Denksport

Denksportaufgaben machen Spaß. Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit nutzte ich sie zum Einstieg in das schöpferische Denken, ein Weg, der auch von den Studenten sehr geschätzt wurde. Kürzlich bin ich wieder über ein paar Rätsel gestolpert und nehme das zum Anlass, über meine Erfahrungen mit Denksportaufgaben zu berichten; nicht alle sind zu jedem Zweck geeignet.

Logikrätsel

Raymond Smullyan (1919-2017)  hat viele Logikrätsel publiziert. Sie sind bestens geeignet für die Einführung in die Informatik und insbesondere für das Einüben logischer Schlussweisen.

Ich zähle diese Logikrätsel zu Kategorie der Aufgaben: Nach einigen Anfangsschwierigkeiten lassen sie sich durchweg nach Rezept lösen; dem kreativen Denken bleibt nur ein geringer Spielraum. Von Problemen spricht man erst, wenn zwar das Ziel bekannt ist, der Weg dahin aber noch im Dunkeln liegt und nur schwer ans Licht zu bringen ist.

Die folgenden Fragen legt Smullyan seinen Lesern als Einführungskurs in die Welt der Ritter und Schurken vor: Die Ritter und Schur­ken sind die ein­zigen Bewohner einer Insel. Ritter sagen stets die Wahrheit und Schurken lügen kon­sequent.

Frage 1: Kann es auf dieser Insel einen Einwohner geben, der behaupten kann, ein Schurke zu sein?

Frage 2: Kann es einen Inselbewohner geben, der behaupten kann, er und sein Bru­der seien beide Schurken?

Frage 3: Angenommen, ein Einwohner sagt über sich und seinen Bruder: „Min­destens einer von uns ist ein Schurke.“ Zu welchem Typ gehören die bei­den?

Frage 4: Angenommen, er würde statt dessen sagen: „Genau einer von uns ist ein Schurke.“ Welche Schlüsse kann man über die beiden ziehen?

Frage 5: Angenommen, er würde statt dessen sagen: „Mein Bruder und ich ge­hö­ren zum gleichen Typ; wir sind entweder beide Ritter oder beide Schurken.“ Was könnte man dann über die beiden schließen?

Smullyans Rätsel brauchen keine Musterlösung: Hat man des Rätsels Lösung gefunden, überprüft man deren Korrektheit einfach anhand des Texts.

Rätsel für’s Glück

Am liebsten sind mir Rätsel, die ohne Musterlösung auskommen und die darüber hinaus echte Herausforderungen sind: Man quält sich stunden-, tage- oder gar wochenlang damit herum; je größer diese Qual, desto stärker das Glücksgefühl, wenn man schließlich auf die Lösung gekommen ist. Dieser Weg zum Rausch ist kostenlos und vor allem straffrei. Diese Rätsel leben davon, dass der Rätselfreund die Lösung zwar schwer findet, sie aber zweifelsfrei als solche erkennt. Es sind echte Probleme mit Aha-Effekt. Es folgen ein paar Beispiele dazu. Mehr davon auf meiner Seite Schöpferisches Denken – Heuristik.

Zerlegung

Zerlegen Sie eine Milliarde in zwei Faktoren, in denen keine Null vorkommt. Gibt es mehrere Lösungen?

Einbahnstraßen

Stellen Sie sich vor, dass in einem Land alle Städte nur über Einbahnstraßen miteinander verbunden sind. Zwischen je zwei Städten gibt es genau eine derartige Straße. Beweisen Sie, dass es in diesem Land eine Stadt geben muss, die von jeder anderen Stadt entweder direkt oder über höchstens eine weitere Stadt erreicht werden kann.

Platzanweisung

Die Passagiere stehen Schlange, um ein vollständig ausgebuchtes Flugzeug zu besteigen. Die erste Person der Schlange hat ihre Bordkarte verloren. Die Stewardess erlaubt ihr, einen beliebigen der freien Plätze zu besetzen. Falls einer der weiteren Passagiere Anspruch auf einen bereits besetzten Platz hat, darf auch er sich unter den verbleibenden einen beliebigen aussuchen. Wie groß ist die Chance des letzten Passagiers, dass er auf dem Platz landet, der ihm gemäß Bordkarte zusteht?

Selbstbezug

Schreiben Sie eine zehnstellige Zahl, deren erste Ziffer angibt, wie viele Nullen in ihr vorkommen, deren zweite sagt, wie viele Einsen, deren dritte, wie viele Zweien, und so weiter.

Ungerade gewinnt

Bei diesem Zweipersonenspiel geht es darum, von einem Stapel mit 19 Münzen im Wechsel Münzen wegzunehmen. In jedem Spielzug können eine oder zwei Münzen genommen werden. Gewonnen hat, wer schließlich eine ungerade Anzahl von Münzen hat. Für einen der beiden Spieler gibt es eine sichere Gewinnstrategie. Wie sieht sie aus? Wer gewinnt? Derjenige, der anfängt oder der andere?

Zehn Logiker

Im Raum sind zehn Logiker und der Spielleiter.  Der Spielleiter verbindet den Logikern die Augen und malt jedem von ihnen einen farbigen Punkt auf die Stirn. Dann nimmt er die Augenbinden ab und sagt: „Jeder von Ihnen hat einen farbigen Punkt auf der Stirn. Jeder von Ihnen kann mit vollkommener Sicherheit schließen, welche Farbe sein Punkt hat. Sobald jemand weiß, welche Farbe sein Punkt hat, verlässt er den Raum. Reden und Zeichengeben sind nicht erlaubt.“ Nachdem sich die Logiker gegenseitig betrachtet haben, verlassen alle den Raum. Was ist passiert?

Rätsel mit offenem Ende

Es gibt Rätsel, mit denen sogar die Meister des Fachs ihre Schwierigkeiten haben. Bereits die Suche nach einer möglichen Lösung ist nicht ganz ohne Komplikationen und dann stellt sich auch noch heraus, dass die Lösung möglicherweise nicht eindeutig ist. Die Suche geht weiter – vielleicht endlos.

Martin Gardner (1914-2010) stellt im Spektrum der Wissenschaft 2/1980 ein Problem vor, das er selbst als „unmöglich“ bezeichnet: Susanne und Peter sind gut in Mathematik; sie bekommen vom Spielleiter zwei Zahlen zugesteckt. Susannes Zahl ist die Summe zweier Zahlen und y, beide wenigstens gleich zwei; Peters Zahl ist das Produkt dieser Zahlen. Nach einiger Zeit sagt Susanne zu Peter: „Ich sehe keine Möglichkeit, wie du meine Summe bestimmen könntest.“ Später antwortet Peter: „Ich kenne jetzt deine Summe.“ Darauf Susanne: „Nun kenne ich auch dein Produkt.“ Wie lauten die beiden Zahlen x und y?

Martin Gardner hat in seiner Aufgabenstellung den Zahlenbereich begrenzt. Als er die Lösung bekanntgeben wollte, fiel ihm auf, dass unter dieser Begrenzung die Aufgabe gar nicht zu lösen war. Ich verzichte auf eine solche Obergrenze und empfehle nur, mit kleinen Zahlen anzufangen; man sieht dann schon selbst, wie weit man gehen muss, um eine Lösung zu finden.

Julian Havil hat in seinem Rätselbuch von 2008/2009 („Das gibt’s doch nicht“) den Zahlenbereich deutlich erweitert und mit Computerhilfe eine ganze Reihe weiterer Lösungen gefunden. Ich werde keine Musterlösung bringen, aber Hinweise in Richtung Lösung. Der Rätselfreund, der sich den Spaß an der Sache nicht verderben will, überspringt besser den Rest dieses Kapitels.

Lösungshinweise (Achtung: Spoiler!). Zunächst einmal machen wir uns klar, dass die Ausgangszahlen keine Primzahlen sein können, denn dann hätte Peter sofort gesehen, was Sache ist, weil es nur eine mögliche Zerlegung des Produkts in zwei Zahlen gibt, nämlich x und y. Susannes Aussage, dass sie für Peter keine Möglichkeit sieht, die zwei Zahlen und damit die Summe zu bestimmen, setzt voraus, dass die ihr bekannte Summe nicht primbar ist. Eine Zahl nenne ich primbar, wenn es zwei Primzahlen mit genau dieser Summe gibt. Beispiele: 11 ist nicht primbar, 12 hingegen schon, da nämlich 12=5+7.

Da wir Susannes Summe nicht kennen, müssen wir uns über die nicht primbaren Zahlen der Lösung nähern. Die Zahlen 11, 17, 23, 27, 29, 31, 35 und 37 sind nicht primbar. Alle anderen Zahlen kleiner 37 sind primbar, kommen für die Lösung also nicht  infrage. (Es gibt größere nicht primbare Zahlen. Wir hoffen jedoch, dass wir mit den hier genannten auskommen und wenigstens eine Lösung finden können.)

Wenn Peter antwortet, dass er nun die Summe kenne, muss die nicht primbare Summe auch für ihn aufgrund seiner Kenntnis des Produkts eindeutig bestimmt sein. Bei der nicht primbaren Summe 11 sind die Produkte 18 (2 mal 9), 24 (3 mal 8) und 28 (4 mal 7) eindeutig. Alle anderen Zerlegungen dieser Produkte laufen auf nicht primbare Summen hinaus. Dasselbe gilt für das Produkt 52 (4 mal 13) in der Reihe der nicht primbaren Summe 17. Wir kennen nicht Peters Produkt und auch nicht, ob 11 oder 17 die Sache trifft.

Nun kommt Susannes Antwort ins Spiel, dass sie inzwischen das Produkt kenne: Hätte sie die Summe 11, gäbe es mehrere Kandidaten und sie könnte sich nicht sicher sein, um welches Produkt es sich handelt. Eindeutigkeit herrscht bei der Summe 17 und dem Produkt 52. Genau das werden wohl die Zahl sein, die Susanne und Peter genannt bekommen haben. Das gesuchte Zahlenpaar (x, y) ist folglich (4, 13).

Rätsel mit Streitpotential

Eine hochinteressante Sorte von Rätseln ist die, bei denen der Rätselfreund schnell fündig wird: Er kennt nach kurzen Überlegungen die Lösung – seine Lösung. Dann geschieht Wunderliches. Der Rätselfreund erfährt, dass es anderen Rätselfreunden genauso geht: Sie haben ihre Lösung schnell gefunden. Jedoch: deren Lösungen sind nicht die seine! Dieser Situation können Dispute entspringen, die sich teilweise über Jahrzehnte hinziehen. In den Hoppla!-Artikeln Kontroverse um das Drei-Türen-Problem (Ziegenproblem) dauert an und  Dornröschen und die subjektiven Wahrscheinlichkeiten habe ich darüber geschrieben.

Ein Rätsel schleicht sich an

Vor über dreißig Jahren sah ich einen Film mit Sean Connery in der Hauptrolle. Etwas verstörend fand ich den Titel des in einem mittelalterlichen Kloster spielenden Films: „Der Name der Rose“. Das habe ich gleich wieder verdrängt. Aber der Titel kam im Bekanntenkreis zur Sprache, der Rundfunk und die Zeitungen brachten ihn in Erinnerung. Der rätselhafte Titel begann zu wurmen.

Beruflich erfuhr ich vom wissenschaftlichen Werk des Schöpfers: Der Semiotiker Umberto Eco (1932-2016) untersuchte Zeichen und deren Bedeutung. Der Titel muss einen tieferen Sinn haben! Das Rätsel wurde jetzt auch mir offenbar.

Ich sehe inzwischen den Titel in Zusammenhang mit dem Universalienproblem. Letzteres war ein Thema der Scholastik und mithin Thema in den mittelalterlichen Klöstern. Das macht den Titel zu einem Paradoxon: Die Rose hat keinen Namen. (Es sei  denn, man meint eine ganz bestimmte individuelle Rose – im Garten oder in der Vase).

Ein Freund hat seine eigene Interpretation: das Mädchen, das ist die Rose. Es passt: Das Mädchen, eine der Hauptfiguren des Films, bleibt namenlos.

Zumindest in der Denkwelt des Umberto Eco stellt sich das so dar: „Semiotische Objekte sind das rechtwinklige Dreieck, die Frau, die Katze, der Stuhl, die Stadt Mailand, der Mount Everest, der Artikel 7 unserer Verfassung, die Pferdheit – und unter den semiotischen Objekten gibt es auch solche, die durch Eigennamen ausgedrückt werden, und in diesem Sinne sind nicht nur Leute wie Julius Cäsar semiotische Objekte, sondern sogar – angenommen es gibt sie irgendwo – Leute wie Fritz Hinz und Franz Kunz und Lieschen Müller, die ja nicht nur physischen Entitäten sind, sondern […] auch Ensembles von Eigenschaften.“ (Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis. 2019, S. 186)

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Joker Trump

Zwei Ereignisse der vergangenen Woche haben mich bewegt. Der Besuch des Films „Joker“ mit Joaquin Phoenix und die Anhörung der Marie Yovanovitch vor dem Ausschuss des Kongresses im Zuge der Vorermittlungen für ein mögliches Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump. Yovanovitch war bis zu ihrer Abberufung im vergangenen Mai Botschafterin der Vereinigten Staaten in der Ukraine.

Gerade als Yovanovitch beschreibt, wie der US-Präsident das Vertrauen in Amerika unterminiert hat, ergreift der Vorsitzende des Ausschusses Adam Schiff das Wort und erklärt, dass der Präsident sie gerade eben erneut über Twitter angegriffen habe mit den Worten: Alles was Marie Yovanovitch angefasst hat, ging schief („Everywhere Marie Yovanovitch went turned bad“). Die Diplomatin ringt sichtlich um Fassung, aber sie wahrt ihre Würde. Auch Schiff rastet nicht aus und meint ziemlich ruhig, dass einige der Anwesenden die Einschüchterung von Zeugen sehr ernst nähmen.

Das ungeheuerliche  Verhalten des US-Präsidenten macht mich fassungslos – ein Rüpel, wie er im Buche steht.

Aber hoppla! Dieser Mann will genauso wahrgenommen werden. Ich erahne, was hinter seinem Verhalten steckt und beginne, die milde Reaktion des Ausschussvorsitzenden zu verstehen.

Der Präsident der Vereinigten Staaten pflegt seinen Ruf als erratischer Wüterich mit einiger Hingabe. Auch die Kampagne zu den „alternativen Wahrheiten“ passt ins Bild. Es steckt ein System dahinter. Führende Demokraten haben Trumps Spiel offenbar durchschaut: Sie lassen sich nicht provozieren.  Mit ihrer Selbstbeherrschung tun sie mehr für die Demokratie als jeder Sonntagsredner.

Wie funktioniert Trumps Spiel?

Nach dem aktuellen Film „Joker“ habe ich mir den Film „The Dark Knight“ von 2008 wieder einmal angeschaut. Darin wird der Joker in Aufsehen erregender Weise durch Heath Ledger verkörpert. Dieser Film bietet eine mögliche Erklärung für die beunruhigenden Ereignisse vom letzten Freitag in Washington.

Niederträchtig bringt der Joker den Batman Bruce Wayne und den Weißen Ritter Harvey Dent in eine Dilemma-Situation. Dent verliert seine Geliebte Rachel Dawes. Dent, der eigentlich zur Rettung der verkommenen Gotham City auserwählt war, beginnt einen Rachefeldzug und will Selbstjustiz üben. Batman greift ein, Dent kommt ums Leben und Batman nimmt Dents Schuld auf sich, um dessen Ruf zu retten. Batman wird zum Dunklen Ritter. Joker hat es geschafft, die „Guten“ auf sein verbrecherisches Niveau herunterzubringen.

Ich sehe Analogien: Trump zielt meines Erachtens darauf ab, dass seine Gegner zu unüberlegten und niederträchtigen Gegenangriffen übergehen. Dann kann er sagen, dass seine Gegner auch nicht besser seien als er selbst. Das immunisiert ihn und er kann ungestraft Lügengespinste als Wahrheiten ausgeben. Bei seinen Anhängern verfangen diese offenbar. Seine Gegner haben, falls Trumps Rechnung aufgeht, keine wirksame Handhabe dagegen. Es läuft wie bei der Tu-quoque-Strategie des Jokers.

Es gibt auch eine Analogie zwischen den USA und Gotham City: Die desolaten Zustände der öffentlichen Versorgung, unter denen viele zu leiden haben, das Auseinanderdriften von Arm und Reich bilden das Milieu, das den Joker ermöglicht. Diese Lage hat der Joker nicht zu verantworten.

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Dornröschen und die subjektiven Wahrscheinlichkeiten

Mag sein, dass wir, Donald Trump folgend, lernen müssen, mit subjektiven Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Es gibt Wahrscheinlichkeitstheoretiker, die meinen, auf die subjektiven Wahrscheinlichkeiten nicht verzichten zu können. Das Dornröschen-Rätsel dient ihnen als Demonstrationsobjekt. Aber das Rätsel lässt sich allein mit Häufigkeitsüberlegungen bewältigen. Diese Lösung ist intersubjektiv vermittelbar, also objektiv. Die Anwendung der subjektiven Wahrscheinlichkeiten führt hingegen zu unnötigen Diskussionen, wie der Artikel von Pöppe (2019) sehr schön klar macht.

Das Problem

Dornröschen ist höchst vergesslich. Heute schon weiß die Schönheit nicht mehr, was gestern war. Der Prinz hat sie gerade wachgeküsst und sagt: „Am vergangenen Sonntag wurde eine Münze geworfen. Sage mir: Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Münze Kopf zeigt? Ich sage Dir jetzt nicht, welchen Tag wir haben, aber Du sollst wissen, dass ich Dir diese Frage am Montag stelle und,  falls am Sonntag Zahl oben war, auch am Dienstag.“

Welche Antwort sollte Dornröschen geben?

Lösungsvorschlag mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten

Der Subjektivist betrachtet die drei möglichen Ereignisse MK, MZ und DZ. M steht dabei für Montag, D für Dienstag, K für Kopf, Z für Zahl und MK für das Produkt (den Durchschnitt) von M und K, und so weiter. Diesen Ereignissen weist er subjektive Wahrscheinlichkeiten zu. Dabei nutzt er das Indifferenzprinzip: „Wenn keine Gründe dafür bekannt sind, um eines von verschiedenen möglichen Ereignissen zu begünstigen, dann sind die Ereignisse als gleich wahrscheinlich anzusehen.“ (Carnap/Stegmüller, 1959)

Dem Indifferenzprinzip folgend ist leicht einzusehen, dass Kopf und Zahl am Montag gleich wahrscheinlich sind: p(MK)=p(MZ). Der Subjektivist nimmt auch für die Ereignisse MZ und DZ die Gültigkeit des Indifferenzprinzips an und setzt p(MZ)=p(DZ). So schließt er darauf, dass die drei Ereignisse alle dieselbe Wahrscheinlichkeit haben und dass, wegen p(MK)=1/3, Dornröschen diese Antwort geben sollte: „Die Wahrscheinlichkeit für Kopf ist gleich 1/3.“

Zweifel an der Lösung

Die Gleichwertigkeit von  MK und MZ ist leicht einzusehen; sie basiert auf der Annahme einer fairen Münze und diese berechtigt zur Anwendung des Indifferenzprinzips.

Aber hoppla! Wie steht es mit den Ereignissen MZ und DZ? Hier ist mir die Anwendung des Indifferenzprinzips nicht geheuer. Diese Ereignisse finden beide statt, oder keines von beiden. Hier taucht ein neuer Gedanke auf, nämlich dass Dornröschen beim Aufwachen mit einem der beiden Ereignisse zu tun hat und nicht weiß, mit welchem von beiden. Sie kann auf Gleichwahrscheinlichkeit tippen und kommt so zur obigen Lösung.

Aber mir will – anders als beim Münzwurf – dieser Gedankengang nicht ohne Weiteres in den Kopf. Andere Subjektivisten treffen tatsächlich auch andere Annahmen, wie Christoph Pöppe berichtet. Aus deren Sicht könnte sich Dornröschen sagen, dass sich die Chancen, die am Montag fifty-fifty stehen, in der Nacht zu Dienstag nicht ändern können.  Daraus schließt sie, dass sie den Wert ½ nennen sollte – sei nun Montag oder Dienstag.

Objektiv gesehen

Mein Gedankengang folgt der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre; er beruht auf dem Häufigkeitsargument und hat den Vorteil, dass sich sein Resultat mittels Experiment nachprüfen lässt.

Um zu einer Statistik zu kommen, denken wir uns den Versuch n mal. An etwa n/2 Montagen trifft die Antwort „Kopf“ zu. Falls diese Antwort nicht stimmt, folgt ein Dienstag, also ein weiterer Tag, für den die Antwort nicht stimmt. Die Zahl der Befragungstage ist gleich n+n/2. An n/2 Tagen liegt Dornröschen mit „Kopf“ richtig, an allen anderen nicht. Das ergibt eine relative Trefferhäufigkeit von 1/3 für Kopf, und genau diese Zahl sollte Dornröschen  nennen.

Das Gedankenexperiment zeigt, dass die einander ausschließenden Ereignisse MK, MZ und DZ bei mehrmaliger Wiederholung des Versuchs im Grenzfall alle mit derselben relativen Häufigkeit auftreten. Daraus folgt, dass sie für das vergessliche Dornröschen gleich wahrscheinlich sind: p(MK)=p(MZ)=p(DZ). Die Gleichwertigkeit von MZ und DZ ist ein Nebenprodukt der frequentistischen Überlegung. Das Indifferenzprinzip wird dafür nicht gebraucht.

Fazit

Wer bei stochastischen Problemen nicht in Schwierigkeiten kommen will, der sucht am besten nach einer Häufigkeitsinterpretation und nach der Möglichkeit experimenteller Belege für seine Lösungsvorschläge. Ein Beispiel ist das Drei-Tassen-Experiment, mit dem ich meine Söhne von der korrekten Lösung des Ziegenproblems überzeugen konnte.

Subjektive Wahrscheinlichkeiten beruhen auf einer ausgiebigen Nutzung des Indifferenzprinzips. Dabei ist zuweilen nicht klar, inwieweit dessen Anwendung berechtigt ist.

Quellen

Carnap, Rudolf; Stegmüller, Wolfgang: Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit. 1959

Pöppe, Christoph: Mathematische Unterhaltungen. Dornröschen und die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Spektum der Wissenschaft 11/2019, S. 80-84

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Wie verlässlich ist die Wissenschaft?

Vertrauen in Kollaborationen

Mit wohl berechtigtem Stolz überreicht mir ein Freund seine neueste wissenschaftliche Veröffentlichung: Sechs Seiten Inhalt plus eineinhalb Seiten für die Auflistung der insgesamt zweihundert Autoren. Meine nur verhaltene Begeisterung erzeugt bei ihm eine leichte Verstimmung. Dem Klima nicht förderlich ist auch mein Hinweis auf den Ig-Nobel-Preis für Literatur(!) des Jahres 1993, der an die 976 Autoren einer knapp zehnseitigen Medizinstudie ging.

Mein Freund meint, dass heute in den üblichen großen Kollaborationen der Teilchenphysik diese Veröffentlichungskultur gang und gäbe und dass die Qualität der Arbeiten durch kollaborationsinterne Gremien und Verfahren sichergestellt sei.

Ich frage mich: Wohin ist sein Urheberrecht verschwunden? Wie lässt sich in einer solchen Kultur die kreative Leistung von Forscherpersönlichkeiten erkennen? In Berufungsverfahren für Professoren spielt ja die Liste der Veröffentlichungen eine zentrale Rolle. Ich kann den Wert solcher Listen nun nicht mehr erkennen. Daran gezweifelt habe ich ja schon vorher. Wenn ein und dieselbe Veröffentlichung auf den Listen von zweihundert Leuten auftaucht, dann handelt es sich um eine Inflation. Ein Leistungsnachweis kann das nicht mehr sein.

Vor allem ist es eins: Gleichmacherei. Im Abspann von Filmen wird wenigstens mitgeteilt, was die Genannten gemacht haben: Produktion, Regie, Schauspielerei, Maske, Schnitt, Musik, Tricktechnik, Brötchen holen, Leute von Ort zu Ort fahren und so weiter.

Wir alle, auch der Wissenschaftler, sind in fast jedem Fach Laien. Unsere Urteilskraft beruht ganz wesentlich auf Auskünften von Leuten, denen wir vertrauen. Woran soll man sich denn halten, wenn nicht an den guten Ruf großer Namen. Wir verlassen uns auf Institutionen und Redaktionen, deren Verfassungen und Statuten vertrauenswürdige Wissenschaftler und Publizisten an die Front bringen. Von den Publikationsprozessen verlangen wir durchschaubare Kompetenzregelungen und Verantwortungsabgrenzungen, kurz: Transparenz.

Durch Gleichmacherei und durch ein für Außenstehende nicht durchschaubares Qualitätswesen entzieht sich Wissenschaft weitgehend der Beurteilung.

Große Kollaborationen sind heute unvermeidbar, die Autorenvielzahl ist es nicht. Es geht anders. Man kann der Kollaboration beispielsweise einen Namen geben und als eigenständigen Organismus behandeln. Als solcher kann er auch Reputation gewinnen.

Ein berühmtes Beispiel aus dem Fach Mathematik ist das Autorenkollektiv unter dem Namen „Nicolas Bourbaki“. Als Autor des Werkes tritt nur das Kollektiv in Erscheinung. Bei Bourbaki wurde sogar geheim gehalten, wer Mitglied ist.

Verantwortung für das Werk trägt das Kollektiv in seiner Gesamtheit. Und nur ihm gebührt der Ruhm und auch nur das Kollektiv hat einen Ruf zu verlieren.

Eine Kollaboration oder ein Kollektiv kann sich nicht um eine Professorenstelle bewerben. Aber es spricht nichts dagegen, wenn Einzelne heraustreten und durch eigene Veröffentlichungen zu persönlicher Reputation gelangen. Genau das ist bei Bourbaki passiert: Durch mein Studium kenne ich Bücher von Henri Cartan und Jean Dieudonné. Allein ihr Schreibstil macht klar: Das sind Bourbakisten. Inzwischen ist bekannt, dass sie Gründungsmitglieder des Autorenkollektivs waren.

Die Arbeit meines Freundes schätze ich, weil ich etwas über seinen Beitrag zur Kollaboration weiß. Der Bericht der zweihundert Autoren hat meiner Wertschätzung nichts hinzugefügt.

Ich kann den Mitgliedern von Berufungskommissionen oder vergleichbaren Gremien nur raten, sich nicht auf die Längen der von den Bewerbern eingereichten Literaturlisten zu verlassen. Gerade bei Arbeiten mit mehreren Autoren lohnt sich die genaue Nachforschung, welchen Beitrag der Bewerber tatsächlichen geleistet hat.

Suche nach dem Gral

Die meisten Skeptikerorganisationen erklären das kritische Denken und die Wissenschaft zur Basis ihrer Arbeit. Nur so könne man zu verlässlichem Wissen kommen, das es erlaubt, rein illusionäres Denken und Pseudowissenschaft als solche zu erkennen.

Im letzten Hoppla!-Artikel war von Skeptikern die Rede, die verblüfft feststellten, dass manches, was sie als „unwissenschaftlich“ bezeichneten, eben doch Wissenschaft im landläufigen Sinne ist. Umgekehrt steht auch die in Skeptikerkreisen beliebte Beteuerung, das eigene Argument sei „wissenschaftlich erwiesen“, auf ziemlich wackeligem Fundament.

Wir wollen einmal davon ausgehen, dass Wissenschaft das ist, was der Wissenschaftsbetrieb ausbrütet und für glaubhaft erklärt. Wir haben auch eine grobe Vorstellung davon, was unter Wissenschaftsbetrieb zu verstehen ist. Ganz grundlos ist unser Vertrauen in die Wissenschaft nicht, denn immerhin funktioniert die uns umgebende Technik ganz ordentlich, und diese ist das gänzlich praktische Resultat wissenschaftlichen Treibens.

Nicht immer liegt die Sache so klar vor uns, vor allem dann nicht, wenn es um die Erforschung des Scheuen und Flüchtigen geht, um schwache und launische Effekte und um Vorgänge, die mutmaßlich spiritueller Natur sind. Dann kommt die wissenschaftliche Vorgehensweise an ihre Grenzen. Es ist Forschung zu Themen, die vielleicht gar keine sind; sie gleicht einer streng wissenschaftlichen Suche nach dem Gral.

Was beispielsweise die Psi-Forscher treiben, sieht nicht nur nach Wissenschaft aus, es genügt auch den strengen Maßstäben der wissenschaftlichen Arbeitsweise. Dennoch bleibt die Frage, ob das, was sie wissenschaftlich (unter)suchen auch tatsächlich existiert. Dem Skeptiker fällt es nicht leicht, eine Tätigkeit, die sich mit etwas Nichtexistenten befasst, als Wissenschaft zu akzeptieren. Aber genau das ist die Frage: Gibt es Psi wirklich nicht? Im vorletzten Hoppla!-Artikel habe ich herausgestellt, wie eine Pattsituation zwischen Forschern und Skeptikern entstehen kann.

Ähnlich sieht es bei einigen Studien der Karl und Veronica Carstens-Stiftung aus. Darin geht es vornehmlich um die Wirksamkeit der Homöopathie. Aber gerade diese Wirksamkeit stellt der Skeptiker grundsätzlich infrage.  Für ihn ist es die wissenschaftliche Untersuchung von etwas, das es nicht gibt. Aber dennoch ist es augenscheinlich Wissenschaft.

Die Übergänge zur Mainstream-Wissenschaft sind fließend. Denn was ist davon zu halten, wenn ein großes staatlich gefördertes Forschungsprojekt darauf angelegt ist, die Neutrinomasse zu bestimmen? Eine frühe Hypothese lautet, dass diese Masse gleich null ist. Das Projekt hat nun ergeben, dass man mit großen messtechnischen Anstrengungen die Abschätzung der Obergrenze der Neutrinomasse von vormals 2 eV auf 1,1 eV hat senken können. (Gemessen wird die der Masse entsprechende Energie.) Da das Projekt noch weiter läuft, kann man nur hoffen, dass im Laufe der Zeit noch eine Untergrenze für die Masse herauskommt. Damit wüsste man dann wenigstens, dass es den Gral tatsächlich gibt. (Es gibt Schätzungen der Untergrenze auf der Grundlage von Modellen. Direkte Messungen haben so etwas bisher nicht ergeben, wie ich auf Nachfrage erfahren habe.)

Spektakuläres zieht – die Widerlegung nicht

Den Ig-Nobel-Preis 2019 für Psychologie bekam der Würzburger Professor Fritz Strack zugesprochen, und zwar für die Entdeckung, dass ein Stift, quer im Mund gehalten, einen zum Lächeln bringt und dabei glücklicher macht – und für die Entdeckung, dass das nicht stimmt.

In den letzten Jahren hatten mehrere Forscher an Tausenden von Probanden Stracks These überprüft. Neun Studien sahen den Effekt, acht Studien fanden das Gegenteil. Dies wirft ein Schlaglicht auf die Replikationskrise in der Psychologie. „Viele Ergebnisse klassischer Experimente dieses Fachs lassen sich nicht reproduzieren, wenn andere Forscher sie nachzumachen versuchen“ (Christoph Drösser in Zeit online vom 13. September 2019).

Es ist eine viel beklagte Tatsache, dass wissenschaftliche Zeitschriften sehr gern spektakuläre Resultate bringen. Gescheiterte Replikationsversuche haben eine geringere Chance, an die breite Öffentlichkeit zu gelangen. Das verzerrt das, was wir den Stand der Wissenschaft nennen.

Das  Bleistift-Beispiel bringe ich, weil es mir meine eigene Leichtgläubigkeit vor Augen geführt hat. Ich schätze die Arbeiten von Daniel Kahneman sehr hoch ein und ich habe einige seiner Ergebnisse in meine Denkfallen-Studien einfließen lassen. Kahneman ist Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2002. Er vertritt Stracks Bleistift-These im Buch „Thinking, Fast and Slow“ (2011, S. 54).  Ich habe die These zwar nicht weiter verbreitet, aber einfach so hingenommen.  Das hätte ins Auge gehen können. Die Lehre daraus: Ein Skeptiker sollte auch angesichts von Autoritäten seine Kritikfähigkeit nicht über Bord werfen.

Fragwürdige Methoden der Wissenschaft

Von den fragwürdigen Methoden der Wissenschaft war im Hoppla!-Artikel über Psi-Forschung die Rede. Sie bedrohen die Glaubwürdigkeit dessen, was wir den Stand der Wissenschaft nennen. Im Buch „Die Pharma-Lüge“ von 2013 stellt Ben Goldacre die Typen schlechter Studien zusammen. Ich liste hier einige der unethischen Methoden auf und charakterisiere sie ganz knapp.

Offener Betrug  liegt vor, wenn ein Wissenschaftler Messergebnisse fälscht oder gar rundheraus erfindet.

Fishing for Significance. Der Forscher erweckt fälschlich den Eindruck, sämtliche Versuche einer Versuchsreihe sauber protokolliert zu haben, stattdessen hat er, zur Erzielung einer spektakulären Veröffentlichung, eine passende Auswahl getroffen. Das damit einhergehende Publication Bias verfälscht das Bild der Wissenschaft. Eine Variante dieser fragwürdigen Praxis ist das vorzeitige Abbrechen einer Studie, wenn das gewünschte Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist. Auch das Gegenteil kommt vor: Weitermachen, bis sich das gewünschte Ergebnis zeigt.

Vorsortierte Test- und Kontrollgruppe. Der Hoppla!-Artikel Artikel „Schlank in 14 Tagen“ mit Skepsis betrachtet zeigt einen solchen Fall: Es ging um den Wirkungsnachweis für ein Fitnessgerät. Für den Test wurden Produktanwender und Kontrollgruppe nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die Leute der Kontrollgruppe waren im Mittel schlanker und ihre Chance abzunehmen dadurch von vornherein geringer. Von verzerrten Stichproben in der Medizin ist die Rede, wenn Goldacre schreibt (2013, S. 208): „Die meisten Studien, auf deren Basis in der Praxis medizinische Entscheidungen getroffen werden, erproben Arzneimittel an nicht repräsentativen Idealpatienten, die häufig jung sind, nur eine einzige Diagnose vorweisen, kaum andere gesundheitliche Probleme haben und so weiter.“

Zu kleine Stichprobe. Die Aral-Studie, von der ich in meinem Buch „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“ (2016) berichte, ist ein Beispiel dafür, wie man mit kleinen Stichproben zu reißerischen und zugleich inhaltsarmen Schlagzeilen kommt. Von den dreihundert Personen, darunter gleich viele Frauen und Männer, haben beim Autokauf zwölf Frauen und nur sechs Männer einen Ford gewählt. Zur Sensation aufgebauscht, liest sich das so: „4 % der Männer und 8 % der Frauen würden als nächsten Wagen einen Ford kaufen“.

Kreative Zielsetzung. Sie ist eine Variante des Fishing for  Significance. Hierbei ist es nicht die Vielzahl von Versuchen, aus denen gewählt wird, sondern es ist nur ein Versuch, der aber nach mehreren Beurteilungskriterien bewertet wird. Im Gesundheitswesen sind das beispielsweise Schmerz, Depression, Lebensqualität, Mobilität, Gesamtmortalität oder auch Sterbefälle nach bestimmten Ursachen. „Messen wir viele Faktoren, sind einige von ihnen am Ende nur aufgrund der natürlichen Zufallsvariation, die in allen Studien auftritt, statistisch signifikant verbessert.“ (Goldacre, 2013, S. 233)

Fragwürdige Forschungspraktiken verzerren den „Stand der Wissenschaft“.

Der Matthäus-Effekt

In Mt 13, 12 steht: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“ Volksnah formuliert: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.“ Der Zurückhaltende spricht vom Matthäus-Effekt.

Vor Jahren machte ich diese Erfahrung: Ich hatte einen wissenschaftlichen Beitrag an eine renommierte Zeitschrift eingereicht. Dort durchlief er das übliche Peer-Review-Verfahren. Der Gutachter empfahl mir, doch noch zwei Artikel eines bekannten Autors zu zitieren. Obwohl der Gutachter anonym blieb, war mir schnell klar, dass es sich um just jenen empfohlenen Autor handeln musste. Er war mir persönlich bekannt.

Manch ein Autor geht noch unverfrorener zu Werke. In der Amazon-Rezension zum Buch „Autopilot im Kopf“ schreibt Rolf Dobelli: „Carl Naughton hätte einen einfachen Ratgeber schreiben können, mit Tipps, wie man Denkfallen umgeht. Stattdessen wühlt er in den Tiefen unseres Gehirns und fördert erstaunliche Erkenntnisse zutage[…] Naughtons fundierte und unterhaltsame Überlegungen hätten eine sorgfältigere Gestaltung verdient, und sein Pech ist, dass das Buch kurz nach Rolf Dobellis Bestseller Die Kunst des klaren Denkens erscheint, welcher dasselbe Terrain beackert.“

Autoren bilden zuweilen Grüppchen und jubeln sich gegenseitig hoch, wie man sieht; und manche bejubeln gar sich selbst.

Auch ohne berechnende Absicht entsteht ein Matthäus-Effekt. Berühmte Autoren hält der unbefangene Leser für gut, nicht weil sie gut, sondern weil sie berühmt sind. Es kommt zu einem weitgehend qualitätsunabhhängigen Rückkopplungsprozess. In der Wissenschaft wirkt dasselbe Prinzip: vielzitierte Autoren müssen gut sein, also zitiert man sie ebenfalls und hofft so auf Anerkennung durch das Establishment. Also: Vorsicht bei der Interpretation bibliometrischer Maße und Ranglisten!

Anstelle der inhaltlichen Qualitäten werden Befindlichkeiten zu den treibenden Kräften. Das Resultat ist dann großenteils ohne Relevanz. Manche Diskussionen zu Wikipedia-Artikeln sind wunderbare Beispiele für derart sinnfreie Dynamik. In mehreren Hoppla!-Artikeln seziere ich die Auseinandersetzung zum sogenannten Ziegenproblem und führe vor, wie sich bewegte Diskussionen entwickeln, und zwar weitgehend unabhängig von den Inhalten.

Der Matthäus-Effekt bringt den Stand der Wissenschaft in Schieflage.

Fazit

Der Skeptiker beruft sich besser nicht allgemein auf den „Stand der Wissenschaft“. Er schaut im Zweifelsfall genauer hin und studiert den einen oder anderen Forschungsbericht und Übersichtsartikel, immer eingedenk der Täuschungsmöglichkeit. Er sucht auch nach Gegenmeinungen. Abwägen und zu einem Urteil kommen muss er schließlich selber. Dass bei diesem Prozess keine absolute Sicherheit entsteht, keine Wahrheit herauskommt, gehört zum Wesen der Wissenschaft.

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Pseudowissenschaft – Kampfbegriff oder mehr?

Kürzlich entspann sich unter Mitgliedern der Skeptikerbewegung eine Diskussion darüber, was man unter Wissenschaft und Pseudowissenschaft eigentlich zu verstehen habe.

Hoppla! Das ist doch das Thema der Bewegung von Anfang an, also seit mehr als drei Jahrzehnten. Das offizielle Ziel der Bewegung ist, dass man aus kritischer, wissenschaftlicher Sicht über Pseudowissenschaften informiert. Und es soll bis jetzt nicht gelungen sein, sich über diesen grundlegenden Begriff Klarheit zu verschaffen?

„Pseudowissenschaft“ klingt abschätzig, nach „falscher Wissenschaft“. Es ist also erst einmal ein Kampfbegriff. Die Skeptikerbewegung nutzt ihn gern bei ihren Angriffen auf fragwürdige Praktiken, Behauptungen und Überzeugungen. Dazu rechnet sie  Homöopathie, Astrologie, Telepathie, Intelligent Design, Quantenmystik und vieles andere. Auch Religion und Esoterik würde man am liebsten mit dem Verdikt „Pseudowissenschaft“ belegen.

Aber es geht nicht nur um Kampf. Hinter dem Bemühen um Klarheit der Begriffswelt steckt auch ein aufrichtiges Erkenntnisinteresse. In der Skeptikerbewegung hat es Tradition, sich um eine Definition des  Begriffs „Pseudowissenschaft“ zu bemühen. Ich halte es für ein gutes Zeichen, dass sich die Skeptiker immer wieder die Frage nach ihrem Selbstverständnis stellen.

Eine ungefähre Vorstellung von dem, was Skeptiker unter Pseudowissenschaft verstehen, liest sich in Kurzfassung so: Pseudowissenschaft ist etwas, das sich als Wissenschaft ausgibt aber keine ist.

Poppers Abgrenzung der Aussagesysteme

Wissenschaft hier – Pseudowissenschaft da. Wir brauchen also erst einmal eine Vorstellung davon, was Wissenschaft ist. Die Skeptiker holen sich Rat bei Karl Raimund Popper.

Popper geht es um Aussagen, Sätze und daraus gebildete Aussagesysteme der Erfahrungswissenschaft. Ein solches empirisch wissenschaftliches System müsse an der Erfahrung scheitern können, meint er (Logik der Forschung, Abschnitt 6). Dieses Kriterium der grundsätzlichen Falsifizierbarkeit dient Popper zur Abgrenzung der wissenschaftlichen Aussagesysteme von den nichtwissenschaftlichen.

Zu den nichtwissenschaftlichen Aussagen zählt Popper die metaphysischen und die pseudowissenschaftlichen (Vermutungen und Widerlegungen, Kapitel 11, Abschnitt 2).

Hier hakt der Skeptiker ein: Aussagen, die sich wissenschaftlich geben, die aber dem Kriterium der Falsifizierbarkeit nicht genügen, sind pseudowissenschaftlich.

Die aus dem popperschen Abgrenzungskriterium abgeleitete Definition der Pseudowissenschaft besitzt den Charme, sehr einfach zu sein. Sie hat nach wie vor viele Anhänger unter den Skeptikern. Intelligent Design gehört nach dieser Definition fraglos zu den Pseudowissenschaften, auch die Quantenmystik und allerlei andere fragwürdige Aussagesysteme. Auch die Religionen hat man so beim Wickel und manchen esoterischen Firlefanz.

Aber halt: Religion und Esoterik treten im Allgemeinen nicht mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auf. Sie nehmen sich also selbst aus dem Rennen; sie gehören zwar ins Reich der Metaphysik, nicht aber ins Reich der Pseudowissenschaften. Pseudowissenschaft und Metaphysik sind nicht deckungsgleich; das kommt jetzt zum Tragen. Den Unterschied hat Popper seinerzeit offenbar nicht scharf genug gesehen.

Es klemmt

Den Philosophen unter den Skeptikern fiel die Unzulänglichkeit des popperschen Kriteriums ins Auge: Manches, was für sie ganz eindeutig Pseudowissenschaft ist, erfüllt die Bedingung der Wissenschaftlichkeit: Die Astrologie macht konkrete Vorhersagen und die Homöopathie macht Heilversprechen. Vorhersagen und Heilversprechen lassen sich überprüfen. Also haben wir es mit wissenschaftlichen Aussagesystemen zu tun.

Für manch einen der Philosophen ist deshalb das Kriterium der Falsifizierbarkeit nicht dazu geeignet, die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu bestimmen. Manche von ihnen verwerfen es rundheraus, andere wiederum weisen ihm eine untergeordnete Rolle zu, als ein Unterscheidungsmerkmal unter vielen.

Metaphysik gegen Metaphysik

Gesucht war eine umfassendere Definition des Begriffes der Pseudowissenschaft, eine, die nicht nur die bekannten unprüfbaren Aussagesysteme des Intelligent Design und der Quantenmystik erfasst.

Führende Skeptiker wagten den Sprung ins Transzendente, sie legten sich eine Weltanschauung zu, die sich gegen die von ihnen abgelehnten Überzeugungen in Stellung bringen lässt, den Naturalismus, nach dem es eine denkunabhängige Realität gibt, die sich von uns auch erkennen lässt. Alles was der Erkenntnis dieser Realität mit ihren unwandelbaren Naturgesetzen dient, ist Wissenschaft. Demgegenüber steht das illusionäre Denken und die dadurch bestimmte Pseudowissenschaft.

So wird eine Metaphysik zum Maßstab der Wissenschaftlichkeit gemacht: Erkenntnisbereiche, die dem Maßstab nicht genügen, sind Pseudowissenschaft. Das Verdikt „Pseudowissenschaft“ wird bei dieser generellen Grundlegung zu einer Allzweckwaffe gegen alle ungeliebten Einstellungen. Endlich trifft es auch Religionen, insofern sie Erkenntnisansprüche erheben, und die Esoterik. Was bleibt, ist ein Kampfbegriff.

Ganz aus dem Auge verloren haben wir  nun, dass eine Pseudowissenschaft sich durchaus als Wissenschaft versteht. Manchem Skeptiker hat diese Einschränkung tatsächlich nie gefallen. Da der Wissenschaftsanspruch jetzt keine Rolle mehr spielen soll, kommt es zu einer Umbenennung. Pseudowissenschaften im soeben beschriebenen Sinne erhalten die Bezeichnung Parawissenschaft. Parawissenschaft umfassen die Pseudowissenschaften im herkömmlichen Sinn.

Aber auch der Begriff der Pseudowissenschaft selbst hat sich durch die naturalistische Begründung verändert: Ob etwas der Wissenschaft entspricht oder aber als illusionäres Denken einzustufen ist, dafür bleibt uns als Maßstab allein der Stand der Wissenschaft.

Abgesehen von der eingebauten Fortschrittsfeindlichkeit hat dieser Ansatz den Mangel, dass er eine unwissenschaftliche Metaphysik gegen die unwissenschaftliche Pseudowissenschaft ins Feld führt. Das kann man für absurd halten.

Aus guten Gründen verabschiedet sich die Skeptikerbewegung von dieser metaphysischen Grundlegung der Begriffe allmählich wieder.

Noch ein Ausweg: Kriterienkatalog

Es wächst die Ansicht, „dass ein einziges Allzweckkriterium zur Abgrenzung nicht zu finden ist“ (skeptiker 3/2010, S. 160). An seine Stelle tritt nun eine ganze Liste von Abgrenzungskriterien. Eine solche findet man im Positionspapier der GWUP zum Thema Parawissenschaft – Pseudowissenschaft vom 5.1.2010.

Neben den philosophischen Hintergrundannahmen sind es Kriterien zu folgenden Stichworten: Freiheit der Forschung, Widerspruchsfreiheit, Prüfbarkeit, Erklärungskraft, Vorhersagekraft, Objektivität, Anbindung an Nachbardisziplinen, Objektivität im Sinne der intersubjektiven Nachprüfbarkeit.

Viele der Kriterien – besser: Merkmale  – sind uns von Poppers Logik der Forschung her vertraut.

In dem Papier heißt es: „Mithilfe dieser und weiterer Kriterien lässt sich in aller Regel eine wohlbegründete Entscheidung treffen, ob ein Erkenntnisbereich den Parawissenschaften zuzurechnen ist oder nicht. Auch wenn eine solche Beurteilung nicht in jedem Fall zu einem eindeutigen Ergebnis führen mag, bleibt sie eine rational vertretbare und gut begründete Abgrenzung. Ein Erkenntnisbereich, der nur zu 70 bis 90 Prozent der zur Analyse genutzten Kriterien nicht erfüllt, kann immer noch zu Recht als Parawissenschaft betrachtet werden.“

Jetzt ist zwar nicht mehr die Metaphysik alleinentscheidend. Dafür ist die Beliebigkeit gewachsen.

Eine Debatte unter Skeptikern

Offensichtlich ist es die Unzufriedenheit mit dieser Situation, die einige Skeptiker bewogen hat, jetzt noch einmal in die Diskussion der Begriffe einzutreten.

  • Ich habe mich schon oft in die Nesseln gesetzt, weil ich etwas als „unwissenschaftlich“ bezeichnet habe, was im landläufigen Sinne eben doch der Wissenschaft entspricht.
  • Die Floskel „nach bewährtem Jahrtausende altem Wissen der Menschen …“ findest Du auch in fast jedem Esoterikbuch.
  • Von zentraler Bedeutung für die Erfahrungswissenschaft ist die grundsätzliche Falsifizierbarkeit. Es geht also um Übereinkünfte nach der Maßgabe, dass Widersprüchliches ausgesondert wird. Diese Auslese führt zur Evolution der Erfahrungswissenschaft. Gemeinsames Merkmal der Wissenschaften ist, dass ihnen soziale Prozesse zugrunde liegen: Wissen bildet sich durch Übereinkünfte. So entsteht objektive Erkenntnis.
  • In der Bewertung von Hypothesen oder Theorien ist Falsifizierbarkeit essentiell. Um (wissenschaftlich) nützlich zu sein, sollte ein Gedanke so präzise und nicht trivial formuliert sein, so dass er sich als falsch erweisen kann.
  • Auch wenn man Falsifizierbarkeit nicht binär sondern graduell deutet, liefert sie uns ein Kriterium, das Wissenschaften und Pseudowissenschaften völlig falsch klassifiziert. Nur ein Beispiel: Die vermeintliche Wirksamkeit der Homöopathie wurde durch hochwertige Studien getestet und damit – in einem ziemlich harten Sinne! – falsifiziert.
  • Es bleibt spannend zu sehen, wie lange es noch dauert, bis die Falsifikationisten dieses gescheiterte Abgrenzungskriterium endlich aufgeben.
  • Natürlich sind die Kernaussagen der Homöopathie ursprünglich wissenschaftliche Hypothesen – warum denn nicht? Sie sind halt widerlegt. Auf Basis dieser widerlegten Hypothesen weiterzuarbeiten, als wäre nichts passiert, das ist pseudowissenschaftlich.
  • Dann verwendest Du nicht das Falsifikationskriterium zur Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft, sondern ein anderes. Nach dem Falsifikationskriterium kann man die Pseudowissenschaftlichkeit einer Hypothese nicht datieren. Eine Hypothese ist entweder pseudowissenschaftlich oder nicht, und das gilt dann für alle Zeit.
  • Wie Du am Beispiel der Homöopathie aber richtig aufzeigst, ist der Status als Pseudowissenschaft oft zeitabhängig. Doch dann ist das Abgrenzungskriterium nicht mehr die Falsifizierbarkeit, sondern Anachronismus bzw. irrationales Festhalten an Überkommenem. Zudem meinen wir, wenn wir von Pseudowissenschaften sprechen, üblicherweise immer die Disziplin der Gegenwart.
  • Durch Widerlegung wird eine Wissenschaft nicht zur Pseudowissenschaft. Weitermachen, als sei nichts geschehen: das ist Pseudowissenschaft.
  • Und damit ist das Falsifikationskriterium vom Tisch. Denn hier geht es ja nicht mehr um Falsifizierbarkeit, sondern darum, dass de facto falsifiziert wurde. Das ist ein anderes Kriterium.
  • Für mich ist das Falsifikationskriterium zentral für die Auszeichnung wissenschaftlicher Aussagen. Der Stand der Wissenschaft besteht aus den momentan akzeptierten wissenschaftlichen Aussagen. Daneben gibt es den Abfallkorb der widerlegten Aussagen. Wer widerlegte wissenschaftliche Aussagen weiterhin vertritt, betreibt in meinen Augen Pseudowissenschaft. „Pseudowissenschaft“ meint demnach nicht die Aussagen an sich, sondern deren Gebrauch.
  • Das Falsifikationskriterium, so wie Popper es vertreten hat, ist kein geeignetes Abgrenzungskriterium für die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Popper hat diese Grenze wohl auch gar nicht allzu sehr interessiert. Poppers Abgrenzungskriterium betrifft die Aussagen an sich. Ihm ging es vor allem um wissenschaftliche Theorien und deren Abgrenzung zur Metaphysik.

Was können wir daraus lernen?

Offenbar ist eine neue Unterscheidung erforderlich: Einerseits sind da Aussagesysteme, Hypothese und Theorien – Sätze eben. Hier greift Poppers Abgrenzungskriterium der Falsifizierbarkeit: Wissenschaft einerseits, Metaphysik andererseits. Die Einordnung eines Aussagsystems als wissenschaftlich ist zeitunabhängig.

Andererseits gibt es die Disziplinen, Arbeitsgebiete mit darin akzeptierten Sätzen, Methoden und Verhaltensregeln. Ob eine Disziplin wissenschaftlich ist, kann sich mit der Zeit ändern.

„Pseudowissenschaft“ ist mehr als ein Kampfbegriff. Er steht für eine bedeutsame Abgrenzung. Als Pseudowissenschaften gelten

  1. metaphysische Aussagesysteme, die mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftreten und
  2. Disziplinen, die bereits widerlegte wissenschaftliche Aussagen weiterhin vertreten.

(In einem früheren Aufsatz über Pseudowissenschaft steht der Begriff „Parawissenschaft“ in der damals innerhalb der Skeptikerbewegung gebräuchlichen Bedeutung. Diese hat sich inzwischen verändert. Ich habe mich vor Jahren entschlossen, auf den Begriff zu verzichten und mich von der damit verbundenen Stoßrichtung abzuwenden.)

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Psi-Forschung und Skepsis

Psi ist jene Kraft, die hinter der Wahrsagerei, der Telepathie und der Telekinese und noch manch anderen Wunderlichkeiten stecken soll. Das Psi-Thema ist ein Dauerbrenner in der Skeptikerbewegung und es kocht auch im privaten Bereich immer wieder einmal hoch.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war das Psi Gegenstand ernsthafter Forschung. Inzwischen hat das wissenschaftliche Interesse daran nachgelassen. Das mindert aber nicht die Popularität des Psi.

Wer die Tragweite wissenschaftlicher Methoden kennenlernen will, dem bietet sich mit diesem Gebiet eine ganz vortreffliche Spielwiese. Die Kontrahenten auf dem Feld sind einerseits die Psi-Forscher und andererseits die Aktivisten der Skeptikerbewegung.

Der Psi-Forscher geht davon aus, dass Psi existiert. Gegebenenfalls lässt er sich eines Besseren belehren. Der Psi-Skeptiker geht davon aus, dass es Psi nicht gibt. Gegebenenfalls lässt er sich eines Besseren belehren.

Die Ganzfeld-Daten

Ein Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung von Psi ist der Ganzfeld-Datensatz (Ganzfeld Database). Er umfasst die Resultate von 128 Studien aus den Jahren von 1974 bis 2018, die dem sogenannten Ganzfeld-Protokoll folgen. Das Ziel dieses Protokolls ist, Täuschungen und auch Selbsttäuschungen möglichst auszuschließen (Broderick, Goertzel, 2015, Through Time and Space, S. 168 ff.).

In diesen Studien wird in jedem elementaren Test die Psi-Fähigkeit einer Versuchsperson (Empfänger) dadurch getestet, dass sie eins von vier möglichen Zielen identifiziert, das eine andere Person, der Sender, „sich vor Augen hält“. Ziel und Sender sind den Sinnen des Empfängers verborgen. Er kennt nur jeweils die vier Möglichkeiten. Zur Identifizierung des ausgewählten Ziels bleibt ihm allein das Psi.

Diese Versuchsanordnung und die damit einhergehende Statistik entsprechen denjenigen des Würzburger Psi-Tests.

Unter der Nullhypothese (kein Psi) ist die Trefferwahrscheinlichkeit im Ganzfeld-Test je Durchgang gleich 25%. In jeder der in der Database erfassten Studien wird dieser elementare Test mehrmals durchgeführt. Für jede der etwa hundert Studien kennen wir die Anzahl N dieser Elementartests und die Trefferrate (Hit Rate). Letztere ist gleich der in der Studie insgesamt erzielten Treffer geteilt durch (relative Trefferhäufigkeit).

Unter der Nullhypothese, also unter der Annahme, dass Psi nicht wirkt, genügt die Trefferzahl je Studie der (N, 25%)-Binomialverteilung. Unter dieser Bedingung lassen sich die Grenzwerte für Signifikanzniveaus bestimmen.

In der folgenden Trichtergrafik werden die Trichter durch die Grenzwerte für das 5%- und das 1%-Signifikanzniveau bestimmt. Innerhalb der Trichter werden also 95% bzw. 99% der Trefferraten erwartet unter der Bedingung, dass die Nullhypothese gilt. Werte außerhalb eines Trichters sind signifikant auf dem entsprechenden Niveau. Eingetragen in die Trichtergrafik sind je erfasster Studie die Trefferrate und der Stichprobenumfang N.

Unstrittiges

Der Ganzfeld-Datensatz wurde ausgiebig analysiert und es wurde eine Reihe von Metaanalysen durchgeführt. Die Regeln für die Metaanalysen (Auswahl und Gewichtung der einzelnen Studien) sind von Forscherpersönlichkeit zu Forscherpersönlichkeit im Allgemeinen verschieden. Daher ist es kein Wunder, dass manch einer zum Ergebnis kommt, dass die Daten nichts Besonderes zeigen und ein anderer wiederum erreicht ein unglaublich hohes Signifikanzniveau zugunsten von Psi.

In der Analyse der Ganzfelddaten hat sich auf Seiten der Psi-Forscher Charles Honorton hervorgetan und auf Seiten der Skeptiker Ray Hyman.

Wer den Stand der Diskussion zwischen Psi-Forschern und Skeptikern möglichst sachlich darstellen will, muss auch den Standpunkt der Gegenseite gebührend berücksichtigen. Ich liste hier das auf, was zwischen den Vertretern der Psi-Forschung und den Skeptikern unstrittig zu sein scheint. Zu diesem Zweck konsultiere ich, der Skeptiker,  ganz bewusst die Arbeiten der Psi-Forscher. Sie sind als Quellen angegeben.

  1. Psi-Effekte sind, falls existent, schwach und launisch; wissenschaftliche Tests klassischer Manier stoßen an Grenzen.
  2. Metastudien helfen nicht wesentlich weiter. Die Vorlieben des Forschers können sich auf das Analyseergebnis auswirken. Auswahl und Gewichtung der Studien hängen vom individuellen Urteil über Verdachtsfälle fragwürdiger Forschungspraktiken wie Fishing for Significance ab (Bierman et al., 2016).
  3. Die den möglichen Psi-Effekten zugrunde liegenden kausalen Mechanismen sind nach wie vor unbekannt.
  4. Ein praktischer Nutzen der Psi-Forschung ist nicht in Sicht. Die großen Förderer der Psi-Forschung, das US Militär und die Firma Sony, haben ihre diesbezüglichen Programme eingestellt.

Strittiges: die Messlatte

Den Skeptikern wird vorgeworfen, dass sie nach all den Anstrengungen und Erfolgen der Psi-Forscher die Messlatte der Signifikanz immer weiter hochsetzen. Wenn der Skeptiker Carl Sagan sagt „Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnlich starke Beweise“, dann können sich die Psi-Leute schon angefasst fühlen.

Als allgemeiner Wink mag dieses Skeptikermotto ja noch durchgehen; streng genommen haftet ihm etwas Fortschrittsfeindliches an. Gänzlich auf die schiefe Bahn gerät der Skeptiker, wenn er dieses Motto zu einem Gesetz erheben will und dazu die Bayes-Formel bemüht, wenn er also meint, dass ein Beleg für Psi angesichts der geringen A-priori-Wahrscheinlichkeit nicht weit führen kann.

Derartige Argumente führen ins Nirgendwo; es gibt nämlich keine allgemein akzeptierte Definition für die Hypothesenwahrscheinlichkeit. Auch die Häufigkeitsinterpretation bietet keinen Ausweg: Bayes-Schätzungen sind in diesem Zusammenhang irreführend.

Andererseits hat der Skeptiker durchaus Recht, wenn er dem Psi-Forscher vorwirft, die Messlatte der Effektstärke immer niedriger zu legen, so dass auch das schwachbrüstigste Psi sie noch überwinden könnte. Ein schwaches und launisches Psi lässt sich mit statistischen Methoden nicht dingfest machen und schon gar nicht ausschließen.

Welchen Zweck haben Psi-Tests heute?

Der 1. Punkt weiter oben zeigt, dass beispielsweise der Würzburger Psi-Test erfolglos bleiben wird. Weder positive Ergebnisse noch überzeugend negative sind zu erwarten. Das Psi ist – falls existent – offensichtlich zu schwach und zu launisch dafür. Da die Tests einheitlichen Regeln folgen, ist die Metastudie über sämtliche bisher durchgeführten Tests problemlos möglich. Aber auch diese Zusammenfassung der Tests hat bislang nichts Besonderes zutage gefördert. Und das ist auch zukünftig nicht zu erwarten.

Der Würzburger Psi-Test hat dennoch einen Sinn. Es geht weniger um die Frage, ob es Psi gibt und auch nicht darum, ob man sich angesichts der Beleglage weiterhin mit dem Nachweis pro oder kontra Psi abmühen soll. Der Psi-Test zeigt seinen Wert in der Aufklärungsarbeit und in der Demonstration wissenschaftlicher Arbeitsweisen. Die oben aufgelisteten vier Punkte sollten im Zentrum dieser Aufklärungsbemühungen stehen.

Quellen

Bierman, Dick J.; Spottiswoode, James P.; Bijl, Aron: Testing for Questionable Research Practices in a Meta-Analysis: An Example from Experimental Parapsychologie. PLOS ONE, 2016
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0153049

Broderick, Damien; Goertzel, Ben (Ed.): Evidence for Psi. Thirteen Empirical Research Reports. 2015

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Psi

Aufbruch ins dritte Jahrtausend

Gegen Ende meiner Schulzeit besorgte ich mir das Buch „Aufbruch ins dritte Jahrtausend“ von Pauwels und Bergier (1965). Ich war wissbegierig. Diese Schilderung geistiger Abenteuer der Menschheit ist bestens lesbar und sie machte mich Staunen. Die Autoren halten sich nicht mit Kritik an allzu sonderbaren geistigen Gebilden zurück: arische Physik, Astrologie, Atlantis, Yeti und Hohlweltlehre. Letztere hatte, neben der Erdscheibenlehre, bereits Martin Gardner auf dem Schirm (Fads and Fallacies in the Name of Science, 1957). Das alles schien gut abgewogen zu sein und ich nahm es erst einmal für bare Münze.

Aber mehr und mehr kam mir in den Sinn, dass da etwas nicht stimmte. Je länger ich las, desto mehr verlor sich die kritische Grundhaltung des Textes und das eigentliche Anliegen trat immer deutlicher hervor (S. 417):

Die parapsychologischen Experimente scheinen zu beweisen, dass zwischen Mensch und Universum über die gewöhnlichen, durch die  Sinne gegebenen Beziehungen hinaus noch andere Relationen bestehen. Demnach ist jeder normale Mensch imstande, weit entfernte oder hinter Wänden verborgene Dinge wahrzunehmen, die Bewegungen von Gegenständen zu beeinflussen, ohne diese zu berühren, seine Gedanken und Gefühle in das Nervensystem eines anderen Menschen zu projizieren und schließlich in einigen Fällen sogar kommende Ereignisse vorherzuwissen.

Also darum ging es: Um Psi-Phänomene und darum, dass die Menschen sie mit wissenschaftlichen Methoden erforschen sollten. Der Name des Fachgebiets: Parapsychologie (Oepen u. a. 1999). Auch in Deutschland wurde dieses Gebiet damals virulent. Hans Bender gründete im Jahr 1950 in Freiburg sein Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene.

Mir fiel zunehmend auf, dass der Text über weite Strecken in der Möglichkeitsform geschrieben ist. Hier ein paar Auszüge aus dem Abschnitt „Das Phantastische in uns“:„Möglicherweise steht [die Wissenschaft] eines Tages Resultaten gegenüber, die durch sogenannte psychische Methoden erzielt wurden.“ Die Beeinflussung des Würfelergebnisses durch Gedankenkraft gelingt in einer so großen Anzahl der Fälle, „dass bloßer Zufall ausgeschlossen erscheint“. „Wenn es, wie wir anzunehmen geneigt sind, einen höheren Bewusstseinszustand gibt“. „Das Studium der außersinnlichen Fähigkeiten und der «Psionik» […] verspricht tatsächlich praktische Anwendungsmöglichkeiten“.  „Hingegen ist es denkbar, dass die uns bisher unbekannten Fähigkeiten des menschlichen Intellekts eine direkte Wahrnehmung der letzten Strukturen der Materie und der Harmonien des Weltalls ermöglichen.“

Ziemlich unkritisch behandeln die Autoren das Nautilus-Experiment von 1959, bei dem es um die Gedankenübertragung zwischen einer Person auf dem US-amerikanischen Festland und einem Passagier des Atom-U-Bootes Nautilus ging, das sich in 2000 Kilometer Entfernung im Atlantik und hunderte Meter unter dem Wasserspiegel befand.

Wenn an den Psi-Effekten etwas dran sein sollte, dann sind die Militärs die ersten, die sich dafür interessieren, wie man sieht.

In Amerika schwand das Interesse an den parapsychologischen Experimenten im Laufe der Zeit, wohl mangels Erfolg. Das hinderte die Sowjets nicht, es den Amerikanern später gleich zu tun. Was dann in den Achtzigerjahren die US-Amerikaner erneut dazu brachte, auf die Übernatur zu setzen, wie Jon Ronson (2004) im unterhaltsamen Gonzo-Stil berichtet.

Möglich ist vieles. Mir wurde schließlich klar, dass ich im Buch von Pauwels und Bergier nichts über die Welt erfahre würde, wie sie sich der Wissenschaft damals darstellte. Ich verlor das Interesse an dem Werk.

Später wurde ich der großen Anziehungskraft gewahr, die das Möglichkeitsdenken der Psi-Wissenschaft auf viele Menschen ausübt – damals wie heute. Und das fand ich dann doch wieder aufregend und fragte mich, warum das so ist. Ich entwickelte ein wissenschaftliches Interesse am Unwissenschaftlichen, oder besser gesagt: ein Interesse am Vorfeld der Wissenschaft. Manches aus alter Zeit, das als unwissenschaftlich und metaphysisch hätte gelten müssen, hat sich später zur Wissenschaft gemausert. Beispiele sind Demokrits Atomlehre und Platons Lehre von der Anordnung der Himmelskörper.

Karl Raimund Popper hat uns zwar das  Abgrenzungskriterium beschert, das es uns erlaubt, Wissenschaft und Metaphysik ziemlich sauber voneinander zu trennen. Aber er hat damit keine Verdammung der Metaphysik und des „Möglichkeitsdenkens“ verbunden. Für ihn spielt die Metaphysik eine wesentliche Rolle im Vorfeld der Wissenschaft („Skeptiker“ kontra Skeptiker über Kreativität in der Wissenschaft).

Aufschlussreich ist ein Interview des Skeptikers Mark Benecke (2017) mit dem heutigen Vorstandmitglied des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Eberhard Bauer. Bauer sagt: „Diese Phänomene, die wir auch im Spontanbereich kennenlernen, wie die Wahrträume, wie manche dieser Spukerfahrungen. Da würde ich immer noch so eine offene Stelle sehen, die ich momentan als nicht erklärbar einschätze. Deshalb halte ich mir einen Überschuss an Deutungsmöglichkeiten offen.“

Aus dem Leben gegriffen

Wir haben es im Leben nicht nur mit Fakten zu tun, sondern vor allem mit Menschen und deren Meinungen. Selbst wenn man sich über die Fakten einig ist, bleibt oft ein ungeklärter Rest, der alle möglichen und teilweise miteinander unvereinbaren Meinungen zulässt. Das wurde mir durch ein Erlebnis im Freundeskreis sehr deutlich vor Augen geführt. Ich wurde vor ein paar Tagen Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Torsten, einem eher wissenschaftlich orientierten Typ, und seiner Freundin Patricia, die an die Wirkung geistiger Kräfte glaubt.

Eine Unterhaltung entgleist

Torsten: Du hast die Quantenphysik mit übersinnlichen Erscheinungen in Verbindung gebracht. Ich nenne so etwas Quantenmystik. Der Mathematikprofessor Claus Peter Ortlieb und der Sozialwissenschaftler Jörg Ulrich nennen es „Quantenquark“. Das war in einem Artikel der Frankfurter Rundschau.

Patricia: Oh – „Quantenquark“. Du bist eben provokant. Quanten sind ein Mysterium; Du kannst nicht wissen, ob Du mit Deiner Auffassung richtig oder auch daneben liegst. Letztendlich ist alles Vermutung. Du hältst Dich an den jetzigen Stand des Wissens. Morgen kann sich eine vollkommen neue Sicht ergeben. Alles fließt. Du bist in zwei Minuten nicht mehr der, der du jetzt bist. Nichts ist sicher, nur der körperliche Tod. Der steht fest.

Torsten: Die Bezeichnung „Quantenquark“ ist nicht von mir. Ich nenne so etwas Quantenmystik. Die Quantenmystik ist viel zu unscharf und beliebig, als dass sie zu einer begründeten und prüfbaren neuen Sicht auf die Welt führen könnten. Jeder phantasiert da auf seine Weise: Fritjof Capra, Hans-Peter Dürr, Michael König, Rupert Sheldrake, … Und natürlich gewinnen wir neue Einsichten. Aber Du erwartest nicht, dass morgen Deine Kaffeetasse gen Zimmerdecke entschwebt. Es kommt darauf an, was UNS die Wissenschaft über das tatsächlich überindividuell Erfahrbare sagt. Mystik betrifft demgegenüber DEINE individuelle Vorstellung.

Patricia: Uri Geller kann Löffel verbiegen – mit Willenskraft. Ich morgen vielleicht auch, oder vielleicht auch nicht. Es gibt sie schon, diese Menschen mit dem Zugang zu Unerklärbarem.

Torsten: Uri Geller ist ein ganz normaler Zauberkünstler und längst gründlich entlarvt. Entweder Du veräppelst mich oder Du hast das wirklich nicht mitgekriegt. Es gibt eine ganze Reihe von Videos, in denen James Randi die Tricks von Uri Geller sichtbar macht. Sie sind jederzeit auf Youtube abrufbar.

Patricia: Lieber Torsten, Uri Geller hat bei meinen Eltern zuhause durch das Fernsehen Löffel verbogen. Ob du dies wahrhaben willst oder nicht. Und das waren ganz normale Kaffeelöffel. Sorry. Mehr sage ich dazu nicht. Dies ist eine Tatsache, die ich und mein Vater und meine Mutter miterlebt haben.

Torsten: Eine Frage nur. Habt ihr die Löffel noch? Wenn der Uri Geller sie via TV verbogen hat, dann sind es ja äußerst spektakuläre Stücke. So etwas hebt man doch auf. Ich bin sicher, dass Du nicht lügst. Frag mal Deine Mutter und Deinen Vater, wie sie sich an das Ereignis erinnern. Das interessiert mich.

Patricia: Torsten, ich frage sie, wenn wir telefonieren. Aber das mit der Lüge, ich hoffe, das war ein Witz; dass du überhaupt so darüber denken kannst.

Torsten: Ich will die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Dafür ist der Sachverhalt zu interessant. In Kürze meine Thesen: 1. Du hast wahrheitsgemäß von deinen Eindrücken berichtet. 2. Löffel wurden nicht verbogen. 3. Die Thesen 1 und 2 widersprechen sich nicht. Mir fallen drei mögliche Erklärungen für die Gültigkeit aller drei Thesen ein. Vermutlich gibt es weitere. Um der Sache auf den Grund zu gehen, bitte ich um Deine Mithilfe. Der Anruf bei Deinen Eltern könnte uns des Rätsels Lösung näher bringen. Ich erwarte jedenfalls ein hochinteressantes Ergebnis.

Damit war erst einmal Schluss der Debatte. Patricia wies Torsten noch auf ein YouTube-Video des Seminaranbieters und Esoterikers Robert Betz hin. Dies verstand Torsten als Ablenkung vom Thema; das hat ihn sehr verstimmt. Man könne zwar verschiedener Meinung sein, aber über die Fakten sollte man sich schon verständigen, habe er der Patricia gesagt. Daraufhin sei auch Patricia eingeschnappt.

Ein harmloses Gespräch führte demnach zu etwas, das man eine kleine menschliche Katastrophe nennen könnte: Ein Freundschaft drohte zu zerbrechen.

Fragen

lch teile Torstens Auffassung: Es ist nicht zu akzeptieren, wenn die Spielregeln der modernen Gesellschaft achtlos verändert werden. Zu diesen Regeln gehört nun einmal, dass man sich auf Fakten verständigt, auf Meinungen nicht notwendigerweise. Auch wenn Donald Trump das anders sieht: Diese Regel und der gegenseitige Respekt gehören zu den Voraussetzungen gelingender Kommunikation.

Torsten, der Skeptiker, stand also vor einem quälenden Widerspruch, nämlich dass 1. Patricia nicht lügt, was für ihn selbstverständlich ist, und dass 2. die Löffel nicht durch Geisteskraft verbogen wurden, was er für wissenschaftlich geboten hält. Er suchte nach des Rätsels Lösung und fragte sich, ob der Widerspruch eine natürliche Erklärung hat. Ihm gingen die folgenden Erklärungsmöglichkeiten durch den Sinn.

Hat sich vielleicht einer der Anwesenden einen Spaß gemacht und selber gezaubert? Haben die Eltern ihrer Tochter nur eine schöne Geschichte wie die vom Osterhasen erzählen wollen? Hält Patricia einen Traum für wahr? So etwas kann passieren, wie die meisten von  uns sicher schon erfahren haben. Könnte es sich um einen Erinnerungsirrtum (False Memory) handeln?  Um die kognitive Dissonanz zwischen den suggestiven Aussagen einer „Autorität“ (Uri Geller) und der Beobachtung (nichts biegt sich) zu lösen, erfindet der Kopf zuweilen harmonisierende Geschichten (Steller, 2015).

Des Rätsels (teilweise) Lösung

Patricia und Torsten wollten die Sache dann doch noch einmal etwas ruhiger angehen. Ihr Gespräch führte zu einer Einigung, was die Beschreibung des Sachverhalts angeht. Damit wurde der Sachverhalt zu beider Bedauern leider nicht dingfest gemacht. Eine Einigung ist es trotzdem, eine von beiden Seiten akzeptierte (aber möglicherweise falsche) Beschreibung des Faktums. Ich hole etwas aus, um das zu verdeutlichen.

Der Auslöser des Ganzen wird von Judith Liere  so dargestellt (2014):

Am 17. Januar 1974 ging ein Knick durch Deutschland. An jenem Donnerstagabend trat in der ZDF-Show „Drei mal Neun“ ein 27-jähriger Israeli mit dichten dunklen Locken auf. Der Mann behauptete, Gabeln allein mit der Kraft seiner Gedanken verbiegen oder zerbrechen zu können und stehengebliebene Uhren wieder zum Laufen zu bringen. Der Auftritt des jungen Uri Geller bei Showmaster Wim Thoelke versetzte das Land in Aufregung. Allerdings nicht, weil die Zuschauer sich von einem Scharlatan auf die Schippe genommen fühlten. Zumindest nicht nur.

Fast 13 Millionen Zuschauer sahen die Sendung – und zahlreiche Menschen meldeten sich nach der Ausstrahlung beim Sender. Fassungslos berichteten sie von krummem Besteck in ihren Küchenschubladen, manche verlangten sogar Schadensersatz.

Und der Wahnsinn ging weiter: „Uri Geller verbiegt ganz Deutschland“ titelte die „Bild“ daraufhin und forderte ihre Leser außerdem zu einem Experiment auf: Pünktlich um 17.30 Uhr sollten sie eine Gabel, einen Löffel oder eine kaputte Uhr auf die Zeitung legen und konzentriert an Uri Geller denken – mehrere hundert Briefe erreichten danach die Redaktion, von Menschen, die schrieben, das Besteck sei „weich wie Butter“ geworden. Anscheinend glaubten Massen an das Unglaubliche, das Unerklärliche

Patricia erklärt,  dass sie beim häuslichen Löffelbiegen gar nicht dabei war, sondern das Ereignis nur vom Hörensagen kenne. Sie erinnert sich, dass von einer Essgabel und einem Löffel die Rede war. Die Gabel sei von ihrem Vater verbogen worden. Außerdem sei die Zimmeruhr stehen geblieben. Die Teile wurden nicht aufgehoben, weil es „für uns nicht so wichtig war“.

An der Wahrheitstreue der Eltern bestehen keine Zweifel. Zum Zeitpunkt der  Sendung war Patricia ein Kind, noch nicht Teenager.

Torsten muss zugeben, dass er für die Ereignisse und deren Beschreibung keine schlüssigen Erklärungen hat, nur Vorschläge. Für ihn ist alles mit „rechten Dingen“ zugegangen und damit meint er, dass sie sich mit dem derzeitigen Stand der Wissenschaft erklären lassen (Naturgesetze: metaphysisch oder wissenschaftlich?). Da mehrere Köpfe im Spiel waren, ist für ihn klar, dass es zu Täuschungen gekommen sein muss, zu Vorstellungen, die von den Beteiligten wahrheitsgetreu weitergegeben wurden.

Letztlich bleibt ein ungeklärter Rest. Patricia fühlt sich ebenfalls bestätigt und bleibt bei ihrer Auffassung, dass Geisteskräfte im Spiel waren.

Die beiden vertragen sich wieder.

Nachgang

Als ich die Sendung mit Wim Thoelke und den Auftritt Uri Gellers seinerzeit sah, fragte ich mich: Wie kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk einem Aufschneider eine solche Bühne bieten? Ich hielt, und halte immer noch, Uri Geller für einen ganz normalen Zauberkünstler, der sich übernatürliche Fähigkeiten attestiert und der diesen Anspruch mit einiger Genialität vermarktet.

Ich habe die Sache denn auch gleich wieder vergessen. Die Zunft der Zauberkünstler aber hatte ein Problem. Es drohte Rufschädigung. Einige Magier machten sich an die Entzauberung des Zauberers. Thomas von Randow hat sich in einem ZEIT-Artikel von 1974 dem Thema gewidmet. Einer der Entzauberer ist der Skeptiker James Randi. 1982 erschien dessen Buch „The Truth About Uri Geller“.

Es hat dem Uri Geller nicht gefallen. Er strengte drei Klagen gegen James Randi an. Alle drei Klagen blieben erfolglos.

Literaturhinweise

Benecke, Mark: Überschuss an Deutungsmöglichkeiten. Interview mit Eberhard Bauer. skeptiker 3/2017, S. 147 – 153. https://home.benecke.com/publications/mark-benecke-trifft-eberhard-bauer-in-freiburg-igpppicture

Liere, Judith: TV-Magier Uri Geller und sein Löffeltrick bei „Drei mal Neun“. Spiegel online. 17.01.2014.  https://www.spiegel.de/einestages/tv-magier-uri-geller-und-sein-loeffeltrick-bei-drei-mal-neun-a-953262.html

Oepen, Irmgard (Hrsg.); Federspiel, Krista (Hrsg.); Sarma, Amardeo (Hrsg.); Windeler, Jürgen (Hrsg.): Lexikon der Parawissenschaften: Astrologie, Esoterik, Okkultismus, Paramedizin, Parapsychologie kritisch betrachtet. 1999

Pauwels, Louis; Bergier, Jacques: Aufbruch ins dritte Jahrtausend. 1965

Randow, Thomas von: Uri und die Wissenschaft. 8.11.1974. https://www.zeit.de/1974/46/uri-und-die-wisschenschaft/komplettansicht

Ronson, Jon: The men who stare at goats. 2004

Steller, Max: Nichts als die Wahrheit? Warum jeder Unschuldige verurteilt werden kann. 2015

Ortlieb, Claus Peter; Ulrich, Jörg: Quantenquark: Über ein deutsches Manifest Eine kritische Stellungnahme zu „Potsdamer Manifest“ und „Potsdamer Denkschrift“. Frankfurter Rundschau (28.10.2005). http://www.netzwerk-zukunft.de/tl_files/netzwerk-zukunft/dokumente/zukuenfte/51/Beitraege_Potsdamer%20Manifest.pdf

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Risiko ist nicht objektivierbar

Sichtweisen auf das Risiko

Im Artikel Faktenjongleure und Statistikzauberer habe ich die von Hans Rosling propagierte optimistische Weltsicht aufs Korn genommen, insbesondere sein plattes Risikokalkül. Rosling unterscheidet das wahrgenommene vom realen Risiko und empfiehlt ausschließlich letzteres zum Maßstab von Entscheidungen zu machen. Es ist das sogenannte objektive Risiko, und das ist definiert als Schadenserwartungswert im rein mathematischen Sinn. Im einfachsten Fall ist dieses objektive Risiko gegeben durch die Formel Risiko = Schadenshöhe × Eintrittswahrscheinlichkeit.

Unter Maßgabe des objektiven Risikos ließe sich alles, was uns irgendwie ängstigt, richtig einordnen und wir brauchten uns nicht mehr allzu sehr vor Terrorismus, Pflanzengiften, Radioaktivität usw. zu fürchten (Rosling, 2018, S. 101-123). Die „faktenbasierte Weltsicht“ ist demnach alles, was wir benötigen, um die Welt, so wie sie ist, gut zu finden.

Diese Sicht der Dinge hat den Vorteil, dass sie das Individuum mit seinen subjektiven Gefahreneinschätzungen und seinen Launen aus den Überlegungen heraushält. Der Begriff des objektiven Risikos ist ein ideales Vehikel einer für jedermann verbindlichen Weltsicht. Der Neue Skeptiker – im Artikel Hochstapelei im Namen der Wissenschaft war von ihm die Rede – präferiert das objektive Risiko, denn so lassen sich nach seiner Auffassung Handlungsanweisung rein wissenschaftlich gewinnen. Es entsteht eine Wissenschaft der Moral (Shermer, 2015).

Florian Aigner schreibt am 28.4.2019 in seiner Futurezone-Kolumne zum Thema „Wissenschaftlich korrekte Panik“ ganz im Sinne des Neuen Skeptizismus: „Es wird immer schwierig sein, die Grenze zwischen gerade noch harmlosen und gerade schon gefährlichen Dingen zu ziehen. Aber wir sollten die Gefahren um uns wenigstens in die richtige Reihenfolge bringen und unsere Energie den größeren Gefahren widmen, anstatt uns vor Kleinigkeiten zu fürchten.“

Wenn von „richtiger Reihenfolge“ die Rede ist, dann lese ich das so: Es gibt eine richtige und von allen rational entscheidenden Menschen zu akzeptierende Reihenfolge der Gefahren.

Diese Prämisse ist unhaltbar, ebenso die Lehre vom objektiven Risiko als verbindliche Maßgabe der Gefahrenbewertung. Gerade der Skeptiker sollte wissen, dass menschliches Verhalten durch einfache mathematische Beschreibungen nicht zu erfassen ist. Das System Mensch und seine gesellschaftliche Einbindung sind dafür viel zu komplex.

Für Entscheidungen bei Risiko, denen sich der Einzelne gegenüber sieht, ist das reale oder objektive Risiko ein nur unzureichender Maßstab. Diese Unzulänglichkeit herauszustellen, dafür genügt mir im Folgenden ein ziemlich einfaches mathematisches Modell.

Die Neuen Skeptiker schießen über das Ziel hinaus. Aber in einem Punkt liegen sie wohl richtig: Unsere Ängste sind oft weit übertrieben und manch wirklich Bedrohliches nehmen wir nonchalant hin. Da ist ein Blick auf die Statistik ratsam, auf die Fakten. Dieser Blick verhilft uns dann zwar nicht zu einer allgemeinverbindlichen und von jedermann zu akzeptierenden Weltsicht, aber er hilft uns, unseren persönlichen „Angstmaßstab“ zu justieren.

Aber was sind die Fakten? Auch wer den „klassischen Gatekeepern“ (Pörksen) misstraut und den Internetforen allemal, kann sich einen Eindruck verschaffen. Er geht zu den Datenquellen und wendet ein wenig Dreisatzrechnung an.

Beispiel: Impfgegner kontra Impfpflicht

Im Falle des Hin und Her zur Masernschutzimpfung kann jedermann die Daten des Robert Koch Instituts (RKI) heranziehen. (Sollte er auch dieser Quelle misstrauen, ist er ziemlich verloren und es bleibt ihm letztlich nur Kaffeesatzleserei.)

Die Impfquote bei Schuleingangsuntersuchen liegt seit Jahrzehnten bei 90% (Epidemiologisches Bulletin, 4. Januar 2018 / Nr. 1). Von den 80 Mio. Einwohnern Deutschlands sind demnach etwa 72 Mio. gegen Masern geimpft. Die Impfung findet nur einmal in einem im Mittel 80 Jahre langen Leben statt. So kommt man – grob gerechnet – auf etwa 900 Tausend Masernschutzimpfungen je Jahr; es können aber auch gerade einmal 700 Tausend sein.

Die Zahl der anerkannten Impfschäden sinkt kontinuierlich (Meyer u. a., 2002). Im Jahr 1999 waren es 21. Über einen größeren Beobachtungszeitraum (1972-1999) gemittelt, gehen 1,1% der anerkannten Impfschäden auf die Impfungen gegen Masern und die Kombinationsimpfungen gegen Mumps, Masern und Röteln  zurück.  Sogar derartig grobe Abschätzungen lassen darauf schließen, dass einer Million Masernimpfungen schlimmstenfalls ein anerkannter Impfschaden zuzurechnen ist.

Andererseits weiß man um die Gefahren, die dem nicht Geimpften drohen: „Nach Angaben der WHO liegt in entwickelten Ländern die Letalität der Masern zwischen 0,05% und 0,1%.“ (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/M/Masern/Masern.html)

Soweit sind das Daten. Inwieweit sie Fakten abbilden, kann dem einen oder anderen zweifelhaft erscheinen. Wer sie  anerkennt, muss diese Fakten noch irgendwie in seine Weltsicht einpassen. Und da fangen die eigentlichen Schwierigkeiten an. Unter anderen gibt es

  • grundsätzlich Misstrauische, die überall Verschwörungen vermuten,
  • Anhänger der Naturmedizin, die Impfung als unnatürlich verurteilen und ablehnen,
  • gewisse Gottgläubige, die es ablehnen, mit Massenimpfungen Gott ins Handwerk zu pfuschen,
  • diejenigen, die sich auf anekdotische Evidenz verlassen (,„Meine Tochter ist nicht geimpft worden und jedes Mal, wenn wir alle krank werden, ist sie die einzige, die nichts hat“),
  • Leute, die den einfachen Regeln des Volkswissens vertrauen („Das Immunsystem funktioniert nur durch Kennenlernen“).

Die Zitate sind aus den Kommentaren zum ZEIT-Artikel von Schade u. a. (2015).

Der Skeptiker tritt gegen diese irrationalen Weltsichten an. Das ist aber nur ein Teil seiner faktenbasierten Mission. Selbst wenn er alle irrationalen Elemente eliminieren könnte, wäre er noch lange nicht beim objektiven Risiko als Grundlage aller rationalen Entscheidungen angekommen. Bereits unser Beispiel von der Impfgegnerschaft zeigt ein paar Hindernisse, die dem entgegenstehen.

Aufgrund der Impfrate von 90% sind die Masern in Deutschland sehr selten. Die Nichtgeimpften sind durch die Geimpften weitgehend geschützt. Das verringert die Wahrscheinlichkeit für Erkrankung der Ungeimpften. Impfverweigerung kann also durchaus eine rationale persönliche Entscheidung sein.

Die Erhöhung der Impfrate lässt sich über das erwartbare zukünftige Gemeinwohl rechtfertigen: Ausrottung der Masern. Mit dem Vorwurf der Trittbrettfahrerei wäre ich dennoch vorsichtig. Jedenfalls betreten wir hier das Feld der Moral und der Wertvorstellungen, und da reicht die objektive Risikobewertung nicht hin.

Subjektive Wertmaßstäbe sind rational

Ohne sichere Datenbasis sind Risikoerwägungen ziemlich sinnlos. Aber sie allein reicht nicht für ein Urteil. Die Situation des Entscheiders, sein Denkrahmen spielt eine große Rolle. Risiko ist unabweisbar subjektiv. Das lässt sich mit einer einfachen Modellvorstellung leicht einsehen.

Die meisten Menschen haben irgendwelche Wünsche. Manches steht ganz oben auf der Wunschliste, anderes eher unten. Es hängt von den persönlichen Lebensumständen und vom Wertesystem jedes Einzelnen ab, welches Hochgefühl die Erfüllung eines Wunsches bewirkt. Ich entwickle die Gedanken dazu an der fiktiven Gestalt „Horst“.

Horst hat eine Rangordnung seiner Wünsche erstellt. Ganz oben steht der Erwerb einer Eigentumswohnung. Bei einem „warmen Regen“ von 100 000 € wäre dieser Wunsch erfüllbar. Horst misst den hunderttausend Euro einen subjektiven Nutzen von 100 % zu: hundertprozentiges Hochgefühl bei einem Lottogewinn von hunderttausend Euro.

Aber auch die Hälfte davon wäre nicht übel. Nach Rücksprache mit der Familie stellt er fest: Die Eigentumswohnung wäre auch bei einem Gewinn von 50 000 € noch erschwinglich. Durch den Schuldendienst müssten andere, weniger dringliche Wünsche zurückgestellt werden. Er kommt zur Überzeugung, dass das Hochgefühl nicht etwa mit nur 50 %, sondern mit etwa 80 % zu veranschlagen wäre. Mit einem Gewinn von 25000 € läge –  verglichen mit dem vollen Gewinn von 100000 € – sein Hochgefühl immer noch deutlich über 50 %.

Horst ist Mathematiker; nach einigem Hin- und Her findet er eine Funktion, die sein Hochgefühl in Abhängigkeit vom Betrag wiedergibt, seine subjektive Nutzenfunktion.

Horst sagt sich: Mein Hochgefühl hängt womöglich logarithmisch vom gewonnenen Betrag x ab. Bereits im 18. Jahrhundert hat Daniel Bernoulli einen solchen Ansatz gemacht. Die Nutzenfunktion u(x) stellt den subjektiven Nutzen in Abhängigkeit vom Betrags x dar. Zumindest für größere fünfstellige Beträge passt der Logarithmus. Bei kleinen Beträgen bin ich mir nicht so sicher: Zwei Euro sind mir doch tatsächlich doppelt so viel wert wie ein Euro. Also korrigiere ich die Formel, so dass für höhere Beträge näherungsweise das logarithmische und für kleinere näherungsweise das lineare Nutzengesetz gilt. Mit dem Ansatz u(x) = cln(1+x/x0) kann ich meine Empfindungen recht genau wiedergeben. Es handelt sich um eine Funktion mit von links nach rechts abnehmender Steigung. Der Ankerwert xmuss in der Übergangszone zwischen den Gültigkeitsbereichen des linearen und des logarithmischen Nutzengesetzes liegen. Ein plausibler Wert angesichts meiner Präferenzen ist 5000 €.“

Die sich so ergebende Kurve für Horst ist in der Grafik wiedergegeben. Die Nutzenfunktion ist linear, solange sich die Beträge im Rahmen des normalen Budgets halten.

Nehmen wir an, Horst bekommt die Gelegenheit, an der Börse oder sonst wo, auf einen Gewinn von 100 000 € zu wetten, bei einer Gewinnchance von 40%. Wieviel wäre ihm eine solche Wette wert?

Seine Nutzenkurve zeigt 40%-prozentigen Nutzen bei 12 000 €. Das ist das Sicherheitsäquivalent der Wette. Höchstens diesen Betrag wird Horst für die Teilnahme an der Wette bereitwillig einsetzen. Horsts Nachbar Bernd ist wohlhabender; sein Ankerwert liegt bei 30 000 €. Dementsprechend höher ist sein Sicherheitsäquivalent: 24 000 €. Je größer der Ankerwert, desto mehr nähert sich die Nutzenfunktion der linearen Nutzenfunktion an. Zur Rangfolge der Alternativen: Horst würde 20 000 € der Wette vorziehen. Für Bernd gilt die umgekehrte Rangfolge; er wettet lieber und setzt dafür die 20 000 € aufs Spiel.

Die Kurven oberhalb der linearen stehen für Risikoaversion: Der Spatz in der Hand ist mir lieber als die Taube auf dem Dach.

Für die subjektive Schadensfunktion übernehmen wir die Form der Nutzenfunktion. Ein deterministische Schaden, beispielsweise der Zeitverlust durch Verzicht aufs Überholen, wird gegenüber dem zufälligen Schaden eines möglichen Unfalls überbewertet. In der Schadensbetrachtung sind wir also risikofreudig.

Sowohl bei der Beurteilung von möglichen Schäden als auch beim Nutzenkalkül gibt es bei den hier gewählten Nutzen- und Schadensfunktionen eine Tendenz zur Überbewertung der Gewissheit. Diese Tendenz hat den Rang eines allgemeinen psychologischen Prinzips: Ein fester Nutzen wird gegenüber dem zufälligen präferiert, und ein zufälliger Schaden erscheint uns gegenüber festen Kosten eher erträglich – immer bei gleichem objektivem Risiko.

Es gibt Ausnahmen: Sogar die bei Gewinnaussichten eher risikoscheuen Leute spielen zuweilen Lotto. Und der risikofreudige Autofahrer hat eine Reihe von Versicherungen abgeschlossen, die objektiv gesehen jedenfalls ein Verlustgeschäft sind.

Der subjektive Nutzen und Schaden lässt sich also noch nicht einmal für eine Person in eine einfache Formel fassen. Es kommt auf den Denkrahmen an, innerhalb dessen eine Entscheidung fallen muss. Dieses Framing verstärkt den Zweifel an einer machbaren objektiven Risikobewertung weiter. Wer mehr darüber wissen will, sollte sich den Werken von Daniel Kahneman und Richard Thaler zuwenden.

Quellen

Kahneman, Daniel: Thinking Fast and Slow. 2011

Kahneman, Daniel; Tversky, Amos: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. Econometrica, Vol. 47, 2/1979, 263–291

Meyer/Rasch/Keller-Stanislawski/Schnitzler (RKI): Anerkannte Impfschäden in der Bundesrepublik Deutschland 1990–1999. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz, 2002 45:364–370

Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit. 2018

Rosling, Hans: Factfulness. Ten reasons we’re wrong about the world – and why things are better than you think. 2018

Shermer, Michael: The Moral Arc. How science makes us better people. 2015

Thaler, Richard H.; Sunstein, Cass, R.: Nudge. 2008

Links

http://www2.hs-fulda.de/~grams/DecisionsUnderRisk/Risk.html

Von Blickle, Paul; Schadwinkel, Alina (24.2.2015): Masern sind viel gefährlicher als die Impfung.
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-02/masern-impfung-risiko-nebenwirkung

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Sinn gesucht, Unsinn gefunden

Im Zufallsmuster der Badezimmerkacheln erkennen wir Gesichter. Das Wolkenbild formt sich zu einem Hund. Zwölf von 150 Frauen wählten beim Autokauf einen Ford; unter gleich vielen Männern trafen nur sechs diese Entscheidung. So kommen wir vorschnell zur Auffassung, dass Frauen die Automarke Ford bevorzugen.

Das sind Beispiele dafür, wie Phantasie und Spekulation fast gewohnheitsmäßig über unsere Erfahrung und unser Wissen hinausgreifen. Das ist die unvermeidliche Sinnsuche unseres Wahrnehmungs- und Denkapparats.

Manch ein übersensibler Mensch braucht nur ein paar schwer erklärliche Umstände, sonderbare Riten oder befremdliche Symbole und schon vermeint er die Anzeichen einer Verschwörung zu erkennen. Besonders zwingend wird ein solcher Verdacht, wenn sich in den Beobachtungen mathematische Strukturen ausmachen lassen.

Für den Hochsensiblen kann das kein Zufall sein. Einfache und möglichst geheimnisvolle Erklärungen müssen her. Dann kann er sich seinen esoterischen und verschwörungstheoretischen Gedanken  hingeben und sich genüsslich so manchen Schauer über den Rücken laufen lassen.

Dabei steckt oft nicht mehr als Zufall dahinter, oder Spielerei, oder Wichtigtuerei, oder ein ähnlich harmloser Anlass. Sinn gesucht – Unsinn gefunden!

Ich greife ein Thema der Zahlenmystiker auf. Die folgende Miniatur ist meiner Problemsammlung „Querbeet“ entnommen. Zweck der Problemsammlung ist zwar die freudvolle Beschäftigung mit Mathematik. Andererseits zeigt diese Miniatur Fallstricke der überbordenden Sinnsuche auf und findet so ihren Platz im Hoppla!-Blog.

Zahlenmystik um die Fünf

Für mich begann es mit dem Film „V wie Vendetta“ (2006). Der Held nennt sich V, nach der Nummer der Zelle, in der er eingekerkert war: Fünf. Es ist ein beliebtes Spiel unter Kinogängern, herauszufinden, wo überall in dem Film ein V oder die Zahl Fünf erscheint: bei der Zeigerstellung der Uhr, den Schnitten des Degens, dem Feuerwerk, einem Bild an der Wand, auf den Tasten der Jukebox.

Die Fünf ist von alters her ein Symbol der belebten Natur. Die Fünfzähligkeit zeichnet die Rosengewächse aus. Schneiden Sie einmal einen Apfel quer durch und schauen Sie sich das Kerngehäuse an. Weitere Beispiele sind die fünf Finger unserer Hand und der fünfarmige Seestern.

Dem regelmäßigen Sternfünfeck, dem Pentagramm, wurden bereits in der Antike magische Kräfte zugeschrieben. Heute sieht man es oft auf zwei seiner Spitzen gestellt. Beim Drudenfuß, er soll bis in unsere Tage hinein der Abwehr böser Geister dienen, weist eine Spitze zur Erde. Hier entdecken wir das V schon wieder.

Die Spitzen des Pentagramms bilden ein regelmäßiges Fünfeck, ein Pentagon. Das Zentrum des Pentagramms ist ebenfalls von einem Pentagon umgeben. Ein Pentagon entsteht beispielsweise beim Knüpfen eines einfachen Knotens (Überhandknoten) mit einem Streifen Papier.

Im Pentagramm ist alles goldener Schnitt. Genauer: Zu jeder Strecke (oder Teilstrecke) lässt sich im Pentagramm eine weitere Strecke finden, die zu ihr im Verhältnis des goldenen Schnittes steht. Zur Erinnerung: Eine Strecke ist im goldenen Schnitt geteilt, wenn sich die Gesamtstrecke zur größeren Teilstrecke verhält wie die größere Teilstrecke zu kleineren.

Im obigen Pentagramm habe ich mit a und b die Längen von Streckenabschnitten bezeichnet. Eine Strecke von Spitze zu Spitze hat die Länge 2a + b. Tatsächlich gelten die Gleichungen des goldenen Schnittes, nämlich (2a+b)/(a+b) = (a+b)/a = a/b.

Das Streckenverhältnis des goldenen Schnittes wird zuweilen mit dem griechischen Buchstaben ɸ (Phi) bezeichnet: ɸ = a/b. ɸ ist Lösung der Gleichung ɸ2 – ɸ -1 = 0 und hat den Wert 1,61803398874989…

Der Wikipedia entnehme ich diese Deutung des Pentagramms (15.04.2019):  „Pythagoras kannte es als Symbol für Gesundheit. Ihn interessierte daran besonders der mathematische Aspekt des Goldenen Schnitts. Da man es in einem Zug zeichnen kann und am Schluss wieder zum Anfang gelangt, galt es auch als Zeichen für den Kreislauf des Lebens. Abraxas, Gott der Gnostiker, wurde ebenfalls durch ein Pentagramm symbolisiert, weil er fünf Urkräfte in sich vereint.“

Wem das zu wenig Grusel ist, der möge sich an die auf die Spitze gestellte Version mit dem eingezeichneten gehörnten Ziegenkopf halten (Baphomet). Dann sieht er das Pentagramm als Symbol von Geheimgesellschaften und Satanismus. Davor kann er sich dann so richtig fürchten. (Er könnte das folgenlos aber auch sein lassen.)

Der goldene Schnitt wird vom Menschen als besonders harmonisches Streckenverhältnis empfunden. „Die göttliche Proportion … ist der goldene Schnitt… So lässt sich vielleicht die Vorliebe für fünfeckige Strukturen in der gotischen Kunst vor allem in den Verstrebungen der Rosetten der Kathedralen erklären“ (Eco, Umberto: Die Geschichte der Schönheit. Hanser, München, Wien 2004, S. 66 ff.).

Damit sind wir unversehens vom Kino über Mathematik und Magie zur Architektur und zu den schönen Dingen gekommen.

Von da aus mache ich nun einen kühnen Sprung hinein in die Populationsbiologie. Wie viele Kaninchenpaare kann ein Kaninchenpaar im Laufe der Zeit erzeugen? Diese Kaninchenaufgabe hat Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci, im Jahre 1202 gestellt.

Aus dem Lehrbuch des Fibonacci: „Das Weibchen eines jeden Kaninchenpaares gebiert von Vollendung des zweiten Lebensmonats an allmonatlich ein neues Kaninchenpaar.“ Es ist die Zahl der Kaninchenpaare im Laufe der Monate zu berechnen unter der Voraussetzung, dass anfangs nur ein Kaninchenpaar vorhanden ist und dass die Kaninchen nicht sterben.

Die Zahlenfolge für die Anzahl der Kaninchenpaare ist 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, … Das sind die Fibonacci-Zahlen. Und so lautet das Bildungsgesetz dieser Zahlen: Ab der Zahl 2 ist jede Zahl die Summe ihrer beiden Vorgänger.

Wir bilden nun die Quotienten je zweier aufeinander folgender Fibonacci-Zahlen, und zwar teilen wir die größere der beiden durch die kleinere. Diese Werte streben gegen einen Grenzwert, nämlich gegen die Zahl ɸ des goldenen Schnittes. Und damit sind wir wieder beim Pentagramm, der Zahl Fünf und bei „V wie Vendetta“.

Und was ist der tiefere Sinn des Ganzen? Es gibt ihn nicht. Da ist nichts Mystisches, keine unerklärliche Magie – nur Spiel.

V ist ein sehr einfaches Symbol. Es ist kein Wunder, dass es uns hin und wieder begegnet. Denselben Effekt ruft das „Gesetz der kleinen Zahlen“ hervor (Underwood Dudley: Die Macht der Zahl. 1999): Eine kleine Zahl wie die Fünf erscheint immer wieder einmal. Auch die einfachen Relationen des Pentagramms und dass wir diese in der Fibonacci-Folge wiederfinden, ist nichts Besonderes. Einfaches passiert oft.

Dazu kommt, dass die „Sinnsuche unseres Wahrnehmungsapparats“ vor kleineren Manipulationen nicht zurückschreckt, wie oben bei der leichten Drehung des Pentagramms hin zum Drudenfuß. Auch wird manch „wundersamer“ Fund in der Bedeutung gern überbewertet. Dem Standardwerk zur europäischen Baukunst entnehme ich beispielsweise die Bemerkung : „Der Goldene Schnitt … wird in der Kunst weit seltener angewendet als allg. angenommen wird“ (Koch, Wilfried: Baustilkunde. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh 2000).

Aber was sagen Sie dazu: Das Symbol V hat den Morsecode „…-“, „didididaaa“. Da kommt Ihnen etwas in den Sinn? Musik? Eine Symphonie? Von Beethoven? – Richtig: Es ist die Fünfte.

Spekulation in der Wissenschaft

Ohne Spekulation gibt es keinen Wissenszuwachs. Von esoterischen Umtrieben und von der Pseudowissenschaft unterscheidet sich die Wissenschaft dadurch, dass neue Ideen und Theorien unerbittlich auf innere Konsistenz und auf  Übereinstimmung mit den Fakten geprüft werden.

Beispielsweise war das Weltsystem des Kopernikus zunächst nur eine schöne Spekulation. Das Weltsystem wurde später durch Gelileo durch Beobachtungen und Erfahrung angereichert und so zu Wissenschaft.

Was aber, wenn neue Beobachtungen und Fakten ausbleiben? Die Frage nach dem Sinn des Ganzen verlässt uns ja nicht. Er lässt die Wissenschaftler nach immer schöneren Theorien suchen, nach Theorien, die zwar keine neue Erkenntnis liefern, die aber die  alte Erkenntnis in immer eleganteren Formulierungen zusammenfasst.

Dann droht der Wissenschaft dieselbe Gefahr wie der Zahlenmystik: Sie könnte sich in reiner Spekulation und in bloß illusionärem Denken ergehen. Beispielsweise sieht Sabine Hossenfelder keinen großen Unterschied zwischen dem Glauben, die Natur sei schön und dem Glauben, Gott sei gütig (Spektrum der Wissenschaft 11/2018, S. 21).

Sie sagt: „Ohne empirische Daten könnten mathematische Konsistenz und Ästhetik zu den einzigen Lotsen auf der Suche nach neuen Naturgesetzen werden. Und manchen Physikern würden diese Kriterien möglicherweise bereits genügen, um eine hinreichend ausgearbeitete Theorie für wahr zu erklären.“

Abgrenzung

(Ergänzung vom 18.04.2019)

Wie lässt sich Sinn vom Unsinn scheiden? Woran erkennen wir die nützlichen Vorstellungen und das hilfreiche Wissen? Was zeichnet die fruchtbaren Theorien aus und hebt sie von reiner Spekulation ab?

Nach Karl Raimund Popper müssen Hypothesen, die unser Wissen erweitern, an der Erfahrung scheitern können. Sie müssen prinzipiell falsifizierbar sein. Dieses Kriterium dient ihm zur Abgrenzung wissenschaftlicher Theorien von der Metaphysik.

Es sind also die Fakten und die Überprüfung unserer Vorstellungen und Theorien anhand dieser Fakten, die den Wissensfortschritt ausmachen.

Obwohl Sabine Hossenfelder genau dieses Fehlen von Erfahrung und Fakten den neuen physikalischen Theorien als Manko anlastet, schreibt sie auf Seite 9 ihres Buches „Das hässliche Universum“: „Was ich jedoch lerne, ist, dass Karl Poppers Idee, wissenschaftliche Theorien müssten so gebaut sein, dass sie falsifizierbar sind, längst überholt ist. Ich freue mich, das zu  hören, denn es ist eine Philosophie, die in der Wissenschaft sowieso niemand gebrauchen konnte[…] Eine Idee zu falsifizieren ist nämlich so gut wie nie möglich“.

Diese Geringschätzung des Abgrenzungskriteriums geht meines Erachtens auf eine übertrieben strenge Auffassung von Falsifizierbarkeit und Falsifikation zurück. Karl Raimund Popper zeigt im 9. Abschnitt seiner Logik der Forschung, dass Vorsicht geboten ist: „Wer in den empirischen Wissenschaften strenge Beweise verlangt oder strenge Widerlegungen, wird nie durch Erfahrung eines Besseren belehrt werden können.“

Die Falsifizierbarkeit einer Theorie besagt nicht, dass die tatsächliche Falsifizierung eine einfache Sache ist. Von zentraler Bedeutung ist das Abwägen von Theorien in einem sozialen Prozess. Popper: „Widersprechen anerkannte Basissätze einer Theorie, so sind sie nur dann Grundlage für deren Falsifikation, wenn sie gleichzeitig eine falsifizierende Hypothese bewähren.“ (Logik der Forschung, Abschnitt 22)

Die Widerlegung der Theorie der verborgenen Variablen in der Quantenmechanik ist ein lehrreiches Beispiel. Eine Konsequenz dieser Theorie ist die bellsche Ungleichung. Die Verletzung der bellschen Ungleichung lässt sich nur anhand statistischer Daten erkennen. Einen strengen Beweis geben diese natürlich nicht her. Aber die Datenlage ermöglicht es, dass sich die Wissenschaftler auf ein Urteil einigen: Die Theorie der verborgenen Variablen gilt heute als widerlegt.

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Faktenjongleure und Statistikzauberer

Der Prolog von Michael Shermers Buch „The moral arc: how science and reason lead humanity toward truth, justice and freedom“ trägt in Anspielung auf ein Wort Martin Luther Kings den Titel „Bending the moral arc“. Wie bereits im Hoppla!-Artikel Achtung, statistische Klassen und andere Stolpersteine deutlich geworden sein sollte, wäre der Titel „Bending the Facts“ angemessener. Auch andere Fortschrittsapologeten glänzen als Faktenjongleure und Statistikzauberer. Herausragend ist das neue Buch „Factfulness“ von Hans Rosling.

Ausgehend von ihren Glaubenssätzen, nämlich dass uns die Wisssenschaft zu besseren Menschen mache und dass die Welt auf dem Weg in eine rosige Zukunft sei, wählen diese Autoren die zu ihren Ansichten passenden Fakten; mittels Interpretationstricks tauchen sie diese dann in ein rosiges Licht; Gegenläufiges wird kleingeredet.

Wir werfen einen Blick in die Trickkiste dieser Meinungsmacher.

Zweckdienliche Klassifizierung

Im Artikel über statistische Klassen und andere Stolpersteine sprach ich an, was man mit der Wahl unterschiedlicher Klassenbreiten anrichten kann. Roslings Leitbeispiel jedoch lässt Shermers Anstrengungen dagegen verblassen.

Rosling setzt alles daran, die Leute davon zu überzeugen, dass sie eine völlig verkehrte Sicht auf die Welt haben; dann rückt er diese gnädigerweise zurecht. Der Untertitel seines Buches lautet dementsprechend: Ten reasons we’re wrong about the world – and why things are better than you think.

Um den Leuten vor Augen zu führen, dass sie dümmer als Schimpansen sind, fragt er beispielsweise danach, wo die Mehrheit der Weltbevölkerung wohl lebe und er gibt nach Multiple-Choice-Manier drei mögliche Antworten zur Auswahl vor: in Ländern mit geringem, mit mittleren oder mit hohem Einkommen.

Der hier zitierte Schimpanse würde mangels Wissen eine zufällige Trefferwahrscheinlichkeit von 1/3 erzielen. Das gebildete Publikum – es tippt überwiegend auf die erste Antwort (geringes Einkommen) – erreicht nur eine wesentlich geringere Trefferwahrscheinlichkeit. Zu den dümmsten Leuten gehören offenbar die Deutschen und die Ungarn mit einen Trefferquote von jeweils nur 17%. So groß ist der Anteil derjenigen, die auf die richtige, auf die mittlere Antwort tippen: Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in Ländern mit mittlerem Einkommen, so Rosling.

Sie hätten das auch nicht gewusst? Nun ja: Ich hätte mich vermutlich geweigert, überhaupt eine Antwort zu geben, einfach weil aus der Frage gar nicht hervorgeht, wo die Einkommensgrenzen liegen, die einen zu einem armen, begüterten oder gar reichen Menschen machen. Die Frage ist so gesehen schlichter Quatsch.

Später verrät Rosling die von ihm gewählten Einkommensklassen: Länder von Leuten mit einem mittleren Einkommen unter $2  gelten ihm als arm. Die unteren mittleren Einkommen gehen für ihn bis $8. Danach kommt die Ländergruppe mit gehobenen mittleren Einkommen und ab $32 erscheinen die reicheren Länder. Die Statistik zeigt dann, dass eine Milliarde Menschen arm, fünf Milliarden mittelmäßig begütert und eine weitere Milliarde gut begütert sind.

Ob die Antwort richtig ist oder falsch, hängt von den ziemlich willkürlich gewählten Einkommensgrenzen ab. Gegen die Klassifizierung ist an sich nichts zu sagen. Die Weltbank verfährt ähnlich. Der Weltbank geht es jedoch nicht um besserwisserische Abfragerei des Weltzustands; ihr geht es um die Bestimmung des Trends der Entwicklung.

Für die Bestimmung des Weltzustands eignet sich das grobe Raster nicht. Außerdem sorgt der logarithmische Maßstab dafür, dass die Anzahl der Menschen in den niedrigen Einkommensklassen systematisch unterschätzt wird. Der unermessliche Reichtum derjenigen ganz oben fällt demgegenüber überhaupt nicht ins Gewicht. Hätten man – immer dem Faktor vier folgend – eine Einkommensgrenze von 50 Cent für die ganz armen Leute eingeführt, würde die Armut noch weniger ins Auge fallen, denn dann lägen ja noch weniger Leute am ganz unteren Ende.

Sogar für die Trendaussagen ist das Klassifizierungsschema viel zu grob. Es sagt zu wenig über die Ungleichverteilung der Verdienstchancen aus und es lässt von den Trends zu wenig erkennen. Feinere Klassifizierungen machen diese Verhältnisse durchsichtiger. Davon war im Hoppla!-Artikel Achtung, statistische Klassen und andere Stolpersteine bereits die Rede.

In der Volkswirtschaftlehre sind weit weniger manipulationsanfällige Darstellungsweisen der Einkommensverteilung bekannt: Die Lorenzkurve und daraus abgeleitete Kennzahlen wie der Gini-Index.

In der folgenden Grafik ist die Lorenzkurve der weltweiten Einkommensverteilung zu sehen. Hinsichtlich des Volkseinkommens pro Kopf greife ich auf die Statistik der Weltbank, des IWF und der OECD aus dem Jahre 2017 zurück. Erfasst sind 78 Länder. Sie machen 85% der Weltbevölkerung aus.

Als Einkommen einer jeden Person habe ich das Durchschnittseinkommen des Landes gewählt. Länder mit großer Bevölkerung erscheinen in der Lorenzkurve folglich als Geradenstücke. Die für Indien, China und USA habe ich in der Grafik benannt. Um auszudrücken, dass in der Grafik nicht die Einkommen der einzelnen Personen verrechnet werden sondern dass je Person das Durchschnittseinkommen des jeweiligen Landes angesetzt wird, nenne ich die Lorenzkurve „geklumpt“: Jedes Land erscheint als ein Klumpen – zwar mehr oder weniger groß, aber nach innen undifferenziert.

Der geklumpten Lorenzkurve lässt sich entnehmen, dass 50% der erfassten Menschen in Ländern leben, die sich mit nur 10% des Einkommenskuchens bescheiden müssen und dass die fünf Prozent in den reichsten Ländern immerhin 27% des Kuchens bekommen. In dieser Spitzengruppe liegen die USA, die Schweiz, Norwegen und einige Steueroasen.

Aber auch diese genauere Darstellung zeigt noch nicht das wahre Ausmaß der Ungleichverteilung der Einkommen. Um das zu sehen, müssen wir die Sachlage noch etwas weiter aufdröseln.

Aggregieren: Mittelwerte machen Unterschiede unsichtbar

Die obige Grafik beruht auf Gleichmacherei: Für alle Personen eines Landes wird dasselbe Einkommen angesetzt, nämlich das Durchschnittseinkommen des Landes.  Diese landesweite Einebnung mildert das Bild der Einkommensungleichheit. Wenn wir das Bild schärfer stellen wollen, müssen wir uns mit den Einkommensverteilungen der einzelnen Länder beschäftigen.

Zur besseren Verständigung nutze ich jetzt den Gini-Index. Er misst die Bauchigkeit der Lorenzkurve; er ist gleich der Fläche zwischen Lorenzkurve und Diagonale bezogen auf die gesamte Dreiecksfläche unterhalb der Diagonale. Der Gini-Index ist gleich null bei vollkommener Einkommensgleichheit und gleich eins, wenn eine Person alles bekommt und alle anderen nichts.

Der Gini-Index weltweit ist gemäß obiger Grafik gleich 60%. Ohne die nationenweise Einebnung fällt der Wert noch deutlich größer aus.

In Deutschland hatten wir im Jahr 1998 einen Gini-Index von 28,3%. Er stieg im Zuge der Agenda 2010 bis auf den Wert 32,3% im Jahre 2005 an. Stichwort: „Leistung muss sich wieder lohnen.“ Seither ist er wieder etwas abgesunken. Verbunden mit der erhöhten Ungleichheit ging ein verstärktes Wirtschaftswachstum einher. Davon profitierten auch die Ärmsten.

Die Wirtschaftspolitik wird die Auswirkungen von Gleichheit und Ungleichheit nicht aus dem Auge lassen: Ein zu geringer Gini-Index verringert die Wirtschaftsdynamik durch fehlende Leistungsanreize und ein zu großer hat lähmende soziale Spannungen zur Folge. Andernorts sieht es so aus:

In den USA stieg der Gini-Index in den Jahren von 1979 bis 2016 von 34,6% bis auf 41,5% an.

Einen noch stärkeren Anstieg hatte China zu verzeichnen: 1980 war der Index geringer als 30%. Die Öffnungspolitik führt zu mehr Ungleichheit der Einkommen und diese machte sich durch einen Anstieg des Indexwerts auf 43,7% im Jahr 2010 bemerkbar.

Diese Vergrößerung der Ungleichheit im Lande ging einher mit einer Erhöhung des Volkseinkommens. In der geklumpten weltweiten Lorenzkurve kommt die  landesinterne Ungleichheit nicht zum Ausdruck. Die Disparitäten auf nationaler Ebene bleiben unsichtbar.

Im FAZ-Artikel Gini-Koeffizient : Die globale Ungleichheit ist stark gesunken berichtet Philip Plickert am 14.01.2019, dass nach den Berechnungen eines schwedischen Forscherteams innerhalb vieler Länder die Ungleichheit zwar gestiegen sei, auch in China: „Aber zwischen den Ländern nimmt die Ungleichheit ab.“ Auch diese Forscher arbeiten mit ausgewählten Daten und mit Durchschnittswerten.

Wir haben jetzt zwar genauer hingeschaut, aber durch die Aggregierung von Einkommensdaten bleiben die wahren Verhältnisse im Weltmaßstab weiterhin unklar. Skepsis ist angebracht, wenn jemand behauptet, den totalen Durchblick bezüglich der weltweiten Einkommensverteilung zu besitzen.

Scheinobjektivierung

Ein wesentliches Stilmittel der Fortschrittsapologeten ist die durchgängige Anbetung von Fakten: Durch Entwicklung einer faktenbasierten Weltsicht könne der Schimpanse in uns geschlagen werden.

Oben habe ich gezeigt, wie Meinungen zuweilen als Fakten verkleidet werden. Das Prinzip funktioniert so: Schnüre das Faktum und deine Meinung zu einem Bündel; dann verkaufe dieses Bündel als Faktum. So bekommt deine Meinung den Anschein objektiver Gültigkeit.

Das nenne ich Draufsatteln. Aber manchmal geht es genau anders herum. Beispielsweise richtet sich unsere Risikowahrnehmung keineswegs allein nach der mathematischen Schadenserwartung (Risiko = Schadenshöhe × Eintrittswahrscheinlichkeit). Dieses objektive Risiko wir durch subjektive Komponenten angereichert. Insbesondere geht in unsere Risikowahrnehmung die Kontrollierbarkeit des Risikos ein; diese ist unter Anderem bestimmt durch die Bekanntheit der Gefahr, die Freiwilligkeit im Eingehen des Risikos und die Beeinflussbarkeit des Risikos.

Wenn Rosling empfiehlt, sich allein auf das zu konzentrieren, was er reelle Risiken nennt, redet er uns ein, man könne problemlos auf die subjektiven Anteile der Risikobewertung verzichten und sich allein auf das objektive Risiko verlassen – man könne also absatteln und damit der Wahrheit näher kommen.

Aber das geht nicht! Die Risikoanalyse muss die subjektiven und nicht so leicht mathematisierbaren Bestandteile der Risikowahrnehmung in Rechnung stellen. Zwei Beispiele dazu:

Versicherungen sind objektiv gesehen ein Verlustgeschäft für den Versicherten. Die Prämien übersteigen die Schadenserwartung meist bei Weitem! Aber man ist dadurch abgesichert gegen existenzgefährdende Verluste. Also zahlt man gerne und das zu Recht.

Oder nehmen wir den Terror: Durch einen Anschlag zu Tode zu kommen, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dennoch ist auch große Angst durchaus angebracht. Die Bedrohung ist unfassbar; das Staatsgefüge ist in Gefahr; und wer will schon einen Polizeistaat? Hier könnte uns unser subjektives Empfinden tatsächlich die verlässlicheren Signale geben und nicht etwa das rational kalkulierende Gehirn.

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