Wir leben in einer Gesellschaft der gemäßigten Gegensätze, auch wenn Talkshows, Zeitungskommentare und die sozialen Medien einen anderen Eindruck erwecken. „This is not America“, schreiben Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Werk Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, 2023.
Ausgangslage
Um sich ein Bild von der gesellschaftlichen Spannungslage zu machen, gruppieren die Autoren die Befragten nach ihren Einstellungen zu den folgenden Ungleichheitsarenen
• Oben-Unten (Reiche und Arme),
• Innen-Außen (Migration),
• Wir-Sie (Gleichstellung und Normenwandel)
• Heute-Morgen (Klimakrise)
in drei Gruppen: konservativ, mittig und progressiv (S. 328).
Mit der Aufgliederung der Gesellschaft in solch eigenständige Arenen der Auseinandersetzung verblasst das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. „Konflikte sind zwar nicht strukturlos, aber eben auch nicht durch ein klares Gegeneinander unterschiedlicher Sozialstrukturgruppen geprägt“ (S. 25).
Dennoch haben wir den Eindruck einer „großen Gereiztheit“ (Bernhard Poerksen) unserer Gesellschaft. Warum? Ich will hier die Aufmerksamkeitsökonomie der öffentlichen und der sozialen Medien einmal außer Acht lassen. Eskalationen brauchen nicht die große Bühne; sie passieren im kleinen Kreis der Familie und auch hier im Hoppla!-Blog.
Triggerpunkte – Aus Streit wird Feindschaft
Mancher Streit eskaliert; es kommt zum Kontrollverlust, wie beim Besäufnis nach dem Abitur („Wir feiern nicht, wir eskalieren“) – so meine Anspielung im Titel.
Wer den wunden Punkt des anderen kennt, ist versucht, diesen zu berühren. Es sind die Triggerpunkte, die wütend machen. Die besten Methoden, eine Diskussion entgleisen zu lassen, sind
1. Grundsätzlich werden,
2. Ideologisieren und
3. Emotionalisieren.
Werden Triggerpunkte berührt, dann überwiege die affektive gegenüber der kognitiven Komponente von Einstellungen, so Mau, Lux und Westheuser. In der bundesrepublikanischen Diskussion genügen einzelne Wörter für das Triggern: SUV, Gendersternchen, Messerstecher, Transquoten, Sozialbetrug, Political Correctness, Clan-Bosse, …
Trigger Rasse
Wie Diskussionen eskalieren können, haben wir in diesem Hoppla!-Blog vorgeführt, beispielhaft beim Thema Rassismus. Offenbar waren sich die Diskussionsteilnehmer darin einig, dass Rassismus zu verurteilen ist. Die Sache kochte hoch, als es darum ging, das Wort Rasse im Grundgesetz zu tilgen. Ob das nötig oder hilfreich ist, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Praktische Auswirkungen hätte die Tilgung nicht.
Aber dann wurde es grundsätzlich. Die Wissenschaft wurde ins Spiel gebracht und die Diskussion ideologisch und emotional aufgeladen:
Der Begriff der Rasse ist offensichtlich wissenschaftlich veraltet.
Mein Versuch, der Debatte die Spitze zu nehmen, wurde elegant umgangen. Über den Streit Verwandtschafts- kontra Gruppenselektion, im Jahre 2012 ausgelöst durch Richard Dawkins, gewann sie wieder an Schärfe:
Vorwürfe des Rassismus werden strikt bestritten, und wenn Wilson die Soziobiologie aus anderen Gründen falsifiziert, wird das nicht diskutiert und aufgearbeitet, sondern diese Kritik wird praktisch wie in der Kirche einfach auf den Index gesetzt, obwohl Wilson es war, der die Soziobiologie als neues Paradigma einst begründete. So etwas nenne ich Dogmatik.
Mit dem Vorwurf der Dogmatik auf beiden Seiten ist die höchste Eskalationsstufe erklommen, denn die Falsifikation wird ja nur dann erreicht, wenn man den Aussagen eine wahre Theorie entgegensetzt.
Und das ist der grundsätzliche Jammer des popperschen Systems: Von wissenschaftlichen Aussagen wird die grundsätzliche Falsifizierbarkeit verlangt, bei der faktischen Falsifizierung tut man sich schwer, denn wahre Theorien gibt es in diesem Denksystem nicht. Nur eine solche hätten die Kraft, ein Denkgebäude zu widerlegen.
Bisher habe ich etwas der Falsifizierung Vergleichbares nur einmal erlebt. Da hat der Verfechter einer Theorie selbst eingesehen, dass diese nicht funktioniert. Es war ein erschütterndes Erlebnis: ein großartiger und vorbildlicher Forscher, den Tränen nah. Ich erwähne es in meinem Buch über Grundlagen des Risikomanagements von 2001.
Das Erlebnis hat in mir die Erkenntnis reifen lassen, dass der Falsifikationismus ein erstrebenswerter individueller Lebensstil ist. Er eignet sich nicht zur Verurteilung des Denkens anderer.
Nachtrag vom 31. März 2024.
Da ist doch noch etwas: Ostern Friedensfest. Mit Zuspitzungen werden wir moralisch aufgerüstet, sozusagen kriegstüchtig gemacht. Das neueste Triggerwort ist »Einfrieren«. In der Zeitung vom Samstag lese ich auf Seite 6 den Kommentar:
Wenigstens der realistische Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich klar von Mützenichs skurrilem Vorschlag distanziert. Und damit liegt er auf der Linie der Wissenschaftler, für die „Einfrieren“ des Krieges eine Beendigung des Konflikts zugunsten des Angreifers bedeutet.
Anlass ist ein Brandbrief des Geschichtswissenschaftlers Heinrich August Winkler.