Denkfallen, anders gesehen

Im soeben erschienenen Buch „Denkfallen“, herausgegeben von Antonio Messina und Hamid Reza Yousefi wurde mein Denkfallen-Text von 2006 nachgedruckt. Inwieweit das unrechtmäßig geschehen ist, wäre noch zu klären. Jedenfalls fehlt ein Hinweis darauf, dass der Artikel erstmals im Jahr 2007 im Hirzel Verlag erschienen ist, und zwar im Buch „Jenseits des Verstandes“, herausgegeben von Martin Dresler und Tanja Gabriele Klein.

Aus diesem Hoppla!-Blog ist bekannt, dass ich gegen Glaubensathleten jeder Couleur antrete. Dazu gehören Kreationisten und auch Verschwörungstheoretiker. Dass sich mein Aufsatz im Umfeld von Autoren des Kopp Verlags wie Armin Risi, Peter Orzechowski, Jan van Helsing und Gabriele Schuster-Haslinger wiederfindet, ist für mich nur schwer zu ertragen.

Nicht ganz so schlimm wie die Gesellschaft der Anhänger falscher Verschwörungstheorien, aber immer noch unpassend, ist die Mitwirkung von Mitgliedern des Professorenforums. Mit den in diesem Forum versammelten Vertretern der Intelligent-Design-Bewegung hatte ich vor vielen Jahren eine sehr unangenehme Auseinandersetzung. Von christlicher Nächstenliebe haben diese Leute so gar nichts spüren lassen.ĺ

Tatsächlich hatte ich einem der Herausgeber die Zustimmung zum Abdruck meines Textes gegeben und leider versäumt, nach der Zielsetzung des geplanten Projekts zu fragen. Sein freundlich kollegialer Ton hatte mir genügt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass meine Arbeit in einen Sinnzusammenhang gestellt wird, der ihrem Inhalt zuwiderläuft. Auch Skeptiker sind vor Denkfallen nicht sicher, wie wir sehen.

Da ich auch mit Meinungsgegnern einen Dialog auf Augenhöhe führen will, solange es irgendwie geht, kann ich diese Fehlplatzierung meines Artikels ertragen. Das Büchlein enthält ja auch einige interessante und bedenkenswerte Passagen.

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Unendliche Kettenbrüche und Kettenwurzeln: Interpretationsakrobatik in der Mathematik

Kettenbrüche oder Kettenwurzeln sind für den Mathematiker kein Problem, solange sie endlich sind. Zur Berechnung beginnt man hinten bzw. rechts unten und arbeitet sich Schritt für Schritt bis zum Anfang vor. Die unendlichen Kettenausdrücke machen es einem nicht so einfach. Wo beginnen?

Wenn der unendliche Kettenausdruck sukzessive durch eine Folge endlicher Kettenausdrücke gewonnen worden ist, haben wir ein Rezept: Wir können die Folgenglieder dem Kettenausdruck entnehmen und ihren Grenzwert berechnen. Das einzig Bemerkenswerte an unendlichen Kettenbrüchen ist, soweit ich sehen kann, ihre Unhandlichkeit. Meistens gibt es elegante Lösungswege, die an ihnen vorbeiführen.

Schauen wir uns den unendlichen Kettenbruch des folgenden Bildes an: 1+1/(2+1/(2+1/(2+…))). Den gesamten Ausdruck setzen wir gleich x und den Bruch gleich u. Es ist x=1+u und u = 1/(2+u). Dabei nutzen wir aus, dass auf der ersten (tiefgestellten) Schachtelungsebene genau derselbe Bruch steht, wie ganz oben. Daraus folgt 1=(x-1)(x+1) = x2-1. Also: x = √(2). Für die Berechnung der Wurzel aus 2 haben wir nun wirklich effizientere Verfahren als dieses Ungetüm von Kettenbruch, beispielsweise das Newton-Verfahren (babylonisches Wurzelziehen).

Schlimmer noch scheinen mir die Kettenwurzeln zu sein. Aber es gibt Liebhaber dieser Konstruktionen. Nehmen wir die im Bild dargestellte unendliche Kettenwurzel √(1+√(1+√(1+…))).

Ich will mich nicht damit aufhalten, diese zur Folge aufzudröseln. Ich setze voraus, dass die Folge gegen einen Grenzwert x konvergiert. Dann kann man schreiben: x = √(1 + x). Quadrieren und alles auf die linke Seite bringen ergibt: x2x-1=0. Die Lösung x dieser Gleichung ist gleich dem Streckenverhältnis des goldenen Schnitts. Dank dieser Entdeckung hüpft das Herz des Zahlenmystikers vor Freude! Weiterlesen

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Der Unfug der TED-Umfragen

Statistiken sind eine außerordentlich ergiebige Quelle für Reinfälle und Irrtümer. Nicht zufällig heißt ein Best- und Longseller auf diesem Gebiet „How to Lie with Statistics“ (Darrell Huff, 1954). Einige der notorischen Denkfallen habe ich in diesem Hoppla!-Blog bereits aufgespießt:

Zu den „Proben mit Stich“ zählen für mich die TED-Umfragen. Bisher habe ich diese als sinnleere und harmlose Spielereien abgetan. Erst ein Leserbrief in der Fuldaer Zeitung hat mich aufgeschreckt: TED-Umfragen sind ein Übel der Kommunikationskultur.

Leserbrief zu einer TED-Umfrage

Unter der Überschrift Einladung zur Meinungsmache (Fuldaer Zeitung, 18.1.2022, S. 6) schreiben Kornelia und Iris Eibeck aus Gersfeld zur Frage des Tages „Haben Sie Verständnis für die wachsende Zahl an Demonstranten“ (FZ, 11.1,2022, S. 4):

Auf den ersten Blick gibt das Ergebnis vor, dass 67 Prozent der Teilnehmer Verständnis für die wachsende Zahl an Demonstranten haben. Erst unterhalb der prozentualen Auswertung wird im Kleingedruckten ausgewiesen, dass nur 2944 Personen überhaupt teilgenommen haben und dass es sich um eine nicht repräsentative Umfrage handelt. Uns graust davor, dass Menschen dieses Umfrageergebnis kritiklos übernehmen – und weitergeben. In einer Zeit von Verschwörungstheorien und Fake News sollten ernste Themen nicht in Umfragen mit unklarer Datenerhebung münden.

Der Fuldaer Zeitung gegenüber unterstütze ich diesen Leserbrief nachdrücklich: Diese TED-Umfragen verfestigen Irrationalismen und Spaltungstendenzen. Sie verstoßen gegen grundlegende Regeln des statistischen Schließens. Die erste Voraussetzung besagt, dass die Grundgesamtheit – also die Population, über die etwas ausgesagt werden soll – klar definiert sein muss. Und die zweite Forderung ist, dass das Ziehen einer Stichprobe aus dieser Grundgesamtheit nach dem Zufallsprinzip zu erfolgen hat. Selbstrekrutierte Stichproben wie bei TED erfüllen diese Forderungen ganz gewiss nicht.

Der Ressortleiter Politik/Nachrichten der Fuldaer Zeitung gibt mir im Grunde recht: Die „Frage des Tages“ sei nicht repräsentativ und folge nicht den Regeln der wissenschaftlichen Statistik. Das sei aber auch gar nicht das Ziel dieser Aktion.  Man wolle mit der „Frage des Tages“ nur ein Stimmungsbild der Leserschaft zu aktuellen Themen erzeugen. Die Leser bestätigten immer wieder, dass sie sehr wohl wüssten, wie sie die Ergebnisse zu lesen haben; und es gebe sicher auch weniger aufgeklärte Leser, die aus den Ergebnissen unerwünschte Schlüsse zögen. Die „Frage des Tages“ sei bei der Mehrheit der Leser beliebt – und aus Sicht der Redaktion auch ein Instrument zur Leserbindung. Weiterlesen

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Aus der Zeit gefallen: Bernhard Pörksen setzt auf die Wahrheit

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners

Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen haben 1998 ein Buch geschrieben, dessen Grundgedanken ich im Artikel Skeptiker über Religion aufgegriffen habe: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker.

Auf Seite 30 kommt Heinz von Foerster zu Wort: „Meine Auffassung ist in der Tat, dass die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet – man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition – Krieg. […] Ja – und auf einmal stehen die großen Armeen der Gläubigen einander gegenüber, sie knien nieder und beten beide zu ihrem Gott, dass die Wahrheit, dass ihre Wahrheit siegen möge. – Wer hat recht? […] Um diese Frage zu entscheiden wird geschlachtet und geschlachtet.“

In seinem Buch Die große Gereiztheit von 2018 geht Bernhard Pörksen gnädiger mit dem Wahrheitsbegriff um. Er meint wohl, ihn als Waffe gegen die internetinduzierte „Wahrheitskrise“ und das entfesselte Bestätigungsdenken zu benötigen. Für ihn ist die „prinzipielle Fraglichkeit von Wissen und Wahrheit unvermeidlich. […] Sie kann das Weltbild des Dogmatikers produktiv erschütterten; sie kann von der Diktatur der Monoperspektive befreien und als Bereicherung und als Stimulus eines Aufbruchs in Richtung der autonom fabrizierten Erkenntnis verstanden werden. Aber die Konfrontation mit Kontingenz vermag eben auch, dies ist die menschlich wahrscheinlichere Reaktion, zu verstören und zu schockieren, wird doch die Ruhebank fester Wahrheiten vor aller Augen demoliert.“ (S.  44) Weiterlesen

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Impfwirksamkeit: Statistiken richtig interpretieren

Im Hoppla!-Blog erscheint – angeregt durch die Corona-Pandemie – in mehreren Artikeln die Formel für die Impfwirksamkeit. Sie erlaubt es, aus den Statistiken des Robert Koch-Instituts (RKI) zu erschließen, inwieweit das Erkrankungsrisiko durch die Impfung verringert wird. Die im Blog verstreuten und in einfacher Typografie erstellten Texte (Suchwort: Impfwirksamkeit) werden in diesem Kurzbericht systematisch und besser lesbar zusammengestellt:

Impfwirksamkeit

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Wie stichhaltig ist die Kritik am Impfmonitoring des RKI?

Die Formel zur Berechnung der Impfeffektivität wurde im Hoppla!-Blog schon von oben und unten, von links und rechts betrachtet. Unbehaglich war mir nicht so sehr bei der Formel, sondern bei den in sie einfließenden Daten. Ich fragte mich,

  • wie die Impfquote und die Hospitalisierungsdaten zusammenpassen,
  • wie die nur teilweise Geimpften zu behandeln sind und
  • wie die Genesenen darin unterzubringen sind.

Einige der Unschärfen des Datenmaterials werden vom Robert Koch-Institut angesprochen. Nun ergibt sich die Gelegenheit, noch einmal genauer hinzuschauen. Ein Kollege machte mich auf den Artikel Deep-Dive Impfeffektivität. Eine kritische Datenanalyse der RKI-Berechnungen/Teil 1: Die Methode von Simon Hegelich aufmerksam (Political Data Science, 19.12.2021).

Die im Artikel vorgebrachte Kritik am RKI-Monitoring ist ziemlich herb: „Entweder, die Daten sind verlässlich, oder die Erkenntnisse, die daraus abgeleitet werden, sind es auch nicht. Die hier beschriebenen Unwägbarkeiten sind eben nicht rein theoretisch, sondern wirken sich notwendig auf die Analyse aus. Wissenschaftlich wäre es, das eigene Unwissen zu akzeptieren und transparent zu kommunizieren, nicht aber, auf Basis falscher Daten Entscheidungen zu treffen.“ Weiterlesen

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Corona-Impfung: Risikoreduktion relativ und absolut

Im letzten Hoppla!-Artikel Impfen: Intuition und Reflexion sprach ich vom abenteuerlichen Jonglieren mit Risikomaßen durch Impfgegner. Bei Christian Felber klingt das so: „Die Wirksamkeit der Impfung kann unterschiedlich dargestellt werden. Die Wissenschaft unterscheidet zwischen Relativer Risiko-Reduktion (RRR) und Absoluter Risiko-Reduktion (ARR).“ Beistand holt er sich vom renommierten Medizinjournal The Lancet: „Je nachdem, wie der Effekt dargestellt wird, ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild.“  Und weiter: „ARRs werden üblicherweise ignoriert, weil sie eine deutlich weniger beeindruckende Wirkung ergeben als RRRs: 1,3% für die Impfung von AstraZeneca–Oxford, 1,2% für Moderna–NIH, 1,2% für J&J, 0,93% für Sputnik V/Gamaleya, und 0,84% für Pfizer–BioNTech.“

Das soll heißen: Staatliche Stellen werben für ihre Corona-Impfkampagnen mit Angaben zur relativen Risikoreduktion, weil sie beschönigend wirken. Die Angabe der absoluten Risikoreduktion würde demgegenüber den Leuten die Augen öffnen und zeigen, dass die Impfwirksamkeit die Nebenwirkungen nicht aufwiegen kann.

Sabine Weiler vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung zitiert im Dezember 2020 eine BioNTech-Studie:  „BioNTech berichtete, dass insgesamt etwa 43.000 Menschen an der Studie teilnahmen, etwa die Hälfte davon wurde geimpft und die andere erhielt ein Placebo. Sieben Tage nach der zweiten Dosis gab es insgesamt 94 bestätigte Covid-19 Fälle. Im Studienprotokoll von Pfizer findet man die Definition der Wirksamkeit: Hierzu wird der Anteil der Covid-19-Fälle in der Impfgruppe dividiert durch den Anteil der Covid-19-Fälle in der Kontrollgruppe. Dieser Wert wird von 1 abgezogen und mit hundert multipliziert, so dass man es bequem in Prozenten ausdrücken kann. Daraus folgt, es muss in der Impfgruppe 8 Fälle und in der Placebogruppe etwa 86 Fälle gegeben haben, was einer Reduktion von rund 90 Prozent entspricht (bei den 95 Prozent waren es dann 8 versus 156 Fälle).“

Die absolute Risikoreduktion (ARR) beträgt (86-8)/(43.000/2), ist also gleich 0,36%. Sie bezieht sich auf alle Studienteilnehmer. Demgegenüber ist die relative Risikoreduktion (RRR) gleich 1-8/86, und das sind mehr als 90%. Sie bezieht sich ausschließlich auf die Covid-19-Fälle.

Die Aussagekraft der verschiedenen Risikomaße verdeutlicht Gerd Gigerenzer in seinem Buch Risiko. Er zeigt, dass bei seltenen Krankheiten das absolute Risiko das geeignete Maß ist, insbesondere wenn die Gegenmaßnahmen mit großen Nebenwirkungen verbunden sind. Weiterlesen

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Impfen: Intuition und Reflexion

Rabiate Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und selbsternannte Querdenker pflegen ihre Vorurteile. Als störend empfunden werden die offiziellen Statistiken und Studien des Robert Koch-Instituts und des Paul-Ehrlich-Instituts. Sie werden entweder als staatliche Manipulation verstanden und deshalb abgelehnt, oder schlichtweg übersehen, weil das Studium dieses Quellenmaterials anstrengend ist und als Zumutung empfunden wird.

RKI-Wochenberichte

Dabei lässt sich manch einer zum Überdenken seiner Position bewegen, wenn man dieses Material direkt und konkret gegen Fehlinformation ins Feld führt. Schauen wir auszugsweise an, was in den RKI-Wochenberichten zu finden ist:

  • Altersgruppenspezifische Inzidenz der COVID-19-Wellen 2020/2021
  • Zeitlicher Verlauf
  • Geografische Verteilung der Inzidenzen über die Stadt- und Landkreise
  • Wochenvergleich der Bundesländer
  • Ausbrüche in Kindergärten, Horten und Schulen
  • Hospitalisierungen
  • Stand der Impfquoten
  • Wirksamkeit der COVID-19-Impfung, Impfeffektivität

Die Berichte verschweigen nicht, dass die Datenerfassung ihre Schwächen hat: „Die Nichtberücksichtigung von Fällen mit fehlenden Angaben zum Impfstatus führt zu einer Unterschätzung der Inzidenzen der Fälle sowohl in der vollständig geimpften wie auch in der ungeimpften Bevölkerung.“

Ich versuche die Schwierigkeiten mit der Zählweise von Inzidenzen zu umgehen und beziehe mich bei der Berechnung der Impfwirksamkeit ausschließlich auf die hospitalisierten Corona-Fälle. Auch dazu liefern die RKI-Wochenberichte die notwenigen Daten. Es gibt also jede Menge Material für ein gründliches Nachdenken über die Sinnhaftigkeit einer Impfung gegen Corona.

Gründe gegen das Impfen

Christian Felber nennt „30 Gründe, warum ich mich derzeit nicht impfen lasse“ (11.11.2021). Sein Jonglieren mit Risikomaßen finde ich abenteuerlich. Einige seinerer Gründe sind Strohmann-Argumente und einige sind nahe an Verschwörungstheorien. Diese sind andernorts zu beurteilen. Schauen wir uns ein paar der ernsthafteren Gründe an. Weiterlesen

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Ein Planet wird geplündert – immer noch

Die erträumte Wissenschaft mit
ihrer so verwünschten Fruchtbarkeit
Immanuel Kant

Der Autor des Buches „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ feiert seinen 66. Geburtstag mit reichlich Champagner auf einer 107-Meter-Yacht und lässt seine fünfzig Gäste mit dem Hubschrauber zu einem Beachclub fliegen. Welch eine Heuchelei. Aber Lassen wir Hohn und Spott einmal beiseite. In jedem von uns steckt ein kleiner Bill Gates. Zwar nicht so üppig, aber immerhin. Das ist das Grundmotiv dieses Artikels. Es ist als Hintergrund stets mitzudenken, als eine Art Ostinato. Das Drama begann vor einem halben Jahrtausend, der Showdown vor einem halben Jahrhundert. Um letzteren geht es.

Grenzen des Wachstums

1972 geraten die Grenzen des Wachstums in das Blickfeld weiter Kreise der Bevölkerung. Im Jahr 1973 folgt ein erstes Erschrecken: Es kommt zur Ölpreiskrise und zu autofreien Sonntagen. Wir erkennen die erschöpflichen Rohstoffquellen als harte Grenzen unserer Existenz. Angst breitet sich aus. Im Jahr 1975 erscheint das Buch „Ein Planet wird geplündert“ von Herbert Gruhl. Es hat mich beeindruckt, mehr noch als die „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (Meadows, 1972). Herbert Gruhl schreibt 1992 in einem Spiegel-Artikel unter anderem:

Schon 1972 fand eine erste globale Umweltkonferenz statt.

Obwohl es unbestritten um das Überleben des Menschen auf diesem Planeten geht, ließ sich die Uno 20 Jahre Zeit, bis sie für Juni dieses Jahres zur zweiten Umweltkonferenz nach Rio de Janeiro einlud.

Sehr vieles müsste da auf die Tagesordnung einer Weltkonferenz kommen:

Die tödliche Vermehrung der Menschen. Der absehbare Zusammenbruch ihrer Ernährung und Wasserversorgung. Die Vergiftung von Wasser, Luft und Böden durch Chemikalien bis hin zum Schwinden der schützenden Ozonschicht. Die zunehmende Gefahr der radioaktiven Verseuchung aus Hunderten von Atomanlagen, die auch ohne Atomkrieg schon weite Regionen unbewohnbar gemacht haben. Der Treibhauseffekt der Kohlenoxide mit folgender Veränderung des Klimas und des Weltwasserspiegels. Das Abbrennen und Roden der Wälder in der Dritten Welt und ihr Absterben in den Industrieländern. Das Ausrotten und Aussterben der Tiere und Pflanzen, die der Mensch braucht, denen er aber die Lebensgrundlage entzieht. Die mit unheimlichen Risiken behafteten Genmanipulationen an Pflanzen, Tieren und Menschen. Die schnelle Ausplünderung der Erdvorräte an fossilen Brennstoffen und mineralischen Rohstoffen. Die steigende Abfallbelastung aller Kontinente und Meere und sogar schon des Weltraums.

Das teuflischste Problem – dem Papst sei das gesagt – ist also die Vermehrung der Menschen. Noch bei jeder Art ist die explosive Zunahme mit einem Massensterben beendet worden.

Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO2) und Methan, die für die Erderwärmung und Klimawandel sorgen, fanden in den Siebzigerjahren noch nicht die nötige Beachtung.

Blickumkehr: von den Quellen zu den Senken

Ab Mitte der Siebzigerjahre arbeitete ich bei einem Hersteller von Atomkraftwerken. Die Kerntechnik war ins Gerede gekommen. Die größte Protestaktion der Anti-Atomkraftbewegung war die Besetzung des Baugeländes im südbadischen Wyhl, das für einen Reaktorblock vorgesehen war. Die Demonstration begann im Februar 1975 und dauerte monatelang an. Weiterlesen

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Fortschrittsideologie – ein Ponzi-Schema?

Das Sondierungsergebnis vom 15.10.2021

Das ist ein Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: „Die nächsten Jahre sind entscheidend, um Deutschland und Europa zu stärken für die großen Herausforderungen wie den Klimawandel, die Digitalisierung, die Sicherung unseres Wohlstands, den sozialen Zusammenhalt und den demografischen Wandel. Die Grundlage dafür ist eine umfassende Erneuerung unseres Landes.“ Und weiter: „Wir fühlen uns gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet. […] Als Fortschrittskoalition können wir die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung stellen.“

Toll, sagte ich mir. Das könnte klappen. – Dann habe ich darüber nachgedacht, und mir sind Zweifel gekommen.

Fortschrittsdynamik

Anfangs der 1980er Jahre gab ich in der Vorlesung „Nachrichtentechnik“ im einleitenden Kapitel folgenden Gedanken zum Besten: „Mittels Technik erweitert der Mensch seine Fähigkeiten der Nachrichtenspeicherung, -verarbeitung und –übertragung. Theorien und Techniken lassen sich dadurch schneller verbreiten – und auch schneller widerlegen und durch bessere ersetzen. Das beschleunigt wiederum die technische Entwicklung und den technischen Fortschritt. Der Nachrichtentechnik fällt in der kulturellen Entwicklung offensichtlich eine wichtige Sonderrolle zu. Das ist keine Wertung dahingehend, dass alle Technik zum Segen der Menschheit ist. Skepsis ist angebracht.“

Der Philosoph Hermann Lübbe spricht vom beschleunigten Wissenswachstum und eben dadurch beschleunigte technische Evolution: „Selbstreferentiell war diese Evolution immer“ (1992, S. 263).

Der Fortschritt nimmt seinen Lauf. Die Folgen sind Wachstum der Möglichkeiten und Wachstum der Ansprüche, Wachstum der Güter. Bei konstanten Wachstumsraten ist das Wachstum exponentiell. Als ich von der Hochschule in die elektrotechnische Industrie ging, hieß es, dass das jährliche Wachstum des Stromverbrauchs 7% und die Zeit bis zur Verdopplung folglich nur zehn Jahre betrage. Zur selben Zeit erschien der Bericht des Club of Rome „Limits to Growth“ und der tauchte diese Zukunftsprognose in ein düsteres Licht. Plötzlich sprach jedermann von der Erschöpflichkeit der Ressourcen. Weiterlesen

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