistet, die hinter den Phänomene stecken muss.

Für die Fortschrittsapologeten scheint die Sache klar zu sein: Wissenschaft und Technik schreiten voran. Eine wissenschaftliche Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie prinzipiell widerlegbar ist. Widerlegt und ersetzt wird sie durch eine umfassender bewährte, eine die näher an der Realität, näher an der Wahrheit ist. Das ist wissenschaftlicher Fortschrit.

Unsere Lebenswelt ist geprägt von großartigen Errungenschaften, die wir der modernen Wissenschaft verdanken: Technik, Chemie, Medizin. Der Kampf gegen Hunger und Krankheit scheint erfolgreich zu sein. Technischer Fortschritt und moralischer Fortschritt gehen Hand in Hand. So sehen es die Fortschrittsapologeten. Sie meinen, dass die Wissenschaft uns zu besseren Menschen mache. Für Paul Kurtz ist die Beziehung zwischen Wissenschaft und Wertvorstellungen von zentraler Bedeutung (1992, S. 288).

Dieser Ansicht widerspreche nicht nur ich. Die moralischen Normen lassen sich nicht wissenschaftlich begründen. Thomas Nagel drückt es so aus (2023, p. 5f.):

In the scientific case we understand our perceptual observations to be the result of causal interaction with the world we are investigating. […] However, in the moral case, we do not take our evaluative intuitions to be the result of causal interaction with the moral domain, and it is not clear what other kind of embeddedness or access to the moral truth moral judgment might involve.

Moralvorstellungen hängen mit den Lebensverhältnissen zusammen. Sie sind orts- und zeitabhängig. Und ganz ähnlich wie Wissenschaft und Technik entwickeln sich moralische Normen; sie haben so etwas wie eine Fortschrittstendenz.

Vor diesem Hintergrund will ich wissen, ob die aktuell heftig diskutierten Verhaltensempfehlungen einen moralischen Fortschritt darstellen – gemeint ist Wokeness und da insbesondere die diskriminierungsfreie Kommunikation und das Gendern.

Anders als in der Wissenschaft sind wir bei der Moral gezwungen von zwei Arten des Fortschritts zu sprechen. Die erste Art ähnelt der des wissenschaftlichen Fortschritts.

Moralischer Fortschritt der ersten Art

In den Naturwissenschaften pflegen wir die Vorstellung einer stabilen und ausgedehnten Realität, an die wir uns mit unseren Theorien immer stärker annähern. Für die Verhaltensnormen könnten Platons Ideale das Gleiche leisten. Tun sie aber nicht, wie Thomas Nagel feststellt (2023, pp 24f.):

Realism about morality, as I understand it, does not imply such a metaphysical picture. Instead, we should think of morality as an aspect of practical reason: it concerns what we have certain kinds of reasons to do and not to do. We should not think of those reasons as like chemical elements waiting to be discovered. Rather, facts about reasons are irreducibly normative truths about ourselves and other persons, and realism is simply the position that their truth does not depend on our believing them.

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Paradoxien, Gewalt und Krieg

Der Staubfaden: Vor 40 Jahren. In ihrem Wohnzimmer jagt sie verzweifelt einen Staubfaden. Der schwebt still in der Luft und muss weg. Immer wieder greift sie danach. Ohne Erfolg. Der Staubfaden weicht der heftigen Bewegung aus. Es muss der Luftzug sein. Das Fangen verhindert das Fangen. Ich trete hinzu und strecke meine Hand unter dem Staubfaden aus und warte geduldig, bis er sich auf meine Hand herabgesenkt hat. Problem gelöst, ohne Gewalt.

Jetzt wird es ernst: Unser drängendstes Problem ist die Ukrainekrise. Hier sehen wir Denkmuster, die in der Geschichte immer wiederkehren.

Die Argumentationslinien des Westens, insbesondere der USA, der EU und der NATO, basieren auf der Ablehnung der russischen Invasion in die Ukraine und der Betonung internationaler Prinzipien. Hier sind die zentralen Narrative: 1. Russland hat die Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen. Ziel: Russland als Täter darstellen und Sanktionen sowie Waffenlieferungen rechtfertigen. 2. Souveränität und Selbstbestimmung der Ukraine: Die Ukraine hat das Recht, ihre eigenen Bündnisse (z. B. NATO, EU) zu wählen. Ziel: Legitimierung der westlichen Unterstützung für die Ukraine. 3. Verteidigung der regelbasierten Ordnung. 4. Russland als Bedrohung für Europa und die Weltordnung: Wenn Russland ungehindert bleibt, könnten weitere Länder (z. B. Moldau, Georgien) angegriffen werden. 5. Russische Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen (z. B. Butscha-Massaker). 6. Russlands Propaganda entlarven: Eigene Narrative als wahrheitsgemäß darstellen. 7. Energie- und Wirtschaftskrieg Russlands: Russland nutzt Gas und Getreide als Waffe gegen den Westen.

Ich habe jetzt etwas getan, was ich mir für das Hoppla!-Blog grundsätzlich verbitte: Ich habe auszugsweise eine ChatGPT-Antwort vom 13.3.25 auf meine Frage »Welchen Argumentationslinien folgt der Westen?“ wiedergegeben – allerdings nur um zu zeigen, welcher Irrsinn daraus folgt.

Die Gegenseite kann nämlich zurückschlagen und ChatGPT fragen: »Welchen Argumentationslinien folgt die russische Propaganda?« Die Antwort vom selben Tag:

Hier sind einige zentrale Narrative: 1. Der Westen, insbesondere die NATO und die USA, bedrohen Russland und provozieren Konflikte. 2. Die ukrainische Regierung ist von Neonazis durchsetzt. 3. Ukraine als Marionette des Westens. 4. Die Ukraine sei historisch und kulturell ein Teil Russlands. 5. Doppelstandards des Westens: Der Westen habe selbst in anderen Ländern völkerrechtswidrig gehandelt (z. B. Irakkrieg, Jugoslawienkriege). 6. Russland als Verteidiger traditioneller Werte 7. Inszenierte Krisen und False-Flag-Operationen: Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine seien inszeniert oder von der Ukraine selbst durchgeführt.

ChatGPT ist ein Produkt des Westens und die Argumentationslinien der russischen Propaganda werden stets relativierend kommentiert. Interessant ist auch, welches Argument der russischen Seite nicht erwähnt wird. Es betrifft das Sicherheitsinteresse Russlands und dessen Verletzung durch die USA und die NATO. Die Einleitung macht klar, wie der Text zu bewerten ist:

Die Argumentationslinie der russischen Propaganda folgt oft einem mehrschichtigen Ansatz, der auf Desinformation, Geschichtsrevisionismus und emotionaler Mobilisierung basiert.

In einer solchen KI-Schlacht würde sich die Gegenseite natürlich nicht der mit Westmaterial trainierten KI bedienen, sondern einer Ost-KI. Den Menschen bleibt in jedem Fall eigenes Nachdenken erspart.

Im Anschluss zu meinen letzten Artikeln kam es zu einer solchen Schlacht mit KI-Beteiligung. Sie wurde von einem der Beteiligten abschließend so kommentiert:

KI User könnten „gegensätzliche“ KI Texten generieren lassen, [und sich diese] gegenseitig um die „Ohren schlagen“ bis das Internet hoffnungslos „verstopft“ ist. Nach einiger Zeit wird diese Texte kein Mensch mehr lesen….

Lassen wir die KI einmal beiseite und wenden wir uns den Argumenten zu.

Ich sehe hier ein Grundmuster von These und Antithese im Sinne von Hegel. Heute würde man mit Kellyanne Conway vielleicht von Alternativen Fakten sprechen. Hegel folgend sollte man versuchen, eine Synthese zu finden. Der Skeptiker gibt sich aber schon zufrieden, wenn er eine Paradoxie aufgezeigt hat. Wir sind also in einem Schwebezustand wie beim Staubfaden.

Ich bediene mich wieder einmal beim Hegel-Mediator Karl Raimund Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2, 1958/1980, S. 50):

Der Irrtum Kants bestand [aus Hegels Sicht] nur darin, daß ihn die Antinomien beunruhigten. Es liegt eben in der Natur der Vernunft, dass sie sich widersprechen muss

Die Auflösung des Schwebezustands müssen wir der Realpolitik überlassen.

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Verunglimpfung und Hetze

Dass dieses Hoppla!-Blog Gegenstand von Verunglimpfung und Hetze sein könnte, war bis vor Kurzem für mich unvorstellbar. Eigentlich soll es ja um verpatzte Kommunikation gehen: Denkfallen, kognitive Irrtümer, Manipulationstechniken, fehlleitende Argumentationsmuster, Statistikplunder und dergleichen – Dinge, die formal abgehandelt werden können. Dazu braucht es etwas Leidenschaft für Logik und Mathematik.

Die Gefahr lauert darin, dass wir, die emotionalen Wesen, Gefahr laufen, den neutralen Beobachterstandpunkt des Skeptikers, die Metaebene sozusagen, zu verlassen. Wir beziehen Stellung.

Auf dem Schlachtfeld locken Glücksgefühle, die durch vermeintliche Überlegenheit dem Diskussionspartner gegenüber ausgelöst werden. Wut und Verachtung übernehmen das Steuer.

Um so etwas zu erleben, musste ich mich in andere Gefilde begeben, beispielsweise in das Blog von Sebastian Bartoschek. Was ich dort erlebt habe, habe ich im Artikel Der Krieg braucht Emotionen, der Frieden kühlen Kopf verarbeitet. In Bartoscheks Blog ist es mir ergangen wie all denjenigen, die angesichts des Krieges in Europa eine differenzierte Weltsicht versuchen. Selbsternannte Proponenten der Freien Welt sind schnell dabei, diese Meinungsgegner in das Kästchen mit der Aufschrift »Putintroll« zu stecken.

Auch in der Diskussion zum letzten Artikel taucht dieses Argumentationsmuster auf, zusätzlich verstärkt durch KI-generierte Textfetzen, denen die Schulung am Mainstream anzumerken ist. Das verhindert genau das, was die freie Welt so dringend braucht: Meinungsvielfalt.

Soweit sehen wir nur Unfairness. Richtig widerlich wird es erst in dem per E-Mail geführten Briefwechsel mit mir, dem Blogger. Gestern Abend gegen Mitternacht erreicht mich die Nachricht folgenden Inhalts:

Ich habe ihnen jetzt oft genug gezeigt was [xxx] da macht, Wenn Sie nix dagegen machen ist das ihr Problem, aber wenn das der falsche liest und sieht, dann wette ich knallt es. Und zwar zwischen Ihnen und der Hochschule! […] Ich mache in Minuten Analysen von kompletten Blogs wie ihrem, was meinen Sie was los ist wenn ich das in großen Stil automatisiere und der Welt bereit stelle, jeder kann dann instant prüfen was fehlt, wo wird gelogen, was wird beschönigt, wie wird rhetorisch manipuliert usw. […] Viel Spass vor Gericht, aber nicht mit mir…
Grams./.Hochschule Fulda
wg. strategischer Kommunikation von russischer Desinformation auf Hochschulserver

Ich muss sicherlich nicht erklären, warum ich das hier zum Ausdruck gebrachte Verhalten abstoßend finde.

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Alternative Fakten sind normal

Das ifo Institut meldet am 18.02.2025:

Mehr Ausländer erhöhen die Kriminalitätsrate nicht

Migration nach Deutschland führt nicht zu einer höheren Kriminalitätsrate an den Zuzugsorten. Dies zeigen Auswertungen des ifo Instituts der Polizeilichen Kriminalstatistik nach Landkreisen für die Jahre 2018 bis 2023. „Wir finden keinen Zusammenhang zwischen einem steigenden Ausländeranteil in einem Kreis und der lokalen Kriminalitätsrate. Gleiches gilt im Speziellen für Schutzsuchende“, sagt ifo Forscher Jean-Victor Alipour.

Stehenden Fußes übernimmt der öffentlich-rechtliche Rundfunk diese Pressemeldung.

Die Tagesschau: Migration steigert laut Studie nicht die Kriminalität

ZDF: Kriminalität durch Ausländer. Neue Studie: Wohnort spielt sehr große Rolle

Auch Ricarda Lang teilt auf X die ifo Pressemeldung mit der launigen Einleitung: „Jetzt mal bitte nicht den Wahlkampf mit Fakten stören.“

Was haben wir uns seinerzeit aufgeregt, als Kellyanne Conway im Januar 2017 die vom  Pressesprecher des Weißen Hauses genannten falschen Zuschauerzahlen anlässlich von Trumps Amtseinführung beschönigend alternative Fakten nannte.

Das was die können, das können wir doch allemal. Die ifo Meldung gehört für mich in die Kategorie alternative Fakten. Dahinter steht eine moralische Haltung und eine dazu passende Interpretation der Daten.

Schauen wir uns das genauer an. Ich übernehme Teile meines Kommentars zum letzten Hoppla!-Artikel. Ein Kernsatz
aus der ifo Pressemeldung ist der folgende:

Die Annahme, dass Ausländer oder Schutzsuchende eine höhere Kriminalitätsneigung besitzen als demografisch vergleichbare Einheimische, ist nicht haltbar.

Diese Aussage ist überzogen. Eine Statistik lässt eine Kausalitätsaussage wie die zur „Kriminalitätsneigung“ grundsätzlich nicht zu. Wir haben hier einen Musterfall, an dem man schön erklären kann, dass Statistiken nicht dazu taugen, Ursache-Wirkungsbeziehungen aufzuzeigen.

Beginnen wir damit, was die Presseerklärung objektiv und durch Daten gestützt feststellt:  Überall ist die lokale Kriminalitätsrate der Ausländer nicht höher als die der Inländer.
Das ist der Hintergrund der ifo Meldung, die diese Daten im Sinne einer (fehlenden) Kriminalitätsneigung interpretiert. Aber es gibt eine naheliegende alternative Interpretation der Daten, wie man aus der ifo Pressemeldung ersehen kann:

Ausländer sind in der Kriminalstatistik gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil überrepräsentiert. […] Migranten ziehen häufiger in Ballungsräume, wo das allgemeine Kriminalitätsrisiko höher ist – auch für Einheimische.

Könnte es nicht sein, dass es kriminell veranlagte Ausländer in die Ballungszentren zieht und ließe sich nicht so die Überrepräsentation von Ausländern in den Ballungszentren erklären? Wenn ja, dann wäre die weit verbreitete Meinung, dass Ausländer die Kriminalitätsrate erhöhen, doch nicht widerlegt. Dann läge die beobachtete nationale Kriminalitätsentwicklung tatsächlich nicht an der Stadt sondern am Menschen.

Wir haben also zwei Meinungen, die einander ausschließen und die sich dank des zugrundeliegenden Zahlenmaterials als Fakten tarnen können. Alternative Fakten eben.

Das scheint mir auch der Wesenskern von Kelleyanne Conways Vorstoß zu sein: Die Interpretation von Zahlen im Lichte der eigenen Überzeugung.

In dem Aufsatz zum simpsonschen Paradoxon habe ich die hier wirksamen Zusammenhänge ausführlich dargelegt. In einen größeren Zusammenhang gestellt und an mehreren Beispielen erläutert habe ich das simpsonsche Paradoxon im Buch Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Dahinter steckt unsere Kausalitätserwartung, ein „angeborener Lehrmeister“ (Konrad Lorenz).
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Minimalideologie

JD Vance beschwört anfangs seiner Münchner Rede die gemeinsamen Werte der westlichen Demokratien. Diese Einleitung dient offensichtlich nur dazu, den Zuhörer wohlgesinnt zu stimmen. Er beschwört ein Band, von dem er selbst nichts hält. Nach dieser geschmeidigen Einleitung legt er kräftig los und zeigt uns Trumps Zertrümmerungsstrategie. Ich habe versucht, mir einen Reim darauf zu machen.

Regelbasierte Bündnisse sind brüchig, wenn mehr als zwei Individuen, Parteien oder Staaten beteiligt sind. Es genügt wenn einer einen Vorteil im Regelbruch sieht, dann bricht ein solches Gebäude in sich zusammen. Die Arbeiten an übergreifenden Regeln und Verträgen sind folglich ihr Geld nicht wert und gehören bekämpft, so Trump und Kompanie. Als ein Musterbeispiel solch unnützer Konventionen gilt der Trump-Mannschaft das 2015 verhandelte Übereinkommen von Paris zur Begrenzung der Erderwärmung. Missfallen erregen auch die Regeln zum achtsamen Umgang miteinander; mit Inbrunst runtergemacht wird die Woke-Bewegung.

Und dann gibt es noch diesen amerikanischen Klassiker: Was keinesfalls geht, ist Kommunismus. Wir haben die regelbasierte Ordnung des Westens auf der einen und den verhassten Kommunismus auf der anderen Seite – beides im Grunde Ideologien, denen man keineswegs trauen darf. Diesen Ideologien gilt Trumps Zerstörungswut. Was aber setzt er dagegen?

Meines Erachtens baut er auf eine einfachen Prämisse: Der Egoismus des Menschen ist das Einzige, worauf man sich wirklich verlassen kann. Das begründet zwar ebenfalls eine Ideologie, aber eine äußerst einfache: eine Minimalideologie sozusagen.

Daraus ergibt sich der sehr übersichtliche Werkzeugkasten Donald Trumps: Es geht um Deals und Familie. Deals zwischen zwei Partnern sind äußerst haltbar, da beide Seiten davon profitieren. Auch Mafiakreise setzen auf Familie und folgen der mittelalterlichen Weisheit: Blut ist dicker als Wasser. Bestenfalls den Kirchen wird noch ein Bindungskraft zugetraut.

So gesehen dürfte klar sein, dass bei einem Treffen Trump-Putin nur am Katzentisch Plätze für Selenskyj oder irgendeinen Europäer frei sind.

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Das dicke Ende

Der Skeptiker hat oft Gelegenheit, sich richtig schlecht zu fühlen. Er kann zwar manchen Shitstorm gegen seine Ansichten leicht wegstecken, aber dann, wenn sein Pessimismus wahr wird, geht seine Stimmung in den Keller. Die Wahrheit hat manchmal ein wirklich hässliches Gesicht.

Axios (Mike Allen)  schreibt gestern (13.2.25) in den Nachmittagsnachrichten davon, was Pete Hegseth soeben auf dem Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel von sich gegeben hat und was ein hoher US-Verteidigungsbeamter so unterstreicht:

Ukraine won’t become a NATO member.
U.S. troops won’t help to enforce any postwar security guarantees.
Any European troops deployed to Ukraine for peacekeeping need to be on a „non-NATO mission,“ so that the U.S. would not be obligated to protect them.

(Die Ukraine wird nicht Mitglied der NATO werden. Die US-Truppen werden nicht die Sicherheitsgarantien für die Zeit nach dem Krieg durchzusetzen helfen. Alle europäischen Truppen, die zur Friedenssicherung in die Ukraine entsandt werden, müssen in einer „Nicht-NATO-Mission“ eingesetzt werden, so dass die USA nicht sie zu schützen verpflichtet wären.)

Der Auftritt des US-Vizepräsidenten JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz wird für heute Nachmittag »mit Spannung erwartet«, schreibt tagesschau.de. Ich erwarte, dass er dort nichts anderes sagt, als das bereits von Pete Hegseth Ausgeplauderte. Donald Trump wirkt auf uns erratisch, aber in vielen Dingen ist er erstaunlich unbeirrt. Er hat einen Plan, ob der uns gefällt oder nicht.

Nach drei Jahren Blutvergießen habe ich kein Verständnis mehr für den Einwand, dass das alles über die Köpfe der Ukraine hinweg passiert. Ich zähle die USA wie Putin zu den Verantwortlichen für das Blutbad und es sollte niemanden verwundern, dass Donald Trump den auch für die USA kostspieligen Einsatz beenden will. Jetzt wird sich zeigen, was den Europäern die Ukraine wert ist.
Was bleibt, ist die Erkenntnis: Die Westlichen Werte haben dem realen Sturm nicht standgehalten. Weiterlesen

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Verlustaversion – eingebaute Evolutionsbremse?


Der Begriff Verlustaversion „bezeichnet in der Psychologie und Ökonomie die Tendenz, Verluste höher zu gewichten als Gewinne“. Diese aus der Wikipedia entnommene Definition wird beinahe ausschließlich begleitet von Überlegungen und Erklärungen, was dieses weitgehend irrationale menschliche Verhaltensmuster für Konsequenzen hat. Zwar wird psychologisch bzw. evolutionstheoretisch begründet, warum wir lieber festhalten als riskieren. Aber dem eigentlichen Grund, warum das so ist, wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt, wahrscheinlich weil es ein so einfacher mathematischer ist.

Eine Entwicklungskurve, sei sie linear oder nichtlinear, soll einen Verlauf darstellen, also das Fortschreiten eines Vorgangs in der Zeit. Da der Zeitverlauf gerichtet ist, stellt jeder Kurvenpunkt einen jeweils singulären Verweilpunkt dar. Im Rückwärtsblick offenbart sich von dort die bis dahin erfahrene Vergangenheit, also etwas sehr Reales und womöglich auch Belegbares. Im Blick nach vorn dagegen ist immer nur Extrapolation möglich, also das anhand des Zurückblickens eventuell zu Erwartende. Dieses Vorausschauen im Zurückblicken erzeugt also nichts Reales sondern lediglich etwas mehr oder weniger Wahrscheinliches.

Diese triviale, um nicht zu sagen banale Definition einer Entwicklungskurve wird erst etwas spannender, wenn man sie buchstäblich vom Anfang bzw. vom Ende her denkt. Während sie im Rückblick, im Koordinatensystem also links, ganz konkret endet (im Extremfall beim Urknall als dem Beginn der Zeit), lässt sich in der Vorausschau nach rechts kein solcher Endpunkt lokalisieren, nicht einmal unter der Annahme, dass es ihn überhaupt gibt. Der gerichtete Zeitpfeil könnte zwar ein zu errechnendes, aber eben kein erfahrenes Ende haben.
Das Leben, ob nun menschliches oder nicht, ist demnach vom Wesen her nicht in der Lage, die Zukunft allein so zu gestalten, dass sie aus seiner Sicht „richtig“ verläuft. Aber offenbar ist es ausschließlich das menschliche Leben, das die Tatsache des gerichteten Zeitpfeils nicht zu akzeptieren bereit ist. Weil wir Menschen sind, haben wir die Mathematik erfunden und könnten jene Tatsache anerkennen, eben weil wir darum wissen. Aber indem wir Lebewesen sind, fehlt uns die Fähigkeit zu dieser Akzeptanz. Die Verlustaversion ist reine Biologie, es gibt kein Mittel dagegen, auch wenn wir uns dies dereinst eingestehen würden. Wir können nicht unterlassen statt zu tun, nicht verzichten statt haben zu wollen, jedenfalls nicht, solange der Zeitpfeil aktiv ist und uns zum Handeln verpflichtet.

Ob das Universum von 3 oder 4 Grundkräften gesteuert wird, vielleicht aber auch von 5 oder gar nur von einer (Wikipedia:“ Fundamentale Wechselwirkung“): Was auch immer seine Entwicklung vorantreibt, es geschieht in der Zeit. Erfahrung macht uns klüger, aber was geschehen wird, kann niemals gewusst, sondern höchstens näherungsweise geschätzt werden. Die Verlustaversion des Lebendigen ergibt sich schlicht daraus, dass nur sicher sein kann, was man hat, aber nicht, was morgen fehlen oder zu viel sein könnte. Entwicklung gibt es nur für den Preis, dass Erreichtes auch wieder verloren geht.

Mephisto, wer sonst, bringt’s auf den Punkt: „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“ Aber man muss eben Teufel sein, um das auszusprechen.

(Mehr zu dieser Thematik auch hier.)

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Medien: Der Schwindel mit der Lupe

Irreführende Statistikinterpretationen und täuschende Grafiken fand ich vor allem im stern und im SPIEGEL. Seit ich Abonnent von Welt+ bin, finde ich so etwas auch dort.

Sie mögen es nicht, manipuliert zu werden? Dann schauen Sie sich die Beispiele meiner Sammlung an. Sie offenbaren einige Tricks der Manipulanten.

Am 22.1.2025 finde ich in Welt+ diesen Artikel: »Der große Irrtum vom Eigenheim als perfekter Geldanlage fürs Alter.« Diese Aussage wird garniert mit einer Grafik, die dem Leser drastisch vor Augen führt, dass er, anstatt in Immobilien zu investieren, sein Geld auch gleich zum Fenster rausschmeissen kann.

Im begleitenden Text steht:

Investiertes Kapital in Unternehmen arbeitet im Schnitt viel besser als in „Betongold“ gestecktes Geld.

Aha, darum geht es: Der Leser soll in den Aktienmarkt gelockt werden. Weiten wir den Blick. Schauen wir uns nicht nur die Entwicklung der letzten zwei Jahre an. Gehen wir zehn Jahre zurück; schon sieht die Sache ganz anders aus.

Der Blick durch die Lupe, die Konzentration auf einen kurzen Zeitschnipsel, wie oben geschehen, engt das Blickfeld ein. Der Kontext, die Umwelt wird unsichtbar, das Urteil in eine bestimmte Richtung gelenkt.

Bei Walter Lippmann finde ich dazu die folgende erhellende Passage (Die öffentliche Meinung. 1949/2018, S. 157):

Nahezu nichts, was unter dem Namen historischen Rechts oder historischen Unrechts geläufig ist, kann als wirklich objektive Sicht der Vergangenheit bezeichnet werden. Da ist zum Beispiel die französisch-deutsche Streitfrage über Elsass-Lothringen. Die Beantwortung hängt ganz vom Ausgangsdatum ab, das man herausgreift. Beginnen wir mit den Raurakern und Sequanern, so waren diese Gebiete geschichtlich ein Teil des alten Galliens. Wenn wir stattdessen Heinrich I. an den Anfang stellen, ist Elsass-Lothringen geschichtlich ein deutsches Territorium. Nehmen wir 1273, so gehört es zum Hause Österreich. […] Mit Ludwig XIV. und dem Jahr 1688 sind diese Gebiete nahezu ausschliesslich französisch.

Um auf den Welt+-Artikel zurückzukommen: Nach dem knalligen Eingangsstatement wird einiges wieder zurechtgerückt. Aber es ist eine gut bestätigte Weisheit, dass der erste Eindruck der prägende ist. Nachfolgende Korrekturen bewirken demgegenüber nur wenig. Dieser Verankerungseffekt tritt in meiner Halbkreisaufgabe deutlich zutage.

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Was ist faul an Zuckerbergs Community Notes Model?

Wie bereits vorgestern angemerkt, übernimmt Mark Zuckerberg für Facebook Elon Musks Modell der Community Notes. Er kündigt an, das derzeitige Programm zur Überprüfung von Fakten durch Dritte in den Vereinigten Staaten zu beenden und stattdessen zu einem Programm für Community Notes überzugehen. Er bezieht sich darauf, dass dieser Ansatz bei X funktioniere. Die Community entscheidet, wann ein Beitrag potenziell irreführend ist und mehr Kontext benötigt, und die Menschen aus den unterschiedlichsten Perspektiven entscheiden, welche Art von Kontext für andere Nutzer hilfreich ist.

Schauen wir uns an, wie Musks Modell Kollektive Anmerkungen auf X funktioniert.

Wenn eine Anmerkung von ausreichend Mitwirkenden mit verschiedenen Ansichten als hilfreich bewertet wurde, wird die Anmerkung zu einem Post öffentlich angezeigt. 

Der Guide für X Notes präzisiert: Nur Bewertungen, die von Leuten mit unterschiedlichen Sichtweisen als hilfreich bewertet wurden, erscheinen mit den Posts.

Das Modell Kollektive Anmerkungen funktioniert nicht nach dem Mehrheitsprinzip. Zur Identifizierung von Anmerkungen, die für zahlreiche verschiedene Menschen hilfreich sind, müssen sich Mitwirkende, die bei früheren Bewertungen manchmal unterschiedlicher Meinung waren, über die Anmerkungen einig sein. Das hilft, einseitige Bewertungen zu verhindern.

Unter dem Titel Vielfältige Sichtweisen wird erläutert, wie das Modell Kollektive Anmerkungen mit unterschiedlichen Sichtweisen umgeht.

Kollektive Anmerkungen möchte Anmerkungen identifizieren, die wahrscheinlich viele Leute auf X hilfreich finden, auch Leute mit verschiedenen Sichtweisen.

Bei der Suche nach Anmerkungen, die möglichst verschiedene Leute hilfreich finden, berücksichtigt Kollektive Anmerkungen nicht nur, wie viele Mitwirkende eine Anmerkung als hilfreich oder nicht hilfreich bewertet haben, sondern auch, ob die Leute, die sie bewertet haben, unterschiedliche Sichtweisen haben.

Soweit die Verlautbarungen der Plattform X.

Nehmen wir uns einmal ein konkretes Beispiel vor: Donald Trump ist der Ansicht, dass ihm der Wahlsieg im Jahre 2020 gestohlen worden sei. Obwohl es überzeugende Hinweise gibt, dass dies nicht stimmt, haben sich viele Leute dieser Ansicht angeschlossen. Solche Leute gehören zu den Mitwirkenden bei den Community Notes und müssten bei einer negativen Berurteilung zustimmen, was sie in diesem Fall verständlicherweise nicht tun werden. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Bei dieser Sachlage ist es nahezu ausgeschlossen, dass bereits verbreitete Falschmeldungen negativ notiert werden. Das System ist zahnlos und strukturbedingt ungeeignet, der Falschmeldungen Herr zu werden.

In der neuen Informationsweltordnung

haben die Menschen mit den größten Plattformen und Anhängern mehr Macht denn je, die Realität zu gestalten. Das ist eine seismische Verschiebung in der Art und Weise, wie Realitäten in Echtzeit geformt werden,

schreibt Mike Allen auf Axios (übersetzt von DeepL).

Kurzum: Wir müssen lernen, mit Falschmeldungen zu leben. Jeden Einzelnen von uns betrifft das. Das einzige, was uns hilft, ist kritisches Denken, Skepsis.

Nachtrag, 15.1.2024: Was Europas Presse dazu schreibt.

Die europäischen Regeln für digitale Dienste: DSA

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The Pursuit of Happiness

Tragende Säulen des amerikanischen Way of Life sind die vermeintlich gottgegebenen unveräußerlichen Rechte Life, Liberty and the Pursuit of Happiness, Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit. Dort ist es aufgeschrieben: The Declaration of independence.

Ideologieverdacht

Es war 1982, da habe ich mir Gedanken über die Ziele der Politik gemacht und notiert:
– Möglichst viele zufriedene Menschen
– Mehr zufriedene als unzufriedene Menschen
– Möglichst wenige unzufriedene Menschen.

Zwanzig Jahre später habe ich Mary Douglas gelesen und Jeremy Benthams Prinzip des »größten Glücks der größten Zahl« kennengelernt. Manch einer hält den damit verbundenen Utilitarismus für einen Fortschritt gegenüber Immanuel Kants kategorischen Imperativ.

Sowohl Kants Gesinnungsethik als auch Benthams Utilitarismus kennzeichnet das Bestreben, die Glückseligkeit auf viele, möglichst auf alle auszudehnen.
Aber, o Schreck, schnell wird Philosophie zur Ideologie. Ich erinnere an die Pädagogik Kants und den Utilitarismus Peter Singers. Derartige Idealisierungen und Überdehnungen können das Denken vernebeln.

Die in der Unabhängigkeitserklärung genannten unveräußerlichen Rechte sind nämlich nur dem Individuum zugerechnet. Sie sind Rechte des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und nicht etwa umgekehrt. Sehen wir uns zunächst genauer an, welcher Ärger droht, wenn wir das Recht auf Glückseligkeit überdehnen. Weiterlesen

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