Unnatürliche Zahlen

Nach all dem Gedöns über Realismus und Skeptizismus ist jetzt wieder ein Thema dran, das näher am Zweck dieses Weblogbuchs liegt: Aufzeigen von Denkfallen und von Möglichkeiten, diese zu vermeiden. Heute habe ich mir die unnatürliche Zahlen vorgenommen. Anlass ist ein Stolperstein aus dem Spiegel der letzten Woche (37/2017). Meine Lektüre des Spiegel startet gewöhnlich ganz hinten, beim Hohlspiegel. Besagter Hohlspiegel beginnt mit diesem Bild:

Da fragt man sich schon, wer hier falsch liegt: Der für den Aufkleber verantwortliche Werber oder der Spiegel-Redakteur, der dieses Bild als geeignet für den Hohlspiegel und irgendwie lustig fand. Ich fand das Bild nicht lustig und fragte mich, worin der Witz liegen soll.

Mein Gedanke: Wenn ich von etwas Schlechtem 80% wegnehme, dann ist das doch irgendwie gut, oder? Liegt der Werber falsch, wenn er beim Leser ein Verständnis für negative Zahlen voraussetzt?

Das erinnert mich an eine Begebenheit aus meiner Wehrdienstzeit. Fahrschule. Der Stabsunteroffizier fragt mich nach dem Bremsvorgang und will unter anderem die Schrecksekunde und die vorbereitenden Handlungen berücksichtigt wissen. Das mit der Schrecksekunde und den Handlungen fällt mir gleich ein, aber die militärisch korrekte Bezeichnung des Vorgangs bis zum Stillstand habe ich nicht parat und nenne ihn „negative Beschleunigung“.

In der Pause lässt sich der Stabsunteroffizier den Sinn meiner vorlauten Bemerkung erläutern. So weit, so gut.

Gegen Ende meiner Dienstzeit ergab sich für mich die Notwendigkeit einer dienstlichen Beschwerde. Diese wurde abgeschmettert unter Hinweis auf meine Neigung zum Widerspruch und unter Aufzählung aller möglichen Nichtigkeiten, unter anderem dieser: „Darüber hinaus haben Sie während der Fahrschule im Mai 1965 geäußert, daß der Bremsvorgang eine negative Beschleunigung sei, obwohl Sie wußten, daß dem Fahrlehrer die Kenntnisse fehlten, das zu verstehen.“ (25. Februar 1966) – Innumeracy weiter Teile der Bevölkerung ist also nicht erst seit der Zeit der Smartphones und Tablets ein großes Problem. Sie muss schon vor über einem halben Jahrhundert in der Gesellschaft verbreitet gewesen sein.

Aber langsam. Überheblichkeit ist nicht angebracht. Die negativen Zahlen spielen auch heute dem Programmierer den einen oder anderen Streich. In meinem Buch Denkfallen und Programmierfehler (1990) habe ich notiert: „Warum versäumen wir, die negativen Zahlen in unsere Überlegungen einzubeziehen? Die Antwort ist recht einfach: Weil sie „unnatürlich“ sind. In unserer alltäglichen Erfahrungswelt tauchen die negativen Zahlen nicht auf. Es gibt keine negativen Entfernungen. Negative Guthaben gibt es nur als Schulden; diese werden ebenfalls mit positiven Zahlen angegeben.“ Und weiter: „Die negativen Zahlen sind nur zur Vereinfachung des Kalküls eingeführt worden. Ihnen fehlt die Anschaulichkeit. Es ist also kein Wunder, daß wir sie zuweilen unterschlagen.“

Als Beispiel bringe ich einen Fehler, der wohl jedem Programmierer in dieser oder einer ähnlichen Form schon einmal passiert ist. Um festzustellen, ob eine Zahl z klein ist, wird sie mit einem Grenzwert g verglichen: z < g. Die negativen Zahlen sind hier offensichtlich vergessen worden. Im Programm hätte die Ungleichung abs(z) < g stehen sollen.

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Der Realismus erklärt nichts

Gerhard Vollmer (2007) geht davon aus, dass es eine Welt gibt, „dass also das Objekt unserer Erkenntnis, die Welt, einmalig und eindeutig bestimmt“ sei, und „dass wir diese Welt erkennen können“. Eine Grundvoraussetzung der Naturwissenschaft, vielleicht der gesamten Erfahrungswissenschaft, sei der Realismus.

Das begründet er so: „Wenn es die Welt gar nicht gäbe oder wenn wir sie, selbst wenn es sie gibt, nicht erkennen könnten, dann hätte es auch keinen Sinn, nach dem ‚Warum?‘ und ‚Wieso?‘ solchen Erkennens zu fragen: Was es nicht gibt, braucht man auch nicht zu erklären.“ Es geht also um den Erklärungswert der bewusstseinsunabhängigen Welt, der „Dinge an sich“, wie Immanuel Kant sich auszudrücken pflegte.

Vollmer bezieht sich auf das No-Miracles-Argument des Hilary Putnam (1975), demzufolge der Realismus die einzige Philosophie sei, die den Erfolg der Wissenschaft nicht zu einem  Wunder mache:

„Denn wenn es Quarks und Quasare wirklich gibt, dann ist es kein Wunder, dass Theorien, die ihre Existenz behaupten oder voraussetzen, damit Erfolg haben. Wenn es diese Objekte dagegen gar nicht gibt, wieso gelingen uns dann mit diesen Theorien korrekte Voraussagen und viele weitere Problemlösungen?“

Gerhard Vollmer sieht eine Überlegenheit des Realismus gegenüber anderen Philosophien:

„Dass Idealismus, Positivismus, Instrumentalismus, Konstruktivismus etwas nicht erklären können, widerlegt sie nicht. Man wird aber sagen dürfen, dass der Realismus mehr erklärt. Bei erfahrungswissenschaftlichen Theorien ist Erklärungswert ein wichtiges Merkmal, nach dem wir Theorien beurteilen. (Andere Merkmale sind Zirkelfreiheit, innere und äußere Widerspruchsfreiheit, Prüfbarkeit, Testerfolg.)“

Genau diese Behauptung stelle ich infrage. Ich bezweifle  nämlich, dass der Realismus überhaupt etwas erklärt.

Worüber reden wir?

Statt von Realität will ich von der Wirklichkeit sprechen, eigentlich sogar von zwei Wirklichkeiten. Eine Wirklichkeit ist das, was wir erfahren, was über unsere Sinne auf die geistige Ebene trifft und dort verarbeitet wird. Das sind einmal die Erscheinungen und deren Zusammenwirken. Wir beobachten Invarianzen, kausale Beziehungen, Regelhaftigkeit: Ein Ding kann uns nicht gleichzeitig an zwei Orten erscheinen; feste Körper haben eine unveränderliche Ausdehnung; ein Körper schwerer als Luft fällt zu Boden, wenn man ihn loslässt. Darüber können wir uns mit anderen austauschen und verständigen. Zum gemeinsamen Wissen und damit zum Bestand dieser Wirklichkeit gehören insbesondere die bewährten Theorien der Erfahrungswissenschaften.

Diese Wirklichkeit, die sich in unserem Kopf widerspruchsfrei konfiguriert, nenne ich die innere Wirklichkeit oder kürzer: das Diesseits.

Dieses Diesseits ist so stimmig und weitgehend konstant, dass der Gedanke nahe liegt, dass es eine Wirklichkeit geben muss, die von unserem Denken unabhängig ist und die alle unsere Erfahrung bedingt. Von dieser äußeren Wirklichkeit haben wir nur die diesseitigen Eindrücke. Die Annahme der Existenz einer solchen äußeren Wirklichkeit erscheint uns als Denknotwendigkeit. Ich nennen sie das Jenseits. Diese äußere Wirklichkeit bewirkt die innere – so meinen wir. Die philosophische Vertiefung dieses Gedankens macht den Realismus aus.

Ich entlehne der Religion den Begriff „Jenseits“ und entkleide ihn seines religiösen Gehalts. Das tue ich nicht ohne Hintergedanken. Denn für mich ist die Vorstellung einer äußeren Wirklichkeit nicht allzu weit entfernt von der Vorstellung eines Gottes. Der große Sprung geht vom Diesseits in die äußere Wirklichkeit, von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu den Gottesvorstellungen.

Da wir keinen direkten Zugriff auf die äußere Realität haben, wurden immer wieder Zweifel am Realismus geäußert. Das genau ist die Haltung des philosophischen Skeptikers. Demgegenüber nimmt der Realist an, dass das Diesseits das Jenseits zumindest ausschnitts- und näherungsweise wiedergibt.

Was heißt „erklären“?

Im Brockhaus, Leipzig, 2005, finde ich zum philosophischen Begriff „Erklärung“ den folgenden Eintrag, der für den Alltagsgebrauch sicherlich ausreichenden ist: „Darlegung des Zusammenhangs, aus dem eine Tatsache oder ein Sachverhalt zu begreifen ist, d. h. Zurückführung von Aussagen und Tatsachen auf andere Aussagen, Gesetze oder Theorien.“

Erklärungen und Begründungen erfordern selbst wiederum Erklärungen oder Begründungen. Der Sucher nach einer Letztbegründung landet im unendlichen Regress. Auswege daraus führen entweder in die Zirkularität, weil irgendwann bereits verwendete Begründungen erscheinen, oder aber zum Dogmatismus, bei dem das Verfahren einfach abgebrochen wird.

Das ist das von Hans Albert so genannte Münchhausen-Trilemma (1991, S. 15). Die Begründungsprobleme wurden bereits von den antiken Skeptikern herausgestellt (Sextus Ermpiricus, Pyrrhon von Elis).

Damit ist eine grundsätzliche Schwierigkeit benannt, der sich der Realist gegenüber sieht.

Die Ursachenanalyse geht ins Leere

Wer etwas erklären will, der sucht eine Ursache für das Erklärungswürdige. Er forscht nach Kausalzusammenhängen. Was aber zeichnet die Kausalität aus? Was sind ihre Merkmale? Allgemeine Zustimmung wird die folgende Charakterisierung finden.

Zentrales Merkmal der Kausalität: Lässt man die Ursache weg, bleibt die Wirkung aus (bei kategorialen Zusammenhängen). Variiert man die Ursache, ändert sich die Wirkung (bei quantitativen Zusammenhängen). Die „Logik der Kausalität“ wird noch deutlicher in der INUS-Bedingung von John Leslie Mackie: Ein Ereignis wird als Ursache eines Ergebnisses wahrgenommen, wenn es ein unzureichender (Insufficient) aber notwendiger (Necessary) Teil einer Bedingung ist, die selbst nicht notwendig (Unnecessary) aber hinreichend (Sufficient) für das Ergebnis ist (Pearl, S. 313).

Um feststellen zu können, ob eine Ursache-Wirkungsbeziehung vorliegt (Hypothese), muss man sie prüfen können. Und das geht durch Variation der Ursache und Beobachtung der Wirkung. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich die Ursache weitgehend isoliert von anderen Größen ändern lässt, und dass alle anderen Bedingungen konstant gehalten werden können. Das ist das „Closest world“-Konzept von David Lewis. Im Alltagsbetrieb, fern von den Labors und Testanordnungen, verstößt die isolierte Variation der Ursache im Allgemeinen gegen Randbedingungen. Relevant wird das beispielsweise bei den klinischen Tests, deren Randbedingungen unter anderem durch Moral und Gesetzeslage vorgegeben sind.

Die Variation der ursächlichen Variablen kann folglich oft nur in Gedanken oder per Simulation durchgespielt werden. Das gilt insbesondere für die Ursachenanalyse bei Unfällen und Katastrophen, also bei Ereignissen, die bereits stattgefunden haben und die unwiederholbar sind. Dann sind wir auf kontrafaktische Schlussfolgerungen angewiesen.

Die Kausalitätsanalyse setzt die Manipulierbarkeit der Ursachen voraus – wenigstens in Gedanken oder per Simulation. Die Kausalität kann also grundsätzlich nicht etwas sein, das der äußeren Wirklichkeit, dem Jenseits also, anhaftet.

Das Kausalitätsdenken sorgt für ein zusammenhängendes und in sich konsistentes inneres Bild; es ist folglich Bestandteil unserer geistigen Ausstattung. Das Kausalitätsdenken gehört zur inneren Wirklichkeit; es ist nicht externalisierbar.

Wir haben keine Chance, Vorgänge oder Dinge des Jenseits als Ursachen für die Erscheinungen des Diesseits auszumachen. Wem die Fruchtlosigkeit des Realismus durch dieses Argument nicht hinreichend belegt ist, der möge sich dem folgenden zuwenden: Wenn wir für eine Erscheinung eine Begründung im Jenseits suchen, können wir wieder nur auf Erscheinungen, also auf Diesseitiges, zugreifen. Das Diesseits definiert den Bereich und die Grenze unseres Denkens. Wir drehen uns im Kreise. Die Zusammenhänge zwischen Jenseits und Diesseits bleiben ungeklärt: Kausalbeziehungen zwischen Jenseitigem und Diesseitigem lassen sich nicht ausmachen. Dem Realismus fehlt jeglicher Erklärungswert.

Wer mehr will, der muss den Sprung ins Transzendente wagen. Er sollte sich nicht wundern, wenn er dort auch Geistern und Göttern begegnet. Das ist kein guter Aufenthaltsort für Realisten und Naturalisten.

Es ist nicht allein diese Fruchtlosigkeit, die den Realismus als entbehrlich erscheinen lässt. Der Realismus ist schon aus rein logischen Gründen eine ziemliche Herausforderung für den Denker: Die Suche nach dem wahren Grund wird von ihm mit der Identifizierung der Realität als Grund allen Wissens abgebrochen. Der Realismus ist also unverbesserlich dogmatisch.

Dabei liegen weitere Fragen nach Ursachen durchaus nahe. Jedoch kann niemand etwas über die Anfänge der Realität wissen und auch nichts über ihre Beständigkeit. Das Nachdenken über Herkunft und Wesen der Realität landet in denselben Fallgruben, die bereits Aristoteles, Thomas von Aquin und Moses Maimonides allergrößte Schwierigkeiten bereitet haben.

Begründungsversuche des Realismus

Vollmers Behauptung, dass der Realismus Grundvoraussetzung der Naturwissenschaft sei, hängt in der Luft. Nicht viel besser als diese im Grunde haltlose Behauptung ist das Wunder-Argument, das ich anfangs zitiert habe. Klar: Die Regelhaftigkeit der Erscheinungen ist in der Tat ein Wunder. Jedoch: Das Wunder verschwindet nicht, wenn man eine Realitätsvorstellung hinzunimmt. Dann ist eben die Realität das Wunder. Und das erschwert die Sache weiter. Denn jetzt sind sowohl die Anfänge der Realität als auch deren Beständigkeit erklärungswürdige Wunder. Das Wunder-Argument gehört gewiss nicht zu den besten Einfällen der Realisten. Es führt schnurstracks zu Gedankengängen, die wir von den Gottesbeweisen und den Antinomien des Immanuel Kant kennen.

In seinem Übersichtsvortrag will Gerhard Vollmer eine Lanze für den Realismus brechen. Schauen wir uns einige seiner Argumente genauer an.

„Unsere kognitiven Strukturen passen (wenigstens teilweise) auf die Welt, weil sie sich – phylogenetisch – in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben und weil sie sich – ontogenetisch – auch bei jedem Einzelwesen mit der Umwelt auseinandersetzen müssen.“

Diese Aussage beinhaltet ungeklärte und fragwürdige Vokabeln. Belohnt wird in der Evolution nämlich nicht die Anpassung. Es geht um den Nutzen, um den Überlebenswert, die Fitness. Diese kann man bestimmen und messen, die Anpassung nicht.

Für letztere fehlt es an einer Definition der Referenzgröße: Was genau soll es sein, woran das Leben sich anpasst? Bereits ziemlich simple Evolutionsspiele zeigen, dass die Kenntnis der äußeren Wirklichkeit, das ist hier der Zustand der Gesamtpopulation, für die Individuen ohne Bedeutung ist. Sie reagieren allein auf das, was sie in Interaktionen gerade erfahren und was sie an Erfahrungen gespeichert haben (Grams, 2009). Nur der Spieler und Programmierer des Simulationsspiels kann die Gottesperspektive einnehmen: Er sieht alles, denn er hat es ja gemacht. Er kennt die Wahrheit. Für die Individuen geht es nicht um die  Wahrheit; es geht ums Überleben  (Grams, 2016, Kapitel 9).

Gerhard Vollmer stellt heraus:

„Der hypothetische Realismus macht Gebrauch von der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Danach ist eine Aussage wahr, wenn das, was sie sagt, mit der Wirklichkeit ‚da draußen‘ übereinstimmt.“

Diese Korrespondenztheorie ist ebenfalls eine in der Luft hängende Gedankenkonstruktion. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit ist nicht operationalisierbar. Es gibt kein Wahrheitskriterium.

Die Entwicklung der Wissenschaft ist für Gerhard Vollmer

„ein Phänomen, das wir ‚Konvergenz der Forschung‘ nennen können. Es geht dabei um mehrere Arten von Konvergenz: Konvergenz der Messwerte, Konvergenz der Messmethoden, Konvergenz der Theorien. Wie kommt es dazu?“

Er meint, dass der Anti-Realist die Antwort schuldig bleibe, während der Realist eine einfache Antwort bereit habe:

„Die Forschung konvergiert, weil es reale Strukturen gibt, die wir entdecken können und tatsachlich allmählich entdecken. Eben darin besteht für den Realisten der Erkenntnisfortschritt. Auch hier wird der überlegene Erklärungswert des Realismus deutlich.“

Tatsächlich sorgt diese Konvergenz dafür, dass wir in die Realismus-Falle stolpern. Die Konvergenz gehört zu den bereits als bewunderungswürdig anerkannten Regelmäßigkeiten der Erscheinungen. Die Realität macht diese Regelmäßigkeiten nicht weniger wunderbar. Ich wiederhole mich.

Vollmers Argument gleicht dem des Homöopathen, der die Heilung der von ihm verordneten „Medizin“ gutschreibt: „Wer heilt hat recht“. Von der Wirkung lässt sich gemeinhin nicht auf die Ursachen schließen. Ursachenbestimmung ist bereits in der Unfallforschung eine schwer lösbare Aufgabe. Man muss das Closest-World-Konzept von David Lewis bemühen. Das hätte hier zur Konsequenz, dass man sich die Welt der Erscheinungen ohne die verursachende Realität denken müsste. Auf das, was wir uns wegdenken müssten, haben wir nur Zugriff über die Erscheinungen der inneren Wirklichkeit. Die jenseitige Ursache dieser Vorstellungen ist nicht identifizierbar. Damit laufen die Kausalitätsüberlegungen ins Leere. Bereits Kant hat diese Sackgasse des Denkens  in „Der Antinomie der reinen Vernunft sechster Abschnitt“ (1787) klar benannt:

„Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt, und diese können wir daher nicht als Objekt anschauen“

Ich gebe zu: Meine Argumente gegen den Realismus sind nicht sehr originell. Auch Gerhard Vollmer hat einige davon seinem Text einverleibt. Dadurch wird sein Vortrag zu einem Muster dafür, wie man für eine Sache eintreten kann, von der man eigentlich nicht mehr so recht überzeugt ist. Ob das auf Gerhard Vollmer tatsächlich zutrifft, weiß ich nicht, aber der Text liest sich so.

Mein Fazit aus dem Ganzen: Wenn du zwischen zwei Weltanschauungen zu wählen hast, nimm die sparsamere Variante. Hier ist es die, die ohne den Sprung ins Transzendente auskommt.

Quellen

Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft, 1991

Grams, Timm: Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution? skeptiker 2/2009, S. 60-67

Grams, Timm: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer, Berlin, Heidelberg 2016

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1787

Lewis, David: Counterfactuals. Harvard University Press 1973

Maimonides, Moses: Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage. Herder, Freiburg im Breisgau 2009

Pearl, Judea: Causality. Cambridge University Press 2000

Putnam, Hilary: On Not Writing Off Scientific Realism (1975). Nachgedruckt in “Philosophy in an Age of Science”. Harvard University Press, Cambrige, London 2012

Vollmer, Gerhard: Wieso können wir die Welt erkennen? Übersichtsvortrag auf den Münchner Wissenschaftstagen – Leben und Kultur, 20.-23. Oktober 2007

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Glaube, Wahrheit, Wissen: ein Klärungsversuch

Von den Gelehrten des Naturalismus wird mir vorgeworfen, ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff der Realität und erst recht mit dem der Wahrheit im Sinne einer zutreffenden Beschreibung derselben. Das aktuelle Heft von Spektrum der Wissenschaft (8/2017) gibt mir Gelegenheit zu erläutern, warum mir diese Begriffe tatsächlich suspekt sind.

„Was ist Wahrheit?“ steht bereits auf der Titelseite des Hefts. Der Hauptartikel „Erkenntnistheorie – Wissenschaft, Erkenntnis und ihre Grenzen“ versucht eine Antwort: Wahrheit ist, was die Realität zutreffend beschreibt. Michael Esfeld meint, dass es gute Gründe gebe anzunehmen, dass die Physik die Realität wenigstens ungefähr so beschreibt, wie sie ist.

Realismus ist Metaphysik

Er macht sich ein Bild von der Realität. Der Physiker, so schreibt Michael Esfeld, zerlege die Natur in immer kleinere Einheiten: „Je weiter diese Zerlegung fortschreitet, desto mehr verlieren die Objekte an individuellen Eigenschaften.“ Zu Ende gedacht, sei die Welt als eine sehr große Menge von ausdehnungs- und eigenschaftslosen Punktteilchen zu beschreiben.

Diese Teilchen erinnern mich an den unsichtbaren Drachen in meiner Garage. Ich habe große Schwierigkeiten, andere von der Existenz dieses Wesens zu überzeugen. Michael Esfeld wird es mit seinen eigenschaftslosen Punktteilchen nicht besser ergehen.

Helmut Zinner beispielsweise kommt mit dem Konzept des eigenschaftslosen Punktteilchens nicht zurecht (Online-Diskussionsbeitrag, 03.08.2017). Es sei nicht konsistent mit der üblichen Sichtweise der Ontologie. „Eine Eigenschaft ist eine Fähigkeit, andere reale Dinge zu beeinflussen oder von ihnen beeinflusst zu werden.“ Michael Esfeld stimmt dem zu: „Deshalb kann man Eigenschaften als Beziehungen zwischen den Dingen verstehen, statt als etwas, das einzelnen Dingen unabhängig von ihren Beziehungen innewohnt.“

Auch in der klassischen Physik ist Schwere eine Körpereigenschaft, die sich erst dann offenbart, wenn andere Körper hinzukommen. Was nun? Hat das Punktteilchen nun Eigenschaften, oder hat es keine? Überlassen wir es Michael Esfeld, darauf eine Antwort zu finden. Mir geht es hier mehr um den von ihm grundsätzlich propagierten wissenschaftlichen Realismus, der unter Philosophen zurzeit ziemlich populär zu sein scheint. Dabei besteht ein auffälliges Durcheinander, was die Auffassungen von der als existierend postulierte Realität angeht. Die fragwürdigen Eigenschaften der Punktteilchen sind noch das geringste Problem.

Realität ist die Vorstellung einer von unserem Denken unabhängig existierenden Außenwelt. Die Annahme einer solchen jenseitigen Realität dient der Vereinfachung unserer Sprache und entfaltet vor allem regulative Wirkung: Wir streben nach wahrer Erkenntnis dieser Realität. Dabei können wir nicht wissen, wie nahe wir ihr kommen können. Sokrates hat diese Einsicht in die Worte gefasst: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“.

Die Ontologie definiert die Wahrheit

Wer eine Ontologie wie beispielsweise die des wissenschaftlichen Realismus hat, wer das Wesen der Dinge wenigstens näherungsweise erkannt zu haben glaubt, der kann den Naturgesetzen Wahrheit zumessen. Der Wissenschaftler verlässt damit den relativ stabilen Grund seiner prüfbaren und bewährten Theorien und begibt sich ins Reich der Metaphysik und des Glaubens. Dort geht es, anders als in der Wissenschaft, um Bekenntnisse.

Zur Begriffsverwendung: Gegenstand der Wissenschaft ist das Diesseits, also die Welt der Erscheinungen. Die intersubjektiv prüfbaren und bewährten Theorien darüber stellen unser Wissen dar. In diesem Sinne wissen wir also doch etwas. Karl Raimund Poppers Falsifizierbarkeitskriterium markiert die Grenze zwischen Wissenschaft und Metaphysik.

Der Glaube ist das nicht methodisch begründete aber zweifelsfreie Für-wahr-halten. Metaphysische Sätze, die ich plausibel finde, kann ich glauben. Wissen kann ich sie nicht.

Das von Michael Esfeld dargebotene realistische Fundament ist bröckelig und von einem geübten Faktenverdreher leicht abzuräumen. Der Realist bezieht ohne Not eine schwache Position gegen vorwissenschaftliche Glaubenskrieger. Der Realismus mit seinen Wahrheitsansprüchen unterminiert die Position der Wissenschaft; es läuft also ganz anders als beabsichtigt.

Der Realist hat einen schweren Stand selbst gegenüber grobschlächtigen Angriffen auf die Wissenschaft. Was hat er noch gegen ein Glaubenssystem aufzubieten, das besagt, dass die Welt von einem Gott erschaffen wurde und dass alles was man über sie wissen muss in der Bibel offenbart wurde? Jegliche wissenschaftliche Erkenntnis, die diesem Glauben widerspricht, lässt sich abtun als eine Versuchung des Menschen durch Gott. Allein der Ungläubige findet es sonderbar, dass der allmächtige Gott sich damit abgeben soll, den Menschen an der Nase herumzuführen. Sei’s drum: Glaube steht gegen Glauben. Wahrheit gegen Wahrheit. Welchen Glauben eine Person für plausibel hält, ist allein ihre Sache.

Auf meinen Zweifel an der Nützlichkeit des Wahrheitsbegriffs antwortete Michael Esfeld in der Online-Diskussion zum Artikel (03.08.2017): „Die Aussage beispielsweise, dass Wasser aus Atomen zusammengesetzt ist, statt ein Urstoff zu sein, ist wahr.“

Das Argument geht an der Sache vorbei. Selbstverständlich können Aussagen innerhalb eines Theoriegebäudes wie Logik, Mathematik oder auch einer naturwissenschaftlichen Theorie wahr sein. Ansonsten wäre die Theorie ja nicht konsistent. Mit der Wahrheit der Theorie selbst – und um diese geht es hier – hat das nichts zu tun. Man wird Axiomensystemen ja auch nicht den Rang der Wahrheit zusprechen, sondern sie nach Nützlichkeit beurteilen. Widerspruchsfrei sollten sie allerdings schon sein, nämlich so, dass sich innerhalb ihres Gültigkeitsbereiches aus Wahrem nur Wahres deduzieren lässt. Es kommt ganz wesentlich darauf an, nach welchen Spielregeln gespielt wird.

Mit meinem Zweifel am realitätsbezogenen Wahrheitsbegriff scheine ich nicht ganz allein zu sein. Es folgen zwei weitere Stimmen aus der Diskussion des Artikels.

Wolfgang Klein (26.07.2017): „Überhaupt halte ich den Begriff ‚Wahrheit‘ im Zusammenhang mit Naturwissenschaften für vollkommen irreführend. ‚Wahrheit‘ gibt es in der Logik und der Mathematik, oder auch bei den Juristen. Dort ist sie operational wohldefiniert.“

Sebastian Dilcher (27.07.2017): „Dass die Modelle, mit denen wir die Natur beschreiben, zunächst mal Konstruktionen unseres Geistes sind, wird wohl niemand bestreiten. Wenn man darüber hinaus glauben will, dass die Welt wirklich so ist, kann man das ja tun – aber dies als ‚Realismus‘ zu bezeichnen und als eine dem Konstruktivismus überlegene Haltung, erscheint mir reichlich abenteuerlich.“

Praktische Konsequenzen

Ich bin der Überzeugung, dass jeder Wahrheitsanspruch, der ja seine Begründung nur innerhalb einer Ontologie findet, die eigene Position schwächt. Die gute Gesinnung verdrängt die wissenschaftliche Argumentation. Der erkenntnisfördernde Diskurs leidet. Wer will schon gegen einen Wahrheitsbesitzer in den Ring steigen?

Abweichlern droht die Moralkeule: „Wer in dieser Hinsicht Konstruktivist ist, schadet sogar der Menschheit“, schreibt Michael Esfeld. Diese Haltung spielt, entgegen der hehren Absicht, den Faktenmanipulatoren in die Hände: Wahrheiten stehen gegen andere Wahrheiten – unentschieden, kompromisslos.

Die Wahrheit spielt eine unrühmliche Rolle. Sie wirkt spaltend. Das kommt der menschlichen Neigung entgegen, alles klar zu gliedern, möglichst alles nach schwarz und weiß  zu klassifizieren, zu vereinfachen.

Für mich ist es kein Wunder, dass sich Realisten isolieren und mit Gleichgesinnten in Echokammern einschließen. Das jedenfalls ist die Beobachtung, die ich im letzten Jahrzehnt gemacht habe – als ein randständiger Beobachter der Skeptikerbewegung. Es bildet sich eine Kampfgemeinschaft, die dieselbe Kommunkationskultur und ähnliche Riten wie ihre Gegner pflegt. Diese sind ja ebenfalls Gläubige, und zwar solche, die sich dem Intelligent Design, einer Parawissenschaft oder einer Verschwörungstheorie oder dergleichen verschrieben haben.

Unter den Wahrheitsbesitzern vom Realismustyp spricht man von unwandelbaren Naturgesetzen, Wunder werden der nichtrealen Übernatur zugeordnet und dadurch der Untersuchung entzogen. Als neuer Begriff erscheint die Scientabilität. Charakteristisch ist also eine Überbewertung der  Mainstream-Wissenschaft,  und diese sorgt für Empfindungslosigkeit gegenüber dem überraschend Neuen. Realisten in diesem Sinne haben ein Problem mit der Kreativität.

All das lässt sich natürlich nicht Michael Esfeld anlasten. Aber es gedeiht in dem Denkumfeld, das durch den von ihm propagierten wissenschaftlichen Realismus geprägt ist.

Letztlich schadet dieses Denken der Aufklärung, auch dem Kampf gegen den Klimawandel, der Esfeld ja besonders am Herzen zu liegen scheint.

Eine bessere Strategie bietet sich an, wenn wir zunächst einmal feststellen: Um Wahrheit geht es nicht. Es geht um Entscheidungen nach bestem Wissen.

Was bestes Wissen ist, hat uns Karl Raimund Popper bereits in seiner Logik der Forschung erklärt. Den Realitätsbezug führte er erst später ein – und das eher zögerlich.

Nichts ist wirksamer gegen Scharlatanerie, Verschwörungsgedöns, Wahrsagerei und Aberglauben als unverbrämte Wissenschaft mit klar definierten und fälschungssicher ausgeführten Prüfungen beziehungsweise verlässlichen Berichten darüber.

Auch der Realist kennt diese Sicht auf die Dinge (20.01.2017): „Wenn man einem Journalisten sagt, dass X nicht funktioniert, weil es nicht funktionieren kann oder weil es irgendwelchen Naturgesetzen widerspricht, dann ist das nett, aber man kommt leicht als dogmatischer Neinsager rüber. Wenn ich allerdings sage, wir haben schon 60 Leute erfolglos getestet, dann ist das viel überzeugender. So überzeugend, dass ich am Telefon an der sprachlosen Denkpause des Gegenübers geradezu höre, wie der letzte Widerstand, der letzte Einwand zusammenbricht, weil sie daraufhin nichts mehr entgegnen können zur Rettung des Paranormalen.“

Nach diesem Bekenntnis zeigt er den wahren Grund der Testaktion: „Also: ja, die Tests lohnen sich, auch wenn es eigentlich nicht (mehr) darum geht, dabei tatsächlich etwas herauszufinden.“

Der Test ist also PR, eine reine Werbeveranstaltung. So wird die Wissenschaft zur Garnitur für unbezweifelbare Wahrheiten.

Das funktioniert, solange geklärtes Terrain nicht verlassen wird, solange es nur um Homöopathie, Wünschelrutengängerei und dergleichen geht. Dort wo es interessant wird, in den Grenzbereichen der Wissenschaft und bei den in der Gesellschaft aktuell heiß diskutierten Themen wie Klimawandel und grüner Gentechnik kommt man mit dieser Einstellung nicht weiter. Wahrheitsansprüche schaden der eigenen Glaubwürdigkeit!

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Zwang zur Freiheit

Paradox oder nicht?

Der erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (First Amendment) untersagt die Einführung einer Staatsreligion und garantiert die freie Religionsausübung. Die strikte Trennung von Staat und Kirche gilt in den USA als hohes Gut. Daran beißen sich die Kreationisten und Vertreter des Intelligent Design mit ihrem Vorhaben, die biblische Schöpfungsgeschichte im Schulunterricht unterzubringen, die Zähne aus. Den Atheisten freut das.

Aber hoppla! Auf dem Eindollarschein finden wir den Text IN GOD WE TRUST. Tatsächlich ist das der Wahlspruch der Vereinigten Staaten von Amerika. Auch Präsidenten der USA bekennen sich durchaus als gottesfürchtig. Barack Obama spricht von seiner „ongoing conversation with God“ (Obama and The God Factor. Kirsten Powers. Huffpost.com).

Rückseite des Dollarscheins (Greenback)

Ist das paradox? Nein, ist es nicht; es passt zusammen, und zwar zwangsläufig. Hermann Lübbe erklärt uns das in seinem Buch „Modernisierungsgewinner – Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral“ aus dem Jahr 2004. Kurzes Resümee vorab: Der Verfassungszusatz will nicht die Schwächung der Religion; es geht um die Stärkung und Fruchtbarmachung ihrer Rolle in der Gesellschaft.

So fügen sich die Teile

Hermann Lübbe widmet sich in mehreren seiner Werke dem Thema Modernisierung und insbesondere den Folgen der grenzenlos gesteigerten Freiheit der Informationsgewinnung. Es lasse sich, so Lübbe, die durch hochverdichtete Netze zusammengebundene Industriegesellschaft nicht länger zentralistisch organisieren. Netzverdichtung und Komplexität der modernen Lebensverhältnisse seien mit Formen lebendiger politischer Selbstorganisation zu bewältigen – mit kleinen Einheiten und Kommunitäten.

Es kommt aufgrund des Modernisierungdrucks ganz allgemein zur „Revitalisierung kommunitärer Zusammengehörigkeitserfahrung in kleinen Einheiten“ (Modernisierungsgewinner, S. 10). Das betrifft zunächst einmal die traditionellen Religionen, aber es ist auch Platz für neue Gemeinschaften, die Halt und Zusammenhalt in spezifischen Glaubensgewissheiten finden.

Zum Thema Religionsfreiheit schreibt Hermann Lübbe: „ Die amerikanische Aufklärung ist in ihrem verfassungsrechtlichen Resultat strikter Trennung von Staat und religiöser Gemeinschaftsbildung eine religionsfreundliche Aufklärung.“ (S. 22) Es gehe, so Lübbe, um einen Staat, „der das religiöse Leben durch seine gewährleistete vollständige Freilassung schützt und eben deswegen vom Interesse der also Freigelassenen sich getragen weiß“ (S. 23).

„Je moderner wir leben, je größer also wissenschaftlich und technisch, wirtschaftlich und rechtlich die Menge dessen wird, was wir über expandierende soziale und regionale Räume hinweg alle miteinander teilen, umso mehr intensiviert sich zugleich das Interesse, hervorzukehren und zu behaupten, was uns in unableitbarer Kontingenz herkunftsabhängig gerade voneinander verschieden sein lässt.“ (S. 54) In diesem Sinne ist die Kindstaufe bestimmend, auch die Muttersprache suchen wir uns nicht selber aus und von der Erziehung hängen unsere Werte und Moralvorstellungen ab; welche Informationen wir aus der vom Internet angebotenen unübersehbaren Fülle auswählen, hat eine gewisse Beliebigkeit. Meinungen und Weltbilder sind diesem Sinne eine sehr persönliche Angelegenheit und weitgehend zufallsbedingt.

Da wir die Sicherheit der Ungewissheit vorziehen, tendieren diese Kontingenzen dazu sich zu verfestigen; jegliche Zustimmung durch andere verstärkt diesen Prozesse. Man stützt sich gegenseitig; Gruppen Gleichgesinnter mit gemeinsamen Bekenntnissen entstehen.

„Modernitätsabhängig expandiert der Umfang der kulturellen Gehalte, die wir bekenntnisförmig vertreten, also nicht zur Disposition von Diskursen, gar zur politischen Disposition von Mehrheitsentscheidungen gestellt wissen möchten. […] Die kulturelle Homogenität nimmt ab, die Menge der Kommunitäten, in denen wir uns jeweils übereinstimmend versichern, es besser zu wissen, nimmt zu.“ (S. 55ff.)

So treten Gruppen von Wahrheitsbesitzern an gegen konkurrierende Gemeinschaften, denen  jeweils ein irrender Glaube attestiert wird. „Die politische Unlebbarkeit solcher wechselseitigen Exklusionsversuche in einer eben darin Neuen Welt unaufhaltsamer Pluralisierung erzwang die Freiheit der Religion als Koexistenzbedingung inkompatibler Gewissheiten.“ (S. 89) Wir haben das Recht, von  politischen Verfügungen unberührt, anders sein zu dürfen.

Die Kommunitäten werden aufgrund der Freiheitsgarantien der Verfassung zu Subjekten in einem Evolutionsprozess: Die Glaubenssätze dieser „Subjekte“ können sich in der gesellschaftlichen Praxis und in Konkurrenz mit anderen bewähren, Untaugliches verschwindet.

„Die Irresistibilität, mit der die Freiheitsrechte sich in der Tat durchgesetzt haben, resultiert [..] aus dem Zwang, eine Antwort auf die Frage finden zu müssen, wie soziale Koexistenz und damit Frieden zwischen  Subjekten inkompatibler Glaubensgewissheiten und sonstiger Überzeugungen möglich gemacht werden könnte.“ (S. 157) „Aus der Unvereinbarkeit solcher Überzeugungen und Gewissheiten resultiert der Zwang zur liberalen Demokratie.“ (S. 158)

„Es gibt […] den Fall, dass das Bessere, das wir im Nachhinein als solches erkennen, sich unter dem Zwang seiner Unvermeidlichkeit durchsetzt. Die Erfolgsgeschichte der liberalen Demokratie repräsentiert genau diesen Fall. Die jeweiligen Minderheiten sind es, die auf dem Vorrang der Wahrheitsgeltung gegenüber der Mehrheitsgeltung angewiesen bleiben. Unsere Überzeugtheit von der Anerkennungsbedürftigkeit dieses Geltungsvorrangs der Wahrheit gegenüber der Mehrheit ist ungleich älter als unsere neuere Gewissheit von den politischen Lebensvorzügen der liberalen Demokratie. Aber just die Berufung auf den besagten Geltungsvorrang hat unter den politischen Wirkungsbedingungen fortschreitender Pluralisierung von religiösen und sonstigen Meinungen und Gewissheiten die Konstituierung zentraler Freiheitsrechte erzwungen, die den Kern der Verfassung der liberalen Demokratie bilden. Es sollte den Idealisten unter den Freunden der Demokratie recht sein, wenn sie für die Realisierung und für die Dauerhaftigkeit ihrer Ideale auch mit der Wirksamkeit von Zwängen rechnen dürfen.“ (S. 158)

Jetzt dürfte geklärt sein, wie die Überschrift „Zwang zur Freiheit“ gemeint ist. Die Paradoxie ist verflogen. Der Zwang zur Freiheit nimmt in den ersten vier Grundgesetzartikeln Gestalt an: Garantie staatlicher Neutralität, Schutz des Pluralismus und Toleranzgebot.

Skeptizismus kontra Naturalismus

Der prominenteste deutsche Skeptikerverein wirbt damit, politisch und weltanschaulich neutral zu sein. Im Webauftritt des Vereins wird insbesondere die pluralistische Zusammensetzung der Mitgliedschaft herausgestellt („Berufe, Weltanschauungen und politischen Ansichten sind verschieden“). Die weltanschauliche Neutralität sei, so der Vorsitzende, bereits durch die Wissenschaftsorientierung mehr als ausreichend belegt (15.1.17). Hermann Lübbe würde dem wohl zustimmen (S. 56): „Der jeweilige Stand der Wissenschaft ist nicht bekenntnisfähig. In einer aufklärungsbereiten Gesellschaft ist eben der Professor ein Professor und nicht ein Confessor.“

Im Selbstbild ist die Skeptikerbewegung demnach weltanschaulich neutral, tolerant und pluralistisch aufgestellt. Insoweit ist das alles stimmig und veranlasst den einen oder anderen, dem Verein beizutreten.

Die Binnensicht des Vereins zeigt ein anderes Bild. Der Hausphilosoph des Vereins erhebt den Naturalismus zur notwendigen Voraussetzung der Wissenschaft. Auf Nachfrage bekennt er, dass man die Falschheit des  Naturalismus nur mit naturalistischen Mitteln würde nachweisen können und wenn das gelänge, wären genau diese Forschungsmethoden fraglich. Es sei also kein Wunder, dass der Naturalismus eine metaphysische Voraussetzung sei (1.2.17).

Wir haben es also mit einer Weltanschauung zu tun. Das heißt: Der Naturalismus ist nicht Wissenschaft und auch nicht – anders als behauptet – Voraussetzung von Wissenschaft. Er ist ein Glaubenssystem, das wie jedes andere Glaubenssystem auch mit den Schwächen seiner Apologetik zurechtkommen muss.

Ein Verein, der sich nach außen weltanschaulich neutral gibt und der im Binnenverständnis den Naturalismus zur Grundlage erklärt, führt seine Adressaten hinters Licht. Dem Verein bieten sich zwei Alternativen, sich ehrlich zu machen:

  1. Der Verein behält den Anspruch weltanschaulicher Neutralität bei und versteht den Naturalismus – ebenso wie die Religionszugehörigkeit – als persönliche Angelegenheit der Mitglieder. Auch Agnostiker sind wohlgelitten, denn diese können sich unbeirrt auf das Kerngeschäft des Skeptikers konzentrieren. Oder aber:
  2. Der Verein vertritt offen seine naturalistische und religionskritische Ausrichtung, wobei ihm selbstverständlich offen steht, bei seiner Arbeit auch wissenschaftliche Methoden zu nutzen. Der Begriff der Wahrheit ist innerhalb der Weltanschauung widerspruchsfrei anwendbar. Der Wahrheitsanspruch wird der Konkurrenz durch andere „Wahrheiten“ ausgesetzt.

Welchen der beiden Wege der Verein auch wählt: Er würde so zu einem wertvollen Bestandteil der offenen Gesellschaft. Dem Zwang zur Freiheit wäre Genüge getan. Niemand könnte ihm länger den Vorwurf der Verlogenheit machen.

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Ein Humanist über Religion

Auf Wunsch der Würzburger GWUP-Gruppe soll Timm Grams über das Thema „Skeptizismus und Religion“ sprechen. Da sich ein Skeptiker nach seiner Auffassung in Fragen der Weltanschauung zurückhalten sollte, bat er um Unterstützung durch einen Humanisten. So trete ich – Frank Stößel – als zweiter Vortragender auf. Wir haben uns auf das Thema „Das Spannungsfeld Skeptizismus-Humanismus-Religion“ geeinigt. Darüber werden wir am 12. Juni ein Tischgespräch mit den Anwesenden führen.

Mein Part ist die Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Humanismus und Religion im Anschluss an den Artikel Skeptiker über Religion.

Als Mitglied einer humanistischen Weltanschauungsgemeinschaft spreche ich nicht über das Verhältnis von Religion und Humanismus im Allgemeinen, sondern ich biete meine Sichtweise als Humanist über Religion und Humanismus an.

Skeptisch und befangen gegenüber Religion

Der Skeptizismus ist nicht mein Erfahrungsfeld. Doch bin ich skeptisch gegenüber Ideologien, welche allzu oft mit Prinzipien verwechselt werden, wie z.B. beim Gebrauch des Begriffes Säkularismus, wenn man eigentlich Säkularität als Voraussetzung für ein gedeihliches Nebeneinander religiöser und nichtreligiöser Überzeugungen meint. Ich vermeide gerne Debatten über Religion, weil ich als Humanist sie samt ihrem Über- (Theologie), Mittel- (Klerus) und Unterbau (Kirchenvolk) vielseitig kennengelernt habe. Ich vermisse Religion gar nicht. Schon als Kind habe ich ihr den Gehorsam verweigert und ihr später mit dem Kirchenaustritt den Rücken gekehrt. Mein Leben versuche ich als überzeugter Humanist zu gestalten. Um als von Religion freier Mensch über Religion und Humanismus ins Gespräch zu kommen, greife ich auf allgemein bekannte Gedanken aus Geschichte, Philosophie, Theologie, Psychologie, Soziologie und Ethnologie zurück

Liberale Sozialisation

Dass ich mir ein gerüttelt Maß an Skeptik gegenüber Religion und Humanismus zutraue, verdanke ich meiner liberalen Sozialisation. Ich entstamme einer typisch deutschen Mischehe. Meine Mutter, protestantisch wie schon ihre Mutter, verstand sich als gottgläubig wie ihr Vater, der Freireligiösen nahe stand. Mein Vater war rheinisch-katholisch geprägt wie seine Mutter, sein Vater dagegen protestantisch. In meiner Familie wurde nicht gebetet, Religion war Privatsache.

Nach außen sah es anders aus. Der Kirchgang mit dem Vater war freiwillig. Zur Kommunion und Firmung wurden wir Kinder allesamt geschickt. Unsere Bildung in Kindergarten und Schule nach dem katholischen Bekenntnis war ein Zugeständnis der Eltern an die katholische Kirche nach damals noch nicht anerkannter evangelischer Trauung. Dass mich meine Eltern in ein katholisches Internat schickten, damit ich als Spätblüher zum Abitur käme, ermöglichte mir weitere Erfahrungen zu Religion, Glauben, Frömmigkeit und Kirche. Als 14-Jähriger hatte ich die Idee, atheistischer Pfarrer zu werden, weil mir die Arbeit für und mit Menschen an sich so gut gefiel.

Vor meinem Abitur wollte ich mit einigen Klassenkameraden aus dem Religionsunterricht austreten, was wir wegen des enormen Drucks seitens der Schulleitung lieber unterließen. An der Pädagogischen Hochschule konnte man als Prüfungsfach Philosophie anstelle von Religionspädagogik wählen. Das war für mich eine intellektuelle Erlösung. Als ich mein eigenes Geld verdiente und Kirchensteuer zahlen sollte, wurde mir bewusst, dass ich für etwas zahlen sollte, womit ich schon lange nichts mehr zu tun hatte. Wegen abzusehender Benachteiligungen zögerte ich den fälligen Kirchenaustritt noch hinaus.

Erst nach meinem zweiten Studium zum Sonderschullehrer trat ich aus der Kirche aus, und hatte deswegen bei Bewerbungen an privaten Förderschulen keine Chance. Glücklicherweise konnte ich an staatlichen Förderschulen arbeiten.

Zwar wurde ich kein atheistischer Pfarrer, aber seit 1988 bin ich beim HVD ausgebildeter Humanistischer Sprecher für Bestattungs-, Trau- und Namensfeiern. Diese Tätigkeit war jahrelang ein Hemmnis bei meiner dienstlichen Beförderung als auch in meinen öffentlichen Ehrenämtern, bis ich 1995 dennoch zum Leiter einer öffentlichen Schule in Bayern ernannt wurde. Man konnte seit Mitte der 90-er Jahre als bekennender Humanist natürlich im bayerischen Schuldienst arbeiten. Nach den Schulgesetzen war man aber dennoch verpflichtet, die Schüler nach dem christlichen Weltbild zu erziehen und das Schulgebet zu pflegen. Von mir als bekennendem Humanisten verlangte man das nicht. Man war froh, dass ich Ethikunterricht für die andersgläubigen Schüler übernahm.

Als Rektor einer Staatlichen Schule für Kranke brauchte ich mich nicht mit Religionsunterricht abzugeben, hatte mich aber zuvor einer  peinlichen Befragung des Arbeitgebers zu stellen, ob ich als Konfessionsfreier Nihilist sei, obwohl meine  Tätigkeit als Bestattungssprecher einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannten Weltanschauungsgemeinschaft hinreichend bekannt war.  Nach Erklärung meines humanistischen Menschenbildes war der Vorbehalt des Arbeitgebers aus der Welt geräumt. Dementsprechend wurde mir als Schulleiter weiterhin die Genehmigung erteilt, nebenberuflich weltliche Bestattungsfeiern für Angehörige Konfessionsfreier zu übernehmen. Als nichtreligiöser Rektor stand ich unter besonderer Beobachtung, erlebte wohl auch verhaltenen Respekt aber kaum Interesse an Humanismus als Prinzip, Weltanschauung oder gar als Alternative zur Religion.

Ungehorsam gegenüber Religion

Ist ein derartiger Ungehorsam gegenüber der Religion nun schon Humanismus? Gerade der umstrittene Martin Luther ist in seiner Ungehörigkeit gegenüber der Unfehlbarkeit des Papstes ein beredtes Beispiel für Ungehorsam gegenüber dem Glauben und seinen Autoritäten. Deswegen war er aber noch lange kein Humanist, denn für ihn galt der Homo-Mensura-Satz des Protagoras nicht, dass Der Mensch das Maß aller Dinge sei, der seienden, dass sie sind, und der nichtseienden, dass sie nicht sind.

Hatte sein Aufbegehren Humanistisches an sich, weil es Menschen durch eine neue verständlichere Auslegung der Bibel aus der angeblich gottgewollten Unmündigkeit in die unmittelbare Eigenverantwortung gegenüber Gott führen wollte? Den nächsten Schritt zum weltlichen Humanismus wollte der Reformator nicht tun, nämlich das Gottesdogma zu Fall zu bringen. Er definierte es zwar offener, ließ aber dem Humanismus ohne Gott keine Chance. Der Fortschritt war, dass jeder Mensch auch ohne Mittler mit Gott in Dialog treten kann. Selbst davon wollen heute immer weniger nichtreligiöse Menschen laut entsprechender Umfragen etwas wissen. Sie gehen lieber Immanuel Kant folgend davon aus, dass sich der Mensch seines eigenen Verstandes bedienen könne.

Gut sein mit und ohne Gott

Demzufolge muss man auch gut sein können ohne Gott. Dass man mit Gott als auch ohne Gott gut sein und Gutes tun kann, betonte 2013 Henning Vorscherau beim Deutschen Humanistentag in Hamburg vor einer kleinen Zuhörerschaft. Zur gleichen Zeit vergewisserten sich zigtausende Besucher des Evangelischen Kirchentages gegenseitig ihres Glaubens mit allzu großzügiger Unterstützung des Staates, der Mensch sei nur gut mit Gott. Der ehemalige Regierende Bürgermeister von Hamburg vertrat allerdings mit seiner Aussage beispielhaft das Prinzip der Säkularität des Staates und hatte damit ein typisch humanistisches Dialogangebot gemacht, bei welchem dogmatischen Freidenkern die Haare zu Berge stehen könnten. Damit ging der Freigeist Vorscherau ähnlich wie der Evolutionsbiologe Bernd Hölldobler, als er sich im Main-Post Interview als gutmütiger Atheist bezeichnete, der strittigen Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz Gottes geschickt aus dem Weg. Humanisten sind davon überzeugt, dass die Menschen kraft ihrer, von Frans de Waal u.a. erforschten angeborenen Moralität gut sein können ohne Gott.

Jeder soll nach seiner Façon selig werden

Der Geistesfreiheit, der Toleranz und dem Religionsfrieden geschuldet wird der Humanist die Aussage des aufgeklärten Absolutisten Friedrich des Großen als allgemeingültig akzeptieren: „Ein jeder möge nach seiner Façon selig werden.“ Das gebietet unser in Fragen nach der Existenz oder Nichtexistenz Gottes begrenzter Verstand genauso, wie es die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte tun. In beiden Kodexen sind Rechte und Pflichten der positiven wie der negativen Religionsfreiheit als universelle, unveräußerliche Grundrechte für Gläubige wie Nichtgläubige fest geschrieben. Doch wo bleibt die auch den Gläubigen gebotene Toleranz gegenüber Nichtgläubigen, die allzu gerne als Ungläubige bezeichnet und unter Berufung auf Gott und dessen heilige Schriften zu Menschen zweiter Klasse erklärt werden.

Toleranz zwischen Religiösen und Nichtreligiösen

Scheinbar ganz anders Papst Franziskus in seiner umstrittenen Predigt von 2013 mit der Behauptung, Jesus hätte Atheisten auch gut gefunden. Jesus sei für alle Menschen gestorben. Einen gemeinsamen Treffpunkt könnten Gläubige und Nichtgläubige daher dort finden, wo gute Werke vollbracht würden. Gutes zu tun sei keine Frage des Glaubens, sondern ein universelles Prinzip, das die Menschheit jenseits der Vielfalt von Ideologien und Religionen vereine. Das mutet auf den ersten Blick versöhnlich an, doch merkt man sogleich die beiläufige Volte, dass alle Menschen, eben auch Atheisten, angeblich von Gott sein sollen.

Würde der Pontifex seinen speziellen Humanismus tastsächlich mit und ohne Gottesbezug verkünden, würde das römisch-katholische Glaubensgebäude wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Doch wie wäre es dann um den Humanismus bestellt, würden die Vertreter der Weltreligionen eingestehen, was längst Fakt ist, dass Menschen auch ohne Gott, Religion, Klerus und Kirche gut sein und in Frieden leben können. Diese Auffassung würde allerdings Religion als lohnendes Geschäftsmodell in Gefahr bringen.

Sollte man Humanismus also nicht einfach als Religion ohne Gott gegen Religion mit Gott austauschen? Das wäre derzeit und auf lange Sicht wohl kaum denkbar. Denn würde Humanismus so nicht zur Ideologie verformt anstatt in einer offenen Gesellschaft, wie Gunnar Schedel sie fordert, als Prinzip vertreten und als Haltung gelebt?

Religion von Menschen gemacht

Dem Humanismus geneigte Forscher wie Edward O. Wilson fragen nicht zu Unrecht beim Nachdenken über den Sinn des menschlichen Lebens nach dem Vorteil von Religion. Sie könne ebenso wie Musik zu Verzückung mit Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin führen. Kann sein; doch das ist noch kein Beweis dafür, dass Gott oder die Natur, gemäß Spinozas Idee, Gott sei die Natur oder die Natur sei Gott, den Menschen eine so hohe Diversität an Religionen aufgebürdet hat.

Ich neige der Ansicht Ludwig Feuerbachs zu, dass Gott und Religionen von Menschen gemacht sind. Konnte die Idee in der Völkerkunde vom Consesus gentium als Übereinstimmung der Völker in der Annahme eines universellen Gottglaubens nicht als überprüfbarer Gottesbeweis herhalten, genügte lange zuvor Ciceros Auffassung vom ähnlich interpretierten Consensus nationem ebenfalls nicht den Anforderungen. Zu durchsichtig waren derartige Auslegungen der befangenen Ethnologen in der Frage nach dem Sinn der Religion im menschlichen Leben.

Gab sich Friedrich Engels bei der Erklärung der Funktion von Religion noch der Illusion hin, dass der Personifikationstrieb der Menschen, welcher auch Götter geschaffen habe, eine notwendige Durchgangsstufe in der Religion sei, erwarteten im letzten Jahrhundert nach dieser Theorie gutgläubige Freidenker noch, dass sich die Religionen mit dem Fortschreiten der Aufklärung durch den dialektischen Materialismus auflösten. Heutzutage erleben wir einen Rollback alter und neuer Religionen in den Armenhäusern der Welt als auch in den Wohlstandsländern, befördert durch niedrigen Bildungsstand und ein hohes missionarisches, mediales Potential.

Damit einhergehend gibt es Benachteiligung Nichtreligiöser im privaten wie im öffentlichen Leben anstatt einer Art Ökumene der Gläubigen, Anders-, Un- und Nichtgläubigen, geschweige denn, dass man den Glauben wechseln oder ablehnen kann, wozu man gemäß der Menschenrechte in freier Selbstbestimmung das Recht hat. Eine neue Sicht des menschlichen Zusammenhalts versuchte Eugen Drewermann mit psychoanalytischer Sicht auf die zentralen Glaubensinhalte der katholischen Konfession, und Hans Küng konstruierte den Weltethos. Zu mehr Toleranz unter den Religionen und ihrer zahlreichen Untergliederungen führte das nicht. Zu offensichtlich zielte man mit derlei Spielereien auf die Rettung und Mäßigung der eigenen Religion ab, um die Emanzipation von ihr zu verhindern. Richtig war das grundsätzliche Bemühen um Mäßigung und Zähmung von Religion hinsichtlich ihres verhängnisvollen Zusammenhangs von Glaube und Gewalt wie sie jüngst auch Norbert Lammert anmahnte. Kann der Humanismus einen Beitrag bei diesen Bemühungen leisten? Ja und nein. In erster Linie müssen diese Aufgabe müssen die Religionsgesellschaften selbst übernehmen, wobei Aufklärung und Menschenrechte als Kernelemente des Humanismus Leitlinien vorgeben.

An irgendetwas muss man doch glauben

Selbst dieser oft gehörte Satz, an irgendetwas müsse man doch glauben, hilft nicht weiter, da es keine allgemeingültige Verpflichtung zum Glauben und allzu viele Argumente gegen religiösen Glauben gibt. Schließlich ist es äußerst müßig, Menschen davon zu überzeugen, man lebe mit oder Gott richtig, besser, gesünder oder länger. Das sollte jeder Mensch für sich entscheiden, wozu Orientierungshilfen reichlich zur Verfügung stehen. So sollte Navid Kermanis Mahnung, es reiche nicht, zu sagen, dass die Gewalt nichts mit dem Islam zu tun habe, für alle anderen Religionen auch gelten, sobald sie sich mit Gewalt zu behaupten versuchen.

Endlichkeit als Maß des Menschen

Mit der Janusköpfigkeit der Religionsfreiheit in der offenen Gesellschaft wird sich der gutmütige Humanist heute zufriedengeben können, möchte doch auch er in seiner Weltanschauung respektiert werden. Er ist selbst nicht unbedingt frei von Elementen wie Universalität, Humanität und Spiritualität, welche Religionen für sich  reklamieren. So könnte ein Gast bei Humanistischen Lebensfeiern durchaus den Eindruck gewinnen, er befände sich bei einer zwar freien und dennoch religiösen Veranstaltung wegen dieser Beobachtungen. Es handelt sich um eine Gemeinschaft weltanschaulich Gleichgesinnter. Die Feier gestaltet ein von der Gemeinschaft beauftragter Sprecher. Es werden humanistische Rituale, Texte und Bilder eingesetzt. Die Feier ist menschlich, individuell und würdig ohne Jenseitsbezug. Die gewürdigten Menschen stehen unter den Schutz der Gemeinschaft. Der Ort der Feier wird durch die Teilnehmenden ein Sanctuarium, in dem bestimmte Regeln gelten. Das emotional starke Erlebnis, dass alle Menschen endlich sind und sterben müssen, nehmen die Teilnehmenden mit hohem Erinnerungswert mit. In Tischgesprächen philosphiert man über Gott und die Welt und gelangt beiläufig in weltanschaulich sehr persönliche Dialoge. So trägt jeder Teilnehmer zur konkret gewordenen kulturellen Evolution bei, indem nicht nur über Menschlichkeit, Individualität, Solidarität, Lebensprinzipien und von Karin B. Schnebel beschriebene Werte gesprochen wird, sondern diese Werte sichtbar gelebt werden. So kann immer wieder aufs Neue der Funke der Menschlichkeit von Mensch zu Mensch ohne Vermittlung durch irgendeinen Gott oder einen von ihm Auserwählten überspringen. Humanisten glauben, dass das gute Leben auch ohne Gott gelingt und froh macht, obwohl sie wie Religiöse um ihre Gebrechlichkeit und die Demokratie des Todes wissen.

Fähigkeit des Mitleidenkönnens

Worin sich religiöse und nicht religiöse Menschen aus zuvor beschriebener Erfahrung verständigen können, und das auch gelegentlich tun, sieht man erfreulicherweise stets nach Naturkatastrophen, bei Hungersnöten, Krieg und Terror. Offensichtlich vergessen Menschen ungeachtet ihrer Religion oder Weltanschauung in solchen Situationen jene Gräben, welche entsprechend der Religionszugehörigkeit in den Gesellschaften der Erde mehr oder weniger vorhanden sind. Dann sind konkrete Hilfen und Frieden wichtiger als der rechte Glaube, weil Menschenliebe im Sinne der von Edward O. Wilson hervorgehobenen Anthropozität sich immer wieder Bahn bricht. Das Menschsein prägende Prinzip sah der Philosoph Werner Marx in der Fähigkeit des Menschen, angesichts des Leides anderer Menschen mitleiden zu können, wozu uns die in jüngster Vergangenheit entdeckten angeborenen Spiegelneuronen auch ohne Erfahrung von Leid befähigen. Solcherlei Erlebnisse können eine Kultur des Zusammenhalts schaffen, welche es achtsam zu pflegen gilt.

Stiftung menschlichen Zusammenhalts

Folgte man dem französischen Ethnologen David Emile Durkheim, bemühten sich Religionen mit ihren Anhängern um Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Identität. Doch Religion kann gepaart mit Alleinvertretungsanspruch, wie es im letzten Jahrhundert auch einer ideologisch missbrauchten Spielart des Humanismus zueigen war, zu Ausgrenzung mit fatalen Folgen für Andersdenkende und Unterdrückung der Geistesfreiheit führen. Trotz Anerkennung der Charta der Menschenrechte gerät entgegen dem Wissen über Diversität und Empathie die Toleranz gegenüber dem Anderssein allzu oft unter Druck, als ginge es nur darum, die Welt in Claims aufzuteilen. Als unsinnige Beispiele zur Aufteilung der Welt mit Hilfe der Religion sei an die päpstliche Bulle Aeterni regis zugunsten der Seemächte Spaniens und Portugals oder an die aktuelle Idee vom Islamischen Staat erinnert.

Auf bis in unsere Tage hinein wirkende demokratieunverträgliche Verträge zwischen Religion und Staat machte der Historiker Karlheinz Deschner mit seiner Kriminalgeschichte des Christentums ebenso aufmerksam wie es liberale Theologen mit ihrer Forschung über wissenschaftlich nicht mehr haltbare biblische Wahrheiten taten. Heute sollten Religionen und Weltanschauungen ihre Kriminalgeschichten niederschreiben, ihre Irrtümer eingestehen und eine Reorganisation der Religionen auf der Grundlage der Menschenrechte verhandeln. Doch wer wäre dazu überhaupt in der Lage, wenn das nicht einmal die von Aufklärung und  Humanismus geprägten Vereinten Nationen schafften? Interreligiöse Gespräche unter Berücksichtigung von Ethnie, Hautfarbe, Sprache, Kultur, Rechten der Frauen und der Kinder gerieten bei entsprechenden Verhandlungen leider schon allzu oft in Sackgassen gerade wegen der Religionen. Könnte der Humanismus in einem solchen interreligiösen Dialog behilflich sein? Ja. Er müsste nur auch an den Tisch gebeten werden, damit die Religionen die Kehrseite ihrer Medaille vor sich sehen du erkennen, dass jeder Mensch seine Religion leben, wechseln oder auch aus ihr austreten darf.

Humanismus als Lösung für alle?

Könnte Humanismus, seit Friedrich Nietzsches den Tod Gottes verkündete, die Lösung aus dem Dilemma mit der Religion sein? Ginge man davon aus, dass Humanismus sich als Gegenteil von Theismus definiere, wäre dann Humanismus freidenkerisch, areligiös, antireligiös, freireligiös oder atheistisch, je nachdem ob man den Deisten Spinoza, den Freigeist Gottfried Wilhelm Leibniz, den Freireligiösen Johannes Ronge, den Freidenker Wilhelm Liebknecht, den Monisten Ernst Haeckel, die Gründer der Humanistischen Union (HU) oder des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) zu Rate zöge? Allen humanistisch geprägten Strömungen ist gemein, dass sie der Aufklärung dienen wollten, welche die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution, danach alle Demokratien beeinflusste und zur unterschiedlich ausgeprägten Säkularisierung westlicher Gesellschaften beitrug.

Gebremste Säkularisierung marginalisiert Humanismus

Seit 1803 befinden wir uns allerdings noch immer in einer Phase der gebremsten Säkularisierung. 1919 forderte die Weimarer Reichsverfassung vergeblich Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften durch die Landesgesetzgebung abzulösen. Hitler stellte die römisch-katholische Kirche politisch kalt, idem er sie gleichzeitig für ihr Wohlverhalten mit dem Reichskonkordat von 1933 belohnte, das bis heute gilt, und auf das sich andere Religionsgemeinschaften zur Erlangung gleicher Privilegien verständlicherweise berufen.

Seit Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 warten wir zum zweiten Male auf die Durchsetzung des Beschlusses zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, um das Verhältnis des weltanschaulich neutralen Staates zu den Religionsgesellschaften und den Vereinigungen, die sich die Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen demokratieverträglich zu gestalten. Dabei können weder der Humanismus an sich noch der HVD als anerkannte Weltanschauungsgemeinschaft alleine die Lösung bieten, doch wesentliche Impulse zur Gleichstellung von Religion und Humanismus im weltanschaulich neutralen Staat liefern.

Das Abwägen von Argumenten, wie das gute Leben zu führen sei, kann sich nicht an unüberprüfbaren Wahrheiten orientieren. Für den weltlichen Humanismus gibt es keinen Dialog mit Gott und Göttern, mit Geistern und Ahnen. Auch wenn es nach dieser Annahme keine außerirdischen Hilfen beim Abwägen der verschiedenen Argumente zur menschengemäßen Lebensführung  gibt, wohnt dem Humanismus als Methode nach Paul Kurtz` Ansicht eine dialogische Kraft inne, welche Menschen als Entscheidungshilfe dienen kann. In diesem Dialog sollen stets die Rechte des Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung im privaten wie im gesellschaftlichen Leben berücksichtigt werden. Dass diese Rechte in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten weitgehend respektiert werden, ist ein großer Fortschritt, dennoch ist das aktuelle Ausmaß noch längst nicht befriedigend, da man nicht nur im europäischen Deutschland noch eine Reorganisation des Verhältnisses von Staat und Religion scheut wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser.

Humanisten für Aufklärung und Dialog

Weltliche Humanisten sind gegenüber Religion verständlicherweise skeptisch. Sie treten konsequent für einen curricularen Humanismus ein, da sie nicht an letzte Wahrheiten glauben. Daher engagieren sie sich für Aufklärung und offenen Dialog mit allen Gruppen der Gesellschaft, selbstverständlich auch mit den Religionen. Im sogenannten Lutherjahr 2017 hat der HVD den angeblich von Luther stammenden Thesenanschlag von Wittenberg zum Anlass genommen und ein Papier mit 33 Thesen gegen die Benachteiligung konfessionsfreier Menschen in Deutschland herausgegeben, welches ich für die Debatte über Humanismus und Religion im weltanschaulich neutralen Rechtsstaat empfehle www.reformation2017.jetzt  ebenso wie den Bericht zur Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland des HVD-Bundesverbandes www.glaeserne-waende.de  als auch die Humanistischen Grundsätze des HVD Bayern www.hvd-bayern.de

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Zweifel

It’s tempting to nestle in a comfort zone,
surrounded by people who look like us,
think like us, pray like us, vote like us.

Nancy Gibbs, TIME, May 1-8, 2017

Skeptiker behaupten nicht, sie bezweifeln

Als Ausgangspunkt der Betrachtung zum Skeptizismus wähle ich eine wichtige aktuelle Frage: Ist der drohende und teils schon spürbare Klimawandel menschengemacht? Die meisten Klimawissenschaftler bestätigen das. Die sogenannten Klimawandelskeptiker bezweifeln es.

Ein Skeptiker der Skeptikerbewegung setzt sich unter dem Titel „Klimawandel: Leugner, Skeptiker und Wissenschaft“ damit auseinander: „Nicht die Öl-Konzerne oder die Kohlelobby sind die größten Treiber des Kampfes gegen die Klimawissenschaften, sondern die Vertreter einer besonders extremen Variante des Neoliberalismus, die jede staatliche, überstaatliche oder sonstige gesellschaftliche Intervention als Teufelszeug und Weg in den Kommunismus oder in die Diktatur ansieht.“

Er schreibt ferner, dass die Wissenschaft in diesen Bereichen bekämpft und die Wissenschaftler verunglimpft würden und gleichzeitig Außenseiter ohne Erfahrung auf dem Gebiet als Kronzeugen vorgestellt würden. Wenn sich Klimawandelleugner als Klimawandelskeptiker bezeichneten, so werde der Begriff „Skeptiker“ missbraucht

In einer Erklärung vom 5. Dezember 2014 haben die Fellows of the Committee for Skeptical Inquiry dies festgehalten: Als wissenschaftliche Skeptiker zeigen sie sich besorgt über politische Bestrebungen, die Klimawissenschaft zu unterminieren. Sie sehen Leute am Werk, die die Realität negieren, die keinerlei wissenschaftliche Forschung betreiben oder aber Beweise, die ihren festen Überzeugungen zuwiderlaufen, für falsch halten. (“As scientific skeptics, we are well aware of political efforts to undermine climate science by those who deny reality but do not engage in scientific research or consider evidence that their deeply held opinions are wrong.”)

Wissenschaft wird zum Abstimmungsergebnis: „Anfang Juli haben zudem 36 Nobelpreisträger der Physik, Chemie und Medizin in Lindau eine gemeinsame Erklärung zum Klimawandel unterzeichnet. Eindeutiger geht es kaum.“

Dieser Standpunkt ist klar und vertretbar. Aber es bleibt ein Standpunkt und der sagt nur wenig darüber aus, wie er entstanden ist. Skepsis betont aber den Weg, nicht das Ziel. Wer sich in dieser Weise auf die Wissenschaft beruft – wohlgemerkt: auf die Wissenschaft, nicht auf die wissenschaftliche Methode –, verklärt den Stand des Wissens und macht ihn zum absoluten Maßstab.

Skeptizismus und Standpunkt bilden keinen Widerspruch für den, der – ganz im kantschen Sinne – Fragen der Wissenschaft von denen der Moral trennt. Man kann also ein Anliegen unterstützen und dabei zurückhaltend im skeptischen Sinn argumentieren. Dafür bildet eine Veranstaltung wie der March for Science aber kaum den richtigen Rahmen.

In der Demonstration ging es den „wissenschaftlichen Skeptikern“ folglich nicht um den Skeptizismus im eigentlichen Sinne, sondern darum, einen Standpunkt zu vertreten und auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Der Skeptizismus blieb dabei leider ziemlich unsichtbar.

Wissenschaft ist offen und in Bewegung. Der Zweifel ist ihr Lebenselixier. Ein Skeptiker behauptet am besten gar nichts. Das heißt nicht, dass er der Beliebigkeit Tür und Tor öffnet. Damit stehen wir vor dem zentralen Problem, das der Skeptiker zu lösen hat: Wegweiser sein ohne Dogmatismus.

Für diese schwierige Aufgabe gibt es Rat von einem jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters: Moses Maimonides. Leider hat er nichts „Demonstrationstaugliches“ zu bieten. Aber nützlich sind seine Ratschläge doch: für die Auseinandersetzungen in Forschung und Wissenschaft, für die Pädagogik und für die  Meinungsscharmützel des Alltags.

Moses Maimonides

Von Moses Maimonides (1138-1204) stammt ein gut ausgetüfteltes System des skeptischen Argumentierens. Auch er hatte seine Hintergedanken dabei. In seinem Wegweiser für die Verwirrten wendet er sich an den Schüler und er will diesem letztlich den Weg zum rechten Bibelverständnis zeigen. Maurice Wolff (1992, S. IX) berichtet, dass Maimonides nicht für die große Menge oder für Anfänger in den Studien schreiben wollte, sondern für den religiös Gesinnten, in dessen Seele die Wahrheit der Gotteslehre bereits als Glaube eingedrungen sei, der sich aber auch philosophisches Wissen, vor allem die Lehren des Aristoteles, angeeignet habe und der Vernunft folgend durch die buchstäbliche Fassung des Gotteswortes in Verwirrung geraten sei.

Bezeichnend für die zurückhaltende Art dieses Skeptikers ist, dass er sein Werk als Wegweiser bezeichnet, nicht etwa als Leitfaden oder als Weg zur Wahrheit. Der Leser bleibt aufgefordert, den Wegweiser richtig zu lesen und den Weg zu seiner geistigen Vervollkommnung eigenverantwortlich zu beschreiten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Leser schließlich in noch größere Verwirrung verfällt.

Maimonides versucht also sich an etwas anzunähern, das in der Lehrer-Schüler-Kommunikation nur schwer zu erreichen ist: Begegnung auf Augenhöhe. Als literarische Form wählt er Briefe an den Schüler.

Der Wegweiser für die Verwirrten beschäftigt sich mit der Frage, ob die Welt urewig (Aristoteles) oder ob sie mit dem ersten Tag der Schöpfung neu entstanden ist (1. Mose). Ich gehe auf dieses Thema kurz ein, weil es auf die interessante Frage führt, inwieweit wir durch die Leistungsfähigkeit der Mathematik bei der Beschreibung der Welt dazu verleitet werden, sie für das Wesen der Welt zu halten. In diese Denkfalle kann nämlich nicht nur der Religionsphilosoph tappen, sondern auch der wissenschaftsorientierte Realist.

Stellen wir uns den Zahlenpfeil vor, auf dem die Folge der Tage markiert ist, ausgehend vom Tag der Schöpfung. Nach dem ersten kommt der zweite Tag, danach der dritte und so weiter. Diese nicht enden wollende Folge ist für uns unendlich und lässt sich durch den positiven Zahlenstrahl → repräsentieren. Den kann und den muss man sich nicht vollendet denken – er kommt nicht in Existenz. Anders ist es mit der Urewigkeit. Der negative Zahlenstrahl ← sagt uns, dass „sich das Geschehene in unendlicher Aufeinanderfolge ereignet“ (Maimonides, Wegweiser, Buch 2, Kapitel 13, 172.). Heute müsste dieser Prozess abgeschlossen, also in Existenz gekommen sein. Das übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Immanuel Kant nimmt sich der Sache in seiner ersten Antinomie an und kommt zum Schluss, dass man über so etwas wie die Urewigkeit der Welt am besten gar nicht erst nachdenkt. Maimonides sieht zwar ebenfalls, dass „bei dieser Frage – ich meine die Urewigkeit der Welt oder ihre Neuentstehung – ein strenger demonstrativer Beweis nicht erreicht werden kann und dass dies eine Stelle ist, die für die Vernunft eine Grenze bildet“ (Maimonides, Wegweiser, Buch 1, Kap. 71, 63). Aber sein Glaube bietet ihm einen Ausweg aus den Schwierigkeiten und gibt ihm eine Antwort: Gott hat mit der Welt auch die Zeit erschaffen.

Mir geht es nicht um die Klärung solcher metaphysischen Fragen, sondern um die skeptische Methode des Maimonides.

Maimonides zitiert Aristoteles: „Es zeichnet denjenigen aus, der gemäß der Wahrheit entscheidet, dass er seinen Gegnern gegenüber keineswegs feindlich gesonnen ist, sondern ihnen freundlich und gerecht begegnet, und so wie sich selbst behandelt, und zwar gemäß der Richtigkeit der Begründung; des Weiteren, dass er ihnen gleichermaßen zugesteht, dass ihre Begründungen ebenso richtig sein können wie die eigenen.“

In Buch 2, Kapitel 23 seines Wegweisers schreibt er: „Du sollst wissen, dass wenn du die Zweifel, die mit einer gewissen Ansicht notwendig verbunden sind, mit denjenigen vergleichst, die mit der entgegengesetzten Ansicht verbunden sind, und du dich entscheiden willst, welche von beiden weniger Zweifel hervorruft, dann solltest du weniger die Anzahl der Zweifel in Erwägung ziehen als vielmehr die Tatsache, wie gewaltig ihre Absurdität ist und inwieweit die Realität ihr widerspricht. Denn manchmal kann ein einzelner Zweifel gewaltiger sein als tausend andere Zweifel.“

Kurz gesagt: Die skeptische Methode liefert keine für jeden gültige Ja-nein-Entscheidung, kein schwarz oder weiß. Es geht um Gewichtungen und Grade der Glaubwürdigkeit. Welche Entscheidung schließlich getroffen, welcher Standpunkt bezogen wird, ist keine generell zu beantwortende Frage, sondern eine persönliche Angelegenheit: „Wenn du willst, kannst du dich von deiner Leidenschaft befreien, deine Gewohnheiten verwerfen und dich einzig und allein auf die spekulative Forschung stützen, um dadurch das vorziehen zu können, dem du eigentlich den Vorzug geben solltest.“

Der strategische Zweifel und was man dagegen tun kann

Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse den wirtschaftlichen Interessen entgegenstehen und wenn es darum geht, politisch unangenehme Entscheidungen zu verhindern, braucht der Interessenvertreter nur die Beweiskraft anzuzweifeln. Der Zweifel ist der Wissenschaft immanent. Es genügt, die sowieso vorhandenen Zweifel aufzugreifen, zu verstärken und richtig zu vermarkten. Der Skeptiker wird zum Händler in Sachen Zweifel. Der Zweifel dient seinem strategischen Ziel.

Diese Zweifel lassen sich gut vermarkten: Die  Medien gieren danach, denn Kontroversen sind guter Lesestoff.

Der Skeptizismus soll dem Wanderer Wegweiser sein, wenn es darum geht, Fakten von Pseudofakten zu unterscheiden, die Relevanz von Zweifeln zu bewerten und zu erkennen, „wie gewaltig ihre Absurdität ist“. Die größte Gefahr auf dem Weg sind die strategischen Zweifel, die dem Suchenden in manipulativer Absicht nahe gebracht werden.

Wer nach Hinweisen für die Bewertung von Zweifeln sucht, schaut am besten auf Problemfeldern nach, auf denen mächtige Interessen zusammenprallen: Rauchen, saurer Regen, Asbest, Ozonloch, globale Erwärmung. Das Buch „Merchants of Doubt“ von Oreskes und Conway (2010) regt mich zu folgenden Fragen an, deren Beantwortung dem Einzelnen helfen kann, faule Argumente aufzudecken und den rechten Weg zu finden.

  • Hat der Zweifler das nötige Fachwissen? Haben die Angriffe eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage?
  • Wie sind Macht und Einfluss verteilt und wie ist der Zugang zu den Medien? Beispiel: Das George C. Marshall Institute wurde einst gegründet, um die strategische Verteidigungsinitiative (SDI) des Präsidenten Ronald Reagan gegen Angriffe durch Wissenschaftler zu verteidigen. Als es darum ging, den Treibhauseffekt klein zu reden, waren diese Leute aufgrund ihrer guten Beziehungen zum Weißen Haus wieder dabei.
  • Wird auf Gegenargumente eingegangen oder nur stur das immer Gleiche wiederholt (Holzhammermethode, Gehirnwäsche)?
  • Wird die Reputation der Gegenseite angegriffen? Gilt der Angriff nicht der These, sondern ihrer Quelle (Argument ad hominem)?
  • Welche Interessen werden vertreten? Welche Rolle spielen Politik und Ökonomie? Gibt es ein Netzwerk der Kritiker oder Anzeichen einer konspirativen Vereinigung? Beispiel: Leute, die die Wirkung des Rauchens verharmlosten, waren auch an den Diskussionen zum Ozonloch, zum Star-Wars-Programm (SDI) und zur globalen Erwärmung beteiligt. Stets bekämpften sie die wissenschaftlichen Belege und vermarkteten den Zweifel.
  • Gibt es Anzeichen für Ablenkungsmanöver und Verharmlosung? Beispiel: Zum Klimawandel tragen neben den CO2-Emissionen auch andere Faktoren bei: Staub durch Vulkanaktivitäten, Sonnenflecken, El Niño. Wer sich nicht auf die falsche Fährte setzen lassen will, kommt um eine Quantifizierung und gegenseitige Gewichtung der verschiedenen Einflussfaktoren nicht herum.
  • Werden schlüssige Beweise gefordert? Beispiel: „Es gibt keinen Beweis dafür, dass Zigarettenrauchen ungesund ist.“ Derartige Beweise gibt es im Allgemeinen tatsächlich nicht. Das Argument dient nur dazu, den anderen in die Defensive zu bringen.
  • Verwickelt sich der Angreifer in innere Widersprüche? Beispiel: Die Dokumente der Tabakindustrie zeigten, dass Rauchen schädlich ist. Öffentlich bestritten die Industrievertreter das.

Aber Vorsicht. Das alles sind zwar wichtige Punkte. Aber der Hinweis auf die Fragwürdigkeit einer Quelle oder auf ein verdächtiges Drumherum ist an sich noch kein überzeugendes Argument. Lassen wir dieselbe Vorsicht walten, wie sie Carl Sagan im Falle der Astrologie gezeigt hat. Letztlich geht es allein um die Gültigkeit der infrage stehenden Geltungsansprüche.

Und noch etwas. Wenn es um eine gut bestätigte Theorie geht, die darauf hindeutet, dass unsere Lebensgrundlagen und die der nächsten Generationen bedroht sind, wird man bei der Entscheidungsfindung das Vorsorgeprinzip (Prudent Avoidance) beachten. Es besagt, dass man Anstrengungen zur Vermeidung von Risiken auch dann unternehmen sollte, wenn die Größe der Risiken noch nicht zweifelsfrei bekannt ist. So verliert mancher strategische Zweifel an Gewicht.

Letzte Änderung: 31.5.2017

Literaturhinweise

Maimonides, Moses: Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage mit einer Einleitung von Frederek Musall und Yossef Schwartz. Herder, Freiburg 2009

Oreskes, Naomi; Conway, Erik M.: Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming. 2010

Wolff, Maurice: Einleitung zu “Acht Kapitel – Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis” von Moses Maimonides. 1992

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March for Science: zu spät!

Wo waren die Aktivisten für Wissenschaft und Demokratie damals, als es um die Hochschulreform ging?

Donald Trump ist momentan wegen seiner Post-Truth-Masche ein gern genommenes Angriffsziel, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit für alle möglichen Anliegen zu gewinnen. Vordergründig ging es beim March for Science am vergangenen Wochenende um die Errettung der Wissenschaft und um den „konstruktiven Dialog“, der eine „elementare Grundlage unserer Demokratie“ sei: „Alle, denen die deutliche Unterscheidung von gesichertem Wissen und persönlicher Meinung nicht gleichgültig ist, sind eingeladen, sich an dieser weltweiten Demonstration für den Wert von Forschung und Wissenschaft zu beteiligen!“.

Wo waren diese Aktivisten vor einem Jahrzehnt, als es wirklich um die Wurst ging?

Ich erinnere mich an einen meiner Aufsätze, den unserer Hochschulzeitung im Jahr 2006 brachte: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten. Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung. Damals waren Hochschulzeitungen noch dazu da, auch Kontroversen auszutragen. Heute sind sie – soweit ich das sehen kann – zu reinen Werbeinstrumenten geworden.

Damals beklagte ich den Trend, Hochschulen als Dienstleistungsunternehmen zu sehen und schrieb: „Dahinter steckt die Vorstellung, dass vornehmlich die Hochschulen zu liefern haben. Der Kunde Student ist der Abnehmer. Er soll nach diesem Denkmuster zukünftig ja auch vermehrt zur Zahlung für die Lieferungen herangezogen werden. Konsequenterweise haben Hochschulen heute ein Marketing und ein Corporate Design – als müssten sie Waschmittel unter das Volk bringen.“

Ich sah deutliche Anzeichen für die Ökonomisierung der Bildung: „Der Bologna-Prozess fördert 1. die Work-Load-orientierte Beurteilung von Lehrveranstaltungen, 2. die Evaluation nach vordergründiger ‚Kundenzufriedenheit‘, und 3. die Orientierung der Erfolgsbeurteilung der Fachbereiche nach der Zahl der ‚gelieferten‘ Absolventen. Wen wundert es, wenn Kollegen dazu übergehen, die Leistungsanforderungen am Leistungswillen der Studierenden auszurichten? Und wem ist zu verübeln, wenn er unter diesen Randbedingungen auf das Bohren dicker Bretter verzichtet und stattdessen einen Stapel dünner Bretter vorlegt? Das System standardisierter und separat abprüfbarer Wissenshäppchen findet seinen institutionalisierten Niederschlag in einem unnötig starr ausgeprägten Modulsystem.“

Die neu eingeführten gestuften Abschlüsse Bachelor/Master sollten die Ausbildungszeit verkürzen. Wie das? Zwei sequentielle Prüfungen erzeugen bis zum Masterdiplom zweimal hintereinander Nachzügler. Jedem, der die Hochschulen von innen kennt, sollte einleuchten, dass das nur auf eine Studienzeitverlängerung hinauslaufen kann. Mit falsch interpretierten Statistiken wollte man uns das Gegenteil weismachen.

Damals brachte ich einen Resolutionsentwurf unter dem Beifall meiner Kollegen auf den Weg durch die Hochschulgremien: „Die Pflicht zur Akkreditierung von Studiengängen stellt einen zurzeit nicht legitimierten Eingriff in das Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre dar. Die Fraktionen des hessischen Landtags werden aufgefordert, auf die Schaffung der gesetzlichen Grundlage für die Akkreditierung hinzuwirken und die Befugnisse und Verantwortlichkeiten der Akkreditierungsagenturen zu bestimmen.“ Dieser Entwurf ist auf Nimmerwiedersehen in irgendeinem Ausschuss versickert.

Ich frage noch einmal: Wo waren die Aktivisten für Wissenschaft und Demokratie vor über einem Jahrzehnt, als es um die Hochschulreform ging?

Der Wissenschaftsmarsch – ein Vehikel für alle möglichen Interessen

Der March for Science wurde von einigen Gruppierung als Schaufensterveranstaltung genutzt – Gruppierungen, denen ansonsten vereinsinterne Demokratie nicht allzu sehr am Herzen liegt. Da sind einmal die Pseudoskeptiker, die sich gern das Etikett „Wissenschaft“ an die Brust heften, und dann noch die evolutionären Humanisten (Selbstbezeichnung), die für den Neuen Atheismus kämpfen. Diese Gruppierungen verstehen unter Wissenschaft vor allem Mainstream-Wissenschaft, nicht jedoch den offenen wissenschaftlichen Diskurs, der für die Forschung so wichtig ist.

Zweifel an derartigen Auftritten wurden auch innerhalb der Skeptikerszene laut. Es gab einen Hinweis auf kritische Texte, nämlich auf  Über den Verlust des kritischen Verstandes bei Wissenschaftlern von Albrecht Müller und auf March for Science – Dead Men Walking von Matthias Burchardt.

Dieser Anflug von Selbstkritik kam in der Skeptikergemeinde nicht so gut an. Ich mischte mich ein und schrieb: „Albrecht Müllers Artikel ruft bei Leuten, die sich mit dem wissenschaftlichen Mainstream identifizieren, verständliche Abwehrreflexe hervor. Ihnen wird aber auch der Artikel ‚Haltet den Lügner!‘ des Präsidenten der Deutschen Forschungsgesellschaft Peter Strohschneider nicht so recht gefallen (Der Spiegel 16/2017, S. 109). Ich halte beide Artikel für bedenkenswert. Den Aufruf in ‚March for Science – Dead Men Walkin‘ von Matthias Burchardt würde ich sogar unterschreiben.“

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Skeptiker über Religion

Sollten Skeptikerorganisationen Atheistenorganisationen sein?

Zur Einstimmung in den Problemkreis „Skeptizismus und Religion“ bringe ich einen von mir übersetzten Auszug aus dem Web-Artikel „Should skeptic organizations be atheist organizations?“ von Paul Zachary “PZ” Myers – teils sinnerhaltend leicht umgestellt.

<Beginn des Auszugs> Skeptische Organisationen stehen oft vor einem nagenden Dilemma: Sollten sie auch gegenüber den Religionen in aller Offenheit skeptisch sein? Es gibt ein paar sehr gute Gründe, warum sie die Kritik an religiösen Behauptungen zu einer nachrangigen Frage machen sollten, und einen äußerst schlechten Grund, nämlich intellektuelle Feigheit und Verrat an den skeptischen Prinzipien. Was sind die guten Gründe dafür, vor religiösen Konflikten zurückzuschrecken? Einer ist die Arbeitsteilung. Es gibt unendlich viele sonderbare Behauptungen über Paranormales und Übernatürliches, die eine kritische Prüfung erfordern, beginnend mit der Astrologie über Wünschelrutengängerei, über außersinnliche Wahrnehmung, Telekinese bis hin zur Nullpunktsenergie; und da die Religion ein Abgrund der Unwissenheit und der Absurditäten ist, gibt es Atheistenorganisationen, die sich mit genau diesem Teil der menschlichen Unvernunft befassen – es ist vollkommen vernünftig, wenn sich eine Skeptikergruppe von Atheistengruppen abgrenzt, indem sie sich auf andere Phänomene konzentriert.

Betrachten wir nun diese Alternativen: Entweder wir verlangen von allen Skeptikern vollständige Klarheit, oder wir schweigen über die Albernheiten religiösen Glaubens. Beides wird nicht geschehen.

Es gibt eine dritte Alternative. Die Skeptikerbewegung wird inklusiv sein und jedermann erlauben mitzumachen. Mitmachen heißt, dass deine Ideen auseinandergenommen und kritisiert werden, manchmal bespöttelt und manchmal hochgelobt. Wenn du außerordentliche Privilegien für deine Ideen beanspruchst und darauf bestehst, sie mögen nicht ans Licht gezerrt und hart angegriffen werden, dann bist du kein Skeptiker. Schließe dich stattdessen einer Kirche an.

Wenn du darauf bestehst, dass dein Glaube an das Übernatürliche eines besonderen Schutzes vor Kritik und eines herausgehobenen Status im wissenschaftlichen Unterricht bedarf, dann schadest du der Wissenschaft und der Bildung. Mach weiter so, gehe in die Kirche, glaube, was immer du willst. Aber winsele nicht herum, weil Skeptiker und Wissenschaftler nicht mit dir einig sind. Glaube ist kein Freibrief. Er ist eine Krankheit, die überwunden werden muss. <Ende des Auszugs>

Paul Kurtz hat für diese Denkrichtung die Bezeichnung „neuer Skeptizismus“ eingeführt (Should Skeptical Inquiry Be Applied to Religion?). Er schreibt, dass ein Skeptiker dieser Denkrichtung Naturalist sei, dass er nach natürlichen Gründen und Erklärungen für paranormale und religiöse Phänomene suche und dass er nach dem Wahrheitswert theistischer Geltungsansprüche frage.

Die „neuen Skeptiker“ verlangen also nach Bestätigungen. Wer nach Belegen fragt, der kann diese auch von Gläubigen einfordern. Das Ausbleiben von Belegen für die Existenz einer Übernatur gilt als Bestätigung des Gegenteils, nämlich dass es eine solche nicht gibt. Diese Begründung der Keine-Übernatur-Hypothese überzeugt mich genauso wenig wie ein Gottesbeweis andererseits. Es sind in beiden Fällen Glaubensakte ohne Überzeugungskraft.

Skeptikerbewegung zweigeteilt

Die folgende Betrachtung schließt an meinen Artikel „Skeptizismus und Skeptikerbewegung“ an. Innerhalb der Skeptikerbewegung besteht keine Einigkeit, was Religionen angeht. Die einen sehen den Hauptzweck der noch jungen Bewegung darin, Religion als eine Krankheit anzusehen und diese möglichst auszurotten. Andere Skeptiker halten sich eher an die Wurzeln des Skeptizismus und beschränken sich auf das Infragestellen von allem und jedem; ihr Zweifel gilt insbesondere den Autoritäten jedweder Ausprägung.

Für Letztere reserviere ich die Bezeichnung Skeptiker. Für die Ersteren übernehme ich die von Marcello Truzzi eingeführte Bezeichnung Pseudoskeptiker; die „neuen Skeptiker“ sind Pseudoskeptiker in diesem Sinne. Der Skeptiker argumentiert wissenschaftlich: er wendet die von Karl Raimund Popper propagierte negative Methode an, der Pseudoskeptiker die positive.

Der Skeptiker beschäftigt sich mit prüfbaren und prinzipiell widerlegbaren Aussagen (Beispiel: „Ein Gegenstand fällt zu Boden, wenn man ihn loslässt“). Er sucht aktiv nach Widerlegungen. Glaubensfragen übersteigen seinen Horizont und er enthält sich eines Urteils darüber. Er ist Agnostiker. Alles spielt sich im Reich der Wissenschaft ab.

Der Pseudoskeptiker hingegen verlangt nach Belegen. Übernatürliches ist nicht belegt, also existiert es nicht. So steht der Glaube an das Übernatürliche gegen den Glauben, dass es das Übernatürliche nicht gibt. Das alles spielt sich im Reich der Metaphysik ab.

Die folgende Tabelle charakterisiert diese Extremformen des Skeptizismus. Darüber hinaus gibt es alle möglichen Zwischenformen.

  Skeptiker Pseudoskeptiker
Wissenserwerb Widerlegungen machen die Bahn frei für Neues (negative Methode). Besser Belegtes schlägt Unbelegtes oder schlechter Belegtes (positive Methode).
Metaphysischer Überbau … ist irrelevant Naturalismus
Glauben Agnostizismus Atheismus
Grundsätze Pluralismus, Toleranz, weltanschauliche Neutralität Naturalismus ist für Realwissenschaften unabdingbar.
Wahrheitsansprüche,
Dogmen
Keine Keine-Übernatur-Hypothese.

Realismus. Kausalität ist Naturgesetz.

Argumentationsstil Zweifelnd Behauptend
Methode Geistartiges interessiert nicht. Allein auf das Prüfbare kommt es an. Magische Wurzeln und mystische Erklärungen sind Ablehnungsgründe für Außergewöhnliches.
Ein Leitspruch Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Religion ist eine Krankheit, die es zu besiegen gilt.
Autoritätsansprüche … werden abgelehnt Missionierung für Naturalismus
Vertreter Marcello Truzzi,
Carl Sagan
Paul Kurtz, Richard Dawkins,
Paul Zachary „PZ“ Myers

In den folgenden Abschnitten erkläre ich aus historischer Perspektive, warum ich den Pseudoskeptizismus für rückschrittlich halte. Die stärkste Ausprägung dieser Denkungsart tritt in der folgenden Definition zutage:  „Ein Wunder ist ein Ereignis, das der allgemeinen Erfahrung widerspricht, naturgesetzlich unmöglich ist, und daher von einer übernatürlichen Wesenheit verursacht wurde.“ Unter allgemeiner Erfahrung und Naturgesetzlichkeit wird offenbar die Mainstream-Wissenschaft verstanden. Das wird durch die folgende Behauptung verdeutlicht: „Nie sind es anerkannte oder gar brillante Forscher, die gegen den wissenschaftlichen Mainstream schwimmen.“ Zweifel kennen diese Leute nicht, sonst würde ihnen die empirische Unhaltbarkeit derartiger Begründungen ihres Glaubenssystems ins Auge fallen.

Antike: ganzheitliches Denken

Wer die gerade einmal vierzig Jahre alte Skeptikerbewegung aus historischer Perspektive beleuchten will, muss nicht mehrere tausend Jahre bis zu den Anfängen der philosophischen Skepsis zurückgehen. Es genügt, sich Leben und Wirken eines Mannes anzuschauen, der vor ein paar hundert Jahren gelebt hat, in einer Zeit also, als das Denken der Antike endete und das der Klassik und der Moderne begann.

Ich komme auf Athanasius Kircher auch deshalb, weil er aus meiner Heimat ist. Dieser Universalgelehrte, einer der letzten seiner Art, wurde 1602 in Geisa geboren. Er ging im Jesuitenkolleg in Fulda zur Schule, lehrte in Mainz und in Würzburg. Seine Hauptwirkungsstätte war das römische Jesuitenkolleg.  Er starb im Jahre 1680 in Rom. Meine Informationen über ihn entnehme ich dem Buch „Magie des Wissens“, das anlässlich der Athanasius-Kircher-Ausstellungen in Würzburg (2002) und Fulda (2003) erschien.

Athanasius strebte nach einer universalistischen Welt- und Natursicht: Eine Mathematik des Kosmos verbindet alle Dinge zu einem perfekten Gebäude des Geistes. Athanasius‘ Verständnis von Wissenschaft gründet auf dem Begriff der Weltharmonie (harmonia mundi): Gott und Natur lassen sich miteinander verbinden. Das Analogiegesetz ist ein Schlüssel für dieses Weltverständnis: Wie oben so unten. Der Mikrokosmos ist ein Spiegelbild des Makrokosmos. Das Urwissen der antiken Religionen und des Christentums ist in der Art von Zahlenrätseln verschlüsselt, die es nur noch zu enträtseln gilt. Das alles ist antikes Gedankengut, verbunden mit den Namen Pythagoras („Alles ist Zahl“), Platon und Hermes Trismegistos. Es ist das Denken der Zahlenmystiker und Esoteriker.

Aus den vielen Büchern zur Zahlenmystik greife ich „Eine kleine Geschichte der Unendlichkeit“ von Brian Clegg heraus (Original: „A Brief History of Infinity“, 2003). Es stellt neben der Zahlenmystik auch den hier interessierenden Umbruch des Denkens dar. Und es enthält ein paar besonders einfache Beweise für Grundtatsachen der Mathematik. Wer es witzig mag, der ist mit „Magie der Zahlen“ von Harro Heuser (2003) bestens bedient.

Die Zahlenmystik  hat auch Galileo Galilei infiziert und ihn – angesichts der Nützlichkeit mathematischer Instrumente bei der Beschreibung von physikalischen Vorgängen – zu diesem Ausspruch verleitet: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“ Auch manch ein Wissenschaftler unserer Zeit steht in dieser Hinsicht dem hermetischen Denken der Vergangenheit sehr nahe. Mein Hoppla!-Artikel „Über Wunder“ greift diesen Gesichtspunkt auf.

Der eigentliche Grund, weshalb ich Athanasius hier erwähne, ist seine Auffassung von einer Weltharmonie, in der Metaphysik und Naturgeschehen untrennbar miteinander verbunden sind und in der Gott Ausgangspunkt und Ziel aller Erkenntnis ist: Das Wissen über die Welt und der Glaube an Gott sind untrennbar.

Dieses ganzheitliche Denken, in dem die Mathematik seit der erfolgreichen Kalenderreform von 1582 eine zunehmende Rolle  spielte, machte die Jesuiten zu den Lehrmeistern Europas und sorgte für eine Blütezeit der mathematischen Bildung. Die Jesuiten waren sozusagen die Rechthaber – und das ist durchaus anerkennend gemeint.

Klassik: Zeit des Zergliederns

Die Anfänge der neuen Mathematik des Unteilbaren liegen in Italien und sind mit den Namen Galileo Galilei (1564-1642), Bonaventura Cavalieri (1598-1647)  und Evangelista Torricelli (1608-1647) verbunden.

Unter dem Einfluss der Jesuiten kam diese Entwicklung der Mathematik in Italien zum Erliegen. Mit ihren Dogmen, in denen das Unteilbare nicht unterzubringen war, haben sie eine vielversprechende mathematische Entwicklung abgewürgt.  Die Weiterentwicklung verlagerte sich nach Norden und setzte erst nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, also in der Zeit der Klassik und des Barock, wieder ein: Isaac Newton (1643-1727)  und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) vollendeten das Programm des Unteilbaren ein dreiviertel Jahrhundert später und stellten diese Lehre auf eine mathematisch solide Grundlage. Sie schufen aus den Vorarbeiten der Italiener die Infinitesimalrechnung, ohne die wir keine Theorie des Elektromagnetismus und keine der Hydrodynamik hätten. Effiziente Turbinen und Motoren, Rundfunk, Telefonie, Flugzeuge oder Automobile wären außer Sichtweite. Es gäbe keine schlanken Brückenkonstruktionen und keine kühnen Hochhäuser. Andersherum gesehen: Unser ganzes modernes Leben ist durchdrungen von dieser neuen Mathematik. Mehr zu diesem Wandel des mathematischen Denkens bietet das Buch „Infinitesimal. How a Dangerous Mathematical Theory Shaped the Modern World“ von Amir Alexander (2014).

Das Denken der Antike musste an seine Grenzen stoßen. Die Infinitesimalrechnung passte nicht in das ganzheitliche System und so wurde eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Mathematik unterbunden. Der Fortschritt wurde erst möglich, nachdem die Knoten zwischen Macht, Glauben und Wissen wenn schon nicht gelöst so doch mindestens gelockert waren. Die von Michel Foucault in „Die Ordnung der Dinge“ (1966) als klassische Zeit bezeichnete Epoche ist die Zeit der Zergliederung, der Taxonomien und Tabellen. Typisch für dieses klassische Denken ist das Natursystem des Carl von Linné (1707-1778).

Und das sind einige der Stationen der Entstehung des zergliedernden Denkens: Martin Luther veröffentlicht 1517 seine 95 Thesen. Damit beginnt die Auflösung des Universalismus der katholischen Kirche. Die Welt des Glaubens zerfällt in Teile, ein äußerst schmerzhafter Prozess angesichts des Dreißigjährigen Krieges. Zu den wesentlichen Stationen der Entwicklung gehören der Augsburger Religionsfriede (1555) und der Westfälische Frieden (1648). Die Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz brechen sich Bahn.

Nathan der Weise und seine Ringparabel (1779) bringen uns den Wert der Toleranz in ergreifender Weise nahe (Gotthold Ephraim Lessing, 1729-1781).

Die wesentlichen Grundzüge dieses Denkens bestehen im Trennen, Ordnen und dem systematischen Vereinigen der Teile. Das strukturierte große Ganze steht nicht am Anfang der Erkenntnis, wie noch in der Antike, sondern an deren Ende.

Konkret wird das in der Vorgehensweise des Immanuel Kant (1724-1804): Er startet mit dem Zerlegen und Analysieren unserer Gedanken über die Welt – er nennt es Kritik. Er identifiziert als wesentliche Komponenten unseres Denkens das Wissen, das Sollen, also die Moral, und das Hoffen, also das Streben nach Glückseligkeit. Kant stellt uns klar getrennte Bereiche vor, für die er jeweils spezifische Herangehensweisen aufzeigt. Und schließlich ist er bestrebt, alles wieder zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufügen. Gott ist für Kant die regulative Idee, die genau das leistet. Heute würde man vielleicht andere regulative Ideen bevorzugen oder vielleicht ganz auf eine solche verzichten.

Im Gefolge der Französischen Revolution (1789-1799) finden Glaubens- und Gewissensfreiheit ihren Weg in die Verfassungen der USA und Frankreichs. Die Trennung von Staat und Kirche wird zum weithin akzeptierten Imperativ.

Moderne: Abgrenzung von Wissenschaft und Metaphysik

Das Trennen und Klassifizieren ist seither Ausgangspunkt aller Welterkenntnis. Eine Theorie der Welt muss mit dem Trennen anfangen, nicht mit dem Messen und Abwägen, schreibt die Anthropologin Mary Douglas in ihrem Büchlein „How Institutions Think“ (1986).

In der Moderne, besonders im 20. Jahrhundert, wird insbesondere die Notwendigkeit einer konsequenten Abgrenzung der Wissenschaft von der Metaphysik gesehen. Die Vorstellung einer ganzheitlichen Welterkenntnis wird endgültig zu den Akten gelegt. Karl Raimund Popper veröffentlicht das nach ihm benannte Abgrenzungskriterium in seinem Hauptwerk „Logik der Forschung“ (1934):  Prüfbarkeit und insbesondere die Falsifizierbarkeit zeichnen die wissenschaftlichen Aussagen aus. Unprüfbare Aussagen zum Weltgefüge zählen zur Metaphysik.

Der Wissenschaftler braucht sich fortan nicht mehr mit metaphysischen und mithin unentscheidbaren Fragen zum Sinn hinter allem und zum Wesen der Dinge herumzuplagen. Was er nicht prüfen kann, entzieht sich seinem Zugriff – und das stellt er ohne Bedauern fest. Seither kann sich der Wissenschaftler zermürbende zirkelhafte Diskussionen über Glaubensfragen ersparen.

Der Pseudoskeptiker fällt in das hermetische Denken zurück

Der Pseudoskeptizismus extremer Ausprägung ist ein Rückfall in vormodernes, hermetisches Denken: Der Naturalismus samt seiner metaphysischen Keine-Übernatur-Hypothese wird als unabdingbare Voraussetzung der Realwissenschaften betrachtet. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Metaphysik wird aufgehoben; wissenschaftliche Erkenntnisse werden zu Wahrheit erklärt. Die Gründe dafür halte ich für zentrale Argumentationsfehler des Naturalismus.

Das sind die Konsequenzen: Da Religionen mit dem Naturalismus unvereinbar sind, geraten sie in das Fadenkreuz der Pseudoskeptiker. Naturalistische Wahrheitsbesitzer treten gegen religiöse Wahrheitsbesitzer auf den Plan.

Heinz von Foerster beschreibt die Konsequenzen so: „Meine Auffassung ist in der Tat, dass die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet – man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition – Krieg. […] Ja – und auf einmal stehen die großen Armeen der Gläubigen einander gegenüber, sie knien nieder und beten beide zu ihrem Gott, dass die Wahrheit, dass ihre Wahrheit siegen möge. – Wer hat recht? […] Um diese Frage zu entscheiden wird geschlachtet und geschlachtet.“ (Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 1998)

Die Skeptikerbewegung spiegelt im Kleinen das wieder, was sich auch in der großen Politik zeigt: die Aufhebung der strukturierten Aufgliederung. Bei den Pseudoskeptikern ist es die erneute Unterordnung der Wissenschaft unter den Glauben („Es gibt keine Übernatur“).  In der Türkei wird die Trennung von Staat und Religion aufgehoben. Der Präsident der USA unterwirft die Wahrheit der Macht.

Natürlich kennt auch der Pseudoskeptiker die ruhmreiche wissenschaftliche Methode, von Karl Raimund Popper kritischer Rationalismus genannt. Er benutzt sie auch – allerdings vornehmlich zu Werbezwecken; sie gibt seinen Auftritten einen seriösen Anstrich. Hin und wieder erhascht man auch ein entsprechendes Bekenntnis eines Pseudoskeptikers (20.01.2017): Wenn man einem Journalisten sage, dass etwas nicht funktioniere, weil es nicht funktionieren könne oder weil es irgendwelchen Naturgesetzen widerspreche, dann klinge das schon etwas nach dogmatischer Neinsagerei. Wenn man allerdings sage, dass man schon zig Leute erfolglos getestet habe, dann sei das viel überzeugender. Dann breche auch der letzte Widerstand zusammen. Tests lohnten sich, auch wenn es eigentlich nicht mehr darum gehe, dabei tatsächlich etwas herauszufinden. Soweit die Auffassung dieses Verfechters des Naturalismus.

Skeptiker halten sich aus Glaubenskämpfen heraus

„Im Horror der religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts haben die europäischen Gesellschaften gelernt, dass es nicht allein auf das „Leben in Wahrheit“ ankommt, sondern auch auf das Leben in Frieden miteinander.“ Das schreibt Peter Strohschneider, der amtierende Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), als Mahnung vor den reaktionären Tendenzen in den USA und in Europa (Der Spiegel, 16/2017, S. 109).

Ein Rückfall in das hermetische Denken wird vom wahren Skeptiker vermieden. Er folgt der modernen Auffassung von den Erfahrungswissenschaften. Die Metaphysik bekümmert ihn nicht. Insbesondere die Religionen gehören nicht zu den vorrangigen Zielen seiner Kritik.

Diese Haltung wird ihm von der Kirche leicht gemacht: In seiner Botschaft „Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien“ erkennt Papst Johannes Paul II. die Rolle an, die die Evolutionstheorie in der heutigen Wissenschaft spielt (Vatikan, 22. Oktober 1996). Gleichzeitig beharrt er erwartungsgemäß auf der Vorstellung einer Leib-Seele-Trennung: „Der menschliche Körper hat seinen Ursprung in der belebten Materie, die vor ihm existiert. Die Geistseele hingegen ist unmittelbar von Gott geschaffen.“

Das heißt nicht, dass sich der Skeptiker die Kirchen- und Religionskritik gänzlich verkneifen muss. Er verzichtet jedoch auf metaphysische Argumente und auf abschätzige Bemerkungen à la „Albernheiten religiösen Glaubens“. Er sucht die Auseinandersetzung auf Augenhöhe.

Unstrittig ist, dass wissenschaftliche Geltungsansprüche, auch wenn sie von einer Religionsgemeinschaft kommen, prüfbar und damit der genauen Untersuchung durch Skeptiker zugänglich sind. Da die amerikanischen Ausprägungen des christlichen Glaubens, der Kreationismus und das Intelligent Design, mit Wissenschaftsanspruch auftreten, müssen sie sich die Kritik durch Skeptiker gefallen lassen. Eine solche habe ich vor Jahren abgeliefert: „Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution“.

Jedenfalls sollte sich der Skeptiker über die Ziele seiner Kritik im Klaren sein: Geht es um beobachtbare Effekte oder um Glaubensinhalte. Bezüglich der Glaubensinhalte plädiere ich für Toleranz und Pluralismus. Das vermeidet fruchtlose und zirkelhafte Debatten.

Das bedeutet nicht das Aus für eine sinnvoller Kirchenkritik. Die Gebote der Toleranz und des Pluralismus werfen durchaus rational behandelbare praktische Fragen auf: Wie steht es beispielsweise mit dem Gebot einer Trennung von Staat und Kirche? Was hat der Religionsunterricht an Schulen, was die Theologie an staatlichen Hochschulen zu suchen? Wie sind die Steuerungsgremien der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten besetzt? Warum nimmt das Finanzamt auch die Kirchensteuer entgegen? Und so weiter.

Aber das sind nicht die Themen der Skeptiker. Hier sind die Weltanschauungsgemeinschaften gefragt, z. B. der Humanistische Verband Deutschlands (HVD).

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Skeptizismus und Skeptikerbewegung

Vortragsankündigung

Angekündigt hatte die Würzburger Regionalgruppe der GWUP einen Vortrag mit dem Titel „Fragen an einen Skeptiker“ und lieferte einen Katalog möglicher Fragen gleich mit: „Wer sind diese Skeptiker? Seit wann gibt es sie? Was untersuchen sie? Mit welchen Methoden tun sie das? Wissen Skeptiker mehr? Handelt es sich um eine neue Religion? Woran glauben sie? Darf ein Skeptiker auch Kirchenmitglied sein? Was sind für Skeptiker eigentlich Parawissenschaften?“

Und weiter: „All diese Fragen kann man an einen der führenden Skeptiker stellen. Herzlich willkommen zu einem Abend mit Prof. Dr. Timm Grams.“ (Termin: 30.1.2017, 19.00 Uhr in der Gaststätte Herieden in Würzburg/Heidingsfeld.)

Ich dachte mir damals: Nach der Veranstaltung sollte den Besuchern klar sein, dass die Wendung „führender Skeptiker“ ein Oxymoron ist. Ein Skeptiker, der führt, macht etwas falsch! Ich beließ es bei dem Formulierungsvorschlag der Regionalgruppe in der Ahnung, dass er zur Überhitzung manch eines empfindsamen Gemüts führen würde. Nun zur Veranstaltung selbst.

Vor Beginn der Diskussion stellte ich den Denkrahmen der Veranstaltung vor, insbesondere meinen Zugang zum Thema über meine Beschäftigung mit Denkfallen. Daran schloss sich ein Exkurs über den Skeptizismus als Ausgangspunkt aller Philosophien der Erkenntnis an. Dem folgte ein Abriss der Geschichte der Skeptikerbwegungen in den USA und in Deutschland.

Im philosophischen Skeptizismus geht es um die Frage:

Fällt der Skeptiker aus der Wirklichkeit?

Bereits die Denkfallen zeigen, dass wir nicht alles für bare Münze nehmen dürfen: Unsere Wahrnehmungs- und Denkmechanismen sind zwar bewährt, in manche Situation aber verkehrt. Es kommt zu Täuschungen. Manches Sein entpuppt sich als Schein. Unsere Sicherheit schwindet und auf nichts scheint mehr Verlass zu sein. Das Bild von der Realität zerfließt und es stellt sich die Frage, ob es diese Realität, dieses von unserem Bewusstsein unabhängige Sein, das von Recht und Ordnung stabil zusammengehalten wird, überhaupt gibt. Das Einzige, was wir erkennen, sind die Erscheinungen, das was auf unsere Sinne trifft und unsere Erfahrung ausmacht.

Und genau das ist der erste Schritt, den wohl jeder gehen muss, der über die Frage nachdenkt, was wir wissen können. Er startet als Skeptiker, genauer: als Außenweltskeptiker. Das war bei Platon so, bei Descartes, bei Kant, bei Hilary Putnam und vielen anderen. Man beachte, dass in diesem Begriff des Skeptikers bereits eine leichte Bedeutungsverschiebung steckt: Eigentlich bedeutet das aus dem Griechischen stammende Wort soviel wie „genaue Untersuchung“, die natürlich mit Zweifel einhergehen kann. Heute versteht man unter Skepsis den systematischen Zweifel.

Im Laufe der Zeit wurde eine ganze Reihe von skeptischen Szenarien formuliert. Heute findet man diese im  Film wieder. Das Gehirne-im-Tank-Szenario (Hilary Putnam) wurde in den Matrix-Filmen der Wachowski-Geschwister, in „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder, in „The 13th Floor“ von Roland Emmerich, in „Open your eyes“ und „Vanilla Sky“ (beide mit Penelope Cruz) künstlerisch umgesetzt. Das Traum-Szenario (Platon, Descartes) begegnet uns in den Filmen „Inception“ (mit Leonardo di Caprio) und in „A beautiful mind“ (mit Russell Crowe).

Immer geht es darum, dass wir die uns im Traum oder von einem Computer vorgespiegelte Wirklichkeit nicht von der „wirklichen Wirklichkeit“ unterscheiden können – falls es letztere überhaupt gibt. Diese Szenarien sind unwiderlegbar. Wir landen im „Abgrund des Skeptizismus“ (Immanuel Kant). Für den Skeptiker ist die Vorstellung einer bewusstseinsunabhängigen Realität das unbegreifliche Jenseits. Davon wendet er sich ab.

Und über die Jahrhunderte stellten sich Philosophen immer wieder die Frage, wie man diesem „Abgrund des Skeptizismus“ am besten entkommen könne.

Descartes hatte für sich einen Ausweg gefunden.  Er meinte, „dass die Dinge, welche wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, alle wahr sind, aber dass allein darin einige Schwierigkeit liege, wohl zu bemerken, welches die Dinge sind, die wir deutlich begreifen.“ (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, viertes Kapitel, 1637). Er sah es als erwiesen an, dass „es vollkommener sei, zu erkennen als zu zweifeln“. Er schreibt: „Denn vor allem ist selbst jener Satz, den ich eben zur Regel genommen habe, dass nämlich alle Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, wahr sind, nur deshalb sicher, weil Gott ist oder existiert und weil er ein vollkommenes Wesen ist und alles in uns von ihm herrührt.“ Ich sage es etwas flapsig: Es muss einen Gott geben, der uns – dank seiner Vollkommenheit – nicht hinters Licht führen kann.

Für den Skeptiker gibt es andere Auswege. Er findet vielleicht Trost bei Immanuel Kant, für den die Welt der Erscheinungen selbst bereits die Realität bildet. Kant wendet sein Denken ganz dem Diesseits zu und formuliert den empirischen Realismus, also den allein auf Erfahrung basierenden Realismus.

Wir wollen diese veränderte Bedeutung des Wortes Realismus gleich wieder vergessen und bleiben bei der Gleichsetzung von Realität und Jenseits. Der Gedanke von Kant erscheint in modernisierter Version in Karl Raimund Poppers Logik der Forschung, der er später den Namen kritischer Rationalismus verpasste. Der kritische Rationalismus ist vollkommen dem Diesseits zugewandt und er kommt ohne die Vorstellung einer Realität aus. Er bildet die methodische Basis aller Erfahrungswissenschaft: Kühne Vermutungen über die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen sind die rationale Seite, und die Prüfung dieser Theorien anhand der Fakten die kritische. Wissenschaftliche Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie prinzipiell widerlegt werden können. Mit diesem Kriterium der Falsifizierbarkeit grenzt Popper die Wissenschaft von der Metaphysik ab.

Wir haben also eine Methode für den Wissenserwerb. Dieses Wissen ist objektiv in dem Sinne, dass es intersubjektiv überprüfbar ist. Wir haben die tröstliche Einsicht gewonnen, dass der Skeptiker vielleicht  aus der Wirklichkeit fällt, aber dass er sich in seinem Diesseits sehr gut zurechtfinden kann.

Das moderne skeptische Denken ist wissenschaftsorientiert; es bewegt sich vollständig im Rahmen der oberen Hälfte der folgenden Tabelle. Ein gutes Anwendungsbeispiel für skeptisches Denken, das es erlaubt Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu trennen, bietet die Homöopathie.

Darüber hinaus möchte manch ein Skeptiker mehr Halt, auch sucht er nach einer Verbindung des Alltagsrealismus mit seiner Denkwelt: Wir sagen ja nicht: „Diese Erscheinung, der wir alle den Namen Tasse geben, enthält eine Erscheinung, die wir Tee nennen.“ Wir sagen: „Das ist eine Tasse Tee.“

Dieser Skeptiker – nicht jeder Skeptiker braucht das – erhält Halt durch Karl Raimund Popper, den wohl ein ähnliches Unbehagen mit der Realitätslosigkeit beschlichen hat. Er führt ein regulatives Prinzip ein, nämlich die Vorstellung einer Realität, an die sich der Forscher mit seinen Theorien immer stärker annähert. Dabei bleibt bei Popper offen, wie diese Realität aussieht und wie nah man bereits an ihr dran ist.

Diese Realitätsannahme erlaubte es, von einer Annäherung an die Wahrheit zu sprechen und von relativer Wahrheitsnähe. Diese Annäherung an die Wahrheit – ich habe sie durch mein Stöckchen-Beispiel veranschaulicht – entspricht genau dem Erkenntnisfortschritt, den Popper bereits in seinem kritischen Rationalismus beschrieben hat und der sich auch ohne Realitätsannahme genau fassen lässt.

Da sich die Realitätsannahme nicht prüfen lässt, gehört sie in das Reich der Metaphysik. Die Realität bleibt wesentlich unbestimmt. Der schwache Realismus Poppers erhält in der folgenden Tabelle ein Sternchen (*). Es steht für einen schwachen Anteil an Metaphysik.

Manch ein Skeptiker sucht nach mehr Gewissheit. Ihm steht der wissenschaftliche Realismus (Scientific Realism) des Hilary Putnam zur Verfügung. Er geht davon aus, dass sich die Wahrheit wenigstens approximativ bestimmen lässt. Und er behauptet, dass sich auch ein Maß für die Wahrheitsnähe finden lasse. Die Vorstellung, dass sich die Wahrheitsnähe an der Natur ablesen lässt, ist eine weitere metaphysische Hypothese. So etwas hat eine Art Offenbarung zur Voraussetzung. Deshalb: zwei Sternchen für diesen starken Realismus.

Noch weiter geht der Naturalismus. Er behauptet, dass es eine reale Welt gibt und dass diese auch – zumindest partiell – erkannt werden kann. Und er setzt auf das „Keine-Übernatur-Prinzip“: Die Welt ist kausal geschlossen und es gibt keine Wechselwirkung mit einer Übernatur. Das sind weitere metaphysische Hypothesen, sie sind drei Sternchen wert.

Die Tabelle ist analog zu den russischen Puppen-in-Puppen aufgebaut: Im Innersten steckt der Skeptizismus. Darüber kommen Kants und darauf Poppers Erkenntnissystem. Auch die Glaubenssysteme sind additiv zu sehen: Der Naturalismus impliziert den starken, und dieser wiederum den schwachen Realismus. Aber für alle bildet der kritische Rationalismus des Karl Raimund Popper die Basis. Deshalb stehen bei allen dieser Denksysteme in der letzten Spalte als Methode die kritische Prüfung und das Abgrenzungskriterium der Falsifizierbarkeit. Der Erwerb von Wissen wird immer darauf zurückgreifen.

Der Meinungsaustausch über Glaubensangelegenheiten bringt demgegenüber keinen Erkenntnisgewinn: Dort stehen unprüfbare Aussagen gegen andere, ebenfalls unprüfbare Aussagen. Zirkuläre Diskussionen sind die Folge.

Die Skeptikerbewegung

Die Skeptikerbewegung, die vor etwa 40 Jahren in den USA entstanden ist, bewegt sich gedanklich in dem von mir aufgezeigten Raster. Das Committee for Skeptical Inquiry (CSI) wurde 1976 – damals noch unter dem Kürzel CSICOP – gegründet mit der Zwecksetzung, einer unkritischen Akzeptanz und Verbreitung paranormaler Behauptungen entgegenzuwirken und zum kritischen und wissenschaftlichen Denken zu ermutigen. Die deutsche Skeptikerbewegung, organisiert in der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), entstand etwa ein Jahrzehnt später, nämlich 1987.

Bereits in der Gründungsphase kam es zu einem bemerkenswerten Konflikt. Er zieht sich durch die gesamte Geschichte dieser Bewegung, in deren Verlauf es immer wieder zu Zerwürfnissen und spektakulären Austritten kam. Trotzdem blieb die Bewegung über die Zeit gesehen ziemlich stabil.

Damals ging es um eine Stellungnahme gegen die Astrologie. Diese „Objections to Astrology“ von 1975 wurden von 186 führenden Wissenschaftlern unterschrieben. Die konfliktträchtigen einleitenden Sätze dieser Erklärung sind die Folgenden: “Scientists in a variety of fields have become concerned about the increased acceptance of astrology in many parts of the world. We, the undersigned – astronomers, astrophysicists, and scientists in other fields – wish to caution the public against the unquestioning acceptance of the predictions and advice given privately and publicly by astrologers. Those who wish to believe in astrology should realize that there is no scientific foundation for its tenets.

In ancient times people believed in the predictions and advice of astrologers because astrology was part and parcel of their magical world view. They looked upon celestial objects as abodes or omens of the gods and, thus, intimately connected with events here on earth; they had no concept of the vast distances from the earth to the planets and stars. Now that these distances can and have been calculated, we can see how infinitesimally small are the gravitational and other effects produced by the distant planets and the far more distant stars. It is simply a mistake to imagine that the forces exerted by stars and planets at the moment of birth can in any way shape our futures.”

Die treibende Kraft hinter dieser Erklärung war Paul Kurtz, der bald darauf mit Gründung des Skeptikerkomitees auch dessen Vorsitz übernahm. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben ihm James Randi, Marcello Truzzi, Ray Hyman, Martin Gardner, Carl Sagan, Isaac Asimov. Weitere Wissenschaftler von Rang und Namen waren dabei.

Der berühmte Philosoph Paul Feyerabend („Anything goes“) monierte bereits den ersten Satz der Erklärung und verglich ihn mit der Einleitung zum Hexenhammer, einem berüchtigten Machwerk, das Kirchenleute über Hexerei informieren sollte: “The book has an introduction, a bull by Pope Innocent VIII, issued in 1484. The bull reads ‚It has indeed come to our ears, not without afflicting us with bitter sorrow, that in …‘ – and now comes the long list of countries and counties – ‚many persons of both sexes, unmindful of their own salvation have strayed from the Catholic Faith and have abandoned themselves to devils… ‚ and so on.”

Carl Sagan verweigerte die Unterschrift unter die Stellungnahme, weil er ihren Ton für autoritär hielt und er schreibt über seine damaligen Beweggründe: „Die Frage ist doch nicht, aus welchen unsicheren und rudimentären Wissensquellen die Astrologie stammt, sondern worin ihre gegenwärtige Gültigkeit besteht.“ Weiter meint Sagan: Dass wir uns keinen Mechanismus vorstellen können nach dem die Astrologie funktionieren könnte, sei sicher ein wichtiger Punkt, aber an sich noch kein überzeugendes Argument („Der Drache in meiner Garage“, Kapitel 17. Original: The Demon-Haunted World, 1996).

Ich erinnere daran, dass Isaac Newton einst auch auf dem Feld der Alchemie gearbeitet hat und daran, dass das heliozentrische Weltsystem, wie Karl Raimund Popper im 8. Kapitel seiner Vermutungen und Widerlegungen „Über die Stellung der Erfahrungswissenschaft und der Metaphysik“ schreibt, religiös-neuplatonische Wurzeln hat.

Ein Skeptiker der ersten Stunde, Marcello Truzzi, kennzeichnet die von Sagan angeprangerte Art des Skeptizismus so (1987): „Weil sich der Begriff ‚Skeptizismus‘ korrekterweise auf den Zweifel und nicht auf eine Verneinung (also einen Unglauben anstelle eines Glaubens) bezieht, sind Kritiker, die statt einer agnostischen eine negative Haltung einnehmen und sich trotzdem ‚Skeptiker‘ nennen, in Wirklichkeit Pseudoskeptiker.“

Der Naturalist, der seinen (Nicht-)Glauben in dieser Weise gegen die Homöopathie beispielsweise in Stellung bringt, ist ein solcher Pseudoskeptiker. Er pflegt eine Art „Skeptizismus für Faulpelze und Dummköpfe“: Anstatt sich in die Niederungen der wissenschaftlichen Arbeit zu begeben und sich mit Testplanung, Testauswertung und der Interpretation von statistischen Kennzahlen zu quälen, führt er einfach seinen Glaubenssatz „Es gibt keine Übernatur“ gegen die ebenfalls metaphysischen Begründungen der Homöopathieanhänger ins Feld. Das Beharren der Homöopathen auf „geistartige Kräfte“ steht dann der ebenfalls metaphysischen Aussage gegenüber, dass solche Kräfte zur Übernatur zu rechnen seien und dass es eine solche nicht geben könne.

Der Skeptiker muss nicht Naturalist sein. Aber nach meiner Kenntnis sehen sich wohl die meisten Skeptiker, die über derartige Grundlagen nachdenken, als Realisten oder Naturalisten. Aber in der praktischen Arbeit merkt man davon im besten Falle nichts.  Ein gutes Beispiel ist der Psi-Test der GWUP, der seit einiger Zeit jährlich in Würzburg durchgeführt wird (skeptiker 3/2016, S. 125-129).

Zu diesen Tests mit Aussicht auf ein Preisgeld können sich Personen melden, die sich für Psi-begabt halten: Wünschelrutengänger, Wahrsager usw. Im vergangenen Jahr war unter den Kandidaten eine Homöopathin, die angab, Verunreinigung in Pflanzenerde erkennen zu können.

Die Versuchsleiter sind bekennende Naturalisten. Aber Metaphysisches wurde ausschließlich seitens der Kandidatin geäußert: Sie führt ihre Fähigkeit darauf zurück, dass sie ihre Informationen im Dialog mit „Besserwissern“ aus einer anderen Welt erfahren könne und dass sich richtige Antworten dadurch bemerkbar machten, dass es „wie Wellen durch meinen Körper“ gehe.

Davon geben sich die Versuchsleiter ziemlich unbeeindruckt und sie schreiten zur wissenschaftlichen Tat. Sie füllen zehn Petrischalen mit Blumenerde, in einer davon ist – für die Kandidatin unsichtbar – kontaminierte Erde. Die Kandidatin muss nun ihre Fähigkeit nachweisen, indem sie die Schale mit kontaminierter Erde herausfindet. Das wird dreizehn Mal gemacht. Schließlich hat die Kandidatin zwei Treffer zu verzeichnen, was sich sehr gut mit der Annahme verträgt, dass es ein Zufallsergebnis ist und dass sich ihre Psi-Fähigkeit zumindest hier nicht gezeigt hat.

Die Versuchsleiter belassen es bei dieser Mitteilung und überlassen es der Kandidatin, mit ihren „Besserwissern aus der anderen Welt“ zu hadern. So funktioniert guter Skeptizismus.

Beantwortung der Fragen und Diskussion

Wer sind diese Skeptiker? Jeder, der sich das kritische Hinterfragen zur Regel macht, insbesondere die Anhänger der Skeptikerbewegungen.

Seit wann gibt es sie? In den USA seit 1976 und in Deutschland, Österreich und Schweiz seit 1987.

Was untersuchen sie? Außergewöhnliche Ansprüche, die mit der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis unvereinbar scheinen.

Mit welchen Methoden tun sie das? Sie führen den Stand der Wissenschaft ins Feld; sie schauen nach, ob es bereits qualifizierte Testberichte zum Thema gibt und sie führen selbst Tests auf wissenschaftlicher Grundlage durch.

Wissen Skeptiker mehr? Besserwisserei ist dem Skeptiker fremd. (Beim Pseudoskeptiker bin ich mir da nicht so sicher.) Zu bevorzugen ist der dialogische Prozess der Erkenntnisgewinnung, wie das auf dem Feld der Wissenschaft üblich ist.

Handelt es sich um eine neue Religion? Auch wenn viele Skeptiker dem Glauben an den Naturalismus anhängen, ist diese „Religion“ nicht verbindlich. Solange man sich auf die wissenschaftliche Arbeitsweise verständigen kann, ist Pluralismus angesagt: Gottgläubige, Naturalisten, Agnostiker usw. – alle finden hier eine geistige Ankerstelle.

Woran glauben sie? An alles Mögliche, mancher auch an nichts oder fast nichts. Der Glaube setzt auf Behauptungen. Der Skeptiker hingegen setzt auf den Zweifel. Der gläubige Skeptiker gibt seinen Glauben an der Tür zum Labor ab. Dann geht es nur noch darum, Sachverhalte zu prüfen und nicht deren jenseitige Ursachen.

Darf ein Skeptiker auch Kirchenmitglied sein? Ein prominentes Gründungsmitglied der amerikanischen Skeptiker, Martin Gardner, hat sich zum Glauben an Gott bekannt, was ja bekanntlich mit dem Naturalismus unverträglich ist. Auch ein Kirchenmitglied kann Skeptiker sein.

Was sind für Skeptiker eigentlich Parawissenschaften? Alles, was sich als Wissenschaft ausgibt und diesen Anspruch nicht oder möglicherweise nicht einlösen kann.

In der Diskussion sprach ein Naturalist die Frage an, ob die „Keine-Übernatur-Hypothese“ nicht vielleicht doch falsifizierbar sei. Er meinte, wenn sich über ihm die Wolken auftäten und zwischen ihnen ein Bild Gottes (was auch immer er sich darunter vorstellt) erschiene, dann könne ihn das in seiner Ansicht schwanken lassen. Ich frage mich: warum eigentlich? Diese Erscheinung hat für ihn ja nur widerlegt, dass es nicht passieren könne, dass sich die Wolken teilen und zwischen ihnen ein Gottesbild erscheint. Weitergehende Schlüsse hinsichtlich einer Übernatur lässt die Beobachtung nicht zu. So lässt sich die Keine-Übernatur-Hypothese jedenfalls nicht widerlegen. Soweit ich sehen kann, entgeht sie unter allen Umständen der Falsifizierung. Sie ist nicht wissenschaftlich.

Nachtrag vom 11. Juni 2018

Der etwas skurrile Feodor-Text Skepsis, Wissenschaft und Skeptikerbewegung ist offenbar eine Replik auf den vorstehenden Artikel.

Was der Feodor-Text soll und inwieweit er sein Ziel erreicht, möge jeder Leser selbst herausfinden. Ich bin über sonderbare Begriffsbestimmungen gestolpert und habe mich über ein paar waghalsige Schlussfolgerungen gewundert. Mit den folgenden Bemerkungen habe ich versucht, das Ganze für mich in Reih und Glied zu bringen.

Die antike Skepsis verneint die Möglichkeit einer zureichenden Begründung („Letztbegründung“). Diese Auffassung ist ziemlich modern und prägt auch die heutige Wissenschaft.

Urteilsenthaltung ist keineswegs eine Konsequenz dieser Ansicht. Die antike Skepsis zeigt sogar, dass die Empfehlung einer universalen Urteilsenthaltung paradox ist (Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis, 2008, S.83 ff.).

Normale Wissenschaft unterliegt dem Wandel. Das Anomale steht definitionsgemäß im Widerspruch zur Normal-Wissenschaft. Folglich unterliegt auch die Auffassung vom Anomalen dem Wandel. Genau die Anomalien sind es nämlich, die den Fortschritt der Wissenschaft bewirken (Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. IX. Das Wesen und die Notwendigkeit wissenschaftlicher Revolutionen):

Wenn eine existierende Theorie den Wissenschaftler nur in Bezug auf existierende Anwendungen bindet, dann kann es keine Überraschungen, Anomalien oder Krisen geben. Aber gerade dies sind die Wegweiser, die den Pfad zur außerordentlichen Wissenschaft zeigen.

Ich halte es für einen Fehler, den wissenschaftlichen Skeptizismus über die normale Wissenschaft definieren zu wollen. Das wäre letztlich dogmatisch und dann doch wieder eine Art zureichende Begründung. Thomas Kuhn hat eine solche statische Auffassung von Wissenschaft jedenfalls nicht gemeint.

Die streng agnostische Annahme (am 12.6.18 umbenannt in streng skeptische Annahme) ist ein Popanz: Der Agnostiker enthält sich eines Urteils in Angelegenheiten der Metaphysik und nicht notwendigerweise auch im Allgemeinen. Der Skeptiker — meist in Personalunion — tut es ihm gleich.

Psi meint etwas Übernatürliches und wird beispielsweise der Gedankenübertragung und der Wünschelrutengängerei zugeschrieben. Das aber sind keine Anomalien. Diese Effekte verschwinden beim näheren Hinsehen. Und wo kein Effekt, da keine Anomalie. Für derartige effektfreie Bemühungen gibt es eine gut definierte Sammelbezeichnung: Pseudowissenschaft (oder Anwartschaft darauf).

Psi gehört ins Reich der Metaphysik und ist daher kein Thema für den Agnostiker. Folglich sind auch alle Gedankenspiele, in denen Psi vorkommt, für den Agnostiker sinnlos. Dasselbe gilt auch für den Skeptiker, denn der übt Urteilsenthaltung zwar nicht allgemein, jedoch in Angelegenheiten der Metaphysik und des Glaubens. Insofern ist er auch Agnostiker.

Nachtrag vom 2.8.2020

Aktuelle Hoppla!-Artikel zum Thema sind

Siebtes Intermezzo: Der Skeptiker in seiner Welt

Pseudoskeptiker

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Der Realist und seine Echokammer

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners
Heinz von Foerster

Ins Fadenkreuz eines missionierenden Realisten geraten sind „Instrumentalisten, die auf Logik bestehen und bei anderen, vor allem bei Realisten, gar Denkfehler diagnostizieren wollen“  und die damit lediglich ihr Elend der philosophischen Inkonsequenz demonstrieren würden (skeptiker 4/2016 (S. 176). Dahinter steckt die Ansicht, dass die Wahrheit kennen müsse, wer einen Denkfehler feststellen will. Der Realist traut sich das zu. Dem Instrumentalisten spricht er diese Fähigkeit ab.

Obwohl ungenannt gilt der Angriff auf „das Elend des Instrumentalismus“ ganz offensichtlich meinem Buch „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“, insbesondere dem 9. Kapitel „Um Wahrheit geht es nicht“.

Gern würde ich den Ausführungen dieses Realisten direkt entgegnen. Aber der hat sich in seine Echokammer eingeschlossen: Leserbriefe an den skeptiker werden allein mit der Begründung, dass man nicht zustimmen könne, abgewiesen. Das einschlägige Internetforum lässt Kommentare eines ernsthaften Kritikers nicht zu. Da ein Diskurs unterbunden ist, kann unser Realist seine Rede und den Beifall seiner Anhänger ungeschmälert genießen.

Die Fehldeutungen, die Rabulistik und die Manipulationsversuche kann ich so jedoch nicht stehen lassen. Eine Replik ist unvermeidbar – dann eben auf dem Umweg über dieses Hoppla!-Blog.

Was ist ein Instrumentalist?

Ein Instrumentalist ist einer, für den die Naturgesetze nichts weiter als Werkzeuge sind, die in einem gewissen Weltausschnitt ihren Dienst tun wie beispielsweise die Newtonschen Gesetze im Maschinenbau. Ingenieure sind demnach Instrumentalisten: Der Ingenieur benutzt weiter die newtonsche Formel „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“, obwohl er weiß, dass er im allgemeinen Fall relativistisch in Sinne Einsteins rechnen sollte.

Aber auch ein „Skeptiker“ aus der Echokammer ist ein Instrumentalist in diesem Sinne, wenn er von unwandelbaren Naturgesetzen  spricht und damit meint, dass viele Naturgesetze  in gewissen Grenzen nach wie vor gültig bleiben, selbst wenn sie durch genauere, weiterreichende übertrumpft werden.

Karl Raimund Popper meint, dass dem Instrumentalisten das Streben nach Erkenntnis – der Entdeckergeist also – fehle (Vermutungen und Widerlegungen, 1963/1994, Kapitel 3). Er stellt dem Instrumentalisten den wahrheitsliebenden Realisten gegenüber. Dabei meint er eine sehr milde Form des Realismus, denn er spricht nur von einer Annäherung an die Wahrheit und vermeidet konsequent Aussagen über die Güte der Annäherung im Sinne einer partiellen oder approximativen Wahrheit. Wenn man genau hinsieht, kann man seine Wendung von der Annäherung an die Wahrheit verlustfrei ersetzen durch den Begriff des Erkenntnisfortschritts. Er braucht den Begriff der Realität (Wirklichkeit) für seine Logik der Forschung, den kritischen Rationalismus, eigentlich nicht und er sagt das auch selbst: „Die Idee der Wahrheit und insbesondere auch die der Annäherung an die Wahrheit, spielt in der Logik der Forschung eine wichtige Rolle, obwohl die in diesem Buch entwickelte Theorie an keiner Stelle von dieser Idee abhängt“ (Anhang *XV. Über Wahrheitsnähe).

Glaube und Wohlgefühl

Die poppersche milde Form des Realismus ist zwar unnötig, aber auch – aus meiner Sicht jedenfalls – unschädlich: Der Realismus bleibt bescheiden und vermeidet Rechthaberei. Über den missionierenden Realisten lässt sich das nicht sagen.

Wofür braucht Popper den Realitätsbegriff? Ich habe da eine Vermutung: Der Glaube an eine wie auch immer ausgeprägte bewusstseinsunabhängige Realität erleichtert das Formulieren. Wir alle sind Realisten des Alltags. Eine Übertragung der Alltagssprache in die Welt der Wissenschaft vermeidet sprachliche Brüche und Umständlichkeiten. Das dient dem Wohlgefühl und der Eleganz. Es ist wie bei den traditionellen chinesischen Kampfkünsten: Bildhafte Vorstellungen wie „das Chi in die eigene Faust fließen zu lassen“, könne korrekte Ausführungen bestimmter Bewegungen durchaus erleichtern, meint Holm Hümmler in seinem Artikel über „Das Geheimnis des Kung Fu“ (skeptiker 3/2006, 112).

Kurz gesagt: Gegen den Realismus in milder Form spricht nichts. Aber es gibt alternative und ebenso harmlose Vorstellungen, die dem Gläubigen von Nutzen sein mögen. Ich plädiere für einen Pluralismus der Weltanschauungen, weil dieser das Leben unserer modernen Gesellschaften in Bewegung hält und dem Fortschritt dient.

Worum geht’s bei „Klüger irren“?

Mir geht es nicht vorrangig um die Philosophien der Leute. In meinem Buch stelle ich ins Zentrum die Aussage, dass wir alle mehrere Spiele spielen: Wissenschaft, Mathematik, Esoterik, Gottglauben, … Und für diese Spiele gelten Regeln. Wer meint, sich an die Regeln zu halten und dabei in die Irre geht, der ist womöglich in eine Denkfalle geraten: Wer auf die Müller-Lyer-Täuschung oder die sandersche Figur hereinfällt, hat eben im Spiel der Geometrie daneben gelegen. So etwas kann man durchaus als Fehler ansehen, ohne dabei gleich die ewig gültigen Wahrheiten ins Spiel zu bringen. Fehler sind Abweichungen von der Norm, nichts weiter. Da ist kein Tiefsinn dahinter und auch keine „Korrespondenztheorie der Wahrheit“, wie die Philosophen sich auszudrücken pflegen. Wobei ich dem Fehler bei der Weiterentwicklung von Normen eine tragende Rolle zubillige.

Der Angriff des missionierenden Realisten verfehlt folglich sein Ziel:  Ich bin nicht im „Elend der philosophischen Inkonsequenz“ gelandet. Die Fähigkeit der Fehlervermeidung, wie ich sie voranzubringen versuche, steht im Dienste des Erkenntnisfortschritts. Um Wahrheit geht es nicht.

Detaillierte Erwiderung des skeptiker-Aufsatzes

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