Achtung, statistische Klassen und andere Stolpersteine

Für Michael Shermer und Steven Pinker ist die Menschheit auf einem unaufhaltsamen Marsch in eine immer bessere Zukunft. Sie konstatieren den andauernden Fortschritt der Menschheit in Richtung Humanismus. Triebkräfte seien vor allem Wissenschaft und Technik; Religionen stünden dem entgegen.

Sie wenden sich gegen intellektuelle Gesellschaftskritiker von der linken Seite und gegen die religiöse Rechte. Dass Skepsis und Vorsicht eine Rolle bei der Vermeidung der gröbsten Irrwege eine Rolle gespielt haben könnten, davon ist bei diesen Fortschrittsapologeten nur wenig zu lesen.

Sie häufen eine große Zahl von Belegen auf, mit denen sie ihren Fortschrittsoptimismus begründen. Dass es bei der Auswahl dieser Beispiel nicht immer ganz unvoreingenommen zugegangen sein könnte, davon war im letzten  Hoppla!-Artikel die Rede. Eigentlich macht Micheal Shermer genau das, was auch Steven Pinker kritisch sieht (Pinker, 2018, S. 100 f.). Michael Shermer verstößt gegen Grundregeln der gesunden Skepsis: Bereits die von ihm konstatierten Korrelationen basieren auf einer gezielten Auswahl (Rosinenpickerei). Von diesem Haufen von Korrelationen aus vollführt er tollkühne Sprünge zu Kausalitäten mit eindeutigen Ursachenzuschreibungen.

Shermers Beispiele zur Einkommensverteilung in den USA sind aus der Zeit vor der letzten großen Rezession. Zur Erinnerung: Die USA-Präsidenten hatten durch ihre Steuersenkungspolitik (Ronald Reagan, 1981-1989) und die Deregulierung des Bankenwesens (Bill Clinton, 1993-2001) eine  Phase verstärkten wirtschaftlichen Wachstums eingeleitet. Dieses fand mit der Finanz- und Bankenkrise von 2008 ihr Ende.

Zu Reagen fällt mir das Stichwort „Laffer-Kurve“ ein, die Martin Gardner seinerzeit in seinen Mathematischen Spielereien im Spektrum der Wissenschaft (2/1982, S. 12-17) seziert hat und zu Clinton das Stichwort „Glass-Steagall Act“. Letzterer war 1933 nach dem Zusammenbruch der New Yorker Börse im Jahr 1929 („Schwarzer  Freitag“) und im Gefolge der anschießenden Großen Depression erlassen worden und sorgte zum Schutz der Bankkunden für die strikte Trennung des Kreditgeschäfts vom Investmentbanking. Unter Clinton wurde diese strikte Trennung wieder aufgehoben.

Die Folgen der damaligen Deregulierung spüren wir aktuell am Wertverfall des Ersparten. Steven Pinker weist wenigstens darauf hin, dass der Anteil der Armen in den USA aufgrund dieser Rezession wieder zugenommen hat. Bei Michael Shermer lese ich davon nichts, obwohl er in seinem Buch Quellen zitiert, die bis ins Jahr 2014 reichen.

Nun gibt es Negativbeispiele, die auch Michael Shermer nicht übersehen kann. Interessant ist, wie er sich diese zurechtbiegt, so dass sie sein Bild vom Fortschritt nicht weiter stören.

Einkommensverteilung

Michael Shermer greift ein Wort von Barack Obama auf, für den die Einkommensungleichheit „die entscheidende Herausforderung unserer Zeit“ ist, der diesen Trend als „schlecht für unsere Wirtschaft, schlecht für die Familien und für den sozialen Zusammenhalt“ ansieht und der den amerikanischen Traum grundsätzlich bedroht sieht (Shermer, 2015, S. 416 f.). Solcherart Schwarzmalerei ist Shermer ein Gräuel.

Shermer sagt uns, dass die Reichsten in den USA in den Jahren von 1979 bis 2010 zwar sehr viel reicher geworden seien, aber die Ärmsten zumindest nicht ärmer; er belegt das mit der folgenden (von mir nachgezeichneten) Grafik.

Zur Klärung des in der Grafik benutzten Begriffs der Einkommensklasse, stellen wir uns die gesamte einkommenspflichtige Bevölkerung nach wachsendem Einkommen aufgestellt vor. Dann teilen wir diese Anordnung in Klassen (Quantile) auf. Die Klasse (40% bis 60%] beispielsweise bilden wir so: Wir gehen die Personen ausgehend vom geringsten Einkommen der Reihe nach durch, bis wir bei 40% aller Personen angekommen sind. Danach folgen die Personen, die der Klasse zuzurechnen sind. Mit der Zurechnung hören wir auf, wenn wir bei 60% der Gesamtheit angekommen sind. Die Klasse umfasst also 20% aller Personen. Da fünf Klassen des Umfangs von 20% genügen, um die Gesamtheit abzudecken, sprechen wir von Fünfteln. Wenn eine Klasse nur 1% aller Personen umfasst, nennen wir sie Hundertstel.

Die  Personen des untersten Fünftels hatten im betrachteten Zeitraum einen realen (inflationsbereinigten) Einkommenszuwachs von 49%, die des obersten Hundertstels einen von 202%.

Ökonomische Mobilität

Kuddelmuddel im Dienste der Mission

Die wachsende ökonomische Ungleichheit stellt für Michael Shermer kein großes Problem dar, denn es gibt ja – außer der Tatsache, dass auch die Leute mit niedrigstem Einkommen vom Wachstum profitieren – noch die ökonomische Mobilität: Die Armen müssen nicht arm bleiben, sie können aufsteigen. Und den Reichen und Superreichen droht – sozusagen in ausgleichender Gerechtigkeit – der finanzielle Abstieg. Die Stärke dieses Mischungseffekts erläutert Shermer anhand der US-amerikanischen Einkommenssteuererklärungen aus den Jahren 1987 bis 2005.

Er zitiert eine Untersuchung, nach der in diesem Zeitraum über die Hälfte der Steuerzahler in ein anderes Fünftel gewechselt und dass grob die Hälfte der Steuerzahler aus dem untersten Fünftel in eine höhere Einkommensgruppe gewechselt sei. Für Leute mit dem höchsten Einkommen sei es noch wahrscheinlicher, in einer niedrigeren Einkommensgruppe zu landen. Als Beleg gibt er an, dass 60 % der Meistverdienenden aus dem obersten Hundertstel nach zehn Jahren abgestiegen sind.

Also grob die Hälfte der Ärmsten steigt in von zehn Jahren in eine höhere Einkommensklasse auf und weit mehr als die Hälfte steigt aus der obersten Einkommensgruppe ab. Das stimmt versöhnlich.

Aber Hoppla! Warum werden hier verschiedene Zeiträume und verschieden große Klassen angegeben? Ich frage mich, ob das oberste Hundertstel wirklich so hart betroffen ist, wie hier dargestellt. Immerhin ist die oberste der betrachteten Klassen um den Faktor 20 kleiner als die unterste. Ich frage mich, ob die Klassengröße einen Einfluss hat und auch, ob in den Vergleichsjahren wirklich dieselben Haushalte betrachtet werden.

Originaldaten USA 1996-2005

Um Licht ins Dunkel zu bringen, wähle ich eine leicht zugängliche Statistik des  US-amerikanischen Finanzministeriums, nämlich die Daten der Einkommenssteuererklärungen aus den Jahren 1996 und 2005 (Income Mobility in the U.S. from 1996 to 2005, Report of the Department of the Treasury, 13.11.2007).

Zwei Tabellen dieses Berichts zeigen die relative Einkommensmobilität. Die Erfassungsregeln unterscheiden sich:

  1. Die Zuordnung zu den Klassen orientiert sich an den Einkommensgrenzen. Erfasst werden Veränderungen der realen Familieneinkommen, wobei die Einkommensgrenzen (inflationsbereinigt) aus dem Jahr 1996 in das Jahr 2005 übernommen werden. Dadurch ändern sich die Klassengrößen mit der  Zeit.
  2. Die Klassengrößen bleiben unverändert. Nur die Anordnung der Haushalte ändert sich. Maßstab für die Grenzziehung ist jeweils die Anzahl der erfassten Haushalte. Das gilt für das Jahr 1996 als auch für das Jahr 2005.

Die zweite Zählweise liegt der Tabelle 2 aus dem Report des USA­-Finanzministeriums zugrunde. Die folgende Grafik ist eine komprimierte Darstellung dieser Daten.

In der Grafik berücksichtigt sind die Steuererklärungen von Haushalten, die sowohl im Jahre 1996 als auch im Jahre 2005 erfasst worden sind und bei denen der Hauptsteuerpflichtige zu Beginn des Erfassungszeitraums wenigstens 25 Jahre alt war. Gezeigt wird, wie sich für jedes der Fünftel des Jahres 1996 die Rangfolge der Steuerzahler im Jahre 2005 relativ verändert hat. Außerdem sind die Veränderungen für die wohlhabendsten 10%, 5% und 1% erfasst.

Auf dieser definierten Datenbasis formuliere ich die Aussagen von Michael Shermer neu: Im betrachteten Zehnjahreszeitraum sind 56%  der Steuerzahler in ein anderes Fünftel gewechselt; 45% der Steuerzahler sind aus dem untersten Fünftel in eine höhere Einkommensklasse aufgestiegen. Für Leute im obersten Fünftel ist die Wahrscheinlichkeit des Abstiegs mit  39% etwas geringer. Aus dem obersten Hundertstel der Meistverdienenden sind nach zehn Jahren 60% abgestiegen, was ja auch Michael Shermer so berichtet.

Dass es sich bei den betrachteten Haushalten um eine Kohorte handelt (wer 1996 dabei war ist auch 2005 dabei) und dass die Klassifizierung nach den oben unter dem 2. Punkt  angegebenen Regeln geschieht, zieht nach sich, dass den Aufstiegen entsprechende Abstiege gegenüber stehen. Dabei werden teilweise auch Klassen übersprungen.

Der Abstieg aus dem höchsten Einkommensfünftel ist keineswegs wahrscheinlicher als der Aufstieg aus der niedrigsten Einkommensgruppe: 39% gegenüber 45%.

Das Gegenteil hat Shermer auch nicht behauptet. Sein Blick auf die Reichen beschränkte sich auf das oberste Hundertstel, und da ist die Abstiegswahrscheinlichkeit 60%. Ich frage mich, ob die Verringerung der Breite der Einkommensschicht von 20% auf 1% eine Rolle spielt: Micheal Shermer hat den Daten einen Effekt angelastet, der möglicherweise nur von den unterschiedlichen Klassifizierungen herrührt. Er hätte dann nicht das zu Beobachtende charakterisiert, sondern das Verhalten seines „Messgeräts“. Wenn dem so wäre, hätte er sich dank seiner Unachtsamkeit selbst getäuscht, er hätte sich verstolpert.

Schauen wir uns das etwas genauer an.

Analyse

Nehmen wir einmal an, der Mischungsprozess dauert sehr lange an, so dass schließlich eine reine Zufallsmischung wie beim ordentlichen Kartenmischen entsteht. In einer Klasse der Breite p (beim Fünftel ist p = 20%, beim Hundertstel ist p = 1%) ist der Anteil der Bleibenden (oder wieder der Klasse zugeordneten) gleich p. Bezogen auf die Klasse ist daher der Anteil der Wechsler gleich 1-p. So gesehen müsste der Anteil der Absteiger aus der höchsten Klasse 99% und die der Aufsteiger aus der untersten Klasse gleich 80% betragen.

Das ist aber noch eine zu optimistische Darstellung dessen, was bei „gerechter“ Durchmischung dem oberen Hundertstel im Vergleich zum untersten Fünftel droht.

In einem begrenzten Zeitraum ist eine gleichmäßige und vollständige Durchmischung nicht zu erwarten. Bei äußerst schwacher und über den gesamten Bereich gleich intensiver Durchmischung und wenn sich die Rangwechsel in der Anordnung immer nur auf eng benachbarte Plätze beziehen, dann ist in jeder Klasse nur ein kleiner Anteil an den Rändern betroffen. Und dieser grenznahe Anteil bezogen auf die Gesamtheit ist für alle Klassen in etwa gleich. Folglich müsste bei schwacher und gleichmäßiger Durchmischung der Gesamtheit der klassenbezogene Anteil der Absteiger aus der obersten 1%-Klasse etwa zwanzigmal größer sein als der Anteil der Aufsteiger aus der untersten 20%-Klasse.

In einer kleinen Simulation habe ich 20 Milliarden elementare Positionswechsel auf eine Population des Umfangs 10000 angewendet. Ein elementarer Positionswechsel betrifft rein zufällig ausgewählte Nachbarn; diese tauschen die Plätze. Dieser Mischungsprozess lieferte ein Ergebnis, das in etwa dem der obigen Mobilitätstabelle entspricht, zumindest bezüglich der 20%-Klassen.

Tatsächlich ergeben sich große Abweichungen, wenn man sich die schmaleren Top-Klassen ansieht. Die Abstiegswahrscheinlichkeit der 1%-Topverdiender beträgt jetzt nicht mehr 60% sondern 94%. Jedenfalls wird man aufgrund der Verringerung der Klassenbreite von 20% auf 1% eine deutlich erhöhte Abstiegswahrscheinlichkeit erwarten können.

Dass diese Erwartung durch die realen Daten nicht wiedergegeben wird, lässt die Vermutung zu, dass die 1%-Klasse der Superreichen in Wirklichkeit erstaunlich stabil ist; das steht im Gegensatz zu Shermers Behauptung, dass Superreiche überproportional vom Abstieg bedroht seien.

Auch wenn Sie meine Zahlenspielerei nicht überzeugt: Es sollte deutlich geworden sein, dass ein direkter Vergleich der Abstiegs- bzw. Aufstiegszahlen zwischen Klassen verschiedener Breite nicht zulässig ist. Shermer bewegt sich auf trügerischem Terrain.

Zum Schluss

Michael Shermer und Steven Pinker vertreten ziemlich extreme liberale und religionsfeindliche Ansichten. Aber auch wer anderer Meinung ist, kann dem einen oder anderen Aspekt – vor allem in Pinkers Buch – etwas abgewinnen und daraus lernen. Um die Sicht beider Autoren auf die Aufklärung ein wenig zurechtzurücken, kann ein Blick in das Buch „The Swerve: How the World Became Modern“ von Stephen Greenblatt von Vorteil sein; außerdem ist es die spannendere Lektüre.

Michael Shermers Buch empfinde ich streckenweise als Überredungs- und Missionierungsversuch: was nicht passt, wird passend gemacht. Pinkers Buch wird seinem Anspruch eher gerecht: ein Plädoyer für die Aufklärung, für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt.

Vorsicht ist jedenfalls geboten. Notfalls sollte der Leser die in den Werken reichlich zitierten Quellen konsultieren. Das kann auch der Laie. Das ist die von mir empfohlene Methode, die ich auch in diesem Artikel angewandt habe: Nicht glauben, wenn man nachschauen kann. Das hilft, Stolpersteine rechtzeitig zu entdecken.

Nachteil dieser Methode ist, dass die Lektüre sehr, sehr lange dauern kann. Wer sich einlullen lassen will und sich in seiner Meinung (pro oder kontra) nur bestätigt sehen will, kommt schneller voran. Inzwischen gibt es deutschsprachige Ausgaben dieser Bücher.

Die Bücher

Greenblatt, Stephen: The Swerve: How the World Became Modern. 2011

Pinker, Steven: Enlightenment Now. The case for reason, science, humanism, and progress. 2018

Shermer, Michael: The Moral Arc. How science makes us better people. 2015

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Treibt Wissenschaft den moralischen Fortschritt an?

„Der moralische Fortschritt: Wie die Wissenschaft uns zu besseren Menschen macht“. Der Buchtitel verspricht Großes. Hier wird eine zentrale Bastion abendländischen Denkens geschleift.

Es geht um das Buch „The Moral Arc“ von Michael Shermer. Die deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung und trägt den eingangs zitierten Titel.

Shermer unternimmt nichts Geringeres als einen Angriff  auf das Gesetz von David Hume, demgemäß nicht vom Sein auf das Sollen geschlossen werden kann, dass also aus den Tatsachen noch keine Entscheidungen folgen. Auch Immanuel Kant kommt unter die Räder, der den Bereich der Wissenschaft (Was kann ich wissen?) sauber vom Bereich der Werte, Normen und Moralvorstellungen (Was soll ich tun?) trennt.

Diese in unserer Kultur durchaus gefestigte Ansicht von den „getrennten Reichen“ zu widerlegen, das ist Shermers Anliegen. Es sei die Wissenschaft, die den moralischen Fortschritt vorantreibt. Zwischen Sein und Sollen bestehe ein ursächlicher Zusammenhang.

Beginnen wir mit einer Begriffsklärung. Gemäß Duden steht Moral für

  1. Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden
  2. sittliches Empfinden, Verhalten eines Einzelnen, einer Gruppe; Sittlichkeit

Nach welchem Maßstabe wird die Moral besser?

Der Prolog von Shermers Buch enthält den entscheidenden Satz: Verbesserungen im Bereich der Moral offenbaren sich in vielen Lebensbereichen. So meint er. Es folgt eine Liste von Beispielen: Der Aufstieg liberaler Demokratien, Eigentumsrechte und freier Handel, Freiheitsrechte, Wohlstand, Gesundheitswesen, weniger Kriege, Abschaffung der Sklaverei, Rückgang der Raten von Mord, Vergewaltigung und sexueller Belästigung, Abschaffung von Folter und Todesstrafe, Gleichheit vor dem Gesetz.

Aber Hoppla! Wie lassen sich Verbesserungen im Bereich der Moral feststellen, wenn nicht nach Maßgabe einer Moral? Das sieht nach einem Zirkelschluss aus. Oder aber im Buch wird eine moralische Festlegung vorab getroffen, und zwar nicht getrieben durch die Wissenschaft.

Immanuel Kant nennt einen solchen Bezugsrahmen für die praktischen und konkreten Normen und Gesetze die  „oberste Bedingung aller Maximen“: „Der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung […] wird, ohne von Erfahrung oder irgend einem äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten.“ (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 7 Grundgesetz der praktischen Vernunft)

Michael Shermer denkt wohl, seine wissenschaftsgetriebene Moral sei ein solcher Rahmen. Er erkennt an, dass es Alternativen dazu gibt; sie sind der Philosophie entlehnt: die Nikomachische Ethik des Aristoteles, der kategorische Imperativ des Immanuel Kant, der Utilitarismus des John Stuart Mill und die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls.

Beim näheren Hinsehen aber bietet die wissenschaftsgetriebene Moral gar keinen Maßstab in diesem Sinne. Dazu ist sie viel zu vage und zirkelhaft („Was die Vernunft uns gebietet ist vernünftig“). So gesehen bleibt die Bewertung dessen, was ein Fortschritt ist, eine Geschmacksfrage. Und in diesem Fall ist es der Geschmack des Michael Shermer. Michael Shermer hat – wie viele andere auch – ein Mitgefühl für Tiere; er mag die Jägerei, die Fischerei und das Schlachten von Tieren nicht. Die wachsende Population der  Vegetarier ist für ihn folglich ein positiver moralischer Trend.

Dass man die Veredelung in der Landwirtschaft — Verfütterung von Feldfrüchten mit dem Zweck des Fleischkonsums — auch aus Gründen des ökonomischen Umgangs mit den Ressourcen ablehnen kann, spielt für Shermer nur eine untergeordnete Rolle. Dabei hätte er hier noch am ehesten seine wissenschaftlich-wirtschaftlichen  Argumente anbringen können.

Vergessen wir den Anspruch, die moralischen Normen wissenschaftlich zu begründen und nehmen wir sie als das, was sie sind: Unbedingte Setzungen, mehr oder weniger nützlich und jedenfalls diskussionswürdig. Wirksamkeit erlangen solche moralische Prinzipien in einem demokratischen Entscheidungsprozess; sie verwirklichen sich letztendlich in unseren Gesetzen.

Shermers Buch hat dazu einiges von Belang zu bieten. Es fasst moralische Prinzipien in Art der Zehn Gebote zusammen. Die folgende Kurzfassung soll Lust darauf machen, sie im Original zu studieren. Ich ziehe den Hut vor dem, der sie zur Richtschnur seines moralischen Verhaltens macht.

  1. Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!
  2. Frage erst nach, ob deine Aktion vom anderen als gut oder schlecht empfunden wird.
  3. Strebe nach Glückseligkeit und denke dabei auch an die anderen.
  4. Suche die Freiheit und denke dabei auch an die Freiheit der anderen.
  5. Handle fair.
  6. Handle möglichst rational.
  7. Übernehme die Verantwortung für dein Handeln.
  8. Verteidige auch andere gegenüber moralischen Aggressoren.
  9. Dehne deine moralischen Kategorien auch auf Leute anderer Nationen und anderer Religionen, auf Leute anderer Hautfarbe oder anderer sexueller Orientierung aus.
  10. Leiste deinen Beitrag zum Weiterbestehen der gesamten Biosphäre.

Für das Reziprozitätsprinzip (1.) habe ich die Formulierung aus Mt 7, 12 gewählt; diese Anleihe bei der Bibel passt nicht so recht zu Shermers Behauptung „religion cannot be the driver of moral progress“. Die Erweiterung des Reziprozitätsprinzip (2.) berücksichtigt die Tatsache, dass Risikobewertungen subjektiv sind. Das 3. Prinzip kommt aus der Antike zu uns (Epikur). Zum Freiheitsprinzip (4.) hat John Stuart Mill einen berühmten Aufsatz geschrieben und er bezieht sich darin auch auf antike Wurzeln. Das Fairnessprinzip (5.) wurde von John Rawls klar gefasst.

Das Vernunftprinzip (6.) stößt mir auf, denn wer gibt schon zu, irrational zu handeln. Außerdem steht nach Shermer alles moralische Handeln unter dem Regime der Vernunft. So gesehen steht hier: es ist vernünftig, vernünftig zu sein. Das 7. Gebot, dem ich gerne zustimme, entstammt der Verantwortungsethik und steht im Gegensatz zu Kants Gesinnungsethik. Aus dem letzten Prinzip (10.) kann man mit etwas Mühe die heute international akzeptierte Forderung nach nachhaltiger Ressourcennutzung herauslesen.

Das alles ist nicht alternativlos. Jedenfalls ist dieser Dekalog nicht zwangsläufige Folge irgendwelcher wissenschaftlicher Theorien. Diese Prinzipien  lassen sich nicht aus Fakten ableiten.

Besonders sticht mir das 2. moralische Prinzip dieses Dekalogs ins Auge. Hier spielt tatsächlich die Wissenschaft eine Rolle. Es geht um die Erkenntnisse der Risikoforschung. Dennoch bleibt es eine Setzung – bedingungslos. Warum das so ist, weiß ich aus eigenem Erleben.

Vor über zwei Jahrzehnten bin ich, ohne das zu wissen, dem 2. Prinzip gefolgt und habe in Ingenieurkreisen ziemlich vehement vertreten, dass die Risikobewertung vom Standpunkt der Betroffenen auszugehen habe, dass sie unvermeidlich subjektiv sei. Darin bin ich der Linie der Prospect Theory von Daniel Kahneman und Amos Tversky gefolgt.

Ich hatte damals einen schweren Stand gegenüber einigen Vertretern der Industrie (Kerntechnik, Bahnwesen), die damals noch das objektive Risiko als das geeignetere Maß ansahen. Sie hätten anstatt des zweiten Prinzips wohl lieber einen Satz von Albert Kuhlmann vom TÜV Rheinland gesehen: „Die Sicherheitskultur muss sich darum bemühen, dass es zu einer Vergleichmäßigung der technischen Risiken kommt.“ Damit ist die „Verteilung der technischen Risiken auf die Gesellschaft und den einzelnen Bürger“ nach objektiven Maßstäben unter Zugrundelegung des technisch-naturwissenschaftlichen Risikobegriffs gemeint.

Korrelation

Die Moral sei mit der Zeit immer besser geworden, so Shermer.  Er begibt sich ins Archiv der Weltgeschichte, ist dort außerordentlich fleißig und trägt einen Berg von Belegen zusammen zur Stützung dieser These.

Shermer schreibt die von ihm konstatierte Verbesserung der Moral dem gleichlaufenden Fortschritt von Wissenschaft und Vernunft zu, wobei die Rolle der Vernunft darin bestehe, rationale Argumente und empirische  Belege zu liefern – was nun wiederum auf Wissenschaft hinausläuft.

Seine Auswahl an Beispielen für diesen Zusammenhang ist tendenziös. Ich greife eins heraus: Die USA sind Spitze bei der Zahl der Nobelpreisträger, in punkto Religiosität und hinsichtlich der Mordrate. Sie können leicht erraten, welche der drei möglichen  Paarungen Eingang ins Buch gefunden hat: Religiosity and Homicides (Bild 4-2 auf Seite 170).

Bereits  der These vom Fortschritt der Moral muss man mit Skepsis begegnen. Dass mit dieser Prämisse möglicherweise etwas nicht stimmt, zeigen die aktuellen politischen Tendenzen in den USA sowie in Ost- und Südeuropa: Fremdenfeindlichkeit und die damit einhergehende Demontage des Toleranzgebots.

Letzteres ist nicht etwa das Werk von Wissenschaftsskeptikern. Technik- und Wissenschaftsgläubige sind am Werk. Ayn Rand verleiht diesen Leuten eine mächtige Stimme; von ihr kommt der flammendste Angriff auf einen der wichtigsten Grundwerte unserer westlichen Gesellschaften, auf die Toleranz.

Zu denken gibt auch der Satz, den der Internetkritiker Jaron Lanier im Spiegel-Interview  am 3.11.2018 zum Besten gegeben hat: „All die Eltern, die bei Google und Facebook arbeiten, erlauben ihren Kindern nicht, die Produkte zu benutzen, die sie selbst entwerfen.“ Auch die Verrohung der Sitten in den sozialen Netzwerken dient schwerlich der Stützung von Shermers These von der andauernden Verbesserung der Moral.

Nähern wir uns dem Problem von einer anderen Seite. Die Steinzeitfrau war an Herd und Kind gebunden. Die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau war durch biologische und wirtschaftliche Gegebenheiten ziemlich starr vorgegeben. Gleichstellungsbestrebungen lagen nicht in der Luft. Deshalb waren die damaligen Menschen nicht weniger moralisch als die heutigen.

Die Technik befreit weitgehend von der Hausarbeitsfron. Frauen in der Wirtschaft sind ein lohnendes Geschäft für die gesamte Gesellschaft. So kam es dann auch zu unseren Gleichstellungsgesetzen.

Das Beispiel zeigt: Die Wissenschaft bringt die Technik voran. Diese führt zum gesellschaftlichen Wandel und dieser wiederum zu einer Entwicklung der Normen, die den sich ändernden Lebensverhältnissen gerecht werden. Wie bereits Karl Marx feststellte: Erst ist die Basis da, dann kommt der kulturelle Überbau mit seinen Standards.

Kausalität

So gesehen hat die Wissenschaft keinen direkten Einfluss auf die Moral. Von besser oder schlechter kann nicht die Rede sein. Zu fragen ist nur, inwieweit ein System von Normen  zu den Gesellschaftsverhältnissen passt. Und natürlich gibt es Rückwirkungen des Überbaus auf die Produktionsverhältnisse, auf die Basis. Eine einfache Ursache-Wirkungsbeziehung von der Wissenschaft hin zu den gesellschaftlichen Normen ist nicht auszumachen.

Aber genau um einen solchen Nachweis geht es Michael Shermer. Fast zwanghaft trägt er einen riesigen Berg an Beispielen zusammen, in denen es immer darum geht, den Einfluss der Wissenschaft auf das moralische Wachstum zu belegen. Aber es bleibt bei der ständig wiederholten Behauptung. Ursache-Wirkungsbeziehungen bleiben unsichtbar. Bestenfalls werden Korrelationen belegt.

Shermers Argumentationsmuster hat durchgängig die Form A → B, wobei A für die Wissenschaft, B für immer neue Beispiele moralischen Wachstums und der Pfeil für die Wirkungsrichtung steht. Dabei gerät in Vergessenheit, dass die Korrelation zwischen A und B durchaus auch von Kausalbeziehungen C → A und C → B erzeugt sein kann. Manchmal verrät Shermer auch, wie die gemeinsame Ursache C aussehen könnte.

Er ist sich offenbar der Tatsache bewusst, dass seine Beteuerungen auf schwachen Füßen stehen. Er schreibt nämlich, dass die wachsende Fähigkeit des abstrakten Denkens C sowohl die Wissenschaft A als auch die  Moral B vorangebracht haben könnte.

Allzuviele Beispiele ermüden. Ich greife nur noch eines heraus.

Shermer stellt sicherlich zu Recht fest, dass der aufstrebende Handel C die Regeln der Fairness B nach sich gezogen hat. Der Mathematiker wird ergänzen: Und dieser freie Handel hat auch die mathematischen Wissenschaften A beflügelt; er hat die Wahrscheinlichkeitsrechnung aus der Spielerecke gezerrt und für die Statistik und das Versicherungswesen nutzbar gemacht (Bernstein, 1996). Die moralischen Gebote der Fairness sind eine Folge des freien Handels und wohl kaum eine Konsequenz der mathematischen Wissenschaft.

Das zum Thema Korrelation und Kausalität.

Kommt die Wissenschaft vor der Moral?

Es stellt sich die Frage, ob die Wissenschaft wenigstens den Formulierungen der Moralvorstellungen vorausgeht. Das wäre nämlich das Mindeste, was man im Sinne der postulierten Kausalitäten verlangen müsste.

Aber auch da sieht es nicht gut aus. Ein Meilenstein der Renaissance war die Wiederentdeckung des Lehrgedichts „Über die Natur der Dinge“ von Lukrez im Jahre 1417 – vermutlich im Benediktinerkloster Fulda.

Anstelle von empirischen Belegen findet man in dem Text nur Spekulationen über den Aufbau der Welt. Spekulation und Metaphysik gehören zum kreativen Vorfeld der Wissenschaft. Wissenschaftlich im modernen Sinne ist das alles nicht. Dazu fehlen die empirischen Nachweise und Prüfungen.

Erst zweihundert Jahre nach dem Wiederauffinden und über siebzehn Jahrhunderte nach Entstehung des Lehrgedichts entstand die moderne Erfahrungswissenschaft durch Loslösung der scientia von der sapientia. Auf diese scientia beruft sich Shermer, wenn er von science spricht.

Dennoch handelt es sich bei dem Lehrgedicht und dessen Auferstehung um einen Schatz von außerordentlichem Wert – und das nicht etwa wegen der Auswirkung auf die Wissenschaft, sondern wegen seiner umwälzenden Wirkung in Sachen Moral, Normen und Wertvorstellungen. Um das zu verdeutlichen, folgen ein paar kurze Auszüge aus dem Lehrgedicht (übertragen von Klaus Binder).

  • … ich eile, die Seele aus den bindenden Fesseln des Aberglaubens zu lösen. (1.932)
  • Dass ihr nicht seht, was die Natur verlangt, nicht mehr nämlich, als dass Schmerzen weit ferngehalten werden vom Leib und der Geist sich, von Sorge erlöst und Furcht, heiter fühle und gelassen! (2.19)
  • Weil weder Reichtum noch Rang noch Pomp der Macht irgend heilsam wirken auf den menschlichen Leib, darum, so können wir annehmen, sind sie unnütz für Geist und Seele. (2.39)
  • Gäbe es keinerlei Abweichung der Urelemente, die durch neu gerichtete Bewegung das Gesetz des vorbestimmten Schicksals sprengt, dann wäre seit unendlicher Zeit in endloser Kette Ursache auf Ursache gefolgt. Woher aber, frage ich, hätten dann lebende Wesen überhaupt auf Erde den freien Willen? (2.255)
  • Gering sind die Spuren unserer natürlichen Anlagen, die vernünftigem Denken widerstehen und bleiben. Nichts also hindert uns, ein Leben zu führen, das Göttern würdig ist. (3.320)
  • Es ist die Natur der Dinge nicht durch göttliches Wirken geschaffen und auch nicht für uns. (5.195)

Soweit Lukrez, aber das ist längst nicht alles, was die Antike uns an Wertvorstellungen zu bieten hat. Demokratie, Freiheit, Individualismus, all dies heute wirksame normsetzende Gedankengut der Antike wurde uns von jüdischen, islamischen und christlichen Gelehrten und Schreibern übermittelt und wurde teils für Jahrhunderte in Klosterbibliotheken aufbewahrt. Das alles geschah in vorwissenschaftlicher Zeit, in eine Zeit also, in der das Nachdenken über die Natur die Metaphysik hervorbrachte und in der diese Spekulationen Teil der Philosophie waren.

Aus vorwissenschaftlicher Zeit sind auch die Grundregeln der Skepsis, die der jüdische Philosoph Moses Maimonides formuliert hat. Es sind die Aufforderung zur Toleranz gegenüber Gesprächspartnern und der abgewogene Zweifel.  Diese Grundregeln der Gesprächskunst haben normative Geltung  (Basics für Skeptiker).

Kurz gefasst

Michael Shermer, Begründer der Skeptics Society und Herausgeber des Skeptic-Magazins, ist es gelungen, eine ganze Reihe von Regeln gesunder Skepsis zu brechen. Das nenne ich „gelebte Ironie“.

Dennoch: Das Buch enthält viel Bedenkenswertes und sogar Beherzigenswertes. Es lohnt die Lektüre, auch wenn es sein Hauptziel nicht erreicht, nämlich den Nachweis, dass die Wissenschaft die Moral verbessert. Das Gesetz von Hume wird nicht ausgehebelt.

Quellen

Bernstein, Peter L.: Against the Gods, 1996

Grams, Timm: Risikooptimierung kontra Risikobegrenzung. Analyse eines alten und andauernden Richtungsstreits. Automatisierungstechische Praxis atp 8/2003

Greenblatt, Stephen: The Swerve.  How the World Became Modern. 2011

Höffe, Otfried: Aristoteles: Die Hauptwerke. Ein Lesebuch. Tübingen 2009

Lukrez: Über die Natur der Dinge. (In deutsche Prosa übertragen und kommentiert von Klaus Binder. Mit einer Einführung von Stephen Greenblatt. 2014)

Maimonides, Moses: Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage. 2009

Mill, John Stuart: On Liberty and Utilarianism. Oxford University Press 1969

Shermer, Michael: The Moral Arc. How Science Makes Us Better People. 2015

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Toleranz

„die, welche nach Verkündigung des Friedens inskünftig eine
andere Religion bekennen oder annehmen werden als ihr Landesherr,
nachsichtig geduldet und nicht gehindert werden sollen,
sich mit freiem Gewissen zu Hause ihrer Andacht
ohne Nachforschung und Beunruhigung privat zu widmen,
in der Nachbarschaft aber wo und sooft sie es wollen
am öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen“
Aus Artikel V § 34 des Osnabrücker Friedensvertrags (1648)

Toleranz ist die notwendige Folge unseres Menschseins.
Wir sind alle fehlbar und leicht dem Irrtum verfallen;
lasset uns daher Nachsicht üben gegenüber unseren Torheiten.
Voltaire

Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit,
soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen
die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Grundgesetz Art. 2 (1)

Nur wenn es weh tut, ist es Toleranz:
Volker Kitz, „Meinungsfreiheit“

Lies ab und zu Werke, die deine Meinung nicht bestätigen, sage ich mir. Auch solchen kannst du Einsichten abgewinnen darüber, was die Welt bewegt. In diesem Herbst habe ich mir ein größeres Werk vorgenommen. In den USA gilt es manchen als das wichtigste Buch nach der Bibel. Die Autorin hat ihre Anhängerschaft unter bekannten konservativen Politikern: Alan Greenspan zählte zu ihren Freunden. Donald Trump und viele seines Teams, darunter Rex Tillerson und Mike Pompeo verehren die Autorin.

Das Werk

Handelnde Personen

Helden: eine Eisenbahndirektorin, der Besitzer von Gießereien, Bergwerken und Kohlegruben, Erfinder einer wunderbaren Metalllegierung, ein Ölmagnat, als zentrale Figur der Erfinder eines Wundermotors, dazu ein Pirat, dessen Rolle erst allmählich klar wird. Alle sind schlank, schön, leistungsstark; sie haben scharf gezeichnete Gesichtszüge, einen klaren Blick und sind von ihren Missionen besessen. Reichtum gilt als Ausweis der Tugendhaftigkeit. Gier ist gut. Die Helden sind Hüter des Geistes und des Fortschritts.

Schnorrer und Plünderer: Dazu gehören Leute mit weichen Gesichtszügen und verschleiertem Blick. Sie haben den Wohlstand der Helden im Visier und sorgen durch Gesetzgebung und Verordnungen für Gleichmacherei und für die Umverteilung der Güter von den Leistungsstarken hin zu den Bedürftigen. Bedürftigkeit begründet für sie den Anspruch auf Zuwendung. Geist und Fortschritt sind von Übel.

Handlung in Kürze: Die Moral, die die Bedürftigkeit und nicht die Leistung zum Maßstab des Erfolgs macht, richtet die Welt zugrunde. Dem widersetzen sich die Helden, indem sie in den Streik treten. Sie ziehen sich nacheinander in ein abgeschottetes Tal der Rocky Mountains in Colorado zurück. Von diesem „Utopia der Gier“ aus schauen sie dabei zu, wie die USA durch die Schnorrer und Plünderer zugrunde gewirtschaftet wird. Und die Rolle des Piraten? Er sieht sich als Anti-Robin-Hood. Ihm geht es darum, den Helden ihr Vermögen, das ihnen der Sozialstaat zum Zwecke der Verteilung an die Bedürftigen entzogen hat, wieder zurückzuerstatten. Er überfällt nur Schiffe, die im Staatsauftrag zur Umverteilung von Gütern unterwegs sind.

Leitideen

Grundlage des Werkes bilden die Metaphysik der objektiven Realität, die Absolutsetzung der Vernunft, das Ethos des Eigennutzes und die alleinige Wertschätzung einer Politik des Kapitalismus. Einer der Helden, ein Philosoph, drückt das Motto des Streiks so aus: Wenn Philosophen jene als Denker-Kollegen akzeptieren, für die das Denken nicht existiert, dann sind sie es, die die Vernichtung des Denkens vorantreiben. Es ist eine absolut gültige Prämisse, die Kooperation mit der Antithese zu verbieten und die diesbezügliche Toleranz nicht zu tolerieren. (A basic premise is an absolute that permits no co-operation with its antithesis and tolerates no tolerance.)

Das schreibt die Autorin Ayn Rand (1905-1982) im Kapitel „Atlantis“ ihres in den USA wirkmächtigen Buches „Atlas Shrugged“. Das Buch ist aus dem Jahr 1957, die McCarthy-Ära geht gerade zu Ende. Es zeigt Grundstrukturen des Zusammenlebens holzschnittartig auf. Es ist Schwarz-Weiß-Malerei mit extremer Positionierung.

Trennung der Reiche

Schwarz-Weiß-Malerei kann den Eindruck erwecken, als könne man alles sauber mittels Vernunft klären („Keine Toleranz der Toleranz“) und als gäbe es so etwas wie die Wahrheit. Aber Menschen und deren Zusammenleben gehorchen nur in minimalen Bereichen der Logik und der Mathematik. Die objektive Realität der Ayn Rand ist ja auch nur eine der möglichen Sichtweisen auf die Gesellschaft. Sie ist eine Ideologie, ebenso wie der Kommunismus eine war, gegen den sich Ayn Rand ja richtet.

Dass alles Denken über Natur, Mensch und Gesellschaft sich innerhalb eines einzigen geschlossenen Gedankengebäudes erfassen lässt, ist vormodernes Gedankengut. Es kommt besonders schön in Lukrez´ Lehrgedicht „Über die Natur der Dinge“ zum Ausdruck. Mit dem Ende der Renaissance und nach den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts sollte dieses Denken, nach dem Wissenschaft, Moral und Religion einem geschlossenen und stimmigen Reich angehören, ebenfalls ein Ende gefunden haben.

Rufen wir uns wesentliche Stufen dieses Erkenntnisprozesses in Erinnerung: Francis Bacon spricht von den zwei Reichen Wissenschaft und Weisheit (Scientia und Sapientia). Das Gesetz von David Hume besagt, dass nicht vom Sein auf das Sollen geschlossen werden kann und Immanuel Kant unterscheidet drei Reiche: Wissenschaft („Was kann ich wissen?“), Moral („Was soll ich tun?“) und Glückseligkeit („Was darf ich hoffen?“).

Auf den Punkt gebracht hat es Karl Raimund Popper mit seinem Abgrenzungskriterium: Alles Wissen ist prüfbar und grundsätzlich falsifizierbar. In seinen Worten: „Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können.“ Grundsätzlich nicht falsifizierbare Aussagen über die Natur sind Glaubenssache und gehören ins Reich der Metaphysik.

Diese Trennung ist für Popper keineswegs mit einer Geringschätzung der Metaphysik verbunden. Sie sagt uns aber, wie wir uns in den verschiedenen Reichen bewegen können, welche „Anstandsregeln“ jeweils gelten.

In der Wissenschaft sind Widersprüche aufzulösen; Gelehrtenstreit ist das Mittel der Wahl; mit Karl Raimund Popper kann man sagen, „die kritische oder vernünftige Methode bestehe darin, dass wir unsere Hypothesen anstelle von uns selbst sterben lassen“ (Über Wolken und Uhren, 1966).

Im Reich des Wissens ist Toleranz keine gute Idee. Da hat Ayn Rand sicherlich Recht. Aber Hoppla! Nicht Recht hat sie, wenn es um Glaubensfragen geht. Dann ist Toleranz angezeigt, Gelassenheit gegenüber der Meinung des anderen, selbst wenn es weh tut, wie Volker Kitz meint.

Der Schmerz lässt nach, wenn man sich vor Augen hält, dass der Pluralismus der Standpunkte und Weltanschauungen fruchtbar ist; er dient der Evolution der Ideen. Die Toleranzregeln des Grundgesetztes (Art. 2 bis 5) sind ein unter viel Leid erworbenes Gut von höchstem Wert.

In jüngerer Zeit vertritt Stephen Jay Gould die Auffassung, dass es beispielsweise zwischen dem katholischen Glauben und der Evolution keinerlei Konflikt gibt. Auch er spricht von den getrennten Reichen, von den Nonoverlapping Magisteria (NOMA). Dabei folgt er im Wesentlichen der Botschaft des Papstes Johannes Paul II, die jener 1996 an die Mitglieder der päpstlichen Akademie der Wissenschaften gerichtet hat.

Grenzüberschreitungen

Auch heute noch wollen viele zurück zu dem einen Reich, in dem alles klar und sauber entscheidbar ist und in dem es Wahrheiten gibt, an die man sich klammern kann. Zwei dieser Trends wurden von der amerikanischen Rechten aufgegriffen: der Atheismus und das Intelligent Design. Diese Trends sind interessanterweise einander entgegengesetzt gerichtet.

Atheismus

Von der atheistischen Strömung war bereits eingangs die Rede: Ayn Rands Atheismus ergibt sich aus ihrer Metaphysik der objektiven Realität. Mit besonderem Eifer vertritt Richard Dawkins einen Neuen Atheismus (The God Delusion, 2006). Ihm geht es vor allem darum, den Agnostiker zu diskreditieren, einen, der sich in Glaubensdingen in Entscheidungsenthaltung übt und der das NOMA-Prinzip bejaht. In seinem Verdammungseifer geht Dawkins von einem sonderbaren Begriff der Wahrscheinlichkeit aus und er wendet das Indifferenzprinzip falsch an.  Im Aufsatz 1654: Ein neues Denken beginnt erläutere ich das.

Eine ähnliche Verwirrung richtet Dawkins an, wenn er sich gegen das NOMA-Prinzip wendet und behauptet, dass auch Gott dem wissenschaftlichen Zugriff auszusetzen sei. Atheismus dieser Ausprägung ist kaum der Rede wert.

Bedrohlicher ist die Grenzüberschreitung in entgegengesetzter Richtung, nämlich das Intelligent Design.

Intelligent Design

Den Grundgedanken der Intelligent-Design-Bewegung drückt Barbara Drossel im Streitgespräch mit Volker Sommer so aus: „Allein dass die Welt rational verstehbar ist, in einer mathematischen Sprache beschrieben werden kann und es Naturgesetze gibt, deutet auf einen rationalen Gesetzgeber hin.“ (Die Daten sprechen eben nicht für sich, SdW 10/2018, S. 70-75)

Die Intelligent-Design-Bwegung vermeidet es, den Schöpfer Gott zu nennen. Anstelle von Schöpfung spricht man auch lieber von Intelligent Design. Dahinter steckt eine Strategie: In den USA sind Staat und Kirche strikt getrennt. Es gibt in den staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht. Das ist den Gläubigen ein Dorn im Auge. Um die Schöpfungslehre doch noch an die Schulen zu bringen, muss sie wie Wissenschaft aussehen. Was dabei herauskommt, ist ein Musterbeispiel für Pseudowissenschaft. Das mache ich im Aufsatz Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution deutlich.

In dem Streitgespräch bezweifelt Volker Sommer, dass Fragen für oder gegen die Existenz von übernatürlichen Wesen in einen wissenschaftlichen Diskurs gehören. Und doch beteiligt er sich gerade in diesem Moment selbst an einem wissenschaftlichen Diskurs über derartige Fragen.

Das veranlasste mich zu diesem Leserbrief an das Spektrum der Wissenschaft:

„Intelligent Design ist metaphysisches Gedankengut – nicht prüfbar, statisch. Ein Wissenschaftsmagazin hat seine Pflicht erfüllt, wenn es die wissenschaftliche Unfruchtbarkeit dieses Ansatzes einmal aufgezeigt hat. Das ist durch Daniel C. Dennett im Oktoberheft 2005 in angemessener Weise und im richtigen Kontext geschehen. Ausgangslage war damals der Vorstoß der Intelligent-Design-Bewegung, die Schöpfungslehre als gleichrangig mit der Evolutionslehre in den Unterrichtsplänen der USA-Schulen zu verankern. Dieses beharrlich verfolgte Ansinnen gilt als weitgehend gescheitert.

Nun soll die Intelligent-Design-Bewegung anscheinend revitalisiert werden. Im Oktoberheft von Spektrum der Wissenschaft trägt Barbara Drossel im Streitgespräch die Intelligent-Design-Position vor; im Literaturverzeichnis finden wir ein Buch des ID-Verfechters John Lennox.

Ein solches Streitgespräch ist genau das von der Intelligent-Design-Bewegung gewünschte Format: Es ist zu verstehen als Anerkennung der Gleichrangigkeit dieses Denkens mit dem der modernen Wissenschaft.

Anders als Volker Sommer hat sich der Chemie-Nobelpreisträger Manfred Eigen vor Jahren einer solchen Auseinandersetzung verweigert. Nach einem Gespräch mit ihm und nach Besuch der damaligen Veranstaltung (eine Ringvorlesung der Theologischen Fakultät Fulda zum Thema „Evolution und Schöpfung“, 1989) kann ich nachvollziehen, warum. Volker Sommer versteht sich als Agnostiker. Er hätte es wie Manfred Eigen halten sollen.“

Soweit mein Leserbrief. Von einem Mitglied der Skeptikerbewegung erhalte ich folgenden Einwand: „Ich kann Deine Argumentation gut nachvollziehen, finde es aber andererseits auch wünschenswert, unfruchtbare Ansätze wie die des Intelligent Design immer wieder öffentlich als Irrwege anzuprangern. In diesem Sinn meine ich, darf man Unfug auch als Unfug bezeichnen.“

Aus meiner Erwiderung: „Homöopathie, Wünschelrutengängerei usw. sind Gemeingut. Frage irgendwelche Passanten danach und die meisten werden Dir antworten, dass sie das kennen und viele werden eine Meinung dazu haben. Hier ist Aufklärungsarbeit im Sinne der Skeptikerbewegung wichtig und wirksam.

Anders ist es beim Intelligent Design. Dieses scheint mir in erster Linie „Professorensache“ zu sein: Ich habe einen Anhänger des ID unter meinen Kollegen. Dann weiß ich noch von einem Frankfurter Kollegen, der eine ähnliche Berufsbiographie hat wie ich. Zöller-Greer heißt er und er ist im Professorenforum (http://www.professorenforum.de/) aktiv, einem einschlägig tätigen Kreis. Die meisten Europäer aber werden mit dem Begriff Intelligent Design nichts anfangen können.

Im Falle des Intelligent Design sollten wir den Streisand-Effekt berücksichtigen. Ein balanciertes Streitgespräch von Wissenschaftlern mit diesen Pseudowissenschaftlern in einem seriösen Wissenschaftsmedium halte ich für kontraproduktiv.“

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Naturgesetze: metaphysisch oder wissenschaftlich?

 

War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?
Goethe, Faust I, Nacht

In Kreisen der Skeptikerbewegung ist ψ (Psi) etwas, das gegen die Naturgesetze verstößt. Es soll hinter Wahrsagerei, Telepathie, Wünschelrutengängerei und weiteren prüfungsresistenten Phänomenen stecken. Diese Phänomene erhalten damit das Etikett unwissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich. Sie werden von maßgebenden Mitgliedern der Skeptikerbewegung als nicht existent angesehen.

Ich bin in eine Denkfalle hineingeraten und habe den Begriff des Naturgesetzes, wie in der Skeptikerbewegung üblich, bislang ebenfalls ziemlich unvorsichtig verwendet. Ich hatte zwar eine Ahnung von seiner Doppelgesichtigkeit, konnte diese Ahnung aber nicht klar genug ausdrücken.

Das liegt daran, dass im Laufe meines naturwissenschaftlich orientierten Studiums ständig von Naturgesetzen die Rede war und dass darunter eigentlich immer nur die Formeln verstanden wurden, die in den Lehrbüchern stehen.

Erst viel später begann ich zu fragen: Sind Naturgesetze das, was wir von der Natur wissen oder sind sie das, wovon wir nur fehlbares Wissen haben? Im ersten Fall bilden sie die vollkommen diesseitige Erfahrungswissenschaft. Im zweiten sind es der Natur eigene Gesetze, deren Existenz wir vermuten und die wir zu erkennen suchen; als solche sind sie jenseitig und gehören ins Reich der Metaphysik.

Es scheint mir ein Wesensmerkmal der Philosophie des Naturalismus zu sein, dass er die  erdachten und konstruierten Gesetze nicht sorgfältig genug von den vermeintlich vorgefundenen unterscheidet.

Ich muss bekennen, dass ich im Hoppla!-Artikel Über Wunder die beiden Auffassungen von Naturgesetzlichkeit ebenfalls nicht sauber genug auseinander gehalten habe. Da hat die Begriffsverwirrung aus Studienzeiten Spätfolgen gezeigt. Im Laufe einer Diskussion über den Artikel Skeptizismus und Skeptikerbewegung hat sich der Schleier allmählich gelüftet.

Ich will nun den Kern dieser Diskussion als teilweise fiktiven Dialog wiedergeben und hoffe, dass der von mir durchlebte Lerneffekt sich auf den einen oder anderen Leser überträgt.

Ralph: Das Paranormale bzw. Anomale nennen wir kurz Ψ. Dieses Ψ ist etwas, das zu naturgesetzinkompatiblen Ereignissen führt. Die Standardhypothese der Normalwissenschaft lautet: „Es gibt kein Ψ.“

Till: Die normale Wissenschaft unterliegt dem Wandel; das lesen wir bei Thomas Kuhn. Das Anomale gibt es sehr wohl; es steht definitionsgemäß im Widerspruch zur Normalwissenschaft. Folglich unterliegt auch die Auffassung vom Anomalen dem Wandel. Genau die Anomalien sind es, die den Fortschritt der Wissenschaft bewirken. So jedenfalls sieht es Thomas Kuhn in seinem bedeutenden Werk „The Structure of Scientific Revolutions“ von 1962. Denke nur an die Entdeckung der Venusphasen durch Galileo Galilei; das war eine Anomalie im Rahmen des ptolemäischen Weltsystems. Diese und andere Anomalien haben zu einer wissenschaftlichen Revolution und zum Siegeszug des kopernikanischen Weltsystems geführt.

Ralph: Ich habe von der „normalen Wissenschaft“ gesprochen. Aber das hat nichts mit der Auffassung des Thomas Kuhn zu tun. Mir dient der Begriff lediglich als Abgrenzung zur Anomalistik. Bei der Anomalistik geht es primär um ungewöhnliche Ereignisse oder Fähigkeiten wie Spuk, Geister, Hellsehen, Psychokinese, Telepathie usw., also um Effekte, die bislang nicht belegt werden konnten.

Till: Für Dich ist ψ – das Anomale – etwas Naturgesetzinkompatibles. Aber was sollen wir unter „Naturgesetzen“ verstehen? Sind die Naturgesetze das, was in den Lehrbüchern steht, also unser Wissen von der Natur; oder sind es unwandelbare Gesetze, die der Natur eigen sind? Im ersten Fall sind sie wandelbar und im zweiten Fall sind sie „Gottes Zeichen“, die uns weitgehend verborgen bleiben, sofern es sie überhaupt gibt.

Im ersten Fall treiben Anomalien den wissenschaftlichen Fortschritt und damit den Wandel an. Im zweiten Fall, also im Zusammenhang mit den „unwandelbaren Naturgesetzen“, ist der Begriff der Anomalie sinnlos. Keinesfalls also taugen Naturgesetze und Anomalien zur Charakterisierung von Umtrieben wie Gedankenübertragung, Wahrsagerei, Wünschelrutengängerei, Homöopathie und Quantenmystik.

ψ  gehört bestenfalls ins Reich der Metaphysik; und das ist kein guter Aufenthaltsort für den Skeptiker.

Ralph: Es gibt einen Unterschied zwischen der Anomalistik, früher Parapsychologie genannt, und der Mainstream-Wissenschaft. Das Attribut „normal“ möchte ich nicht stehen lassen, da es zu einer Verwechslung mit der Kuhnschen Normalwissenschaft führen kann. Die Mainstream-Wissenschaften mit naturwissenschaftlichem Bezug suchen nach Naturgesetzen und naturgesetzlichen Erklärungen, die Anomalistik sucht jedoch nach außergewöhnlichen Ereignissen.

Wenn in den Naturwissenschaften nach Abweichungen vom naturgesetzlich Vorhergesagten gesucht wird, dann dient dies der Prüfung von Naturgesetzen. Standardvoraussetzung ist dort: ψ  ist etwas Naturgesetzinkompatibles, oder auch: Es gibt kein ψ . Diese Voraussetzung ist methodisch notwendig.

Till: Das was Du Standardvoraussetzung nennst, ist doch aus der Luft gegriffen. Ich bezweifle, dass der „Normalwissenschaftler“ sich darüber überhaupt Gedanken macht. Außerdem sind wir wieder bei undefinierten Begriffen gelandet: naturgesetzlich und naturgesetzinkompatibel. Wir beginnen, uns im Kreis zu drehen.

Ralph: Bei Kuhn geht es nicht um Hellsehen, Telepathie oder Ähnliches; es geht um den Prozess des Theorienwandels in der Wissenschaftsgeschichte – etwa von Galilei über Newton zu Einstein. Insoweit ist die Annahme „Kein  ψ“ tatsächlich nicht wesentlicher Teil des wissenschaftlichen Skeptizismus. Für diesen ist der Fallibilismus das zentrale Element.

Till: Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Du räumst die naturalistische Bastion und ziehst Dich auf Poppers kritischen Rationalismus zurück. Wir sind uns also einig.

Ralph:  Langsam! ψ -Effekte werden in der Naturwissenschaft lediglich hypothetisch ausgeschlossen.

Till: Das ist wieder so ein Satz, mit dem ich nicht viel anfangen kann. Für Dich haben Anomalien bzw. ψ -Effekte die hypothetische Eigenschaft, nicht existent zu sein. Das möge verstehen, wer dazu in der Lage ist.

Ralph: Da kann ich auch nichts machen. Besser Du sprichst mit einem Parapsychologen darüber.

Till: Für Kuhn sind Anomalien sehr wohl wahrnehmbar; sie treiben die Wissenschaft voran. Das verstehe sogar ich. ψ -Effekte wie Gedankenübertragung und Wünschelrutengängerei hingegen sind keine Anomalien. Diese Effekte verschwinden beim näheren Hinsehen. Und wo kein Effekt, da keine Anomalie. Für derartige effektfreie Bemühungen haben wir eine gut definierte Sammelbezeichnung: Pseudowissenschaft (oder Anwartschaft darauf).

Aus diesem Disput ziehe ich folgende Konsequenzen: Das Wort „Naturgesetz“ versehe ich mit den Attributen „unwandelbar“ und „naturgegeben“ und verstaue es im Kästchen mit der Aufschrift „Metaphysik“. Ebenso verfahre ich mit seinem Gegenstück „Psi“. Für den Erkenntnisprozess reicht es aus, sich über den Stand des Wissens im Rahmen der Normalwissenschaft zu verständigen und über Anomalien, die für den Wissensfortschritt sorgen.

Am 16.7.2018 zur Erinnerung eingefügt: Metaphysisches ist nicht prüfbar und definitionsgemäß nicht falsifizierbar (Karl Raimund Popper). Hypothesen sind fundierte und prinzipiell falsifizierbare Annahmen. Metaphysische Hypothesen kann es demnach nicht geben. Daraus folgt beispielsweise, dass der Begriff „hypothetischer Realismus“ (Gerhard Vollmer) in sich widersprüchlich ist. Zu dieser Ansicht habe ich mich erst vor etwas über vier Jahren durchgerungen.

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Stabile Filterblasen

Und die Gileaditer besetzten die Furten des Jordan vor Ephraim.
Wenn nun einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Lass mich hinübergehen!,
so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter?
Wenn er dann antwortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibboleth.
Sprach er aber Sibboleth, weil er’s nicht richtig aussprechen konnte,
dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordan,
so dass zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend.

Das Buch der Richter 12, 5-6

Außenseiter

Vor nun etwas über zwölf Jahren trat ich in die Skeptikerorganisation ein. Mir war damals noch nicht recht bewusst, dass organisierte Skepsis eigentlich ein Widerspruch in sich ist: Der Skeptiker ist kein Rudeltier. Jede starre Organisation muss seinen Widerspruch erregen.

Aber nun war es einmal geschehen. Die Geschichte nahm ihren Lauf. Der Widerspruch trat allmählich voll zutage und ich fand mich in einer extremen Außenseiterposition wieder. Aber genau eine solche Außenseiterposition macht die Sache für den Skeptiker dann wieder interessant.

Interessant ist die prekäre Situation an sich. Ein maßgebendes Mitglied der Organisation machte die Zwickmühle, in die die gesamte Organisation durch den beharrlichen Außenseiter geraten ist, in einem Appell an die Gleichgesinnten deutlich: „Verzichtet bitte auf Auslagerungs- oder Zensur-Appelle. Das macht am Ende nur diejenigen stark (und setzt sie auch noch ins Recht), die man eigentlich mit gutem Grund los werden möchte. Und das ist wirklich das Letzte, was ich den Abseitigen gönnen möchte.“ (15.03.2018)

Andererseits bietet sich einem in dieser Außenseiterposition die Sicht auf ein heute stark diskutiertes gesellschaftliches Phänomen: Entstehung und Stabilität von Filterblasen.

Diese privilegierte und zugleich prekäre Position ist ziemlich attraktiv, wenn man den sich daraus möglicherweise ergebenden Erkenntnisgewinn allein betrachtet. Die Kostenseite des Ganzen ist, dass man es aushalten muss, als Stänkerer und Geisterfahrer beschimpft zu werden.

Vor der Darstellung meiner Fallstudie und der Ergebnisanalyse will ich den Erklärungsrahmen aufzeigen. Er lässt sich durch die Metaphern Filterblase und Echokammer beschreiben.

Gemeinsam stark

Leute teilen Interessen und Meinungen. Sie schließen sich zu Gruppen zusammen, werden dadurch stärker und können im Konkurrenzkampf besser bestehen. Die Gruppenbildung, das Einstehen füreinander, der gruppeninterne Altruismus und die Aggression nach außen sind wesentliche Elemente der kulturellen Evolution: „To form Groups, drawing visceral comfort and pride from familiar fellowship, and to defend the group enthusiastically against rival groups – these are among the absolute universals of human nature and hence of culture“ schreibt Edward O. Wilson in seinem 2012 erschienen Werk „The Social Conquest of Earth“ (Seite 57).

Das Grundbedürfnis, sich einer Gruppe anzuschließen, ist in uns angelegt, sozusagen ererbt. Dabei ist es zunächst ziemlich egal, worum es in der Gruppe geht. Erstaunlicherweise werden auch ohne triftige Gründe die Gruppenmitglieder höher geachtet als andere. Es erregt unseren Zorn, wenn ein Nicht-Mitglied sich unfair benimmt, eine unverdiente Belohnung erhält oder sich in unsere Angelegenheiten einmischt. Die Bibel ist voller Erzählungen und Regeln, in denen es um die Bestrafung oder Vernichtung der anderen, der „Abseitigen“ geht.

Filterblasen und Echokammern

Heute können wir sehr gut und sozusagen im Zeitraffer dabei zusehen, wie solche Gruppenbildungen vor sich gehen.

Bernhard Pörksen liefert mit seinem Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ (2018) eine scharfsinnige und beispielsatte Betrachtung über die Entfesselung des Bestätigungsdenkens durch die digitalen Medien.

Seiner Meinung nach begünstigt das Netz die „ideologische Selbstversiegelung“ (S. 58f.). Dokumente werden „flüssig und wandelbar; sie lassen sich sehr viel leichter kombinieren, verbreiten, aus etablierten, gerade noch abgeschlossen, behäbig wirkenden Formen und Formaten (z. B. einem Buch oder auch einer Zeitung) heraussprengen und damit eben auch als Bastel- und Baumaterial für Ideologien aller Art benutzen“.

Eine mögliche Folge sei die Selbstradikalisierung aufgrund von selektiv zusammengestellten feindseligen Blogeinträgen und Hasskommentaren. Dies werde noch verstärkt durch die Mitwirkung von Automaten, deren Obliegenheit die Personalisierung von Suchergebnissen ist.

Personalisierte Filterung – von Hand oder mit Automaten – birgt die Gefahr, sich in eine Filterblase einzuschließen. Soweit betrifft das die Einzelperson und ihren Umgang mit der frei flottierenden Information.

Unter den vernetzten Vielen muss man nicht allein bleiben mit seiner Meinung. „Wer will, kann die wilde Vielfalt der Stimmen nutzen, um in einem Akt der gezielten Auswahl nur jenen Gehör zu schenken, die ihn bestätigen, um sich fortan in einer selbstgeschaffenen Echokammer oder auch einem Echobunker zu verbarrikadieren.“ (S. 60 f.)

So entstehen Rudel mit Meinung. Diesen Rudeln schreibt man zuweilen so etwas wie „Schwarmintelligenz“ zu. Der Beitrag „Schwarmintelligenz im Internet“ des Deutschlandfunks vom 28.6.2012 bringt einen besonders absurden Beleg dafür:

„Intelligent reagierte der Schwarm zum Beispiel im Falle der Doktorarbeit von Karl Theodor von Guttenberg. Da wurden viele Kleine einem Großen zum Verhängnis. Kurz, nachdem der Verdacht geäußert worden war, Guttenberg habe seine Promotion großenteils abgeschrieben, konnte jeder, der Lust dazu hatte, auf der Internetplattform ‚Guttenplag-Wiki’ auf Plagiatsuche gehen. Und es funktionierte – ohne Anführer, ohne Leittier, ohne Hierarchie.“

Was dann passiert ist, kann man eigentlich nur als Mobbing bezeichnen; und das können menschliche Schwärme offenbar besonders gut.

Pörksen meint, dass das einst gesichtslose, zur Passivität verdammte Heer der Medienkonsumenten nun eine aktive Rolle übernommen habe. Er spricht von einem „Übergang von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie“. Leute, die früher Publikum genannt wurden, „prägen mit unterschiedlichen Absichten und Anliegen, mal gelassen und mal wütend, mal konstruktiv und mal destruktiv, das große, öffentliche Gespräch, das die Gesellschaft mit sich selbst führt“ (S. 91).

Filter Clash

Bernhard Pörksen sieht zwar die Tendenz zur Selbstbestätigung; man erfahre, was die eigenen Vorurteile bestätigt. Aber letztlich – so meint er – müsse es zum Filter Clash kommen  (S. 121 ff.): „Man ist nun mit einem Mal, einen funktionierenden Netzzugang vorausgesetzt, mit den unterschiedlichsten Lebenswelten konfrontiert, erfährt die Kontingenz und Komplexität von Wirklichkeit schon nach ein paar Klicks.“ Das vermag die „Welt- und Wirklichkeitsblasen […] aufzusprengen – mit der Folge einer allgemeinen Beunruhigung und Verstörung, einer systembedingten Behaglichkeitskrise“. Gemeinsames Lernen wird so doch wieder möglich.

Aber Hoppla! Nicht immer. Die Skeptikerorganisation beispielsweise versteht es, eine verblüffend stabile Filterblase aufrechtzuerhalten, und sie ist ziemlich erfolgreich darin, verstörende und produktive Einflüsse von sich fernzuhalten. Zur Selbstorganisation gesellt sich die Selbstimmunisierung.

Wer die Wahrheit hat, braucht keine Kritik

Wer sich im Besitz der Wahrheit sieht, ist gegen jede Kritik immun, denn: Wahrheiten sind nicht kritisierbar. Auf die Argumente des Kritikers einzugehen ist dem Wahrheitsbesitzer nichts als Zeitverschwendung; Herabwürdigungen und Schmähungen des Andersdenkenden gelten als legitim.

Der Echokammereffekt und die Selbstimmunisierung treten deutlich zutage in der Diskussion des kritischen Hoppla!-Artikels Hochstapelei im Namen der Wissenschaft. In einem internen E-Mail-Forum der Skeptikerbewegung hat er für äußerste Erregung gesorgt.

Die Hälfte der vierunddreißig Kommentare bestand aus Unmutsäußerungen, Schmähungen und nicht sachdienlichen philosophischen Abschweifungen. Ein typischer Kommentar ist im Kommentarteil zum Artikel zu besichtigen – übrigens der Einzige, der die Echokammer verlassen hat: „Hochmut und Überheblichkeit gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orte ich eher bei Ihren Argumentationen, Herr Grams. Weiterlesen

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Hochstapelei im Namen der Wissenschaft

Skepticism gone astray

Programmatisches zu einem neuen Skeptizismus entnehme ich dem Papier Skepticism Reloaded  von Amardeo Sarma (sinnerhaltend von mir übersetzt und gekürzt):

In seinem Buch „New Skepticism“ definierte Paul Kurtz eine Variante des Skeptizismus, die wir heute als „wissenschaftlichen Skeptizismus“ bezeichnen würden. Diese unterscheidet sich von der antiken Variante des Skeptizismus. Der griechische Skeptizismus leugnet, dass wir Wissen erwerben können und er rät davon ab, Urteile abzugeben und einen Standpunkt zu beziehen. Anders die heutigen Skeptiker: Sie beziehen Standpunkte und sie sind dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet.

Dass der heutige Skeptiker als Individuum auch Stellung bezieht, das kann ihm keiner nehmen. Um solche Selbstverständlichkeiten geht es nicht. Der Kern der Botschaft ist, dass die organisierten Skeptiker in ihrer Gesamtheit und übereinstimmend Stellung beziehen sollen. Der neue – oder: wissenschaftliche – Skeptizismus hat mit dem klassischen Skeptizismus offenbar und eingestandenermaßen nichts zu tun.

Die maßgebenden neuen Skeptiker beziehen Positionen auf Themenfeldern, die in der Gesellschaft noch umstritten sind. Amardeo Sarma beispielsweise schreibt im Artikel Glyphosat: Substanzlose Kritik und ‚gekaufte‘ Befürworter:

Zu Glyphosat ist der wissenschaftliche Konsens klar[…] Die überwältigende Mehrheit der wissenschaftlichen Einzelstudien, Übersichtsarbeiten und Behörden bestätigt, dass die zugelassenen Anwendungen von Glyphosat keine Gesundheitsrisiken bergen. Es sind lediglich Interessengruppen, wie der Naturschutzbund Deutschland, Greenpeace oder Friends of the Earth, die den Außenseiterstandpunkt vertreten, dass wir mit Glyphosat erhebliche Gesundheits- und Umweltrisiken eingehen. Hier zeigt sich auch, dass manche Verbände eben nicht vertrauenswürdig sind – sie vertreten ihre Interessen unabhängig von Tatsachen und den tatsächlichen Auswirkungen auf die Gesundheit oder auf die Umwelt.

Aus der Rede anlässlich des March for Science:

Die grüne Gentechnik eröffnet uns die Möglichkeit, auch die Ernährungssituation in Entwicklungsländern entscheidend zu verbessern. Doch einflussreiche Lobbygruppen in Europa und den USA stellen sich quer.

Nach dem March for Science:

Im Sinne der Verantwortung für eine Welt ohne Hunger gilt es, eine heilige Kuh in Deutschland und Europa zu schlachten: die antiwissenschaftliche und pseudofaktische Propaganda der GMO-Gegner. […]

Dass der Miterfinder von Golden Rice aus Deutschland, Peter Beyer, nicht öffentlich von Wissenschaft und Politik gefeiert wird, ist ein Skandal.

Von der Politik verlangen wir [Amardeo Sarma? Die Skeptiker?] eine Kehrtwende in Sachen Gentechnik. Die derzeitige deutsche und europäische Politik ist mit verantwortlich für die Erblindung von Kindern und dafür, dass der Hunger auf der Welt nicht effektiver bekämpft wird.

[…]

Wir [Amardeo Sarma? Die Skeptiker?] fordern eine europaweite Gleichstellung der Zulassungskriterien von gentechnisch veränderten Produkten mit denen der konventionellen und der Bio-Landwirtschaft. Die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln muss abgeschafft werden, um Lebensmittel aus Afrika, Asien und Lateinamerika nicht zu diskriminieren.

Hoppla! Hier verlässt der neue Skeptiker das Feld der Wissenschaft. Bewertungen machen sich breit. Aus der Wissenschaft lassen sich keine Wertmaßstäbe herleiten. Eine Skeptikerbewegung, die sich in ihrer momentanen Verfasstheit allein auf Wissenschaftlichkeit beruft, kann derartige Positionsbestimmungen in gesellschaftlich relevanten und anhaltend debattierten Fragen nicht leisten. Tut sie es doch, dann arbeitet sie mit verborgenen Annahmen und betreibt letztlich Hochstapelei im Namen der Wissenschaft. Ich komme darauf zurück.

Zunächst will ich aber einen eher nebensächlichen Stolperstein aus dem Wege räumen und frage:

Ist der wissenschaftliche Realismus unabdingbar?

Warum sollte sich ein Skeptiker dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet fühlen? Der Hinweis auf den wissenschaftlichen Realismus hat wohl nur den Zweck, dass sich gewisse Philosophen der Skeptikerbewegung in dem Text wiederfinden. Aber die Moden wechseln. Vielleicht ist in zehn Jahren ein neuer philosophischer Trend gegeben; oder Gott wird wieder Mode.

Ein entsprechendes Bekenntnis würde an der praktischen Arbeit des Skeptikers nichts ändern. Das Etikett würde wechseln – ohne praktische Folgen. Ob jemand an Gott glaubt oder an die komplette Erkennbarkeit der Realität, ob er die Übernatur leugnet oder was auch immer: Wissenschaft bleibt Wissenschaft, Pseudowissenschaft bleibt Pseudowissenschaft.

Die Philosophie erfüllt nur einen Zweck: Der neue Skeptiker kann sich als Wahrheitsbesitzer fühlen. Und diese Gewissheit rechtfertigt Missionierung und Bekehrung der Ungläubigen. Und genau das lässt sich nicht vereinbaren mit einer Forderung des Skepticism-Reloaded-Papiers: Sei nicht herablassend!

Für mich ist das ein Selbstwiderspruch.

Nun zurück zum zentralen Punkt meiner Kritik.

Wertvorstellungen

Wer meint, die Wissenschaft liefere haltbare Standpunkte in strittigen Fragen, der verfällt der Anmaßung, das Sollen aus dem Sein herleiten zu können. Dass das nicht funktioniert, sagt uns Immanuel Kant mit all seiner denkerischen Kraft. Den Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ hat er zwei seiner Hauptwerke gewidmet, nämlich erstens die „Kritik der reinen Vernunft“ und zweitens die „Kritik der praktischen Vernunft“. In seiner Einleitung zum zweiten schreibt Kant:

Der theoretische Gebrauch der Vernunft beschäftigt sich mit Gegenständen des bloßen Erkenntnisvermögens und eine Kritik derselben in Absicht auf diesen Gebrauch betraf eigentlich nur das reine Erkenntnisvermögen, weil dieses Verdacht erregte, der sich auch hernach bestätigte, dass es sich leichtlich über seine Grenzen unter unerreichbare Gegenstände oder gar einander widerstreitende Begriffe verlöre. Mit dem praktischen Gebrauche der Vernunft verhält es sich schon anders. In diesem beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens. […] Die Kritik der praktischen Vernunft überhaupt hat also die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen.

Es ist in meinen Augen Hochstapelei im Namen der Wissenschaft, wenn führende „wissenschaftliche Skeptiker“ Standpunkte beziehen, diese als allein wissenschaftlich begründet ausgeben, und sie so für die Gemeinde der Skeptiker als verbindlich erklären.

Wie können sich die neuen Skeptiker diesen Vorwurf der Hochstapelei ersparen? Es könnte folgendermaßen gehen.

Standpunkte setzen  Wertungen voraus. Die Bewertung derselben wissenschaftlichen Fakten kann durchaus zu einander entgegengesetzten Standpunkten führen. Die Bewertung  von GMOs beispielsweise hängt davon ab, ob man eher dem Vorsorgeprinzip (wie in Europa) oder dem Nachsorgeprinzip (wie in den USA) zuneigt. Die persönliche Entscheidung hängt auch davon ab, ob man die Globalisierung als vorrangig ansieht, oder ob einem die Stärkung der Autonomie der Regionen wichtiger ist. Manch einer ist eher fortschrittlich gestimmt, ein anderer konservativ.

Wertesysteme sind in den Satzungen der Skeptikerbewegung aus prinzipiellen Gründen nicht verankert. Es geht nur um Wissenschaft. Will die Skeptikerbewegung in ihren Reihen den Pluralismus der Weltanschauungen und Wertvorstellungen pflegen, bleibt eigentlich nur der demokratische Weg – das Abstimmungsverfahren, hin zu einem „skeptischen Standpunkt“.

Soweit ich sehen kann, gibt es keine Beschlüsse zu den in letzter Zeit veröffentlichten „skeptischen Standpunkten“. Die momentan gültige Satzung der GWUP beispielsweise ist viel zu dürftig, als dass es zu einer gruppeninternen Abstimmung kommen könnte. Der Skeptikerorganisation fehlt alles, was sie für die Bildung eines „skeptischen Standpunkts“ benötigt: demokratische Institutionen und praktikable Abstimmungsverfahren.

Wer die Skeptikerorganisation im Sinne das Skepticism-Reloaded-Papiers umstrukturieren will, der muss mit der Reform der Institutionen anfangen und die Satzungen entsprechend ändern.

Was will der neue Skeptizismus eigentlich?

Was ich zurzeit sehe, ist Propaganda mit viel moralischem Wumms: „Die derzeitige deutsche und europäische Politik ist mit verantwortlich für die Erblindung von Kindern und dafür, dass der Hunger auf der Welt nicht effektiver bekämpft wird.“

So wird die Skeptikerbewegung zur Propagandamaschine. Es kommt die Frage auf: in wessen Sinne eigentlich? Geht es hier um die Interessen des Bauernverbandes? Dann sollte aber auch Geld fließen.

Das ließe sich ausbauen: für die Energieversorgungsunternehmen, für die Autoindustrie,  für die pharmazeutische Industrie, und so weiter.

In dem Skepticism-Reloaded-Papier wird betont, dass zu den vorrangigen Zielen der Skeptikerorganisationen die Generierung von Einkommensströmen gehört, und zwar: möglichst große und möglichst dauerhafte. Der Weg dorthin zeichnet sich jetzt ab: Reorganisation der Skeptikerbewegung. Jedenfalls würde das der Klarheit dienen und ein jedes Skeptiker-Mitglied könnte sich überlegen, ob es den Weg mitgehen will.

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Sechstes Intermezzo: Basics für Skeptiker

Was Maimonides und Descartes uns zu sagen haben

Die Medien bringen zu strittigen Themen wie Klimawandel, Glyphosat oder Impfen das Pro und das Kontra. Wenn wir vor schwierigen Entscheidungen stehen, brauchen wir Orientierung in der Fülle einander widersprechender und verwirrender Argumente.

Da hilft die skeptische Methode des Moses Maimonides (1138-1204).

  1. Toleranz. Maimonides zitiert Aristoteles: „Es zeichnet denjenigen aus, der gemäß der Wahrheit entscheidet, dass er seinen Gegnern gegenüber keineswegs feindlich gesonnen ist, sondern ihnen freundlich und gerecht begegnet, und so wie sich selbst behandelt, und zwar gemäß der Richtigkeit der Begründung; des Weiteren, dass er ihnen gleichermaßen zugesteht, dass ihre Begründungen ebenso richtig sein können wie die eigenen.“
  2. Abgewogene Zweifel. In Buch 2, Kapitel 23 seines Wegweisers für die Verwirrten schreibt er: „Du sollst wissen, dass wenn du die Zweifel, die mit einer gewissen Ansicht notwendig verbunden sind, mit denjenigen vergleichst, die mit der entgegengesetzten Ansicht verbunden sind, und du dich entscheiden willst, welche von beiden weniger Zweifel hervorruft, dann solltest du weniger die Anzahl der Zweifel in Erwägung ziehen als vielmehr die Tatsache, wie gewaltig ihre Absurdität ist und inwieweit die Realität ihr widerspricht. Denn manchmal kann ein einzelner Zweifel gewaltiger sein als tausend andere Zweifel.“

In seiner „Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs“ gibt René Descartes (1596-1650) dem Skeptiker Regeln mit. Er glaubte, „an den folgenden vier genug zu haben“.

„Die erste war: niemals eine Sache als wahr anzunehmen, die ich nicht als solche sicher und einleuchtend erkennen […] würde, d. h. sorgfältig die Übereilung und das Vorurteil zu vermeiden und in meinen Urteilen nur so viel zu begreifen, wie sich meinem Geist so klar und deutlich (clairement et distinctement, clare et distincte) darstellen würde, dass ich gar keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln.

Die zweite: jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen (diviser) als möglich und zur besseren Lösung wünschenswert wäre.

Die dritte: meine Gedanken zu ordnen; zu beginnen mit den einfachsten und fasslichsten Objekten und aufzusteigen allmählich und gleichsam stufenweise bis zur Erkenntnis der kompliziertesten[…]

Und die letzte: überall so vollständige Aufzählungen und so umfassende Übersichten zu machen, dass ich sicher wäre, nichts auszulassen.“

Über all dem steht der Gewährleistungsausschluss: Die skeptische Methode liefert keine für jeden gültige Ja-nein-Entscheidung, kein schwarz oder weiß. Es geht um Gewichtungen und Grade der Glaubwürdigkeit. Welche Entscheidung schließlich getroffen, welcher Standpunkt bezogen wird, ist auch eine Angelegenheit der persönliche Wertvorstellungen.

Das waren sechs Grundregeln des Skeptikers, die ich von den frühen Denkern übernommen haben. Ich werde noch eine siebente ins Spiel bringen. Aber dafür braucht es ein wenig Vorbereitung. Dabei wiederhole ich den einen oder anderen Gedanken aus meinem letzten Artikel über Geistartiges.

Täuschungen: Weltbilder und Denkfallen

Wir haben eine Vorstellung davon, wie die Welt um uns herum funktioniert. Das nennt man Realismus. Diese Weltbilder sind im Wandel: Von Eratosthenes (ca. 284-200, Messung des Erdumfangs) über Ptolemäus (ca. 85-165, geozentrisches Weltbild) und Galileo Galilei (1564-1642, heliozentrisches Weltbild) bis zu Albert Einstein (1879-1955, Relativitätstheorie) hat sich einiges getan. Aktuell wird infrage gestellt, ob die schwere und die träge Masse tatsächlich gleich sind, wie es in den Lehrbüchern steht. (Die Lebensdaten sind aus dem Lexikon bedeutender Mathematiker von 1990.)

Manchmal führt nicht der Realitätssinn zu bedeutenden Entdeckungen; zuweilen spielen Ignoranz und Sturheit die Hauptrolle. Ausgehend von einer damals bereits längst überholten Schätzung des Erdumfangs durch Aristoteles („wenige Tagesreisen von Europa nach Asien“) und Toscanelli (ca. 30 000 km) brach Christoph Kolumbus mit den Schiffen Santa Maria, Pinta und Nina gen Westen auf und entdeckte 1492 Amerika.

Das zeigt uns: Der Realitätssinn ist grundsätzlich fehlbar. Und das gilt nicht nur im Großen, bei den Weltbildern; Täuschungen sind ganz alltäglich und allgegenwärtig. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist die Zwei-Nasen-Täuschung (aristotelische Täuschung). Probieren Sie es aus: Legen Sie Zeige- und Mittelfinger über Kreuz. Dann streichen Sie mit diesen Fingerkuppen über Ihre Nase hin und her, so dass die Fingerkuppen abwechselnd die Nase berühren. Das Ergebnis ist verblüffend – oder etwa nicht?

Weitere Beispiele kennen wir aus der optischen Wahrnehmung, von den Kippbildern und den Längentäuschungen. Hier ist meine Version des rubinschen Bechers:

Das Kippbild zeigt entweder zwei einander zugewandte Gesichter oder eine Vase, je nachdem, was der Wahrnehmungsapparat als Figur und was er als Grund interpretiert. Es ist aus meinem Buch „Klüger irren“. Darin habe ich viele Situationen aufgezeigt, in denen der Realitätssinn irrt.

Körper-Geist-Dualismus als Ordnungsprinzip

René Descartes unterschied die denkende Natur von der körperlichen (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Viertes Kapitel).

Descartes sagt uns, dass sich Körper und Geist als voneinander Getrenntes auffassen lassen: das Physikalische einerseits und das Mentale andererseits. Schauen wir uns den metaphysikfreien Teil von Descartes‘ Dualismus genauer an.

Der mentalen Welt steht die physikalische gegenüber – die Realität. Von dieser haben wir nur fehlbares Wissen.  Karl Raimund Popper nutzt dreihundert Jahre nach Descartes diese grundsätzliche Falsifizierbarkeit unserer Realitätserkenntnis als Abgrenzungskritierium; es scheidet die empirischen Wissenschaften von der Metaphysik. Richard Rorty stellt heraus, dass das Mentale in Descartes‘ Sinn all das umfasst, was wir zweifelsfrei erkennen und über das wir unkorrigierbar berichten können, nämlich Erscheinungen oder Vorstellungen. Drastisch wird uns das vor Augen geführt im Versehrten, der Schmerzen in dem Arm hat, der ihm amputiert wurde.

Karl Raimund Popper dröselt die Beziehungen zwischen den Bereichen auf: Körper und Geist stehen in Verbindung und es gibt Wechselwirkungen zwischen den Welten in beiden Richtungen. Der Geist ist es, der uns etwas über das Reale mitteilt. Unser Bewusstsein bildet die zweite Welt und steht als Mittler zwischen der Realität, die Popper als erste Welt bezeichnet, und unserem Wissen darüber in der von ihm so genannten dritten Welt.

Karl Raimund Popper sagt es so: „Was man die zweite Welt nennen könnte – die Welt des Bewusstseins –, wird auf der Ebene des Menschen mehr und mehr zum Bindeglied zwischen der erste und der dritten Welt: alle unsere Handlungen in der ersten Welt werden von unserer zweitweltlichen Erfassung der dritten Welt beeinflusst. Daher kann man das menschliche Bewusstsein und Ich nicht ohne die dritte Welt (den „objektiven Geist“) verstehen, und deshalb kann man die dritte Welt nicht einfach als einen Ausdruck der zweiten oder die zweite als bloßen Abglanz der dritten auffassen.“

Der Geist ist also Bindeglied oder Mittler zwischen der Realität und den Naturwissenschaften. Richard Rorty und Konrad Lorenz bezeichnen ihn als Spiegel der Natur: „Auch heute noch blickt der Realist nur nach außen und ist sich nicht bewusst, ein Spiegel zu sein. Auch heute noch blickt der Idealist nur in den Spiegel und kehrt der realen Außenwelt den Rücken zu. Die Blickrichtungen beider  verhindert sie zu sehen, dass der Spiegel eine nicht spiegelnde Rückseite hat, eine Seite, die ihn in eine Reihe mit den realen Dingen stellt, die er spiegelt.“ (Lorenz)

Das ist die weltliche Seite der Körper-Geist-Trennung. Sie ist nicht Metaphysik, nicht Glaubensangelegenheit. Es handelt sich so gesehen um ein reines Ordnungs- und Klassifikationssystem. Es dient der Kommunikation und besitzt kein eigenständiges und noch zu ergründendes tieferes Sein.

Der Leib-Seele-Dualismus – Geistartiges

Sobald es um das Wesen des Geistigen geht, überschreiten wir eine Schwelle, hin zur Metaphysik. Vor allem Descartes geht ein paar entscheidende Schritte über den Körper-Geist-Dualismus als ordnendes Prinzip hinaus.

Descartes fragt sich, inwieweit wir wahre Erkenntnis über reale Dinge begründen können. Im vierten Kapitel seiner Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs schreibt Descartes, „dass es vollkommener sei, zu erkennen als zu zweifeln“ und das vollkommenste Wesen ist für ihn Gott. Und weiter: „Aber wenn wir nicht wüssten, dass alles Wirkliche und Wahrhaftige in uns von einem vollkommenen und unendlichen Wesen herrührte, so hätten wir, wie klar und deutlich unsere Ideen auch wären, noch keinen sicheren Grund dafür, dass sie die Vollkommenheit hätten, wahr zu sein.“

Die Anschauung Gottes findet in der denkenden Natur Platz wie viele andere Vorstellungen auch: Geistartiges, Übersinnliches, Dogmen, die Vorstellungen des Lewis Carroll, Melodien usw. Das Mentale bietet einen Tummelplatz für Scharlatane, Beutelschneider und Wichtigtuer. Und dieser Tummelplatz ist mit rationalen Argumenten nicht eliminierbar.

Damit kommen wir zur siebenten Grundregel für den Skeptiker: Die Berufung auf Geistartiges ist Grund für Argwohn, nicht jedoch für die sofortige Verdammung eines Geltungsanspruchs. Entweder ist der Geltungsanspruch praktisch bedeutungslos oder er lässt sich an Effekten ablesen. Allein denen sollte die Aufmerksamkeit des Skeptikers gelten.

Anwendung: Homöopathie

Die Homöopathie beruft sich auf Geistartiges im Zusammenhang mit der Potenzierung: „Durch diese mechanische Bearbeitung, wenn sie nach obiger Lehre gehörig vollführt worden ist, wird bewirkt, dass die, im rohen Zustande sich uns nur als Materie, zuweilen selbst als unarzneiliche Materie darstellende Arznei-Substanz, mittels solcher höhern und höhern Dynamisationen, sich endlich ganz zu geistartiger Arznei-Kraft subtilisirt und umwandelt, welche an sich zwar nun nicht mehr in unsere Sinne fällt, für welche aber das arzneilich gewordene Streukügelchen, schon trocken, weit mehr jedoch in Wasser aufgelöst, der Träger wird und in dieser Verfassung die Heilsamkeit jener unsichtbaren Kraft im kranken Körper beurkundet.“ (Samuel Hahnemann, zitiert nach N. Grams, 2015, S. 39 f.)

Diese Aussagen wecken unseren Argwohn – gemäß der siebenten Grundregel. Genauere Untersuchungen, die Wirksamkeit der Homöopathie betreffend, sind angezeigt. Diese gibt es aber schon seit über zweihundert Jahren. Das Ergebnis ist bekannt.

Quellen

Descartes, René: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Reclam 1961/1963

Grams, Natalie: Homöopathie neu gedacht. 2015, S. 39 f.

Grams, Timm: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. 2016

Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. 1973. Schluss des ersten Kapitels.

Maimonides, Moses: Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage mit einer Einleitung von Frederek Musall und Yossef Schwartz. Herder, Freiburg 2009

Popper, Karl Raimund: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. 1972, S. 123ff., S. 168, S. 279f.

Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature, Zweites Kapitel „The Invention of Mind“ (1979)

Wolff, Maurice: Einleitung zu “Acht Kapitel – Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis” von Moses Maimonides. 1992

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Geistartiges

Psychokinese, also das Bewegen von Gegenständen allein mit der „Kraft“ der Gedanken, funktioniert nicht. Der Geist für sich allein kann keine kausale Wirkung auf die Materie ausüben. In diesem Punkt sind sich sogenannte Skeptiker und Naturalisten sicher.

Überhaupt hat das Geistartige einen schlechten Ruf – nicht nur unter Naturalisten. Wenn sich Samuel  Hahnemann auf „geistartige Arzneikraft“ beruft, um die Wirksamkeit seiner homöopathischen Arzneimittel darzutun, dann ist das für die Gegner der Homöopathie Grund genug, das Ganze als Humbug abzutun.

Und tatsächlich: Telekinese wurde bislang nicht überzeugend nachgewiesen und was die arzneiliche Wirkung homöopathischer Präparate angeht, konnten seriöse Tests nichts Positives zutage fördern. Allein der Placeboeffekt tut sein Werk.

Realismus, Monismus

Der Naturalist rechnet das Geistartige, von dem hier die Rede ist, der Übernatur zu und er besteht darauf, dass es diese Übernatur nicht gibt oder dass sie zumindest keinerlei Wirkung auf die von physikalischen Gesetzen regierte Welt hat. Er leugnet jegliche Kausalbeziehung zwischen dem Geistartigen und der beobachtbaren Welt. Die Berufung auf Geistartiges ist ihm ein untrügliches Anzeichen für Unsinn (TCM, Scientabilität).

Mentales gibt es für den Naturalisten als neurophysiologischen Zustand oder Prozess des Gehirns. In diesem Sinne ist er Monist: Alles ist mit physikalischen Gesetzen beschreibbar und letztlich Materie. Das Vorbild dieser Ansicht liefert das Lehrgedicht „De rerum natura“ („Über die Natur der Dinge“) von Lukrez.

In den eingangs genannten Fällen macht er mit seinem Urteil, das auf der Leugnung des Übernatürlichen gründet, nichts falsch. Denn bei Telekinese, Homöopathie und vielen anderen Anomalien verflüchtigt sich die Wirkung beim näheren Hinsehen, so dass sich eine Suche nach den Ursachen erübrigt und Geistartiges gar nicht erst in Betracht zu ziehen ist.

Dualismus

In der frühen Neuzeit lieferte René Descartes den Gegenentwurf zum Monismus. Er unterschied die denkende Natur von der körperlichen: „Endlich, wenn es noch Leute gibt, die von der Existenz Gottes und ihrer Seele nicht hinlänglich überzeugt sind, so mögen sie wissen, dass alle anderen Dinge, deren sie vielleicht weit sicherer zu sein meinen, wie beispielsweise der Besitz eines Leibs und dass es Gestirne und eine Erde und ähnliche Dinge gibt, weniger zuverlässig ausgemacht sind.“ (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Viertes Kapitel)

Descartes sagt uns damit, dass sich Körper und Geist als voneinander Getrenntes auffassen lassen: das Physikalische einerseits und das Mentale andererseits. Von der Seele anstelle des Geistigen ist hier nicht  die Rede. Überhaupt verzichte ich weitgehend auf metaphysische und religiöse Anteile in der Definition des Körper-Geist-Dualismus. Ob das Mentale für Descartes eine nicht lokalisierbare und zeitlose Substanz ist, ob es auch losgelöst vom Körper existiert, und was Gott damit zu tun hat, soll uns hier nicht weiter belasten.

Schauen wir uns den weltlichen Teil von Descartes‘ Dualismus genauer an. Die Anregung dazu habe ich von Richard Rorty, der sich im zweiten Kapitel („The Invention of Mind“) seines Buches „Philosophy and the Mirror of Nature“ (1979) mit der Geschichte des Dualismus beschäftigt. Rorty sagt uns in moderner Sprache, wie der obige Satz des Descartes zu interpretieren ist.

Rorty stellt heraus, dass das Mentale in Descartes‘ Sinn all das umfasst, was wir zweifelsfrei erkennen können. Erscheinungen und Vorstellungen wie aufkommende Gedanken und mentale Bilder gehören demnach zu den paradigmatischen mentalen Einheiten. Darüber hinaus zählen rohe Gefühle (Schmerz, Qualia) dazu. Das sind Erscheinungen, die nicht mit Vorstellungen verbunden sind. Auch bloße Vorstellungen (Glaubensinhalte, Wünsche und Absichten), die nicht zugleich Erscheinungen sind, werden dem Mentalen zugerechnet. Das Mentale zeichnet sich dadurch aus, dass wir es irrtumsfrei – also unkorrigierbar – wissen.

Dem steht die physikalische Welt gegenüber, von der wir nur grundsätzlich fehlbares Wissen haben können.  Sie ist Gegenstand der empirischen Wissenschaft. Da schimmert bereits das Falsifizierbarkeitskriterium des Karl Raimund Popper durch.

Die vom Metaphysischen weitgehend befreite Auffassung von einer Körper-Geist-Trennung lässt sich problemlos an die Drei-Welten-Lehre und den Realismus des Karl Raimund Popper anschließen. Dagegen können auch hartgesottene Naturalisten schwerlich etwas einwenden.

Popper unterscheidet drei Welten oder Universen: „erstens die Welt der physikalischen Gegenstände oder physikalischen Zustände; zweitens die Welt der Bewusstseinszustände oder geistigen Zustände oder vielleicht der Verhaltensdispositionen zum Handeln; und drittens die Welt der objektiven Gedankeninhalte, insbesondere der wissenschaftlichen und dichterischen Gedanken und der Kunstwerke.“ (Objektive Erkenntnis, 1973, S. 123 ff.)

Die erste Welt hat viel Ähnlichkeit mit Descartes‘ physikalischer Welt, von der wir nur irrtumsbehaftetes – wenngleich intersubjektiv prüfbares und damit objektives – Wissen haben können. Dieses Wissen ist der dritten Welt zuzurechnen. Die erste Welt ist die Welt der „Dinge an sich“ und die dritte umfasst die Welt der Dinge, wie wir sie erkennen.

Die zweite Welt beinhaltet alles Mentale, also alles, was wir mittels Introspektion irrtumsfrei erkennen können.

Das Modell Poppers ist dualistisch insofern, als es einerseits die Realität (Welt 1) samt unserer irrtumsbehaftete Kenntnis davon (Welt 3) und andererseits unsere irrtumsfreie Introspektion (Welt 2) unterscheidet. So gesehen ist es dem Dualismus des Descartes ähnlich.

Einen in meinen Augen unwesentlichen metaphysischen Rest hat der Dualismus beider Ausprägungen: Es wird eine nicht prüfbare Realität postuliert, von der uns die Physik fehlbar Kenntnis gibt. Insofern ist Popper Realist.

Denkfalle Geist

Wie bereits angemerkt, reagiert der Naturalist ziemlich erregt auf jede Erwähnung von Geistartigem. Der Verdacht, dass beim Mentalen Übernatürliches im Spiel sein könnte, genügt für Gegenangriffe dieser Art:

  1. „Einen groben Kategorienfehler beging Popper bei seiner Drei-Welten-Theorie, einer umfassenden, systematische Kategorisierung von allem was ist.“ (Gelesen in einem Naturalisten-Forum)
  2. „So brauchbar diese Theorie ist, um semantische Missverständnisse aufzudecken und zu vermeiden: Für Poppers dualistische Annahme, dass die (immateriellen) Entitäten der Welten 2 und 3 kausal auf das Geschehen in der Realen Welt 1 einwirken können, gibt es bisher keine wissenschaftlich glaubwürdigen Belege.“ (Naturalisten-Forum)
  3. Die Drei-Welten-Lehre von Popper ist „ein Monster traditioneller Metaphysik“ (zitiert nach Spektrum der Wissenschaft, 2/2006, S. 100f.)

Möglicherweise wird hier die Welt 3 irrtümlich dem übernatürlich Geistartigen zugerechnet. Für eine solche Zurechnung bietet Popper keinen Anlass. Wenn überhaupt etwas fragwürdig ist, dann ist es die erste Welt.

Dem 2. Einwand  liegt ein okkultes Konzept der Kausalität zugrunde. Anscheinend geht der Popper-Kritiker davon aus,  dass Kausalität etwas ist, das der Natur eigen ist. Jedoch kommen in den Naturgesetzen Kausalitätsbeziehungen gar nicht vor. Die Kausalitätserwartung ist ein „angeborener Lehrmeister“ und der Kausalitätsbegriff ist erlernt und folglich auch im Wandel begriffen. Er hilft uns, die Welt zu ordnen. Kausalität ist vom Menschen gemacht, genauso wie die Klassifikationen.

Kausalität ist ohne die dritte Welt undenkbar. Das kontrafaktische Schlussfolgern, eine Notwendigkeit bei allen Kausalanalysen von Unfällen, spielt sich innerhalb der dritten Welt ab. Und auch die Versuchsplanungen für physikalische Experimente – also wenn sich die Ursachen nicht nur kontrafaktisch sondern tatsächlich ändern lassen – sind Produkte der Welt 3.

Lassen wir Popper selbst zu Wort kommen: „Die  Selbständigkeit der dritten Welt und ihre Rückwirkungen auf die zweite und selbst die erste Welt gehören zu den wichtigsten Tatsachen des Erkenntnisfortschritts.“ („Objektive Erkenntnis“, 1973, S. 136)

Für die Rückwirkung der dritten auf die erste Welt habe ich zwei Beispiele.

  1. Wäre damals bereits die Theorie der Schwingkreise weit genug entwickelt gewesen (Welt 3), dann wäre von Gray oder Bell vermutlich nicht das Telefon erfunden worden, sondern der Mehrfachtelegraf, und einer von beiden wäre steinreich geworden (Welt 1).
  2. Der Softwarefehler eines Betriebssystems, ein Objekt der Welt 3, kann weltweit zum Ausfall von Tausenden von Rechnern führen, ein Ereignis in der Welt 1. Dass dieser Fehler in vielen Implementierungen (in der Welt 1) aufgetreten sein muss, um wirksam zu werden, ist nicht zu bestreiten. Dadurch sind es aber nicht gleich viele Fehler geworden, es ist nach wie vor nur einer. Dieser eine Fehler, ein Objekt der Welt 3, ist Ursache (Singular!) der Ausfälle (Plural!). Ein konkretes Beispiel ist der „Millennium-Fehler“ (Y2K-Bug).

Einen frappierenden Fall der Rückwirkung von Welt 3 auf Welt 2 habe ich auf dem Feld der optischen Wahrnehmung gefunden („Sehen ist Glaubenssache“, Ramachandran und Rogers-Ramachandran, Spektrum der Wissenschaft 7/2004, S. 58-60).

Hubbel und Dellen

Was Sie hier sehen, ist eine Reihe von vier Hubbeln und eine Reihe von vier Dellen. Ob die Dellen oben sind oder die Hubbel, ist nicht ausgemacht. Ihr Wahrnehmungsapparat kann zwischen zwei Interpretationen dieses Bildes hin und her schalten, und das sogar willentlich. Stellen Sie sich vor, das Licht kommt von links, erscheinen die Hubbel oben und die Dellen unten. Kommt es in Ihrer Vorstellung von rechts, sind die  Hubbel unten und die Dellen oben. Es funktioniert am besten, wenn Sie nicht zu nah an das Bild herangehen und die Augen leicht zusammenkneifen.

Die Theorie, dass die gedachte Position der Lichtquelle eine Rolle spielt, ist der Welt 3 zuzurechnen. Die Absicht, das Bild Kippen zu lassen, als auch die daraus resultierende Wahrnehmung gehören zur Welt 2.

Geistartiges und Übernatur

Vom Kampf der Naturalisten gegen vermeintlich Geistartiges war eingangs die Rede. Dieses „Geistartige“, dem der Kampf gilt, ist vom Mentalen, vom Geist im Sinne Descartes‘ oder Poppers deutlich zu unterscheiden. Der Naturalist ordnet das Geistartige der Übernatur zu und entsorgt es zusammen mit dieser. Aber geht das überhaupt? Ich fürchte: nein.

Die Abschaffung der Übernatur geht nach Naturalistenart so: „Geheimnisse im Sinne von uns vorenthaltenen oder verbotenen Wissens gibt es nicht.“ (Gerhard Vollmer, Gretchenfragen an den Naturalisten, S. 25) Dieser Satz ist gleichbedeutend mit: „Alles was wir nicht wissen können, gibt es nicht.“ Folglich gibt es keine Übernatur.

Aber: Halt! Was wir wissen können, können wir nicht wissen. Diese negative Wissensprognose erklärt uns Karl Raimund Popper im Vorwort zur englischen Ausgabe seines Werkes „Das Elend des Historizismus“ folgendermaßen:  „Wenn es  so etwas wie ein wachsendes menschliches Wissen gibt, dann können wir nicht heute das vorwegnehmen, was wir erst morgen wissen werden.“

Für die negative Wissensprognose wird die Voraussetzung eines „wachsenden menschlichen Wissens“ eigentlich nicht gebraucht. Es genügt der Hinweis, dass sich wissenschaftliche Theorien dadurch auszeichnen, dass sie prinzipiell falsifizierbar sind und „dass wir zwar nach Wahrheit streben, möglicherweise aber nicht bemerken, wenn wir sie gefunden haben“ (Karl Raimund Popper, Vermutungen und Widerlegungen,1963/1994, S. 329). Damit ist auch der – höchst unwahrscheinliche – Fall abgedeckt, dass das Wissenswachstum ein Ende findet. Auch darüber können wir aus kritisch rationaler Sicht nichts wissen.

Also: „Wir können nicht wissen, was wir (künftig) wissen werden“. Äquivalent dazu ist der Satz „Was wir wissen werden, können wir nicht wissen“. Jetzt kommt nur noch ein kleiner Schritt. Wenn ich schon nicht weiß, was ich in Zukunft wissen werde, dann habe ich erst recht nicht das mögliche Wissen, das sich auf allen möglichen Pfaden ergäbe, die die Wissenschaft nehmen könnte. Damit kommen wir zu meiner Version der negativen Wissensprognose: „Was wir wissen können, können wir nicht wissen.“ Das klingt absurd, ist es aber nicht.

Da wir aufgrund der negativen Wissensprognose nicht wissen können, was wir wissen können, können wir auch nicht wissen, was es alles gibt, und schon gar nicht, was es alles nicht gibt. Insofern hängt Vollmers Satz in der Luft.

Natur und Übernatur lassen sich mit dem momentanen Wissen nicht dingfest machen. Es gibt jede Menge von noch nicht Gewusstem, das sich als Geistartiges ausgeben kann. Wir werden das Geistartige nicht los, wir können es drehen und wenden wie wir wollen.

Die Strategie, Anomales durch den Verweis auf die Nichtexistenz  der Übernatur oder des Geistartigen loswerden zu wollen, muss aus grundsätzlichen Erwägungen heraus erfolglos bleiben. Für den Skeptiker ist die Berufung auf Geistartiges Grund für Argwohn, nicht jedoch für sofortige Verdammung. Darin unterscheidet er sich vom Pseudoskeptiker.

Nachtrag am 16.11.2018: Dieser Versuch über das Geistartige ist eine Annäherung an den viel benutzten Begriff: Geistartig nenne ich etwas, das eine Wirkung haben soll und das sich gleichzeitig der Beobachtung entzieht, gerade so, wie die Kölner Heinzelmännchen. Solche Spekulationen über Geistartiges sind im Geist, ganz unmetaphysisch und irrtumsfrei. Was aber alles dem Geistartigen, dem Metphysischen also, zuzurechnen ist, hängt auch vom Wissensstand ab. Lukrez‘ Lehrgedicht „Über die Natur der Dinge“ aus dem ersten Jahrhundert vor Christus (übertragen und kommentiert von Klaus Binder, 2014) stellt den Atomismus vor, der nach meiner Auffassung damals noch dem Geistartigen zuzurechnen wäre. Heute wissen wir mehr; die Vorstellung von den Atomen hat das Geistartige abgelegt und den Weg in unser Wissen gefunden.

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Fakten

„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.“ Dieser Spruch hat sich aus seinem Entstehungszusammenhang gelöst und ist zur Kampfparole verkommen. Er ist heute vor allem bei Leuten beliebt, die an Verständigung nicht interessiert sind und die vor allem eine Herabwürdigung des Gegenübers im Sinn haben.

Viel wirksamer lässt sich die Basis der Kommunikation nicht zerstören. Der Sprecher sonnt sich im Gefühl, Recht zu haben. Dem Anderen wird unterstellt, sich Fakten zurechtgebastelt zu haben: Er ist also entweder dumm oder ein Betrüger.

Ende der Verständigung

Dieser Argumentationsstil hat im Zeitalter der internetgenerierten Echokammern und Filterblasen Hochkonjunktur und er wird heute sogar von Staatsoberhäuptern gepflegt. Es geht um den Klimawandel, um grüne Gentechnik, Zuwanderung („Lügenpresse“) und um einiges mehr. Glyphosat ist das gerade marktgängige Stichwort der öffentlichen Debatte.

Rechthaber gibt es auf beiden Seiten einer Debatte. Faktenverdreher und Produzenten von Fake News sind immer die anderen. Bataillone von Glaubenskriegern treten gegeneinander an: Auf meiner Seite sind die Wahrheitsbesitzer und auf der anderen die Wahrheitsbedürftigen.

In der Beschwörung von Fakten kommt ein Sicherheitsbedürfnis zum Ausdruck. Sie dient der Selbstvergewisserung: Es tut gut, sich als anerkannter Mitstreiter in höherer Mission zu sehen. Unerlässlich ist ein fester Grund für die eigenen Argumente. Sie werden erst durch ein solches Fundament zu Fakten. Und da wird man auf dem Markt der Religionen schnell fündig. Auch der Atheist muss nicht darben; auch er kann sich mit felsenfesten Fundierungen versorgen.

Die Begründung klingt bei Gottgläubigen und bei Atheisten erstaunlich ähnlich: Fakten sind wahre Aussagen über reale Sachverhalte. Der „reale Sachverhalt“ wird dabei als etwas von unserer Kenntnis Unabhängiges aufgefasst, also als etwas Jenseitiges, quasi Göttliches.

Nun leugne ich nicht, dass etwas Derartiges existiert. Nur mit der Erkenntnis des Jenseitigen hapert es gewaltig. Das Fundament ist nicht felsenfest, sondern bröckelig.

Klarheit schaffen

Nachdem es mit dem Faktum so nichts wird, frage ich mich, was wir unter dem Begriff verstehen wollen. Um Licht ins Dunkel zu bringen, ziehe ich mich auf die Logik der Forschung (LdF) von Karl Raimund Popper zurück (Siebente Auflage von 1982).

Über Tatsachenaussagen haben sich die Epistemologen in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts den Kopf zerbrochen. Ich bringe ein Beispiel.

  1. Der Rauch über dem Schornstein des Nachbargebäudes ist verwirbelt (Fulda, Florengasse, 20.9.2017, 9:30 Uhr).
  2. Daraus schließe ich, dass keine Inversionswetterlage herrscht und die Luft draußen ziemlich sauber ist.

Der erste Satz ist für mich eine unstrittige Tatsachenaussage – wenn man so will: ein Faktum. Meine Nachbarn werden gleichzeitig zu demselben Ergebnis kommen wie ich. Der zweite Satz ist meine Schlussfolgerung aus einer bewährten Wettertheorie und dem Faktum.

Die Fakten des Normalbürgers nennt der um die Epistemologie bemühte Philosoph Basissätze: „Basissätze sind […] Sätze, die behaupten, dass sich in einem individuellen Raum-Zeit-Gebiet ein beobachtbarer Vorgang abspielt. […] Jede Nachprüfung einer Theorie, gleichgültig, ob sie als deren Bewährung oder als Falsifikation ausfällt, muss bei irgendwelchen Basissätzen haltmachen, die anerkannt werden. […] Es ist verständlich, dass sich auf diese Weise ein Verfahren ausbildet, bei solchen Sätzen stehenzubleiben, deren Nachprüfung ‚leicht‘ ist, d. h. über deren Anerkennung oder Verwerfung unter den verschiedenen Prüfern eine Einigung erzielt werden kann.“ (LdF, Abschnitte 28 und 29)

Karl Raimund Popper lässt keinen Zweifel daran, dass für ihn auch Fakten theoriebasiert und ausschließlich dem Diesseits zuzuordnen sind. Es handelt sich eben um besonders einfache und gut bestätigte Theorien. Letztere sind nicht zwingend. „Im Vergleich zu logischen Tautologien haben Naturgesetze einen kontingenten, zufälligen Charakter.“ (LdF, Anhang *X (9))

Weiter schreibt Popper: „ Singuläre Sätze sind stets Interpretationen der ‚Tatsachen‘ im Licht von Theorien.“ (LdF, Anhang *X (2)) Auf mein Beispiel übertragen, heißt das: Man muss wissen, was unter „Rauch“ zu verstehen ist und was unter „verwirbelt“ und was unter „Schornstein“.

Fakten sind Verhandlungssache

Wem Poppers Betrachtung zu kompliziert ist, dem kann ich mit einer Würdigung von Klassifikationsschemata dienen: „Verwirbelt“ ist ein ähnlich vager Begriff wie der des Haufens. Wie undeutlich der Haufenbegriff ist, hat uns Zenon von Elea in seiner berühmten Paradoxie verdeutlicht.

Im Büchlein Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System sage ich es so: „Das Klassifizieren (Haufen/kein Haufen) verlangt das Zusammenfassen ähnlicher Dinge und Situationen zu einer Klasse. […] Bereits in unseren Wahrnehmungsapparat ist das Trennen und Klassifizieren eingebaut, wie der Mechanismus der Kontrastbetonung.

Erst die Klassifizierung der Gegenstände und Situationen ermöglicht die Debatte. Wenn wir wissen wollen, ob wir zwei Dinge oder Situationen derselben Klasse zuordnen können, greifen wir auf Ähnlichkeiten und Analogien zurück. Und dabei ist keineswegs ausgemacht, welche Wesenszüge und Merkmale Gegenstand der Analogiebetrachtung sind. Klassifizierungen sind in diesem Sinne kontingent, wie der Philosoph zu sagen pflegt: Sie können sich so wie vorgefunden ausprägen, aber auch anders.“

Aus alldem lässt sich der Schluss ziehen, dass selbst die simpelsten Fakten wie auch die Klassifikationsschemata Verhandlungssache sind. Einen festen Grund für Überzeugungen gibt es nicht.

Ja, darüber muss man sich mit seinen Meinungsgegnern auseinander setzen! Die dogmatische Begriffsbestimmung, dass ein „Faktum […] eine wahre Aussage über einen realen Sachverhalt“ sei, steht im allgemeinen Diskurs nicht zur Verfügung. Es bleibt kompliziert.

Selbst Echokammern sind nicht restlos gegen solche Zweifel immun. Erst kürzlich habe ich von einem Aufruf zur Selbstkritik aus einem einschlägig bekannten Kreis gelesen. Im Laufe der Recherchen bin ich auf den Artikel Doch, jeder hat seine eigenen Fakten von Andreas Rosenfelder (

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Denkfalle Realität

„Ich glaube nur, was ich sehe.“ – Dieser Satz ist naiv. Bereits die optischen Täuschungen zeigen uns, dass er zu nichts führt. Es ist vielmehr so, dass „die wesentlichen Strukturen und Modelle […] bereits in unserem Kopf gespeichert, angeboren oder in früher Kindheit erlernt [sind]. Sie gehören zu unserem Hintergrundwissen. Durch Auswahl aus diesem Fundus und durch Mustervergleich kann unser Wahrnehmungsapparat die Sinneseindrücke interpretieren.“ (Denkfallen, S. 3). Das funktioniert nur, wenn wir, ausgelöst durch Eindrücke auf unserer Netzhaut, unbewusst eine Erwartung bilden an das, was wahrzunehmen ist. Der Sache näher kommt, wer meint: „Ich sehe nur, was ich glaube.“

Die allgegenwärtigen Denkfallen zeigen uns, dass angeborene und erlernte Wahrnehmungs- und Denkmechanismen nicht das tun, was wir von ihnen erwarten – nämlich dass sie uns die wahre Realität der Dinge zeigen. Das heißt: Oft – vielleicht sogar immer – erleben wir Dinge, die es so eigentlich gar nicht gibt.

Das kann nicht sein? Oh, doch. Das bringt uns Martin Mahner in seinem Aufsatz „Fakten über Fakten“ nahe (skeptiker 3/2017, S.121-124): „Versteht man unter ‚Fakten‘ real existierende Sachverhalte, wirft dies die Frage auf, welchen Status mathematische Fakten haben.“

Wir sprechen in der Mathematik über Punkte, Geraden, natürliche Zahlen und dergleichen. Aber keiner hat so etwas je gesehen, gerochen, gefühlt. Punkte sind ausdehnungslos und in unserer Erfahrungswelt nicht unterzubringen. Genauso geht es mit anderen mathematischen „Gegenständen“: Sie sind nur in unseren Gedanken „real“. Sie gewinnen Gestalt durch das, was wir in Gedanken mit ihnen anstellen können und welche Gesetzmäßigkeiten für sie gelten.

Die Zahl 3 steht für einen solchen mathematischen Gegenstand. Aber „3“ ist ja nur ein Symbol. Was dahinter steckt, müssen wir uns denken. Und wir haben Modelle dafür: drei Streichhölzer, das ziemlich konkrete Symbol „III“, drei Äpfel, usw. Aber die Drei selbst entzieht sich dem direkten Zugriff.

Aus diesen Schwierigkeiten befreit sich der Mathematiker mit Hilfe von Axiomen. In diesen Grundsätzen kommen die mathematischen Gegenstände vor und gewinnen dadurch an Bedeutung für uns. Die Gegenstände der Geometrie wurden auf diese Weise von Euklid gefasst. Eine moderne Version seines Systems der Geometrie bietet David Hilbert (Grundlagen der Geometrie). Er beginnt mit den Axiomen der Verknüpfung. Hier die ersten drei:

  1. Zu zwei Punkten A, B gibt es stets eine Gerade a,  die mit jedem der beiden Punkte A, B zusammengehört.
  2. Zu zwei Punkten A, B gibt es nicht mehr als eine Gerade, die mit jedem der beiden Punkte A, B zusammengehört.
  3. Auf einer Geraden gibt es stets wenigstens zwei Punkte. Es gibt wenigstens drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen.

Für die natürlichen Zahlen hat Giuseppe Peano ein solches Axiomensystem aufgestellt.

Kurz und gut: Wir können sehr wohl vernünftig über mathematische Gegenstände reden und uns mit anderen darüber verständigen, obwohl sie nirgendwo definiert sind und obwohl es sie in der Wirklichkeit gar nicht gibt!

Vielleicht verhält es sich mit den Dingen unserer Erfahrungswelt ebenso? Die Welt in unserem Kopf wird von Gesetz und Ordnung zusammengehalten. Alles wirkt stimmig und real; das verführt dazu, diese innere Welt für ein Abbild der bewusstseinsunabhängigen Außenwelt zu halten. Wir bekommen es mit Denkfallen zu tun, wenn es die Dinge, so wie sie uns erscheinen, in Wirklichkeit nicht gibt.

Unter den Philosophien, die von einem halbwegs getreulichen inneren Abbild der „wirklichen Wirklichkeit“ ausgehen und die jeweils ihre eigene Fundierung dieses Abbilds anbieten, räumt Richard Rorty in seinem Buch „Philosophy and the Mirror of Nature“ (Thirtieth-Anniversary Edition, 2009) ziemlich gründlich auf. Dabei geht es vor allem um die Philosophien von Descartes und Kant. Auch der Naturalist findet sich in diesem Kreis wieder, wenn er von einer Rekonstruktion der Außenwelt spricht und als deren Fundament die Projektionen der äußeren Welt auf seine Peripherie ansieht.

Richard Rorty plädiert für eine pluralistisch angelegten Philosophie der Bildung (Edifying Philosophy), zu der auch die auf Fundamentierung angelegten Philosophien ihren Beitrag liefern: “When we have justified true belief about everything we want to know, we may have no more than conformity to the norms of the day. They [Goethe, Kierkegaard, Wittgenstein, Heidegger, …] have kept alive the historicist sense that this century’s “superstition” was the last century’s triumph of reason, as well as the relativist sense that the latest vocabulary, borrowed from the latest scientific achievement, may not express privileged representation of essences, but be just another of the potential infinity of vocabularies in which the world can be described.” (S. 367)

Ich übersetze das einmal so: Wenn wir unseren wahren Glauben über alles Wissenswerte gerechtfertigt haben, könnte das darauf hinauslaufen, dass wir nicht mehr als eine Übereinstimmung mit den gerade geltenden Normen erreicht haben. Denker wie Goethe, Kiergegaard, Wittgenstein und Heidegger haben sich die Einsicht des Historikers bewahrt, dass der „Aberglaube“ unseres Jahrhunderts im letzten Jahrhundert als Triumph der Vernunft gegolten hat, so wie sie die Einsicht der Relativisten am Leben gehalten haben, dass das neueste Vokabular, das mit den aktuellen wissenschaftlichen Errungenschaften verbunden ist, nicht etwa Ausdruck einer herausragenden Darstellung des Wesens der Dinge ist, sondern dass es sich nur um ein weiteres von potentiell unendlich vielen Vokabularen handelt, mit der die Welt beschrieben werden kann.

Nachtrag (17.11.2017): Bin ich selbst in die Denkfalle Realität hineingeraten? Ich lehne ja den kritischen Realismus des Karl Raimund Popper und damit sein (bescheidenes) Wahrheitsstreben nicht grundsätzlich ab. Meine Mitgliedschaft in der GWUP und meine Kritik an ihr könnten gedeutet werden als ein Streben in Richtung eines Idealzustandes, als Verbesserungsversuch in Richtung eines „wahren Skeptizismus“.

Aber darum geht es nicht. Im Rahmen der Diskussion mit „little Louis“ im Anschluss an den Artikel Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich? habe ich einen Klärungsversuch unternommen, und der geht so:

Nach meiner Auffassung tritt der Skeptiker nicht im Rudel auf. So gesehen ist der Begriff Skeptikerbewegung ein Selbstwiderspruch. Wenn ein Skeptiker Mitglied einer Skeptikerorganisation wird, dann bezieht er eine zumindest prekäre Position.

Es gibt gute Gründe dafür, eine solche prekäre Lage hinzunehmen. Immerhin hat mir meine Mitgliedschaft die Absurdität dieser Situation vor Augen geführt. Es ist gut, dass auch andere sie sehen können.

Ich erhalte Rückendeckung von Richard Rorty. Er empfiehlt, „den menschlichen Fortschritt nicht als das Zusteuern auf einen für die Menschheit irgendwie im Voraus eingerichteten Ort [zu] denken, sondern als eine Möglichkeit, interessantere Dinge zu tun und interessantere Personen zu sein“ („Solidarität oder Objektivität“, 1988, Reclam).

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