Statistik und Kausalität

Wie viel Wissenschaft darf es sein?

Gern lese ich die Kolumne der Meike Winnemuth. Kürzlich schrieb sie vom Mut zur Lücke. Es geht ihr „um ein Plädoyer für das Halbwahrgenommene, Halbverstandene, mit dem wir uns ohnehin durch die Welt bewegen.“ Und weiter: „Bei nahezu allen Themen, über die wir reden und gelegentlich streiten, handelt es sich eher um Gewissheit als Wissen und am Ende auch nur um Glauben. Es geht einfach nicht anders.“ (stern 5.8.2021, S. 48)

Bei einem populärwissenschaftlich orientierten Blog wie diesem hier bleibt es nicht aus, dass Gewissheiten unterschiedlicher Herkunft und Ausprägung aufeinandertreffen. Ungebremst kann das zu endlosen und zirkelhaften Debatten führen. Das konnten wir am vorletzten Hoppla!-Beitrag „Vom Erscheinen und Verschwinden des Ich“ sehen. Dort lesen wir im Kommentarteil von der „kausalen Emergenztheorie“, die Eric Hoel „mathematisch dargestellt“ und gar „bewiesen“ haben soll. Das klang für mich so interessant, dass ich mir die Theorie etwas genauer ansehen wollte. Vom Ergebnis meiner Bemühungen lesen Sie gerade.

Ein kurzer Blick in Hoels Werk genügt, um zu erkennen, welchen Anspruch die kausale Emergenztheorie vertritt. Es geht um nicht weniger als um den Nachweis von Kausalitäten mittels Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Aber Hoppla! Unter den Kennern ist vorherrschende Meinung, dass Statistiken nichts über Kausalitäten aussagen. Für diese Einstellung sind Bertrand Russell und Karl Pearson prominente Zeugen (Pearl, 2000, Epilogue). Dennoch kommt es immer wieder zu Versuchen, die Ursache-Wirkungsbeziehungen dieser Welt mittels Statistiken zu erklären. Eric Hoel scheint einen weiteren solchen Versuch zu unternehmen: “Demonstrating causal emergence requires causally analyzing systems across a multitude of scales. Luckily, causal analysis has recently gone through an efflorescence. There is now a causal calculus, primarily developed by Judea Pearl, built around interventions represented as an operator, do(X=x).”

Genau diesen Interventions-Kalkül will ich mir zunächst genauer ansehen. Weiterlesen

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Täuschen mit Prozenten

Winston Churchill wird dieses Zitat in die Schuhe geschoben: „Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe.“ Wer sich auch nur oberflächlich mit Statistiken und deren grafischen Repräsentationen befasst hat, der weiß, dass er zum Zweck der Lüge eine Statistik gar nicht fälschen muss. Offenbar genügt es,

  1. die Daten geeignet zu gruppieren (wie beim simpsonschen Paradoxon),
  2. die „passenden“ Kennzahlen zu wählen (Prozent, Mittelwert, Median, …) oder
  3. die Grafik nur ausschnittsweise oder mit verzerrten Maßstäben zu zeichnen.

Dem Einsteiger in das Manipulieren mit Stastistik ist immer noch das herrliche Bändchen „How to Lie with Statistics“ von Darrell Huff zu empfehlen, aber auch dem, der sich vor Manipulationen schützen will.

In DER SPIEGEL 30/2021 finden wir auf S. 27 die Grafik „Nachgezählt“. Sie ist ein Musterbeispiel für die Rubrik ‚So lügt man mit Statistik‘.  Hier kommt der zweite Punkt zum Tragen. Links ist die Spiegel-Grafik abgebildet und rechts eine von mir vorgeschlagene Alternative.

Links: Spiegel-Grafik, rechts: meine Version

Die folgende Tabelle enthält die Daten zu beiden Grafiken. Die Spiegel-Grafik „Nachgezählt“ zeigt die Daten der letzten Spalte. Ich habe die Spaltensummen hinzugefügt, um zu zeigen, wie unsinnig es ist, diese Spalte zu Vergleichszwecken heranzuziehen. Besser scheint mir zu sein, die Rohdaten zu nehmen und es dem Leser zu überlassen, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Er erkennt schnell, dass – anders als in „Nachgezählt“ zur Schau gestellt – eine gesteigerte Innovationslust der Deutschen nicht auszumachen ist. Weiterlesen

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Vom Erscheinen und Verschwinden des Ich: das Verschwinden

Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.

Hoffmann von Fallersleben

Wir wollen wissen, wie es zum inneren Erleben, zur subjektiven Repräsentation der Welt kommt. Für Emil du Bois-Reymond galt dies als „Das fünfte Welträtsel“ (1880). Das habe ich in diesem Hoppla-Blog aufgegriffen und dadurch eine größere Diskussion angefacht, die auch die SciLogs-Blogs erfasst hat. Das regte mich an, diesen zweiteiligen Artikel zu verfassen, dessen erster Teil vom Erscheinen des Ich handelt. Vom Verschwinden des Ich will ich nun erzählen.

Als Metapher dient uns der Spiegel, der die Erkenntnis der Erkenntnis, dieses Ich-Erleben verdeutlichen soll, der an dieser Aufgabe jedoch kläglich scheitert. Was wir bisher gesehen haben, waren Repräsentationen; die Rückseite des Spiegels, das Wesen der Sinnesempfindungen, war nicht auszumachen. Alle Versuche, das Ziel zu erreichen, liefen auf Seitwärtsbewegungen hinaus und brachten uns dem Ziel nicht näher.

Elf Neurowissenschaftler haben dazu gesagt: „Einzelne Gehirne organisieren sich aufgrund genetischer Unterschiede und nicht reproduzierbarer Prägungsvorgänge durch Umwelteinflüsse selbst – und zwar auf sehr unterschiedliche Weise, individuellen Bedürfnissen und einem individuellen Wertesystem folgend. Das macht es generell unmöglich, durch Erfassung von Hirnaktivität auf die daraus resultierenden psychischen Vorgänge eines konkreten Individuums zu schließen.“ (Monyer, 2004)

Auch die Computersimulation gekoppelter neuronaler Netzwerke stimmt nicht optimistisch: „Selbst wenn es gelingen würde, den umfangreichen Algorithmus auf einem Computer zu implementieren, ließe sich immer noch nicht eindeutig nachweisen, ob das System wirklich bewusst ist. Es könnte kognitives Verhalten bloß sehr gut imitieren“ und weiter: „Solange unklar ist, wie man die Existenz des menschlichen Bewusstseins naturwissenschaftlich belegt, wird das bei Maschinen ebenso wenig gelingen“ (Krauß, Maier 2021).

Welträtsel Bewusstsein

In diesem und dem folgenden Kapitel zitiere ich auch aus der 757 Beiträge umfassenden Diskussion des SciLogs-Artikels Das fünfte Welträtsel: Bewusstsein. Über die Suchfunktion lassen sich Kontext und Urheber leicht ermitteln.

Auf meine Frage, ob mein Nachbar die Farbe Rot genauso empfindet wie ich, oder ob sich sein Erleben derselben Situation von dem meinen unterscheidet, kommt die Bemerkung: „Das kann man in der Tat nicht wissen. Noch weniger kann man wissen wie ein Tier, das die Farbe Rot erkennen kann, dies erlebt. Wir wissen aber auch nicht wie ein künstliches neuronales Netz, das gelernt hat, rote von blauen Bällen zu unterscheiden, diese Farben/Farbunterschiede intern repräsentiert. Unterschiedliche neuronale Netze können das unterschiedlich handhaben.“

„Ohne Materie/Energie kann Information nicht dargestellt, nicht übertragen und nicht gespeichert werden.“ Das sei „eine Widerlegung des metaphysischen Dualismus“. Dieser Auffassung schließe ich mich nicht an, denn: Metaphysik ist mathematisch-naturwissenschaftlichen Widerlegungsversuchen grundsätzlich nicht zugänglich.

„Der Körper Geist Dualismus beruht in Wirklichkeit auf der Verwechslung der Perspektiven. Spreche ich vom Körper, dann bewege ich mich im Bereich der Physik, Chemie oder Biologie. Spreche ich vom Geist, bewege ich mich im Bereich der Psychologie oder Philosophie. Ich thematisiere also zwei unterschiedliche Blickwinkel auf ein und denselben Gegenstand und meine, es wären zwei unterschiedliche Welten. Der Dualismus findet also im Kopf des Betrachters statt, nicht im Gegenstand.“ – Das kann man wohl so sehen, meine ich.

Das Ich wird gewaltsam entfernt: Daniel Dennett

Im Hauptartikel zum fünften Welträtsel schrieb ich, dass der von mir ins Auge gefasste Naturalismus für das Bewusstsein keinen Platz findet und dass die Philosophen das Problem einfach leugnen anstatt es mit einer Lösung zu versuchen.

Dem widerspricht der Naturalist mit diesem Kommentar: „Jedenfalls sind weder Gerhard Vollmer noch ich so blöd zu behaupten, unser Denken gehöre nicht zur Welt.“ Und weiter: „Als ontologische Naturalisten sagen wir vielmehr, dass Denken und Bewusstsein keine immateriellen, eigenständig existierenden Objekte sind, sondern (emergente) Eigenschaften neuronaler Systeme, die dann im Sinne eines Innenaspekts auftreten, wenn diese Systeme bestimmte hochspezifische Prozesse durchmachen.“ Weiterlesen

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Skeptikerbewegung skeptisch gesehen

Das Heft 1/2021 der Zeitschrift für Anomalistik ist erschienen und online abrufbar.

Aus dem Editorial von Gerhard Mayer

Wissenschaft, Glaube, Wissenschaftsglaube

Organisierter Skeptizismus

Das Hauptthema dieser Ausgabe der Zeitschrift für Anomalistik beschäftigt sich mit dem organisierten Skeptizismus. Zwei ehemalige prominente Mitglieder der deutschen Skeptikerorganisation Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V. (GWUP), Edgar Wunder und Timm Grams, setzen sich mit der internen Dynamik dieser Vereinigung und vor allem mit dem vereinspolitischen Selbstverständnis und den zugrundeliegenden weltanschaulichen Prägungen und Prämissen des Vorstands auseinander. Dieser orientiert sich stark an dem Vorbild des amerikanischen Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal (CSICOP, heute CSI= Committee for Skeptical Inquiry). Die beiden Autoren zeigen mit ihren Beiträgen, dass der Name der Vereinigung mit seinem Bezug auf die Wissenschaftlichkeit („wissenschaftliche Untersuchung“) einen Euphemismus, wenn nicht gar eine glatte Lüge darstellt, denn was sich mit dem Mäntelchen der Wissenschaft kleidet, stellt „im Kern eine als Lobbygruppe agierende Weltanschauungsgemeinschaft“ dar (Wunder, 2021b: 172, in dieser Ausgabe).
Eine skeptische und selbstkritische Haltung sollte generell zur Grundausstattung eines jeden Wissenschaftlers gehören, weshalb der Frage, wo förderliche Skepsis in wissenschafts- und erkenntnisbehindernden Skeptizismus umschlägt, eine hohe Relevanz zugemessen werden muss. Dies gilt in besonderem Maße für die Anomalistik, weil hier ein unreflektierter und/oder weltanschaulich angetriebener Skeptizismus den größten Schaden anrichtet, wie es schon bei Galilei der Fall war. Das wissenschaftliche Streben nach Erkenntnisgewinn wurde aus Ignoranz oder machtpolitischem Kalkül behindert. Aus der Perspektive des damaligen orthodoxen Wissens und der vorherrschenden kulturellen Macht vertrat Galileo als Vertreter eines neuen, von der offiziellen und akzeptierten Lehrmeinung abweichenden Weltbildes, nämlich des kopernikanischen, gewissermaßen eine „anomalistische“ Position. Heute haben Religionen in den westlich-orientierten Kulturen nicht mehr die Macht, tiefgreifenden Einfluss auf die Wissenschaft auszuüben. Man kann jedoch in der bei „Skeptikern“ und auch etlichen Wissenschaftlern vorherrschenden szientistischen Wissenschaftsgläubigkeit eine „neue Religion“ sehen, die eine ähnlich destruktive und fortschrittsbehindernde Wirkung wie die Religion in dem prominenten Beispiel Galileos hat. Dies ist dem Soziologen und Mitbegründer der GWUP, Edgar Wunder, bald aufgefallen. Er hat sich schon während seiner aktiven Zeit die Frage gestellt: „Wer sind die Skeptiker?“ (Wunder, 1996) und 1998 seine Beobachtungen in seiner Schrift „Das SkeptikerSyndrom“ niedergelegt. Diese interessante Analyse wurde bislang nicht formell in einer Zeitschrift veröffentlicht und war nur online verfügbar. Dennoch wurde sie gefunden und zitiert. Im letzten Jahr kam es zum Austritt von Prof. Timm Grams aus der GWUP, der aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit Wunder in Kontakt trat. Dieser Austausch führte zur Idee, den schon über 20 Jahre alten Text „Das Skeptiker-Syndrom“ noch einmal genau anzuschauen und zusammen mit einer persönlichen Einschätzung des Autors aus zeitlicher Distanz und einem Erfahrungsbericht von Grams in der ZfA zu veröffentlichen und zur Diskussion zu stellen. Weiterlesen

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Vom Erscheinen und Verschwinden des Ich: das Erscheinen

Es gibt eine Welt. Ich gehöre dazu. Das klingt unschuldig, aber es ist ungeheuerlich. Das merkt einer aber erst, wenn er genauer hinschaut und fragt, was „Welt“  und „Ich“ eigentlich bedeuten. Jedenfalls haben sich schon viele klugen Leute die Köpfe darüber zerbrochen und sind bisher zu keinem überzeugenden Ergebnis gekommen. Aber langsam voran. Ich fange damit an, wie ich auf dieses Problem gekommen bin.

Vor mehr als fünfzehn Jahren stieß ich auf einen Verein, der mir gleich sympathisch war: die sich selbst so bezeichnenden „Skeptiker“. Aber bald kam die Ernüchterung. Der weltanschauliche Kern dieser Gruppierung – eine Spielart des Materialismus und dessen ideologische Ausprägung – widersprach allem, was mir am Skeptizismus lieb und teuer ist.

Diese Leute glauben an eine Welt, die unerschaffen ist und die unabhängig von unserem Denken existiert (Vollmer 2013). Da für sie nur diese eine Welt existiert, die sie darüber hinaus für erkennbar halten, habe ich mir gesagt: Es gibt also eine Welt W und meine Gedanken G über diese Welt. Voraussetzungsgemäß sind W und G voneinander unabhängig, folglich kann G nicht in W enthalten sein. Andererseits soll diese eine Welt W allumfassend sein, muss G also doch enthalten. Ich war perplex. Das klang mir nach veritablem Kokolores. Ich wusste damals noch nicht, dass es so wie mir schon besser gerüsteten Köpfen ergangen ist. Ich hatte etwas zu entdecken und fragte mich: Wo in aller Welt steckt das Bewusstsein?

Die gottlose Welt der Atome

Sehen wir uns die heute in Kreisen der Wissenschaft vorherrschende Geisteshaltung an, den Materialismus. Den gibt es bereits seit der Antike. Heutige Spielarten sind der Realismus und der Naturalismus. Das wesentliche Dokument wurde im Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung vom Römer Lukrez verfasst, war dann verschollen und wurde im Jahre 1417, vermutlich im Kloster Fulda, wieder gefunden (Greenblatt, 2012). Dieses Jahr markiert den Beginn der Renaissance. Der Titel des bahnbrechenden Werkes lautet: Über die Natur der Dinge (De rerum natura).

Wenn ich mein Schulwissen recht erinnere, waren die griechischen Philosophen vornehmlich damit beschäftigt, den verbreiteten Glauben an Götter zu bekämpfen. Sie propagierten eine fließende (Herklit) oder auch eine durch feste Ideale begründete Welt (Platon), in der alles Sein auf wenige Grundelemente oder gar nur auf Zahlen (Pythagoras) zurückgeführt werden kann. Eine der Lehren, die das Funktionieren der Welt erklärt und dabei ohne Gott auskommt, ist der Atomismus. Genau diese Atomlehre beschreibt der Römer Lukrez und nennt als Quelle den Griechen Epikur, der sich wiederum auf Demokrit beruft.

Wie gesagt: Es gibt mehrere Spielarten des Materialismus. Aber sie haben Gemeinsamkeiten, die bereits im Werk des Lukrez angelegt sind. Mehr oder weniger allen Spielarten gemeinsam dürfte sein:

  • Nichts entsteht aus nichts.
  • Alle Materie besteht aus unsichtbaren und unteilbaren Elementarteilchen (Atomen).
  • Das Universum insgesamt besteht aus Körpern und Leere. Ein Drittes gibt es nicht.
  • Nichts kann wirken, das nicht körperlich ist.
  • Die Welt ist weder Schöpfung noch für den Menschen gemacht.
  • Die Elemente sind unaufhörlich in Bewegung.
  • Sie sind von vielfältiger Gestalt. Die Zahl der Gestalten ist begrenzt.
  • Unterschiedlich zusammengesetzt können Urelemente ganz Unterschiedliches bilden.
  • Geist und Seele sind körperlich und sterblich.
  • Leib und Seele gehören zusammen, sind nicht voneinander zu trennen.
  • Die Elementarteilchen der Materie sind bereits immer da und sie dauern ewig fort.

Einiges ist nur aus dem Wissensstand der damaligen Zeit heraus zu verstehen: „Wenn wir in Spiegeln, auf dem Wasser oder auf blanker Oberfläche, Bilder sehen, die den jeweils gespiegelten Dingen gleich sind, so müssen diese aus Bildchen bestehen, welche die Dinge ausgesandt haben.  Es gibt sie also, diese hauchfeinen Bildchen, die uns die Dinge in ihrer Gestalt zeigen, auch wenn sie einzeln, eines ums andere, niemandem sichtbar sind.“ (Lukrez, S. 138)

Abgesehen von der gelenkten Aufmerksamkeit spielt die Wahrnehmung keine aktive Rolle. Der Grund des Sehens muss in den Bildchen liegen, die passiv empfangen werden:  „Nicht die Sinne trügen, sondern der denkende Verstand“ (S. 145)  Dass die erlebte Welt im Kopf aktiv konstruiert wird und dass sie mit dem Ich untrennbar verbunden ist, dieser Gedanke hat in diesem Materialismus keinen Platz. Das Ich gerät in diesem materialistischen Weltbild erst gar nicht ins Blickfeld.

Die Hoffräulein: Wo steckt das Ich?

In der gottlosen Welt der Atome kommt das Ich nicht vor. Die Sinneseindrücke beschreiben einen Fluss von draußen nach drinnen.  Die Rolle des Betrachters bleibt im Dunkeln, sie ist unbegreiflich. Michel Foucault schreibt: „Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht[…] Es gab kein erkenntnistheoretisches Bewusstsein vom Menschen als solchem.“ (2012, S. 373)

Auf der Suche nach dem Ich lasse ich mich auf Foucault ein und betrachte das Bild Die Hoffräulein, das Diego Velásquez im Jahr 1656 gemalt hat. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf, angeregt durch Foucaults Bildbeschreibung. Weiterlesen

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Humanisten kontra Richard Dawkins über Rassen und Identitäten

Dass sich die AHA, die American Humanist Association, von Richard Dawkins distanziert, ist folgerichtig.

Established in 1953, the Humanist of the Year Award is conferred annually by the American Humanist Association (AHA), recognizing the awardee as an exemplar of humanist values. Communication of scientific concepts to the public is an important aspect of advancing the cause of humanism. Richard Dawkins was honored in 1996 by the AHA as Humanist of the Year for his significant contributions in this area.

Regrettably, Richard Dawkins has over the past several years accumulated a history of making statements that use the guise of scientific discourse to demean marginalized groups, an approach antithetical to humanist values. His latest statement implies that the identities of transgender individuals are fraudulent, while also simultaneously attacking Black identity as one that can be assumed when convenient. His subsequent attempts at clarification are inadequate and convey neither sensitivity nor sincerity.

Consequently, the AHA Board has concluded that Richard Dawkins is no longer deserving of being honored by the AHA, and has voted to withdraw, effective immediately, the 1996 Humanist of the Year award. (APRIL 19, 2021  NEWS)

Dawkins hat mit seinem aggressiven Atheismus noch nie ins Bild gepasst. Das ist diesen Leuten wohl zu spät aufgefallen. Die guten alten Gründe für eine Distanzierung sind nun jenseits des Verfallsdatums. Da müssen neue her, seien sie  auch noch so schlecht. Weiterlesen

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Die gemeinsame Wirklichkeit

Was für ein tolles Buch – und was für ein unsäglicher Titel: „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ (Droemer, München, 2021). Die Autorin Mai Thi Nguyen-Kim betreibt erfolgreich und  in meinen Augen beste Populärwissenschaft. Sie widmet sich hochaktuellen Themen, darunter Gewalt und Videospiele, Impfrisiken und Impfverweigerung; daneben stehen Dauerbrenner wie die Legalisierung von Drogen, das Gender Pay Gap, das Verhältnis zwischen Alternativmedizin und Big Pharma, die Erblichkeit von Intelligenz, die Unterschiede im Denken von  Frau und Mann und schließlich die Vertretbarkeit von Tierversuchen.

Die Autorin wendet sich an Teens und Twens, wie wir früher sagten. Die Sprache des Buchs mag diesem jugendlichen Publikum heute angemessen sein. Zu meiner Studienzeit gab es noch Studienkollegen, die sich das vertrauliche „Du“ verbaten. Das ist offenbar vorbei. Wer das lockerer sieht und wer sich an schnoddriger Sprache („Matschepampe“) nicht stört, dem kann ich das Buch sehr empfehlen, selbst wenn er zu den höheren Semestern gehört. Ich will das Buch meinen Söhnen schenken, und das, obwohl sie das Jugendalter bereits deutlich überschritten haben. Die folgende Buchkritik soll auch Warnung sein: uneingeschränkter Enthusiasmus ist nicht angebracht.

Statistik lernen – Denkfallen meiden

Statistiken begleiten unser Leben. Die Nachrichten in Zeitungen, Funk und Fernsehen sind voll davon. Leider gilt auch, dass man Statistiken – anders als Churchill meinte – gar nicht zu fälschen braucht, um damit zu lügen. In diesem Hoppla!-Blog bringe ich viele Beispiele zum Thema „How to Lie with Statistics“ (Darrell Huff, 1954/1982). Das Buch der Mai Thi will, wie auch mein Blog, den Leser gegen solche Gefahren wappnen. Das beste Rüstzeug gegen Fehlschlüsse ist eine gute Wissensportion in beschreibender und schließender Statistik.

Und genau diese bietet das Buch der Mai Thi. Sie gibt die wichtigsten Kenngrößen und Zusammenhänge an und veranschaulicht diese mit bestens ausgewählten Grafiken. Wer die genauen Definitionen wissen will, der benötigt darüber hinaus noch etwas Formelkram. Den findet er in den Lehrbüchern oder auch im Internet. Die Wikipedia ist hier zu empfehlen, da es sich um Sachmaterial und nicht um Meinungsfragen handelt.

Ich gehe so weit, das Buch als Begleitmaterial zu Statistikkursen zu empfehlen: Hier wird an aktuellen Fällen Anschauungsmaterial geboten; die notorischen Denkfallen werden sichtbar gemacht. Das so ermöglichte Lernen aus den Fehlern reicht weit über die konkreten Fälle hinaus. Nach diesen Lektionen ist man sicher gut gewappnet für Streitgespräche mit sogenannten Skeptikern hinsichtlich Klimawandel, Impfen und Schulmedizin, und auch für Auseinandersetzungen mit Verschwörungstheoretikern schwacher Ausprägung.

Wissenschaftskonsens oder Konsens von Wissenschaftlern

Die Metapher vom „kleinsten gemeinsamen Nenner“ habe ich nie verstanden. Eigentlich will man damit das benennen, was allen Teilnehmern gemeinsam ist, und das soll ja möglichst groß sein. Diesen Sachverhalt aber trifft die Metapher vom „größten gemeinsame Teiler“ besser. In diesem Sinne würde eine Streichung des Wortes „kleinste“ dem Titel von Mai This Buch gut tun, denn genau darum geht es ihr: Wissenschaft hilft dabei, sich in einer Debatte auf eine möglichst große „gemeinsame Wirklichkeit“ zu verständigen. Weiterlesen

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Denksport am Rande des Wahnsinns II: Unendlich

Im ersten Teil von „Denksport am Rande des Wahnsinns“ ging es um Mathematik in der Schule, speziell um die vollständige Induktion und um Optimierungsaufgaben. Im zweiten Teil suche ich nach Antworten auf die Frage, was es mit dem Grundstoff der Mathematik, mit den Zahlen, auf sich hat.

Die Welt der Zahlen

Die größte Zahl

Der Name der größten Zahl stammt von einem Kind. Sein Onkel, ein Mathematiker, hatte die Zahl an die Tafel geschrieben und das Kind meinte, dass das wie ein Googol aussehe. Unter Beteiligung von etwas Legasthenie wurde daraus später der Name der heute beliebtesten Suchmaschine  im Internet. Wen die ganze Geschichte interessiert, der möge diese Suchmaschine bemühen oder in „Eine kleine Geschichte der Unendlichkeit“ von Brian Clegg nachsehen (2015, S. 57).

Im Alltagsleben kommt man immer mit deutlich kleineren Zahlen aus. Dem Googol kommt mit Fug und Recht das Prädikat zu, die größte Zahl zu sein. Und wie groß ist nun ein solches Googol? Jedenfalls ist es größer als die Anzahl der Atome im Universum. Ein Googol ist eine Eins gefolgt von einhundert Nullen: 10.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.
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Linien bestehen aus Punkten, oder?

Jede Strecke besteht aus Punkten. Soweit herrscht Einvernehmen. Aber: Wie viele sind es? Jetzt ist es mit der Einigkeit vorbei. Nähern wir uns der Angelegenheit ganz vorsichtig, indem wir mit dem Vergleichen beginnen,

Wir sprechen beim Umfang oder bei der Größe von Mengen besser von Mächtigkeit, wenigstens sobald wir den Bereich der endlichen Mengen verlassen. Zwei Mengen haben dieselbe Mächtigkeit, wenn es eine Eins-zu-eins-Abbildung zwischen ihren Elementen gibt. Haben die Mengen nur endlich viele Elemente, dann ist die Mächtigkeit gleich der Anzahl dieser Elemente. Die Menge {A, B, C} hat die Mächtigkeit 3, genauso die Menge aus einem Apfel, einer Birne und einer Zitrone. Nimmt man zu einer solchen endlichen Menge ein weiteres Element hinzu, erhöht sich deren Mächtigkeit um eins.

Nehmen wir die Menge der natürlichen Zahlen, dann kann man ein weiteres Element hinzufügen und es entsteht eine Menge derselben Mächtigkeit: Nach wie vor lassen sich alle Elemente abzählen,  zum Beispiel so: 1 ist die Nummer des hinzugefügten Elements, 2 die Nummer für die 1, 3 die Nummer für die 2 usw. Es gibt also eine Eins-zu-eins-Abbildung zwischen der Menge der natürlichen Zahlen und der neu gebildeten Menge mit einem zusätzlichen Element.

Wir vergleichen zwei Strecken. Nehmen wir eine Seite des Einheitsquadrats und vergleichen diese mit der Diagonalen, Bild (a). Es gibt eine Eins-zu-eins-Abbildung von allen Punkten der einen Strecke zu denen der  anderen, wie in Bild (b) angedeutet. Die Punktmengen der Strecken haben folglich dieselbe Mächtigkeit, obwohl die Strecken offensichtlich ungleich lang sind (Lietzmann, 1962, S. 120). Der Wahnsinn schimmert auf.

Bild (c) zeigt, dass die Menge der Punkte von 0 bis 1 dieselbe Mächtigkeit hat, wie die Menge der Punkte von 0 bis unendlich. Eine Funktion, die jedem Zahlenwert des Intervalls von 0 bis 1 umkehrbar eindeutig einen Wert des positiven Zahlenstrahls zuordnet, ist f(x) = x/(1-x).

Die Punkte zeigen hier ihre unheimliche Seite. Sie sind unendlich klein, sie entziehen sich der Anschauung; wir nennen sie Infinitesimale. Es ist kein Wunder, dass man sie über Jahrhunderte hinweg möglichst ignorierte und schließlich sogar verbot, sich mit ihnen in der Lehre zu befassen. Weiterlesen

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Denksport am Rande des Wahnsinns I: die Ochsentour

Bevor Sie meine Provokation mit wütenden Entgegnungen kommentieren, widerspreche ich mir vorauseilend gleich selbst. Die Denksportaufgaben habe ich in Büchern gefunden, die ich für wertvoll halte. Darin sind interessante Problemstellungen zu finden und die vorgeschlagenen Lösungsverfahren sind in technischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen von großem Nutzen. Nur sind sie den zu lösenden Aufgaben nicht angemessen. Es wird sozusagen mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Und darin liegt ein weiterer Wert dieser Bücher: Sie regen dazu an, nach besseren und einfacheren Lösungen zu suchen nach dem Motto: „Es geht immer noch einfacher.“ Das ist meine Basisheuristik. Mathematik sollte glücklich machen, eine Art Denksport sein. Diese Absicht verfolge ich auch in Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System (2020).

Den Wahnsinn sehe ich dann um die Ecke kommen, wenn die mathematische Beschäftigung zur Routine wird oder auch, wenn prima Konzepte mittels nervtötender Beispiele eingeführt werden. Darum geht es im ersten Teil von „Denksport am Rande des Wahnsinns“. Im zweiten Teil wende ich mich dann dem Unendlichen zu, das ja in der Mathematik sein Zuhause hat und in der Natur praktisch nicht vorkommt. Das hat schon etwas Unheimliches, einen Anflug von Wahnsinn.

Schulmathematik

Vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten fiel mir auf, dass meine Kollegen Mathematikkurse für Studienanfänger anboten, in denen sie Schulstoff vermittelten. Sie boten den Schülern also das  an, was bei den Adressaten bereits in der Schule keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte: Die meisten der  Studienanfänger waren auf ein technisches Studium nicht vorbereitet worden. Ihnen fehlte es an Fertigkeiten im Rechnen und am Verständnis für grundlegende mathematische Sachverhalte.

Das Problem wurde von den üblichen Brückenkursen nicht gelöst. Ich dachte über ein neues Konzept nach, das im Fuldaer Brückenkurs Mathematik (FBΣ) dann auch umgesetzt wurde. Im Zuge der Vorbereitung hatte ich ein ernüchterndes Erlebnis. Ich studierte die Lehrpläne einiger Bundesländer für ihre Gymnasien und fand nirgendwo das Thema vollständige Induktion, mit Ausnahme Bayerns. Aber auch dort rangierte es ganz hinten: „Die Vollständige Induktion [..] sollte nicht zu sehr vertieft werden“.

Dabei ist die vollständige Induktion etwas, das die Leistungsfähigkeit und Schönheit der Mathematik besonderes sinnfällig macht. Den Schülern wird Wichtiges vorenthalten. Stattdessen quält man sie unablässig mit Optimierungsaufgaben, die sich mittels Differentialrechnung nach festem Schema abhandeln lassen. Im nächsten Abschnitt bringe ich Beispiele dafür, wie diese Sekundarstufen-II-Routine Kreativität bremst.

Bleiben wir zunächst bei der vollständigen Induktion. Soweit ich dem Internet entnehmen kann, wird sie auch heute noch an Beispielen eingeführt, die nur zu zeigen scheinen, dass das Werkzeug eigentlich überflüssig ist. Ein gern genommenes Beispiel ist der Beweis dafür, dass die Summe der ersten n natürlichen Zahlen gleich n(n+1)/2 ist. Weiterlesen

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Wie real ist unendlich?

Nach dem Heute gibt’s ein Morgen, danach ein Übermorgen, und so weiter – endlos, solange nicht ein „Jüngstes Gericht“ dazwischenkommt. Wir zählen 1, 2, 3, … und haben nicht die geringste Schwierigkeit, uns das Unendlich vorzustellen. Zu Beginn meines Studiums hatte ich ein bestürzendes Erlebnis.

Die Russellsche Antinomie

Eine Studienfreundin behauptete, es war auf einer Party, dass die Mathematik gar nicht exakt und sogar in sich widersprüchlich sei. Die dort verwendeten Mengen seien gar nicht einwandfrei definiert, beispielsweise könne es die Menge aller Mengen nicht geben. Ich widersprach. Ein Freund aus einem höheren Semester sprang ihr bei. So lernte ich die Russellsche Antinomie kennen: Wir betrachten nur Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten. Das sind also Mengen, denen wir normalerweise begegnen. Die Menge der natürlichen Zahlen beispielsweise enthält alle natürlichen Zahlen, also 1, 2, 3, usw., nicht aber die Menge der natürlichen Zahlen. Markieren wir die Mengenbildung mit den geschweiften Klammer, dann schreiben wir die Menge der natürlichen Zahlen so: {1, 2, 3, …}. Wir können zwar die Menge {1, 2, 3, …, {1, 2, 3, …}} bilden, aber das ist nicht mehr dieselbe Menge wie die der natürlichen Zahlen; sie umfasst neben den natürlichen Zahlen auch die Menge der natürlichen Zahlen. Auch sie enthält sich nicht selbst.

Nun definieren wir eine Menge U derart, dass sie alle Mengen enthält, die sich selbst nicht als Element enthalten. Diese Gesamtheit der Mengen, ich nenne sie einmal unser Universum, ist selbst eine Menge. Wir fragen uns, ob U von derselben Art ist wie seine Elemente.

Wir fragen also, ob diese Menge U sich selbst enthält: Falls ja, dann enthält sie sich definitionsgemäß nicht; falls nein, dann doch. Der Selbstwiderspruch ist offenbar. Die Studienfreundin lag also ganz richtig mit ihrem Misstrauen gegenüber einem naiven Mengenbegriff.

Aus der Russellschen Antinomie habe ich eine Lehre für das Leben gezogen: Nimm dich in Acht vor Dingen, die allzu groß sind! Weiterlesen

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