In der Kindheit kommt irgendwann einmal der Moment, in dem man sich seines Denkens und seiner selbst bewusst wird: Hier bin ich und dort ist der andere. Und er denkt und empfindet sicherlich genauso wie ich denke und empfinde. Das ist ziemlich nahe an einer Erkenntnis, die René Descartes zum Ausgangspunkt seiner Philosophie gemacht hat: Ich denke, also bin ich.
Das denkende Ich ist also ein alter Bekannter von mir. Ich sollte ihn gut kennen. Aber davon kann nicht die Rede sein.
Um die Gedanken über das Ich aufzudröseln, beginnen wir damit, was unsere Wahrnehmung uns mitteilen kann. So stoßen wir fast zwangsläufig auf das, was Emil du Bois-Reymond Das fünfte Welträtsel genannt hat. Es wurde im Anschluss an den Hoppla!-Artikel Das fünfte Welträtsel: Bewusstsein ausgiebig diskutiert. Im Anschluss an den Artikel Der Realismus erklärt nichts wurde das Thema von Peter Schöne aufgegriffen. Darauf will ich noch eingehen und beziehe mich dabei auf seinen Text Die Grenze des Diesseits.
Dinge, Erscheinungen, Protokolle
Wir nehmen die Welt beim Wort: Was wir wahrnehmen, scheint genau so zu sein. Dann entdecken wir die optischen Täuschungen und wir beginnen daran zu zweifeln, dass wir sehen, was ist. Immanuel Kant sagt es so: „Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen.“ (Prolegomena, § 13, Anmerkung II)
Wer meint, dass er erkennt, was wirklich ist, der möge uns sagen, was das ist:

Erscheinungen sind individuelle Erlebnisse, über die wir unkorrigierbar berichten können. Derartige Protokolle sind in einer Sprache verfasst, die dem gemeinsam Erlebten entspringt. Das führt zur Objektivierung des subjektiven Erlebens: Wir schauen Bäume an und sind uns einig, dass die Blätter grün sind. Das verführt uns zu dem weiterreichenden Gedanken, dass alle Beobachter das Grün in derselben Weise empfinden, dass dieses empfundene Grün also eine Eigenschaft des Objektes in der Welt ist. Für einen solchen naiven Realismus gibt es jedoch keinen Grund. Welche Empfindung ich beim Anblick einer roten Rose habe und welche bei der Fanfare von Also sprach Zarathustra, wird ein anderer niemals erfahren, egal, wie blumenreich ich das Erlebnis schildere.
Wer oder was empfindet?
Noch vertrackter wird es, wenn wir uns fragen, welcher Teil in uns für das Erlebte verantwortlich ist. Was ist dieses Ich, das die Erscheinungen hat?
Im Abschnitt „Von den Paralogismen der reinen Vernunft“ schreibt Immanuel Kant: „Durch dieses Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter als ein transcendentales Subject der Gedanken vorgestellt = X, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädicate sind, erkannt wird, und wovon wir abgesondert niemals den mindesten Begriff haben.“
Wir ordnen die Gedanken mit Hilfe der folgenden Grafik.
R ⟶⎢ X ⎢⟶ P
Die Welt der Dinge an sich, die ungreifbare Realität, sei R. Immanuel Kant folgend ist das erkennende Ich = X. Dieses X produziert die Erscheinungen. [Peter Schönes Interpretation zeigt mir, dass diese Reifikation zu Missverständnissen führen kann, 29.6.2023] Wo und wie das innere Bild entsteht, das entzieht sich unserem Zugriff. Die Funktion von X ist das große Geheimnis. Die senkrechten Striche in der Grafik sollen andeuten, dass das X in einer Art Black Box eingeschlossen ist. P steht für die Protokolle, die wir von den Erscheinungen machen.
Nicht zum Ausdruck gebracht sind
- die Realisierungen der Protokolle und Theorien in Form von Bildern und Texten beispielsweise, insofern gehören sie zu R, und
- das Hintergrundwissen, also das phylo- und ontogenetisch Erlernte, das Wahrnehmung und Erkenntnis überhaupt erst möglich macht und das man dem X zurechnen kann.
Es gibt also eine Menge Rück- und Wechselwirkungen, die in der simplen Grafik nicht auftauchen. Insbesondere führen Erkenntnisse in der Welt des Wissens und der Wissenschaft P zu Erfindungen, die die Welt R der Dinge verändern.
R, X und P lassen sich ohne Gewaltanwendung in Poppers Welten 1, 2 und 3 verorten.
Umkehrung der Erkenntnisrichtung
In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant die Umkehrung der Erkenntnisrichtung: „Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten […] es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem er mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht so gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“
Diese Umkehrung der Erkenntnisrichtung kommt zum Ausdruck in der erwartungsgetriebenen Wahrnehmung und in der Rolle wissenschaftlicher Hypothesen. Letztere sind Vermutungen, die wir noch zu prüfen haben. Wissenserwerb verlangt den aktiven Beobachter.
Erwartungsgetriebene Wahrnehmung und Erkenntnis habe ich an den optischen Täuschungen und an den Denkfallen studiert.

Das irreduzible Ich
Das Denken denken, das Wahrnehmen wahrnehmen und das Sehen sehen wird wohl nicht gelingen. Wir sind zurückgeworfen auf das Wahrgenommene und das Gedachte.
Peter Schöne meint, dass wir durch die sehr gute Reproduzierbarkeit der psychoakustischen Messfunktionen und durch die geringen interindividuellen Unterschiede wüssten, dass Empfindungen bei allen gesunden Versuchspersonen sehr ähnlich seien:
„Um möglichst viele Teilfunktionen INNERHALB der Black Box aufzuklären, hat die Forschung das Gehör immer weiter erkundet. Dabei wurden physikalische Messgeräte abgelesen, wodurch eine lange Kette von Repräsentationen entstanden ist: Ohrmuschel, Gehörgang, Trommelfell plus Gehörknöchelchen Hammer, Amboss, Steigbügel bis hin zum ovalen Fenster (Außenohr und Mittelohr), Schnecke (Cochlea des Innenohrs) mit der Basilarmembran, Muster der erregten Haarzellen samt Deckmembran, Weiterleitung der monauralen und binauralen Erregungsmuster durch die Gehörnerven, also auf der sogenannten Hörbahn in das Gehirn, und schließlich Verarbeitung im Gehirn bis hin zum auditorischen Cortex in der HIRNRINDE.“
Er liefert weitere Argumente dafür, dass das Empfinden X immer weiter entschlüsselt werden könne: „Bezüglich der Individualentwicklung unseres Gehörs ist es noch sehr wichtig anzumerken, dass unsere individuellen Gene aufgrund des ständigen Austauschs in der Evolution des Menschen ganz allgemein KONVERGIEREN in Richtung auf eine phylo- und ontogenetisch sehr ähnliche Entwicklung jedes gesunden Gehörs.“
Es stimmt wohl: Es sind im Laufe der Zeit viele Erkenntnisse über die Funktion des Wahrnehmungs- und Denkapparats hinzugekommen. Aber „die psychophysikalische Lücke [ist] noch nicht überbrückt“, wie er selbst schreibt.
Für Frank Wohlgemut ist die Ähnlichkeit der Empfindungen eine gut begründbare Annahme, aber als „Wissen im strengen Sinn“ würde er das nicht bezeichnen.
Dem Geheimnis des Bewusstseins, dem Ich, ist man mit den psychoakustischen Studien nicht näher gekommen. Die Erkenntnis stößt nach wie vor an eine Schranke.
Die Einschätzung des Emil du Bois-Reymond behält Gültigkeit: Selbst auf der höchsten denkbaren Stufe unseres eigenen Naturerkennens gleichen unsere „Anstrengungen, über diese Schranke sich fortzuheben, einem nach dem Monde trachtenden Luftschiffer“.
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