Mein humanistisch gebildeter Freund neckt mich, indem er hin und wieder lateinischeBrocken fallen lässt – da reicht meine Oberrealschulbildung nicht hin. Geist kontra Materie, ein alter philosophischer Streit schimmert da durch. Unterschiedliche Denkrahmen eröffnen unterschiedliche Sichtweisen. Dass unsere Ansichten dennoch verblüffend oft konvergieren, schafft eine gewisse Treffsicherheit im Urteil.
Ignorabimus?
Bei Gelegenheit höre oder lese ich von ihm das Zitat „Ignoramus et ignorabimus“. Ich schlage nach und erfahre, was das heißt: „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen.“ Dieser Ausspruch ist der Gipfelpunkt eines Vortrags eines gewissen Emil du Bois-Reymond von vor knapp eineinhalb Jahrhunderten. So erfahre ich von diesem, großen Physiologen und Philosophen, der die elektrische Natur der Nervensignale aufdeckte und sie dadurch der Messung zugänglich machte.
Du Bois-Reymond formulierte damals, was er acht Jahre später in einer Reihe von sieben Welträtseln als das fünfte benannte: Das Entstehen der einfachen Sinnesempfindungen. Er schreibt (du Bois-Reymond, 1882, S. 35 ff.): „Ich fühle Schmerz, fühle Lust, schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot […] Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff- Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewusstsein entstehen könne.“
Du Bois-Reymond sieht hier Grenzen der Naturerkenntnis und er beschließt seinen Vortrag mit dem markanten „Ignorabimus!“
So unmittelbar und unverfälscht uns der rote Hut, das zustimmende Nicken, die Skyline von Frankfurt, die pochenden Töne der Fünften Sinfonie Beethovens erscheinen, für mich spitzt sich alles auf die Frage zu, ob mein Nachbar die Farbe Rot genauso empfindet wie ich, oder ob sich sein Erleben derselben Situation von dem meinen unterscheidet.
Weshalb man sich heute scheut, hinter du Bois-Reymonds Ignorabimus ein Ausrufezeichen zu setzen und ein Fragezeichen vorzieht, liegt auch daran, dass man immer besser erfasst, wie die Erregungsmuster im Gehirn mit den vorgefundenen Situationen zusammenhängen. Dieses wachsende Wissen scheint mir aber eher eine Seitwärtsbewegung zu sein. Es sagt uns nach wie vor nichts über das Wesen des Erlebens. Die geistigen Vorgänge sind aus ihren materiellen Bedingungen nicht zu begreifen. Das Bewusstsein bleibt rätselhaft.
Für du Bois-Reymond ist unserer Naturerkenntnis eine harte Schranke gesetzt. Das verdeutlicht er mit diesem Bild (1882, S, 38): Selbst auf der höchsten denkbaren Stufe unseres eigenen Naturerkennens gleichen unsere „Anstrengungen, über diese Schranke sich fortzuheben, einem nach dem Monde trachtenden Luftschiffer“.
Der Luftschiffer hat wenigstens den Mond vor Augen. Peter Bieri meint, dass wir nicht einmal den Sehnsuchtsort kennen (1992, S. 56): „Für das Rätsel des Bewusstseins gilt etwas, was für sonstige Rätsel nicht gilt: Wir haben keine Vorstellung davon, was als Lösung, als Verstehen zählen würde.“
Sackgassen
Jegliche Metaphysik sorgt für eine Einschränkung des Denkens. Wer seinen Denkrahmen mutwillig einengt, kommt der Lösung des Welträtsels nicht näher. Einen solchermaßen verfehlten Versuch zur Lösung des Welträtsels unternimmt der Naturalist. Er scheitert schon auf der Ebene der Logik; Erfahrungen und Fakten sind für den Nachweis seines Missgeschicks nicht vonnöten. Weiterlesen →