Was ich nicht verstehe

Die aktuellen Nachrichten verwirren mich, da werden Dinge als Fakten dargeboten, die einfach nicht zusammenpassen. Ich greife ein paar Themenfelder heraus.

I
• Der Mossad gilt als der beste Geheimdienst der Welt.
• Israel wurde durch den Hamas-Angriff vom 7.10.23 überrascht.
• Durch die Kriegshandlungen sterben überwiegend Zivilisten, auf Seite der Palästinenser vor allem Kinder und Frauen.
• Israel wird der westlichen Wertegemeinschaft zugerechnet, die sich besonders dem Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet sieht.

II
• Dr Sultan, CEO des weltweit zwölftgrößten Ölkonzerns in Abu Dhabi, ist Vorsitzender der 28. UN-Klimakonferenz in Dubai 2023.
• Konferenzteilnehmer – unter anderen Olaf Scholz – beschwören die Einhaltung der 1,5-Grad-Schranke des Klimaabkommens von Paris 2015 und fordern den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen.
• Wer gerade einen Blick aus dem Fenster des Fortschrittszugs wirft, der kann diese Schranke vorüberhuschen sehen.

III
• Es gibt den Diener des Robert Habeck vor dem Emir von Katar am 20.3.2022.
• Katar ist ein autoritäres System und Unterstützer der Terrororganisation Hamas.
• Mehr Fortschritt wagen (Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen SPD, GRÜNEN und FDP), dort steht: „Unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden wir wertebasiert und europäischer aufstellen … [wir] werden […] uns für […] den Schutz von Frieden und Menschenrechten weltweit einsetzen. Dabei leiten uns unsere Werte und Interessen.“

IV
• Die USA gelten als Anführer der westlichen Wertegemeinschaft.
• Die USA liefern Streubomben an die Ukraine.
• Streubomben wirken hauptsächlich gegen Zivilbevölkerung, die durch das Völkerrecht geschützt sein sollte.

V
• Die Außenpolitik wird wertorientiert und feministisch genannt.
• Es werden Pakte und Verträge auch zwischen demokratischen und autoritären Staaten geschlossem.
• Inklusiver Multilateralismus ist das (Deutsche Bundestag Drucksache 20/6247 und Drucksache 19/30294).

VI
• Die Fortschrittskoalition hat sich der Einhaltung der Klimaziele verschrieben.
• Sie ist in Teilen gegen Subventionen.
• Kerosin wird subventioniert und bleibt steuerfrei. Das wollen die Subventionsgegner.
• Ein Tempolimit auf Autobahnen ist tabu.
• Die Klimaziele bezogen auf jeden Sektor werden aufgeweicht und in ein ressortübergreifendes Klimaschutzprogramm eingebettet. Kurz gesagt: Das unverdauliche Ende bleibt bis zum Schluss.

VII

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75 Jahre AEMR

Am 10. Dezember jährt sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte AEMR zum 75. Mal. Einige geraten darob aus dem Häuschen vor Begeisterung; sogar mit einer Art Gospel Song wollen sie den Geburtstag der AEMR öffentlich feiern.

Ich bin kein Philosoph und auch kein Kenner der Materie. Allein das, was ich den Nachrichten entnehmen kann, bremst meine Begeisterung für die AEMR. Ein Blick auf die Geschichte der Menschenrechte und auf die Außenpolitik von deren Proponenten macht die Ernüchterung komplett.

UNO-Skulptur Schwerter zu Pflugscharen

Das UNO Gebäude steht in Manhattan am East River. Die Skulptur Schwerter zu Pflugscharen im Garten des UNO-Hauptgebäudes schenkte die Sowjetunion der UNO im Jahr 1959. Im Jahr 2001, einen Monat vor den Anschlägen auf das World Trade Center, stand ich vor diesem eindrucksvollen Exemplar sozialistischer Ästhetik. Es appelliert an das Friedensziel der UN-Charta und zielte damals, 1959, auf die friedliche Koexistenz der Machtblöcke UdSSR und NATO. Danach ging das Wettrüsten erst richtig los. Auch der Blick in die Ukraine heute und in den Irak 2003 zeigt uns, was von solchen Appellen zu halten ist: Propaganda.

Dass die USA und Russland sich nicht an den Friedenszweck der UN-Charta und der AEMR binden wollen, zeigt auch ihre Weigerung, dem Internationalen Gerichtshof (IGH) beizutreten.

Aus meiner Sicht wesentlich folgenreicher als die AEMR ist ein anderes Vertragswerk, nämlich der drei Jahrhunderte ältere Westfälische Friede, der den Dreißigjährigen Krieg beendete (24. Oktober 1648). Er definiert für mich auch heute noch das Muster für das friedliche Miteinander von Nationalstaaten.

Anders als die AEMR war der Westfälische Friede keine reine Absichtserklärung, sondern für die vertragschließenden Parteien verbindlich; er ist nicht von Moral, sondern von Interessen bestimmt; er ist weniger herzergreifend – sozusagen nicht singbar; er polarisiert nicht. Er sorgte für Frieden.

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Ad hominem – unverzichtbar

Ad hominem nennt man Argumente, die auf die Glaubwürdigkeit der Quelle einer Behauptung und nicht auf deren Aussage selbst abzielen. Daran ist im Grunde nichts Schlechtes.

Ich erinnere mich an einen Vortrag eines berühmten, damals bereits emeritierten, Professors der allgemeinen Topologie, es muss 1975 gewesen sein. Er berichtete von einem Satz, an dessen Beweis sich schon viele Mathematiker lange Zeit ergebnislos abgearbeitet hatten. Jetzt sei die Forschung endlich abgeschlossen, der Satz widerlegt und das negative Ergebnis in einem Beweis niedergelegt, für den es zwei Buchbände brauchte. Diese Koryphäe auf dem Gebiet sagte nun, dass der Beweis eine Zumutung sei. Er habe nicht versucht ihn zu verstehen, aber er traue den Autoren. „Ich kenne sie gut.“ – Das ist ein typisches Ad-hominem-Argument. Verwerflich ist es nicht.

Quellen sind wichtig

Unser ganzes Wissen beruht letzlich auf Vertrauen: Vertrauen in Lehrer, Forscher, Lektoren, Redakteure, Journalisten, Moderatoren, Verlage. Kaum jemand hat Galileis Erkenntnisse über die Venusphasen oder Newtons Gesetze der Mechanik selbst nachgeprüft. Die wenigstens von uns werden die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik verstehen wollen. Wir vertrauen der Überlieferung und den Berichterstattern. Wenn uns neue spektakuläre Ergebnisse der Wissenschaft präsentiert werden, fragen wir am besten zuerst nach der Glaubwürdigkeit der Quelle. Es hat einen guten Grund, weshalb man in wissenschaftlichen Arbeiten auf einwandfreie Quellenangaben besteht. Und damit sind wir schnurstracks bei den Ad-hominem-Argumenten gelandet. Unvermeidlich.

In Skeptikernreisen wirft man dem Debattengegner gern vor, ad-hominem zu argumentieren, beispielsweise auch mir. Darin steckt der Vorwurf, dass der andere nicht auf das vorgebrachte Argument eingehe, sondern die Quelle angreife oder herabwürdige, um nicht auf das vorgebrachte Argument eingehen zu müssen.

Genau diesen negativen Sinn des Ad-hominem-Arguments finden wir bei Arthur Schopenhauer in Kunstgriff 16 seines Büchleins Die Kunst, Recht zu behalten:

Bei einer Behauptung des Gegners müssen wir suchen, ob sie nicht etwa irgendwie, nötigenfalls auch nur scheinbar, im Widerspruch steht mit irgend etwas, das er früher gesagt oder zugegeben hat, oder mit den Satzungen einer Schule oder Sekte, die er gelobt und gebilligt hat, oder mit dem Tun der Anhänger dieser Sekte, oder auch nur der unechten und scheinbaren Anhänger, oder mit seinem eigenen Tun und Lassen.

Die Doppelgesichtigkeit des Ad-hominem-Arguments zeigt uns Hubert Schleichert in seinem Buch Wie man mit Fundamentalisten diskutiert ohne den Verstand zu verlieren (1997/2004, S. 45):

Bei der Bewertung von Zeugenberichten über seltsame, wunderbare Ereignisse (von göttlichen Offenbarungen bis zu fliegenden Untertassen) sind zum Beispiel allgemeine Sätze wie die folgenden zu finden:
– Wunderberichte aller Art kommen regelmäßig von Exzentrikern, Drogensüchtigen, Psychopathen…
– Die Zeugen haben ein tiefes (eventuell unbewusstes) Bedürfnis nach Mysterien und Irrationalität.
– Die Berichte werden durch den Medienrummel stimuliert, Wunder geschehen nur dort, wo die Leute schon darauf warten.

Weiter schreibt Schleichert:

Gegen jeden skeptischen Einwand betreffs eines Wunderberichtes lässt sich natürlich auch eine Gegenthese aufstellen, so etwa: In der Regel sind es ehrenwerte, normale gesunde Menschen, die von dem wunderbaren Ereignis überwältigt und gerade zu vergewaltigt wurden.

Als Beispiel bringt er Piloten, die von fliegenden Untertassen berichten.

Also: Ad-hominem-Argumente sind nicht grundsätzlich verwerflich. Es kommt darauf an, ob die behauptete Glaubwürdigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Quelle belegt werden kann.

Man kann es auch übertreiben

In meiner Abschlussvorlesung (Alles wurde ein erstes Mal gemacht) sagte ich:

Hundert kluge Köpfe bringen nicht hundertmal klügere Ideen zum Vorschein als einer allein. Der Geistesblitz ereignet sich notgedrungen in einem einzigen Kopf.

Ein Kollege sagte mir einmal: In seinem Fachgebiet würden die wissenschaftlichen Arbeiten meist von Autorenkollektiven hervorgebracht. Ich habe mir seinerzeit verkniffen, ihm zu sa­gen, dass ich Arbeiten mit mehr als zwei Autoren normalerweise nicht lese. Denn die Erfah­rung hat mich gelehrt, dass in solchen Arbeiten eigentlich nie etwas wirklich Interessantes zu finden ist.

Das ist die fundamentale Schwäche der Veröffentlichungen von Kollaborationen, Arbeitskreisen, Gremien und Diskussionsplattformen.

Ein Leser des Hoppla!-Blogs empfahl mir die Lektüre dieses Papiers des Amtes für Veröffentlichungen der Europäischen Union:

Politisches Verhalten verstehen: Wie Wissen und Vernunft zentrale Bedeutung für politische Entscheidungen erlangen

Daran haben 60 Fachleute verschiedener Fachgebieten mitgewirkt. Das Ergebnis ist danach. Die Veröffentlichung bewegt sich überwiegend an der Oberfläche und sollte sich wirklich etwas Bedeutsames darin finden, ist es unter einem Wust von Gemeinenplätzen verborgen. Leicht aufzufinden hingegen war diese Aussage:

Ergebnisse empirischer Forschungen in diesem immer noch verhältnismäßig neuen Gebiet deuten darauf hin, dass kollektive Intelligenz mehr ist als die minimale, maximale oder durchschnittliche Intelligenz der einzelnen Mitglieder einer Gruppe.

Ich denke, dass sie in dieser Allgemeinheit nicht stimmt.

Eine Sammlung von nützlichen Schlagwörtern für Politiker aber ist das Papier allemal.

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Die Ironie der Automatisierung

Der Wirbel des KI-Hypes, ausgelöst von ChatGPT, zieht vorbei, ohne allzu großen Eindruck bei mir zu hinterlassen.

Ich bin ziemlich stark beeinflusst vom Denken des Josef Weizenbaum und von manch anderem kritischen Geist. (Auf meiner Seite Das System der Denkfallen sind unter den im Folgenden genannten Autorennamen die Quellen der Zitate zu finden.)

Steuern oder überwachen?

Mit dem Namen dieses Artikels „Die Ironie der Automatisierung“ zitiere ich Lisanne Bainbridge. Während meiner Industrietätigkeit bin ich auf sie aufmerksam geworden und habe Folgendes mitgenommen: Ein weitgehend automatisiertes System enthält dem Bediener die Gelegenheiten zum Einüben der im Ernstfall wichtigen Fertigkeiten vor. Der Gewinn, den die Automatisierung verspricht, wird durch das zusätzlich erforderliche Operator-Training teilweise wieder aufgefressen. Ein anderer Punkt, der unter Sicherheits- und Zuverlässigkeitsleuten eine Rolle spielt, ist die Langeweile. Nancy Leveson stellt folgenden Zusammenhang her: Wenn vom Operateur nur geringe Mitwirkung gefordert wird, kann das zu einer geringeren Wachsamkeit und zu einem übermäßigen Vertrauen in das automatisierte System führen. Mica R. Endsley stößt ins gleiche Horn, wenn sie konstatiert, dass das Situationsbewusstsein verloren gehen kann, wenn die Rolle des Bedieners auf passive Kontrollfunktionen reduziert wird. Felix von Cube sagt es so: Dadurch, dass der Unterforderte seine Aufmerksamkeit nicht oder nur zum geringen Teil für seine Arbeit einzusetzen braucht, richtet er sie auf andere Bereiche. So wird sie unter Umständen ganz von der Arbeit abgezogen, es kommt zu gefährlichen Situationen.

Kurz gesagt: Wer in einen Prozess aktiv eingebunden ist, der lernt, ihn zu beherrschen. Die Kehrseite: Der Mensch ist ein schlechter Kontrolleur. Computergenerierte Texte beispielsweise zwingen uns in die Rolle des Kontrolleurs. Das wird nicht gut gehen.

Was tun?

Unter dem Titel Ironie der Automatisierung widmet sich das Weizenbaum Institut diesem Problem, dessen Lösung oftmals in der Technologie selbst gesucht werde: Assistenzsysteme sollen den Menschen bei der Problemlösung anleiten. Dieser rein technischen Ansatz „Mehr desselben“ wird wohl zu Recht infrage gestellt. Demgegenüber wird in dem Projekt auf ein ganzheitliches Verständnis des Prozesses gesetzt:

Erste Befunde aus diesem Experiment zeigen, dass die Probanden, die über die Anleitung durch das Assistenzsystemen hinaus auch eine persönliche Einführung in den gesamten Arbeitsprozess erhielten, zwar zunächst mehr Fehler bei der Arbeitsausführung machten, in der Schlussphase aber eine geringere Fehlerzahl erreichten. Übertragen auf reale Beschäftigte, deutet diese darauf hin, dass holistisches Prozesswissen sogar im Bereich einfacher Maschinenbedingung durchaus einen Mehrwert für die Unternehmen hat. Das wäre ein klares Argument für Investitionen in Qualifizierung und Ausbildung und ein klarer Hinweis auf die Grenze von Assistenzsystemen.

Auch bei diesem Ansatz übernimmt der Mensch die Rolle des Kontrolleurs. Das Grundproblem der Automatisierung bleibt, möglicherweise in verringertem Maße, aber es bleibt.

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Federalist 10

Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.
Horst Seehofer

Ist die Demokratie westlicher Prägung überlebensfähig? Woher kommen die selbstzerstörerischen Tendenzen? Wer den Antworten auf diese Fragen näher kommen will, geht am besten zu den Wurzeln.

Im Jahr 1787 schrieb James Madison (Präsident der USA von 1809 bis 1817) das Federalist-Papier Nummer 10.

Ihn bewegte das Problem, dass Güter und Einkommen in einer liberalen Demokratie zunehmend ungleich verteilt sind. Es entstehen Partikularinteressen, die einem einvernehmlichen Regierungshandeln entgegenstehen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob und inwieweit die Klüngelei mit dem Volkswillen vereinbar ist. Ich habe mir in den folgenden Zitierungen des Papiers erlaubt, das Wort „Faction“ mit „Klüngel“ zu übersetzen. Das trifft die Absicht des Autors besser als das üblicherweise eingesetzte Wort „Fraktion“. (Ansonsten war mir DeepL Übersetzungshilfe.)

Um den Ton zu setzen, beginne ich mit einem Absatz, der erst ganz am Schluss des Papiers zu finden ist:

Eine Sucht nach Papiergeld, nach Abschaffung der Schulden, nach gleicher Aufteilung des Eigentums oder nach irgendeinem anderen unangemessenen oder bösen Projekt wird weniger geeignet sein, den ganzen Körper der Union zu durchdringen, als ein einzelnes Mitglied davon; im gleichen Verhältnis, wie eine solche Krankheit eher geeignet ist, eine bestimmte Grafschaft oder einen Bezirk zu befallen, als einen ganzen Staat. (A rage for paper money…)

Reich regiert, Arm schafft

Die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen ist Folge und Fluch des Liberalismus – so scheint es. Aber bereits für die Denker der Aufklärung war die Ungleichverteilung ein konstitutives Merkmal der liberalen Demokratie.

Madison schreibt:

Maßnahmen werden allzu oft nicht nach den Regeln der Gerechtigkeit und den Rechten der kleineren Partei entschieden, sondern durch die überlegene Kraft einer interessierten und anmaßenden Mehrheit (Measures are too often decided, not according to the rules of justice…)

Dagegen steht:

Die Regierung schützt die verschiedenen und ungleichen Fähigkeiten, Eigentum zu erwerben. Daraus ergibt sich unmittelbar der Besitz verschiedener Grade und Arten von Eigentum; und aus dem Einfluss dieser auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer ergibt sich eine Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Interessen und Parteien. (From the protection of different and unequal faculties…)

Die Vermögens- und Einkommensungleichheit wird von den Befürwortern eines grenzenlosen Liberalismus beharrlich kleingeredet. Aber schon die Gründungsväter der modernen Demokratie wussten, dass genau diese von zentraler Bedeutung für das Gemeinwesen ist.

Madison:

Die häufigste und dauerhafteste Quelle für Klüngel war jedoch die unterschiedliche und ungleiche Verteilung des Eigentums. Diejenigen, die Eigentum haben, und diejenigen, die kein Eigentum haben, haben immer unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft gebildet. Diejenigen, die Gläubiger sind, und diejenigen, die Schuldner sind, fallen unter eine ähnliche Unterscheidung. Ein Grundbesitzinteresse, ein Produktionsinteresse, ein Handelsinteresse, ein Geldinteresse und viele geringere Interessen entstehen notwendigerweise in zivilisierten Nationen und unterteilen sie in verschiedene Klassen, die von unterschiedlichen Gefühlen und Ansichten geleitet werden. Die Regulierung dieser verschiedenen und sich überschneidenden Interessen bildet die Hauptaufgabe der modernen Gesetzgebung und bezieht den Geist der Partei und der Fraktion in die notwendigen und gewöhnlichen Operationen der Regierung ein. (The most common and durable source…)

Sündenböcke

James Madison streicht die Vorzüge einer repräsentativen Demokratie gegenüber der direkten Demokratie heraus. Es seien

erstens die Übertragung der Regierungsgewalt an eine kleine Anzahl von Bürgern, die von den übrigen gewählt werden; zweitens die größere Anzahl von Bürgern und die größere Fläche des Landes, über die sich die Republik erstrecken kann.
Die Wirkung […] besteht einerseits darin, die öffentlichen Ansichten zu verfeinern und zu erweitern, indem sie durch ein ausgewähltes Gremium von Bürgern vermittelt werden, deren Weisheit das wahre Interesse ihres Landes am besten erkennen kann und deren Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe am wenigsten dazu neigen, es vorübergehenden oder partiellen Erwägungen zu opfern. (The two great points of difference between a democracy and a republic are…)

Entscheidungen und die Kontrolle der Regierung werden bei der repräsentativen Demokratie nicht unmittelbar vom Volk, sondern von einer Volksvertretung ausgeübt. Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist in diesem Sinne repräsentativ. Die Lobby des Parlaments ist Namensgeber für die Lobbyisten. Parlamentarismus und Lobbyismus sorgen dafür, dass die Wenigen, die etwas zu sagen haben, im Dunkeln bleiben und kaum zur Verantwortung gezogen werden können. Das Parlament hebt so seine Kontrollfunktion auf. Die Politiker dienen bestenfalls als Sündenböcke.

Wir neigen dazu, an allem was schief läuft, dem Politiker die Schuld zu geben. Ein Beispiel aus heutigen Tagen. Solange ich denken kann, lautet die Parole: Vorrang der Bahn gegenüber dem Straßenverkehr. Was aber ist bisher passiert: Die Bahn wurde kaputt gespart. Die Verkehrsminister geben dem die Namen.

Matthias Wissmann, in diesem Amt von 1993 bis 1998, ist bekannt vor allem wegen seiner Lobbyarbeit für die Automobilindustrie. Auch die CSU-Minister Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und Andi Scheuer waren für die bayerische Automobilindustrie verdienstvoll tätig. Von der Lobbyarbeit des momentanen Verkehrsministers Volker Wissing hatten wir es schon.

Die Systemfrage

Es stellt sich die Systemfrage: Ist die Demokratie westlicher Prägung zum Scheitern verurteilt und muss sie durch etwas Neues ersetzt werden?

Beim Blick in die Vergangenheit sehen wir als Alternativen den Kommunismus und den Faschismus, beide mit Millionen von menschlichen Opfern verbunden und offensichtlich gescheitert. Im Osten haben wir das Einparteiensystem Chinas und weltweit noch ein paar hässliche Diktaturen – auch nicht verlockend.

Ich bevorzuge die Weiterentwicklung unseres Systems. Eine solche Weiterentwicklung hat bereits stattgefunden, indem europäische Länder den weitgehend unbegrenzten Liberalismus der USA-Verfassung nicht eins zu eins übernommen, sondern durch progressive Elemente überformt haben.

In den westeuropäischen Ländern ist ein progressiver Liberalismus vorherrschend. Der Maastricht-Vertrag vom 7.2.1992 definiert in Artikel 3 den europäischen Binnenmarkt als soziale Marktwirtschaft.

In den USA gilt für die Risikovermeidung das Nachsorgeprinzip (Scientific Principle) und in Europa das Vorsorgeprinzip (Prudent Avoidance Principle). Die Tauchgänge zum Wrack der Titanic ohne vorherige Kontrolle des Vorhabens durch unabhängige Prüfstellen hätte es nach europäischem Recht wohl nicht gegeben. Das U-Boot Titan implodierte am 18.6.2023, dabei kamen fünf Menschen ums Leben. Der Liberalismus ist fortschrittsfreundlich und riskant!

Vorstellbar ist, dass die Globalisierung durch weitgehende Regionalisierung zurückgedrängt wird. Das Netz der Verflechtungen würde so überschaubarer. Auch der Grundsatz Small is Beautiful könnte im Rahmen unseres Regierungsystems Fortschritte bringen. Größere Transparenz des parlamentarischen Betriebs, wie sie von den Vereinen LobbyControl und Abgeordnetenwatch vorangetrieben wird, sorgt ebenfalls für mehr Demokratie.

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Wer will Krieg?

Der Überfall Russlands auf die Ukraine, der Hamas-Anschlag auf Israel: ein Krieg ist entstanden, und ein weiterer ist dabei, sich zu entwickeln. Die Anführer der Angreifer wollen Krieg. Offensichtlich. Nur die? Und warum?

In der nun fast 80 Jahre dauernden Friedenszeit in Europa sind wir beseelt von dem Gedanken, dass kein Mensch Krieg will. Uns ging es ja gut dabei. Aber das geht vorbei. Wir erleben eine Zeitenwende.

Wer sind die Propagandisten und Manipulanten, die unsere Aufmerksamkeit unsere Emotionen steuern? Gerade in Kriegszeiten ist Durchblick gefragt. Diese Sprüche können helfen, den Schleier zu lüften:

  • It’s the economy, stupid.
  • Wem nützt es? (Cui bono?)

Als wesentliche, immer wieder zu beobachtende Auswirkungen von Kriegen und somit als Kriegsziele sieht Henrik Paulitz in seiner „Anleitung gegen den Krieg“ unter anderen (2016, 3. Aufl. 2019):

  • Profite für Rüstungskonzerne und verbundene Großbanken
  • Ressourcenkontrolle, d.h. die künstliche Verknappung natürlicher Ressourcen (u.a. Erdöl, Erdgas, Mineralstoffe), um Rohstoffpreise auf hohem Niveau zu stabilisieren
  • Profite durch Geschäfte mit dem „Wiederaufbau“
  • Erzwingung von Marktöffnungen und Fernhandelsbeziehungen im Interesse der Konzerne

Diese Auflistung hilft bei der Beantwortung der Frage: Wer profitiert? Sie sagt aber nicht, ob der Profiteur diese Auswirkungen auch beabsichtigt.

Wer allein aus dem Vorhandensein eines Zusammenhangs auf die Verursachung schließt, läuft Gefahr, in eine Denkfalle zu tappen. Aber genauer hinschauen lohnt sich. Für mich haben Vereine wie LobbyControl und Abgeordnetenwatch an Bedeutung gewonnen.

Die genannten Punkte helfen unter anderem, die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipeline und die Lobbyarbeit der Rüstungsindustrie richtig einzuordnen. Martin Reyher schreibt für Abgeordnetenwatch (02.12.2022):

Der US-Rüstungskonzern Lockheed Martin will die Bundeswehr mit dem Kampfjet F-35 ausstatten. Unter fragwürdigen Umständen konnte das Unternehmen kürzlich im Abgeordnetenrestaurant des Bundestags für seine Anliegen werben. Eingefädelt hatte die Lobbyveranstaltung ein Abgeordneter der SPD – die Bundestagsverwaltung fühlt sich von ihm hinters Licht geführt.

Was mir in der Liste der Kriegsziele fehlt ist der religiöse und weltanschauliche Eifer, der für die genannten Ziele möglicherweise instrumentalisiert wird. Wer kann schon ausschließen, dass vieles, was als tiefe Überzeugung daher kommt, tatsächlich nur auf Emotionalisierung und Propaganda beruht.

Gott der Herr sprach über Mose (2. Mose 3,8) zu seinem Volk:

Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Land in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt.

Gott macht auch klar, dass diese Verheißung nicht ohne Krieg in Erfüllung gehen wird und er verspricht Beistand (2. Mose 23,27):

Ich will meinen Schrecken vor dir her senden und alle Völker verzagt machen, wohin du kommst, und ich will geben, dass alle deine Feinde vor dir fliehen.

Danach bietet Gott noch Kriegslisten wie diese hier (2. Mose 23,28-29):

Ich will Angst und Schrecken vor dir her senden, die vor dir her vertreiben die Hewiter, Kanaaniter und Hethiter. Aber ich will sie nicht in einem Jahr ausstoßen vor dir, auf dass nicht das Land wüst werde und sich die wilden Tiere wider dich mehren. Einzeln nacheinander will ich sie vor dir her ausstoßen, bis du zahlreich bist und das Land besitzt.

(Hervorhebung nicht von mir, sondern in der Bibel.)

Blackrock und J.P. Morgan wollen beim Wiederaufbau der Ukraine mitmischen. Der eine verliert, der andere gewinnt. Selbstlosigkeit ist der Marktwirtschaft fremd.

Mit über 10 Billionen US-Dollar an verwaltetem Vermögen ist BlackRock der weltgrößte Vermögensverwalter, so die Wikipedia. Vermögensverwaltung heißt, Vermögen zu schützen, zu mehren und weiterzugeben. Offensichtlich steht der Profit im Zentrum der Anstrengungen. Wer in der Ukraine Claims absteckt, der will vor allem eins: verdienen. Das erinnert mich an den Film Jenseits von Eden und den gescheiterten Kriegsgewinnler Cal, gespielt von James Dean.

Mir geht es in diesem Beitrag einzig um Mechanismen. Schuldzuweisungen liegen mir fern.

Nachtrag. Slavoj Žižek auf der heutigen Buchmesse Frankfurt:

„Ich verurteile den Angriff der Hamas auf die Israelis ohne Wenn und Aber. Ich gebe Israel auch das Recht, sich zu verteidigen und die Bedrohung zu zerstören“, setzte Žižek an. Sobald man aber den Hintergrund analysiere, gerate man in Verdacht, den Terrorismus unterstützen zu wollen, fuhr er fort

Die Rede wurde durch Zwischenrufe unterbrochen. Der Vorwurf der Relativierung wurde laut. So schlitterte die Eröffnung der Buchmesse knapp an einem Skandal vorbei. Eine solche Verengung der Diskussion halte ich für verhängnisvoll.

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Blickumkehr

Peter Scholl-Latour ist vor nun neun Jahren gestorben. Sein Buch Die Welt aus den Fugen von 2012 ist mir erst jetzt in die Hände gekommen (14. Auflage 2022). Da es viele Themen anspricht, die auch in diesem Hoppla!-Blog behandelt worden sind, werde ich Passagen aus dem Werk wiedergeben und den Zusammenhang herstellen. Zur Einstimmung zitiere ich aus einer Amazon-☆☆☆☆-Kritik (4.11.2012):

Das Interessante auch an diesem neuen Buch Scholl-Latours sind die weiten Bögen die er spannt. Der Autor hat ein gutes Einfühlungsvermögen in kulturelle und religiöse Gegebenheiten und Zusammenhänge. Man spürt sein tiefes Interesse auch für die geschichtlichen Hintergründe. Dazu kommt, dass er seit Jahrzehnten mit vielen Konflikten dieser Welt vertraut ist. Ob man ihm in den verschiedenen Bereichen immer Recht gibt oder nicht – Scholl-Latour bietet guten Stoff, um über Gegenwart und Zukunft der Welt nachzudenken.

Wer den Frieden will, sollte sich auf den allgemeinen physikalischen Grundsatz von Actio und Reactio, das dritte Newtonsche Gesetz, besinnen. Das Reziprozitätsprinzip in den verschiedenen Ausprägungen gilt auch für das Zusammenleben der Menschen und Nationen. Die Blickumkehr und Erweiterung des Blickfelds hilft gegen Rechthaberei. Angesichts des Elends auf dieser Welt, heute gerade in der Ukraine, fällt uns diese Blickumkehr schwer. Die Erinnerung an die Erfahrungen und Einsichten des Peter Scholl-Latour können helfen, die Emotionen halbwegs im Zaum zu halten.

Mein vager Verdacht, dass es eine Sehnsucht nach Autoritäten gibt, wird durch Scholl-Latour konkretisiert. Gleich zu Beginn schreibt er (S. 22):

Man sollte sich nicht einreden, dass die Welt zwangsläufig auf eine liberale Gesellschaft zusteuert.

Wir Kinder der europäischen Aufklärung sehen das nach Selbstbestimmung strebende Individuum im Zentrum der Gesellschaft. Was aber, wenn das Individuum gar nicht souverän sein will?

Scholl-Latour bewegt uns zu einem Perspektivwechsel, weg vom freiheitssuchenden selbstbestimmten Individuum westlicher Prägung. Für maßgebend hält er den islamischen Philosophen Ibn Khaldun (Ibn Chaldūn) aus dem Spätmittelalter (S. 82):

In weiten Teilen der islamischen „Umma“ [Gemeinschaft der Muslime] ist heute die Hoffnung auf die Wiedererrichtung einer höchsten geistlichen und weltlichen Autorität lebendig geworden. „In Abwesenheit eines Propheten“, so dozierte Ibn Khaldun, als sich die „Zeit der Düsternis“ über die Völker des Orients senkte, „bedarf eine religiöse Gemeinschaft einer Person, die Autorität über sie ausübt und in der Lage ist, die Menschen zu zwingen, in Befolgung der offenbarten Gesetze zu leben.“

Andererseits war Ibn Khaldun ein Vertreter der islamischen Aufklärung und Vorbereiter moderner soziologischer Denkweisen.

Unter US-amerikanischer Ägide macht sich unsere Außenministerin für die weltweite Verbreitung der Menschenrechte und der parlamentarischen Demokratie stark. Ein Perspektivwechsel im eben beschriebenen Sinne täte Annalena Baerbock gut. Wir haben ja genügend viele Beispiele, dass Missionierungen und Anstrengungen des Nation Building schrecklich schief gehen können. Dem Aufruf des Peter Struck vom 4. Dezember 2002, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt, folgte im Jahre 2021 ein schmachvoller Rückzug. Die Bundeswehr beklagt 59 tote Soldaten. Die Menschenrechtssituation in Afghanistan hat all das nicht gebessert. Das war wohl absehbar. Scholl-Latour schreibt (S. 63):

Zur Stunde deutet alles darauf hin, dass nach Beendigung der ISAF-Mission das Regime des Präsidenten Karzai in Kabul binnen kurzer Frist zusammenbrechen wird. Am Hindukusch dürfte dann ein rigoroser koreanischer Gottesstaat entstehen und das Gemetzel der Stämme neuen Auftrieb finden.

Sogar im Westen kommen Zweifel auf, ob das volle Demokratie-Paket wirklich unverzichtbar ist: individuelle Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und allgemeine, freie und geheime Wahlen. Wirklich notwendig ist die Möglichkeit eines gewaltfreien Machtwechsels. Und da schneidet China gar nicht so schlecht ab (S. 19):

Seit dem Tod Mao Zedongs hat der Wechsel in den obersten Führungsgremien im Abstand von vier Jahren ziemlich regelmäßig stattgefunden, was nach dem Ausscheiden des genialen Reformerd Deng Xiaoping immerhin eine gewisse Ausbalancierung der Tendenzen zu signalisieren scheint. Jedenfalls wäre hier der Vergleich mit der weltweit verbreiteten Alleinherrschaft von Militärdikatoren und Despoten, die sich zwanzig, dreißig, sogar vierzig Jahre lang an ihre Willkürherrschaft klammern, völlig unangebracht.

Heute würde Peter Scholl-Latour das möglicherweise nicht mehr in so rosigem Lichte sehen, denn 2018 ließ der amtierende Präsident Xi Jinping die Amtszeitbegrenzung aufheben, was ihm eine Amtsführung auf Lebenszeit ermöglicht.

Die Welt ist nicht schwarz-weiß.

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Wollen wir Gründe oder Wirkung?

Kommentar zum Artikel „Mehr Weltanschauung wagen? Waldorfpädagogik zwischen Kritik und Kurswechsel“ von Ann-Kathrin Hoffmann (skeptiker 3/2023, S. 108-114).

Wer den „skeptiker“ nicht in die Finger kriegt, dem gebe ich hier ein paar Auszüge aus dem Artikel, so dass er sich ein Bild machen kann.

Nicht nur sind diese anthroposophischen Praxisfelder [nämlich Pädagogik, Landwirtschaft, Medizin] im öffentlichen Bewusstsein heute präsenter als die dahinterstehende Epistemologie und Kosmologie, sie entfalten auch eine deutlich profanere Legitimations- und Anziehungskraft: „Sie funktionieren“, wie es von Praktikern und Konsumenten so oft heißt […]

Kurz: Man kann auch aus den falschen Gründen das Richtige tun.

Von den Eltern wählen nur rund 11% die Waldorfschule aufgrund der anthroposophischen Grundlage, etwa die Hälfte wegen des pädagogischen Konzeptes im Allgemeinen und knapp 20% schlicht aus Unzufriedenheit mit staatlichen Schulen […]

Während es bei der Debatte um anthroposophische Medizin zumeist um medizinische Fragen ging, standen in der medialen Diskussion der Waldorfpädagogik weniger die pädagogischen Ideen und Praktiken im Vordergrund als vielmehr die gesellschaftspolitische Positionierung der Schulen, ihrer Lehrkräfte und Eltern: berichtet wurde über die Kritik an Hygienemaßnahmen und ihre Nichteinhaltung über gefälscht oder ungenügende Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht, über Aufrufe von Eltern, Masken zu beschädigen, sowie über eine im Waldorf-Milieu verbreitete, grundsätzliche Kritik an Impfungen.

Die Sprache des Artikels ist mir fremd:

Zugespitzt lässt sich sagen, dass das Verhältnis von Individuum und Staat in den Fokus gerückt und hinsichtlich seiner politischen Implikationen thematisiert und problematisiert wurde – das Agieren dieser Akteure schien von gesamtgesellschaftlicher Relevanz.

Soviel krieg ich aber mit: Die GWUP, in deren Vereinsblatt skeptiker der Artikel erschienen ist, scheint sich von einem starren Wissenschaftsverständnis zu verabschieden, demzufolge sich beispielsweise die Homöopathie von ihrem Anfang an und allein aufgrund ihrer Begründung als Pseudowissenschaft einordnen lässt. Sie beruht nach damals vorherrschender Meinung auf Illusion und auf Annahmen, die mit der naturalistischen Ontologie nicht vereinbar sind.

Soweit ich verstanden habe, geht es heute darum, Theorie und Praxis besser auseinanderzuhalten. Eine ähnliche Bestrebung einiger GWUPler führte vor vier Jahren zu dieser Definition von Pseudowissenschaft: Als Pseudowissenschaften gelten

  1. metaphysische Aussagesysteme, die mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftreten und
  2. Disziplinen, die bereits widerlegte wissenschaftliche Aussagen weiterhin vertreten.

(Karl Raimund Popper folgend nennen wir Aussagen metaphysisch, wenn sie grundsätzlich nicht falsifizierbar sind.)

Alice Schwarzer bietet im Spiegel-Streitgespräch vom 11. Februar 2016 eine weitere Variation dieses Themas: „Mich interessieren Motive schon lange nicht mehr. Mich interessiert nur, was jemand tut.“

Der Artikel „Neurodoron: Ein anthroposophisches Medikament “ von Edzard Ernst (S. 119-122) zeigt einen weiteren diskussionswürdigen Punkt des GWUP-Codex auf: Bei der Wirkung von Heilmitteln wird auf Evidenz viel Wert gelegt.

Nehmen wir einmal an, dass die Verbesserung der Symptome, gemessen oder subjektiv geäußert, etwas über die Wirkung eines Medikaments aussagt. Was sich vermutlich nicht so leicht klären lässt, ist, ob die Wirkung physische oder psychische Ursache hat. Wer will und kann wirklich ausschließen, dass die Trommelei und Tanzerei des Schamanen heilende Kräfte im Körper des Patienten weckt?

Wer sagt denn, dass die Weledaartikel nicht wirken, dass die Potenzierung dem, der daran glaubt, nicht hilft? Ganz falsch ist der Satz „Wer heilt, hat Recht“ meines Erachtens nicht.

Gerade die Fortschrittsapologeten und Verfechter des Wirtschaftens im westlichen Sinne lehnen solche „unrealistische“ Begründungen ab. Für mich ist das paradox, denn: Unsere wachstumsorientierte Art zu leben gründet wesentlich auf Propaganda, beschönigend Public Relations genannt.

Die Produkte werden eingekleidet in Versprechungen, was dazu führt, dass wir keine Produkte kaufen, sondern Lebensgefühl. Die Ursache-Wirkungsketten verlaufen von der Werbung über den Geist der Adressaten hin zum Markt.

Da gibt es den SUV mit über 500 PS und bis zu 280 km/h schnell. Wege, für die man ein solches Fahrzeug brauchen könnte, gibt es nicht oder man darf sie nicht befahren. Zwischen der physikalischen Wirklichkeit und dem Hochgefühl, das den Käufer beseelt, gibt’s keinen direkten Zusammenhang. Der Ursache-Wirkungszusammenhang nimmt seinen Weg über Emotionen und Unvernunft des Käufers, über den Geist also. Wir sehen: Der gewitzte Werbemann verkauft keine Autos, er verkauft Potenz.

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Demokratie oder Plutokratie?

Der Stern vom 07.09.23 stellt den Biographen der Visionäre ins Zentrum: Walter Isaacson. Vorgestellt wird dessen neuestes Buch über Elon Musk. Isaacson schrieb bereits Biografien über Steve Jobs und Jeff Bezos. Der Stern-Artikel gibt einen Eindruck davon, aus welchem Stoff diese Leute gemacht sind und dass sie für ihren Erfolg nahezu grenzenlosen Wirtschaftsliberalismus brauchen. Den bieten ihnen die USA.

Die Visionäre

Wir finden es großartig, was diese Leute so leisten: Sie bescheren uns den Personal Computer, das Mobiltelefon, den freien und weitgehend kostenlosen Zugang zu den Informationen dieser Welt über das Internet. Sie erschließen uns die üppige Welt des Konsums und den bequemen Einkauf per Mausklick. Nebeneffekte wie die Verödung der Innenstädte, die Verrohung des Umgangs miteinander und den Verlust der informationellen Selbstbestimmung nehmen wir schulterzuckend in Kauf.

Überall auf der Welt regiert das Geld. Wenn es anderswo ist, nennen wir es Oligarchie. Ich habe immer wieder den Verdacht geäußert, dass auch unsere Form der Demokratie im wesentlichen eine Geldherrschaft ist, und zwar von Anfang an. Wenn unsere feministische Außenpolitikerin der ganzen Welt etwas von den westlichen Werten erzählt, meint sie im Grunde die Werte einer Plutokratie.

Zurück zu den Visionären: Sie brauchen den grenzenlosen unregulierten Raum. Es ist kein Wunder, dass Sie sich über den Weltraum hermachen. Auch wer in Deutschland eine Rakete in den Weltraum schießen will, muss kaum irgendwelche Vorschriften beachten:

Der Betrieb eines Schnellimbiss ist deutlich stärker reguliert als der eines Raumfahrtunternehmens.

Visionäre wie Elon Musk sind r-Strategen.

Kontrollverlust

Ich bin kein Fachmann für das, was ich hier schreibe. Aber ich darf wählen, wie Sie auch. Ich muss also versuchen, mir einen Reim daraus zu machen, was die Medien mir so anbieten.

Und – hoppla! – das hat mich denn doch stutzig gemacht. In Der Standard lese ich

Elon Musks Satelliteninternet Starlink ermöglicht es ukrainischen Militärs seit Kriegsbeginn, ihre Kommunikationskanäle offenzuhalten.

Musk wird mit diesen Worten zitiert

Auch wenn Starlink immer noch Geld verliert und andere Unternehmen Milliarden an Steuergeld erhalten, finanzieren wir die Ukraine einfach weiter kostenlos.

Was mich hier weniger interessiert, sind die Motive, die Elon Musk dazu bringen, die Ukraine zu unterstützen oder auch nicht. Was ich für ungeheuerlich halte ist, dass hier ein superreicher Privatmann kriegswichtige Entscheidungen treffen kann. Das ist Politik ohne parlamentarische Kontrolle.

Ich halte diese Vorgänge für sehr schwerwiegend und wundere mich, dass sie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk praktisch nicht vorkommen.

THINK. It’s not illegal yet

Allmählich wird für jedermann sichtbar, wohin uns die Demokratie führt. Am 13. Februar dieses Jahres schrieb das Handelsblatt:

Der Internetdienst Starlink gilt als wichtige Technologie für die Ukraine, um dem russischen Angriffskrieg standzuhalten. Doch jetzt sorgt eine Nachricht des Betreibers SpaceX für Aufsehen: Demnach will das Unternehmen von Elon Musk die militärische Nutzung des Internetdienstes einschränken. Konkret soll es um die Steuerung von Drohnen gehen.

Auch den ÖRR hat die beunruhigende Nachricht inzwischen erreicht. Die Tagesschau meldet:

Tech-Milliardär Elon Musk hat nach eigenen Angaben einen ukrainischen Angriff auf die russische Schwarzmeerflotte in der Hafenstadt Sewastopol verhindert. Er habe einen Antrag der ukrainischen Regierung abgelehnt, das Satelliten-Kommunikationssystem Starlink seiner Firma SpaceX in der Region zu aktivieren

Offenbar hat erst die Veröffentlichung von Isaacson dafür gesorgt, dass der ÖRR auf diese brisante Sache aufmerksam wird. Die Erosion der Demokratie wird immer noch nicht thematisiert.

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Aiwanger, Trump und die Demokratie

Die Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus der Schultasche Hubert Aiwangers von vor etwa 36 Jahren zeigt uns, wie verwundbar die Demokratie ist.

Die Affäre

Der Affäre wurde von Radio, Fernsehen und Presse ausgiebig dargestellt. Eine Wiederholung erübrigt sich. Was mich bewegt hat, ist die Frage, warum dieses Flugblatt erst jetzt, nach 36 Jahren, in der Politik eine Rolle spielt. Der Bayerische Rundfunk bringt ein wenig Licht in die Angelegenheit. Was bleibt, ist die Frage: Warum gerade jetzt? Noch wichtiger ist mir jedoch, was wir aus dem Umgang der Verantwortlichen mit den vorliegenden Fakten lernen können.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder stellte seinem Vizepräsidenten Hubert Aiwanger 25 Fragen. Diese Fragen und die Antworten hat die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht. Die Antworten Aiwangers enthalten kaum Neues und viele Erinnerungslücken. Auch spricht er öffentlich von einer Hexenjagd. Im Ergebnis stellt sich Markus Söder auf die Seite seines Stellvertreters und entscheidet sich für die Beibehaltung der Koalition.

Wie reagiert die Öffentlichkeit?

Die öffentliche Reaktion darauf ist für Söder wenig schmeichelhaft und für Aiwanger vernichtend. Ich greife eine Stimme aus meinem Bekanntenkreis heraus:

Aiwangers Antworten auf die 25 Fragen des bayerischen Ministerpräsidenten sind ein Witz. Denn da steht ja eigentlich nur: ich erinnere mich nicht, ich weiß es nicht, ich war es nicht. Zur Aufklärung dieser Flugblatt-Affäre trägt er nichts bei. Aber es reicht für Markus Söder[…] Und ich sehe nur ein Argument, nämlich dieses: ich bin an der Macht und will an der Macht bleiben, koste es, was es wolle.

Dem kann ich gut zustimmen. Aber – hoppla! –, dann kommen mir doch Zweifel. Vor allem Charlotte Knobloch hat mich ins Grübeln gebracht. ZEIT ONLINE berichtet: Charlotte Knobloch

hält an ihrer Kritik an Aiwanger fest – stellt sich aber hinter Markus Söder.

Knobloch bekräftigte, dass Söders Entscheidung politisch zu akzeptieren sei.

Sie äußerte die Befürchtung, dass Aiwanger die Situation im Falle einer Entlassung für sich ausgenutzt und damit Erfolg gehabt hätte. Dies wäre aus ihrer Sicht die größere Katastrophe gewesen.

Demokratie tendiert zur Selbstzerstörung

Demokratie heißt Volksherrschaft (John Locke). Aber das Volk ist manipulierbar (Gustave Le Bon). Werbung und Propaganda sind unverzichtbare Zugaben (Edward Bernays). Es entsteht ein verhängnisvoller Rückwirkungsprozess. Die Demokratie droht, sich selbst zu zerstören.

Das Rezept, dem die Aiwangers und Trumps dieser Welt folgen, ist einfach: Wähle eine emotional aufgeladene Geschichte in deinem Sinne. Stelle sie als Behauptung in den Raum und wiederhole sie unablässig. Das ist die Holzhammer-Methode, die vor allem von Werbeleuten immer wieder gern genommen wird (Beispiel: Pflaster für den Darm).

Sowohl Trump als auch Aiwanger erzählen die Geschichte einer Hexenjagd, deren Opfer sie seien. Belege dafür bleiben sie schuldig. Solche Erzählungen können die Demokratie zerstören, denn offenbar finden sie viele Anhänger unter den Bürgern, die mit dem Staat nicht zufrieden sind. Diese zerstörerische Gewalt wurde sichtbar bei der Erstürmung des Capitols am 6.1.2021 und bei der versuchten Stürmung des Bundestags am 29.8.2020.

Was folgt daraus?

Wir können schlecht den Machthabern ihr Machtstreben ankreiden, sollten aber dafür sorgen, dass die richtigen an die Macht kommen.

Söder ging es möglicherweise auch darum, einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden. Er hat wohl verstanden, dass Trumps Methode funktioniert: Hexenjagd-Erzählungen haben mit den Verschwörungstheorien gemeinsam, dass sie selbstimmunisierend sind: Vom Hexenjäger wie vom Verschwörer wird erwartet, dass er der Erzählung widerspricht. Widerstand, Widerspruch und gar Ausgrenzung sprechen für die Erzählung. Das könnte es sein, was Markus Söder vermeiden will. Und um Machterhalt geht es selbstverständlich auch. (Absatz korrigiert am 7.9.23)

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