Zweifel

It’s tempting to nestle in a comfort zone,
surrounded by people who look like us,
think like us, pray like us, vote like us.

Nancy Gibbs, TIME, May 1-8, 2017

Skeptiker behaupten nicht, sie bezweifeln

Als Ausgangspunkt der Betrachtung zum Skeptizismus wähle ich eine wichtige aktuelle Frage: Ist der drohende und teils schon spürbare Klimawandel menschengemacht? Die meisten Klimawissenschaftler bestätigen das. Die sogenannten Klimawandelskeptiker bezweifeln es.

Ein Skeptiker der Skeptikerbewegung setzt sich unter dem Titel „Klimawandel: Leugner, Skeptiker und Wissenschaft“ damit auseinander: „Nicht die Öl-Konzerne oder die Kohlelobby sind die größten Treiber des Kampfes gegen die Klimawissenschaften, sondern die Vertreter einer besonders extremen Variante des Neoliberalismus, die jede staatliche, überstaatliche oder sonstige gesellschaftliche Intervention als Teufelszeug und Weg in den Kommunismus oder in die Diktatur ansieht.“

Er schreibt ferner, dass die Wissenschaft in diesen Bereichen bekämpft und die Wissenschaftler verunglimpft würden und gleichzeitig Außenseiter ohne Erfahrung auf dem Gebiet als Kronzeugen vorgestellt würden. Wenn sich Klimawandelleugner als Klimawandelskeptiker bezeichneten, so werde der Begriff „Skeptiker“ missbraucht

In einer Erklärung vom 5. Dezember 2014 haben die Fellows of the Committee for Skeptical Inquiry dies festgehalten: Als wissenschaftliche Skeptiker zeigen sie sich besorgt über politische Bestrebungen, die Klimawissenschaft zu unterminieren. Sie sehen Leute am Werk, die die Realität negieren, die keinerlei wissenschaftliche Forschung betreiben oder aber Beweise, die ihren festen Überzeugungen zuwiderlaufen, für falsch halten. (“As scientific skeptics, we are well aware of political efforts to undermine climate science by those who deny reality but do not engage in scientific research or consider evidence that their deeply held opinions are wrong.”)

Wissenschaft wird zum Abstimmungsergebnis: „Anfang Juli haben zudem 36 Nobelpreisträger der Physik, Chemie und Medizin in Lindau eine gemeinsame Erklärung zum Klimawandel unterzeichnet. Eindeutiger geht es kaum.“

Dieser Standpunkt ist klar und vertretbar. Aber es bleibt ein Standpunkt und der sagt nur wenig darüber aus, wie er entstanden ist. Skepsis betont aber den Weg, nicht das Ziel. Wer sich in dieser Weise auf die Wissenschaft beruft – wohlgemerkt: auf die Wissenschaft, nicht auf die wissenschaftliche Methode –, verklärt den Stand des Wissens und macht ihn zum absoluten Maßstab.

Skeptizismus und Standpunkt bilden keinen Widerspruch für den, der – ganz im kantschen Sinne – Fragen der Wissenschaft von denen der Moral trennt. Man kann also ein Anliegen unterstützen und dabei zurückhaltend im skeptischen Sinn argumentieren. Dafür bildet eine Veranstaltung wie der March for Science aber kaum den richtigen Rahmen.

In der Demonstration ging es den „wissenschaftlichen Skeptikern“ folglich nicht um den Skeptizismus im eigentlichen Sinne, sondern darum, einen Standpunkt zu vertreten und auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Der Skeptizismus blieb dabei leider ziemlich unsichtbar.

Wissenschaft ist offen und in Bewegung. Der Zweifel ist ihr Lebenselixier. Ein Skeptiker behauptet am besten gar nichts. Das heißt nicht, dass er der Beliebigkeit Tür und Tor öffnet. Damit stehen wir vor dem zentralen Problem, das der Skeptiker zu lösen hat: Wegweiser sein ohne Dogmatismus.

Für diese schwierige Aufgabe gibt es Rat von einem jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters: Moses Maimonides. Leider hat er nichts „Demonstrationstaugliches“ zu bieten. Aber nützlich sind seine Ratschläge doch: für die Auseinandersetzungen in Forschung und Wissenschaft, für die Pädagogik und für die  Meinungsscharmützel des Alltags.

Moses Maimonides

Von Moses Maimonides (1138-1204) stammt ein gut ausgetüfteltes System des skeptischen Argumentierens. Auch er hatte seine Hintergedanken dabei. In seinem Wegweiser für die Verwirrten wendet er sich an den Schüler und er will diesem letztlich den Weg zum rechten Bibelverständnis zeigen. Maurice Wolff (1992, S. IX) berichtet, dass Maimonides nicht für die große Menge oder für Anfänger in den Studien schreiben wollte, sondern für den religiös Gesinnten, in dessen Seele die Wahrheit der Gotteslehre bereits als Glaube eingedrungen sei, der sich aber auch philosophisches Wissen, vor allem die Lehren des Aristoteles, angeeignet habe und der Vernunft folgend durch die buchstäbliche Fassung des Gotteswortes in Verwirrung geraten sei.

Bezeichnend für die zurückhaltende Art dieses Skeptikers ist, dass er sein Werk als Wegweiser bezeichnet, nicht etwa als Leitfaden oder als Weg zur Wahrheit. Der Leser bleibt aufgefordert, den Wegweiser richtig zu lesen und den Weg zu seiner geistigen Vervollkommnung eigenverantwortlich zu beschreiten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Leser schließlich in noch größere Verwirrung verfällt.

Maimonides versucht also sich an etwas anzunähern, das in der Lehrer-Schüler-Kommunikation nur schwer zu erreichen ist: Begegnung auf Augenhöhe. Als literarische Form wählt er Briefe an den Schüler.

Der Wegweiser für die Verwirrten beschäftigt sich mit der Frage, ob die Welt urewig (Aristoteles) oder ob sie mit dem ersten Tag der Schöpfung neu entstanden ist (1. Mose). Ich gehe auf dieses Thema kurz ein, weil es auf die interessante Frage führt, inwieweit wir durch die Leistungsfähigkeit der Mathematik bei der Beschreibung der Welt dazu verleitet werden, sie für das Wesen der Welt zu halten. In diese Denkfalle kann nämlich nicht nur der Religionsphilosoph tappen, sondern auch der wissenschaftsorientierte Realist.

Stellen wir uns den Zahlenpfeil vor, auf dem die Folge der Tage markiert ist, ausgehend vom Tag der Schöpfung. Nach dem ersten kommt der zweite Tag, danach der dritte und so weiter. Diese nicht enden wollende Folge ist für uns unendlich und lässt sich durch den positiven Zahlenstrahl → repräsentieren. Den kann und den muss man sich nicht vollendet denken – er kommt nicht in Existenz. Anders ist es mit der Urewigkeit. Der negative Zahlenstrahl ← sagt uns, dass „sich das Geschehene in unendlicher Aufeinanderfolge ereignet“ (Maimonides, Wegweiser, Buch 2, Kapitel 13, 172.). Heute müsste dieser Prozess abgeschlossen, also in Existenz gekommen sein. Das übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Immanuel Kant nimmt sich der Sache in seiner ersten Antinomie an und kommt zum Schluss, dass man über so etwas wie die Urewigkeit der Welt am besten gar nicht erst nachdenkt. Maimonides sieht zwar ebenfalls, dass „bei dieser Frage – ich meine die Urewigkeit der Welt oder ihre Neuentstehung – ein strenger demonstrativer Beweis nicht erreicht werden kann und dass dies eine Stelle ist, die für die Vernunft eine Grenze bildet“ (Maimonides, Wegweiser, Buch 1, Kap. 71, 63). Aber sein Glaube bietet ihm einen Ausweg aus den Schwierigkeiten und gibt ihm eine Antwort: Gott hat mit der Welt auch die Zeit erschaffen.

Mir geht es nicht um die Klärung solcher metaphysischen Fragen, sondern um die skeptische Methode des Maimonides.

Maimonides zitiert Aristoteles: „Es zeichnet denjenigen aus, der gemäß der Wahrheit entscheidet, dass er seinen Gegnern gegenüber keineswegs feindlich gesonnen ist, sondern ihnen freundlich und gerecht begegnet, und so wie sich selbst behandelt, und zwar gemäß der Richtigkeit der Begründung; des Weiteren, dass er ihnen gleichermaßen zugesteht, dass ihre Begründungen ebenso richtig sein können wie die eigenen.“

In Buch 2, Kapitel 23 seines Wegweisers schreibt er: „Du sollst wissen, dass wenn du die Zweifel, die mit einer gewissen Ansicht notwendig verbunden sind, mit denjenigen vergleichst, die mit der entgegengesetzten Ansicht verbunden sind, und du dich entscheiden willst, welche von beiden weniger Zweifel hervorruft, dann solltest du weniger die Anzahl der Zweifel in Erwägung ziehen als vielmehr die Tatsache, wie gewaltig ihre Absurdität ist und inwieweit die Realität ihr widerspricht. Denn manchmal kann ein einzelner Zweifel gewaltiger sein als tausend andere Zweifel.“

Kurz gesagt: Die skeptische Methode liefert keine für jeden gültige Ja-nein-Entscheidung, kein schwarz oder weiß. Es geht um Gewichtungen und Grade der Glaubwürdigkeit. Welche Entscheidung schließlich getroffen, welcher Standpunkt bezogen wird, ist keine generell zu beantwortende Frage, sondern eine persönliche Angelegenheit: „Wenn du willst, kannst du dich von deiner Leidenschaft befreien, deine Gewohnheiten verwerfen und dich einzig und allein auf die spekulative Forschung stützen, um dadurch das vorziehen zu können, dem du eigentlich den Vorzug geben solltest.“

Der strategische Zweifel und was man dagegen tun kann

Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse den wirtschaftlichen Interessen entgegenstehen und wenn es darum geht, politisch unangenehme Entscheidungen zu verhindern, braucht der Interessenvertreter nur die Beweiskraft anzuzweifeln. Der Zweifel ist der Wissenschaft immanent. Es genügt, die sowieso vorhandenen Zweifel aufzugreifen, zu verstärken und richtig zu vermarkten. Der Skeptiker wird zum Händler in Sachen Zweifel. Der Zweifel dient seinem strategischen Ziel.

Diese Zweifel lassen sich gut vermarkten: Die  Medien gieren danach, denn Kontroversen sind guter Lesestoff.

Der Skeptizismus soll dem Wanderer Wegweiser sein, wenn es darum geht, Fakten von Pseudofakten zu unterscheiden, die Relevanz von Zweifeln zu bewerten und zu erkennen, „wie gewaltig ihre Absurdität ist“. Die größte Gefahr auf dem Weg sind die strategischen Zweifel, die dem Suchenden in manipulativer Absicht nahe gebracht werden.

Wer nach Hinweisen für die Bewertung von Zweifeln sucht, schaut am besten auf Problemfeldern nach, auf denen mächtige Interessen zusammenprallen: Rauchen, saurer Regen, Asbest, Ozonloch, globale Erwärmung. Das Buch „Merchants of Doubt“ von Oreskes und Conway (2010) regt mich zu folgenden Fragen an, deren Beantwortung dem Einzelnen helfen kann, faule Argumente aufzudecken und den rechten Weg zu finden.

  • Hat der Zweifler das nötige Fachwissen? Haben die Angriffe eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage?
  • Wie sind Macht und Einfluss verteilt und wie ist der Zugang zu den Medien? Beispiel: Das George C. Marshall Institute wurde einst gegründet, um die strategische Verteidigungsinitiative (SDI) des Präsidenten Ronald Reagan gegen Angriffe durch Wissenschaftler zu verteidigen. Als es darum ging, den Treibhauseffekt klein zu reden, waren diese Leute aufgrund ihrer guten Beziehungen zum Weißen Haus wieder dabei.
  • Wird auf Gegenargumente eingegangen oder nur stur das immer Gleiche wiederholt (Holzhammermethode, Gehirnwäsche)?
  • Wird die Reputation der Gegenseite angegriffen? Gilt der Angriff nicht der These, sondern ihrer Quelle (Argument ad hominem)?
  • Welche Interessen werden vertreten? Welche Rolle spielen Politik und Ökonomie? Gibt es ein Netzwerk der Kritiker oder Anzeichen einer konspirativen Vereinigung? Beispiel: Leute, die die Wirkung des Rauchens verharmlosten, waren auch an den Diskussionen zum Ozonloch, zum Star-Wars-Programm (SDI) und zur globalen Erwärmung beteiligt. Stets bekämpften sie die wissenschaftlichen Belege und vermarkteten den Zweifel.
  • Gibt es Anzeichen für Ablenkungsmanöver und Verharmlosung? Beispiel: Zum Klimawandel tragen neben den CO2-Emissionen auch andere Faktoren bei: Staub durch Vulkanaktivitäten, Sonnenflecken, El Niño. Wer sich nicht auf die falsche Fährte setzen lassen will, kommt um eine Quantifizierung und gegenseitige Gewichtung der verschiedenen Einflussfaktoren nicht herum.
  • Werden schlüssige Beweise gefordert? Beispiel: „Es gibt keinen Beweis dafür, dass Zigarettenrauchen ungesund ist.“ Derartige Beweise gibt es im Allgemeinen tatsächlich nicht. Das Argument dient nur dazu, den anderen in die Defensive zu bringen.
  • Verwickelt sich der Angreifer in innere Widersprüche? Beispiel: Die Dokumente der Tabakindustrie zeigten, dass Rauchen schädlich ist. Öffentlich bestritten die Industrievertreter das.

Aber Vorsicht. Das alles sind zwar wichtige Punkte. Aber der Hinweis auf die Fragwürdigkeit einer Quelle oder auf ein verdächtiges Drumherum ist an sich noch kein überzeugendes Argument. Lassen wir dieselbe Vorsicht walten, wie sie Carl Sagan im Falle der Astrologie gezeigt hat. Letztlich geht es allein um die Gültigkeit der infrage stehenden Geltungsansprüche.

Und noch etwas. Wenn es um eine gut bestätigte Theorie geht, die darauf hindeutet, dass unsere Lebensgrundlagen und die der nächsten Generationen bedroht sind, wird man bei der Entscheidungsfindung das Vorsorgeprinzip (Prudent Avoidance) beachten. Es besagt, dass man Anstrengungen zur Vermeidung von Risiken auch dann unternehmen sollte, wenn die Größe der Risiken noch nicht zweifelsfrei bekannt ist. So verliert mancher strategische Zweifel an Gewicht.

Letzte Änderung: 31.5.2017

Literaturhinweise

Maimonides, Moses: Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage mit einer Einleitung von Frederek Musall und Yossef Schwartz. Herder, Freiburg 2009

Oreskes, Naomi; Conway, Erik M.: Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming. 2010

Wolff, Maurice: Einleitung zu “Acht Kapitel – Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis” von Moses Maimonides. 1992

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March for Science: zu spät!

Wo waren die Aktivisten für Wissenschaft und Demokratie damals, als es um die Hochschulreform ging?

Donald Trump ist momentan wegen seiner Post-Truth-Masche ein gern genommenes Angriffsziel, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit für alle möglichen Anliegen zu gewinnen. Vordergründig ging es beim March for Science am vergangenen Wochenende um die Errettung der Wissenschaft und um den „konstruktiven Dialog“, der eine „elementare Grundlage unserer Demokratie“ sei: „Alle, denen die deutliche Unterscheidung von gesichertem Wissen und persönlicher Meinung nicht gleichgültig ist, sind eingeladen, sich an dieser weltweiten Demonstration für den Wert von Forschung und Wissenschaft zu beteiligen!“.

Wo waren diese Aktivisten vor einem Jahrzehnt, als es wirklich um die Wurst ging?

Ich erinnere mich an einen meiner Aufsätze, den unserer Hochschulzeitung im Jahr 2006 brachte: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten. Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung. Damals waren Hochschulzeitungen noch dazu da, auch Kontroversen auszutragen. Heute sind sie – soweit ich das sehen kann – zu reinen Werbeinstrumenten geworden.

Damals beklagte ich den Trend, Hochschulen als Dienstleistungsunternehmen zu sehen und schrieb: „Dahinter steckt die Vorstellung, dass vornehmlich die Hochschulen zu liefern haben. Der Kunde Student ist der Abnehmer. Er soll nach diesem Denkmuster zukünftig ja auch vermehrt zur Zahlung für die Lieferungen herangezogen werden. Konsequenterweise haben Hochschulen heute ein Marketing und ein Corporate Design – als müssten sie Waschmittel unter das Volk bringen.“

Ich sah deutliche Anzeichen für die Ökonomisierung der Bildung: „Der Bologna-Prozess fördert 1. die Work-Load-orientierte Beurteilung von Lehrveranstaltungen, 2. die Evaluation nach vordergründiger ‚Kundenzufriedenheit‘, und 3. die Orientierung der Erfolgsbeurteilung der Fachbereiche nach der Zahl der ‚gelieferten‘ Absolventen. Wen wundert es, wenn Kollegen dazu übergehen, die Leistungsanforderungen am Leistungswillen der Studierenden auszurichten? Und wem ist zu verübeln, wenn er unter diesen Randbedingungen auf das Bohren dicker Bretter verzichtet und stattdessen einen Stapel dünner Bretter vorlegt? Das System standardisierter und separat abprüfbarer Wissenshäppchen findet seinen institutionalisierten Niederschlag in einem unnötig starr ausgeprägten Modulsystem.“

Die neu eingeführten gestuften Abschlüsse Bachelor/Master sollten die Ausbildungszeit verkürzen. Wie das? Zwei sequentielle Prüfungen erzeugen bis zum Masterdiplom zweimal hintereinander Nachzügler. Jedem, der die Hochschulen von innen kennt, sollte einleuchten, dass das nur auf eine Studienzeitverlängerung hinauslaufen kann. Mit falsch interpretierten Statistiken wollte man uns das Gegenteil weismachen.

Damals brachte ich einen Resolutionsentwurf unter dem Beifall meiner Kollegen auf den Weg durch die Hochschulgremien: „Die Pflicht zur Akkreditierung von Studiengängen stellt einen zurzeit nicht legitimierten Eingriff in das Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre dar. Die Fraktionen des hessischen Landtags werden aufgefordert, auf die Schaffung der gesetzlichen Grundlage für die Akkreditierung hinzuwirken und die Befugnisse und Verantwortlichkeiten der Akkreditierungsagenturen zu bestimmen.“ Dieser Entwurf ist auf Nimmerwiedersehen in irgendeinem Ausschuss versickert.

Ich frage noch einmal: Wo waren die Aktivisten für Wissenschaft und Demokratie vor über einem Jahrzehnt, als es um die Hochschulreform ging?

Der Wissenschaftsmarsch – ein Vehikel für alle möglichen Interessen

Der March for Science wurde von einigen Gruppierung als Schaufensterveranstaltung genutzt – Gruppierungen, denen ansonsten vereinsinterne Demokratie nicht allzu sehr am Herzen liegt. Da sind einmal die Pseudoskeptiker, die sich gern das Etikett „Wissenschaft“ an die Brust heften, und dann noch die evolutionären Humanisten (Selbstbezeichnung), die für den Neuen Atheismus kämpfen. Diese Gruppierungen verstehen unter Wissenschaft vor allem Mainstream-Wissenschaft, nicht jedoch den offenen wissenschaftlichen Diskurs, der für die Forschung so wichtig ist.

Zweifel an derartigen Auftritten wurden auch innerhalb der Skeptikerszene laut. Es gab einen Hinweis auf kritische Texte, nämlich auf  Über den Verlust des kritischen Verstandes bei Wissenschaftlern von Albrecht Müller und auf March for Science – Dead Men Walking von Matthias Burchardt.

Dieser Anflug von Selbstkritik kam in der Skeptikergemeinde nicht so gut an. Ich mischte mich ein und schrieb: „Albrecht Müllers Artikel ruft bei Leuten, die sich mit dem wissenschaftlichen Mainstream identifizieren, verständliche Abwehrreflexe hervor. Ihnen wird aber auch der Artikel ‚Haltet den Lügner!‘ des Präsidenten der Deutschen Forschungsgesellschaft Peter Strohschneider nicht so recht gefallen (Der Spiegel 16/2017, S. 109). Ich halte beide Artikel für bedenkenswert. Den Aufruf in ‚March for Science – Dead Men Walkin‘ von Matthias Burchardt würde ich sogar unterschreiben.“

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Skeptiker über Religion

Sollten Skeptikerorganisationen Atheistenorganisationen sein?

Zur Einstimmung in den Problemkreis „Skeptizismus und Religion“ bringe ich einen von mir übersetzten Auszug aus dem Web-Artikel „Should skeptic organizations be atheist organizations?“ von Paul Zachary “PZ” Myers – teils sinnerhaltend leicht umgestellt.

<Beginn des Auszugs> Skeptische Organisationen stehen oft vor einem nagenden Dilemma: Sollten sie auch gegenüber den Religionen in aller Offenheit skeptisch sein? Es gibt ein paar sehr gute Gründe, warum sie die Kritik an religiösen Behauptungen zu einer nachrangigen Frage machen sollten, und einen äußerst schlechten Grund, nämlich intellektuelle Feigheit und Verrat an den skeptischen Prinzipien. Was sind die guten Gründe dafür, vor religiösen Konflikten zurückzuschrecken? Einer ist die Arbeitsteilung. Es gibt unendlich viele sonderbare Behauptungen über Paranormales und Übernatürliches, die eine kritische Prüfung erfordern, beginnend mit der Astrologie über Wünschelrutengängerei, über außersinnliche Wahrnehmung, Telekinese bis hin zur Nullpunktsenergie; und da die Religion ein Abgrund der Unwissenheit und der Absurditäten ist, gibt es Atheistenorganisationen, die sich mit genau diesem Teil der menschlichen Unvernunft befassen – es ist vollkommen vernünftig, wenn sich eine Skeptikergruppe von Atheistengruppen abgrenzt, indem sie sich auf andere Phänomene konzentriert.

Betrachten wir nun diese Alternativen: Entweder wir verlangen von allen Skeptikern vollständige Klarheit, oder wir schweigen über die Albernheiten religiösen Glaubens. Beides wird nicht geschehen.

Es gibt eine dritte Alternative. Die Skeptikerbewegung wird inklusiv sein und jedermann erlauben mitzumachen. Mitmachen heißt, dass deine Ideen auseinandergenommen und kritisiert werden, manchmal bespöttelt und manchmal hochgelobt. Wenn du außerordentliche Privilegien für deine Ideen beanspruchst und darauf bestehst, sie mögen nicht ans Licht gezerrt und hart angegriffen werden, dann bist du kein Skeptiker. Schließe dich stattdessen einer Kirche an.

Wenn du darauf bestehst, dass dein Glaube an das Übernatürliche eines besonderen Schutzes vor Kritik und eines herausgehobenen Status im wissenschaftlichen Unterricht bedarf, dann schadest du der Wissenschaft und der Bildung. Mach weiter so, gehe in die Kirche, glaube, was immer du willst. Aber winsele nicht herum, weil Skeptiker und Wissenschaftler nicht mit dir einig sind. Glaube ist kein Freibrief. Er ist eine Krankheit, die überwunden werden muss. <Ende des Auszugs>

Paul Kurtz hat für diese Denkrichtung die Bezeichnung „neuer Skeptizismus“ eingeführt (Should Skeptical Inquiry Be Applied to Religion?). Er schreibt, dass ein Skeptiker dieser Denkrichtung Naturalist sei, dass er nach natürlichen Gründen und Erklärungen für paranormale und religiöse Phänomene suche und dass er nach dem Wahrheitswert theistischer Geltungsansprüche frage.

Die „neuen Skeptiker“ verlangen also nach Bestätigungen. Wer nach Belegen fragt, der kann diese auch von Gläubigen einfordern. Das Ausbleiben von Belegen für die Existenz einer Übernatur gilt als Bestätigung des Gegenteils, nämlich dass es eine solche nicht gibt. Diese Begründung der Keine-Übernatur-Hypothese überzeugt mich genauso wenig wie ein Gottesbeweis andererseits. Es sind in beiden Fällen Glaubensakte ohne Überzeugungskraft.

Skeptikerbewegung zweigeteilt

Die folgende Betrachtung schließt an meinen Artikel „Skeptizismus und Skeptikerbewegung“ an. Innerhalb der Skeptikerbewegung besteht keine Einigkeit, was Religionen angeht. Die einen sehen den Hauptzweck der noch jungen Bewegung darin, Religion als eine Krankheit anzusehen und diese möglichst auszurotten. Andere Skeptiker halten sich eher an die Wurzeln des Skeptizismus und beschränken sich auf das Infragestellen von allem und jedem; ihr Zweifel gilt insbesondere den Autoritäten jedweder Ausprägung.

Für Letztere reserviere ich die Bezeichnung Skeptiker. Für die Ersteren übernehme ich die von Marcello Truzzi eingeführte Bezeichnung Pseudoskeptiker; die „neuen Skeptiker“ sind Pseudoskeptiker in diesem Sinne. Der Skeptiker argumentiert wissenschaftlich: er wendet die von Karl Raimund Popper propagierte negative Methode an, der Pseudoskeptiker die positive.

Der Skeptiker beschäftigt sich mit prüfbaren und prinzipiell widerlegbaren Aussagen (Beispiel: „Ein Gegenstand fällt zu Boden, wenn man ihn loslässt“). Er sucht aktiv nach Widerlegungen. Glaubensfragen übersteigen seinen Horizont und er enthält sich eines Urteils darüber. Er ist Agnostiker. Alles spielt sich im Reich der Wissenschaft ab.

Der Pseudoskeptiker hingegen verlangt nach Belegen. Übernatürliches ist nicht belegt, also existiert es nicht. So steht der Glaube an das Übernatürliche gegen den Glauben, dass es das Übernatürliche nicht gibt. Das alles spielt sich im Reich der Metaphysik ab.

Die folgende Tabelle charakterisiert diese Extremformen des Skeptizismus. Darüber hinaus gibt es alle möglichen Zwischenformen.

  Skeptiker Pseudoskeptiker
Wissenserwerb Widerlegungen machen die Bahn frei für Neues (negative Methode). Besser Belegtes schlägt Unbelegtes oder schlechter Belegtes (positive Methode).
Metaphysischer Überbau … ist irrelevant Naturalismus
Glauben Agnostizismus Atheismus
Grundsätze Pluralismus, Toleranz, weltanschauliche Neutralität Naturalismus ist für Realwissenschaften unabdingbar.
Wahrheitsansprüche,
Dogmen
Keine Keine-Übernatur-Hypothese.

Realismus. Kausalität ist Naturgesetz.

Argumentationsstil Zweifelnd Behauptend
Methode Geistartiges interessiert nicht. Allein auf das Prüfbare kommt es an. Magische Wurzeln und mystische Erklärungen sind Ablehnungsgründe für Außergewöhnliches.
Ein Leitspruch Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Religion ist eine Krankheit, die es zu besiegen gilt.
Autoritätsansprüche … werden abgelehnt Missionierung für Naturalismus
Vertreter Marcello Truzzi,
Carl Sagan
Paul Kurtz, Richard Dawkins,
Paul Zachary „PZ“ Myers

In den folgenden Abschnitten erkläre ich aus historischer Perspektive, warum ich den Pseudoskeptizismus für rückschrittlich halte. Die stärkste Ausprägung dieser Denkungsart tritt in der folgenden Definition zutage:  „Ein Wunder ist ein Ereignis, das der allgemeinen Erfahrung widerspricht, naturgesetzlich unmöglich ist, und daher von einer übernatürlichen Wesenheit verursacht wurde.“ Unter allgemeiner Erfahrung und Naturgesetzlichkeit wird offenbar die Mainstream-Wissenschaft verstanden. Das wird durch die folgende Behauptung verdeutlicht: „Nie sind es anerkannte oder gar brillante Forscher, die gegen den wissenschaftlichen Mainstream schwimmen.“ Zweifel kennen diese Leute nicht, sonst würde ihnen die empirische Unhaltbarkeit derartiger Begründungen ihres Glaubenssystems ins Auge fallen.

Antike: ganzheitliches Denken

Wer die gerade einmal vierzig Jahre alte Skeptikerbewegung aus historischer Perspektive beleuchten will, muss nicht mehrere tausend Jahre bis zu den Anfängen der philosophischen Skepsis zurückgehen. Es genügt, sich Leben und Wirken eines Mannes anzuschauen, der vor ein paar hundert Jahren gelebt hat, in einer Zeit also, als das Denken der Antike endete und das der Klassik und der Moderne begann.

Ich komme auf Athanasius Kircher auch deshalb, weil er aus meiner Heimat ist. Dieser Universalgelehrte, einer der letzten seiner Art, wurde 1602 in Geisa geboren. Er ging im Jesuitenkolleg in Fulda zur Schule, lehrte in Mainz und in Würzburg. Seine Hauptwirkungsstätte war das römische Jesuitenkolleg.  Er starb im Jahre 1680 in Rom. Meine Informationen über ihn entnehme ich dem Buch „Magie des Wissens“, das anlässlich der Athanasius-Kircher-Ausstellungen in Würzburg (2002) und Fulda (2003) erschien.

Athanasius strebte nach einer universalistischen Welt- und Natursicht: Eine Mathematik des Kosmos verbindet alle Dinge zu einem perfekten Gebäude des Geistes. Athanasius‘ Verständnis von Wissenschaft gründet auf dem Begriff der Weltharmonie (harmonia mundi): Gott und Natur lassen sich miteinander verbinden. Das Analogiegesetz ist ein Schlüssel für dieses Weltverständnis: Wie oben so unten. Der Mikrokosmos ist ein Spiegelbild des Makrokosmos. Das Urwissen der antiken Religionen und des Christentums ist in der Art von Zahlenrätseln verschlüsselt, die es nur noch zu enträtseln gilt. Das alles ist antikes Gedankengut, verbunden mit den Namen Pythagoras („Alles ist Zahl“), Platon und Hermes Trismegistos. Es ist das Denken der Zahlenmystiker und Esoteriker.

Aus den vielen Büchern zur Zahlenmystik greife ich „Eine kleine Geschichte der Unendlichkeit“ von Brian Clegg heraus (Original: „A Brief History of Infinity“, 2003). Es stellt neben der Zahlenmystik auch den hier interessierenden Umbruch des Denkens dar. Und es enthält ein paar besonders einfache Beweise für Grundtatsachen der Mathematik. Wer es witzig mag, der ist mit „Magie der Zahlen“ von Harro Heuser (2003) bestens bedient.

Die Zahlenmystik  hat auch Galileo Galilei infiziert und ihn – angesichts der Nützlichkeit mathematischer Instrumente bei der Beschreibung von physikalischen Vorgängen – zu diesem Ausspruch verleitet: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“ Auch manch ein Wissenschaftler unserer Zeit steht in dieser Hinsicht dem hermetischen Denken der Vergangenheit sehr nahe. Mein Hoppla!-Artikel „Über Wunder“ greift diesen Gesichtspunkt auf.

Der eigentliche Grund, weshalb ich Athanasius hier erwähne, ist seine Auffassung von einer Weltharmonie, in der Metaphysik und Naturgeschehen untrennbar miteinander verbunden sind und in der Gott Ausgangspunkt und Ziel aller Erkenntnis ist: Das Wissen über die Welt und der Glaube an Gott sind untrennbar.

Dieses ganzheitliche Denken, in dem die Mathematik seit der erfolgreichen Kalenderreform von 1582 eine zunehmende Rolle  spielte, machte die Jesuiten zu den Lehrmeistern Europas und sorgte für eine Blütezeit der mathematischen Bildung. Die Jesuiten waren sozusagen die Rechthaber – und das ist durchaus anerkennend gemeint.

Klassik: Zeit des Zergliederns

Die Anfänge der neuen Mathematik des Unteilbaren liegen in Italien und sind mit den Namen Galileo Galilei (1564-1642), Bonaventura Cavalieri (1598-1647)  und Evangelista Torricelli (1608-1647) verbunden.

Unter dem Einfluss der Jesuiten kam diese Entwicklung der Mathematik in Italien zum Erliegen. Mit ihren Dogmen, in denen das Unteilbare nicht unterzubringen war, haben sie eine vielversprechende mathematische Entwicklung abgewürgt.  Die Weiterentwicklung verlagerte sich nach Norden und setzte erst nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, also in der Zeit der Klassik und des Barock, wieder ein: Isaac Newton (1643-1727)  und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) vollendeten das Programm des Unteilbaren ein dreiviertel Jahrhundert später und stellten diese Lehre auf eine mathematisch solide Grundlage. Sie schufen aus den Vorarbeiten der Italiener die Infinitesimalrechnung, ohne die wir keine Theorie des Elektromagnetismus und keine der Hydrodynamik hätten. Effiziente Turbinen und Motoren, Rundfunk, Telefonie, Flugzeuge oder Automobile wären außer Sichtweite. Es gäbe keine schlanken Brückenkonstruktionen und keine kühnen Hochhäuser. Andersherum gesehen: Unser ganzes modernes Leben ist durchdrungen von dieser neuen Mathematik. Mehr zu diesem Wandel des mathematischen Denkens bietet das Buch „Infinitesimal. How a Dangerous Mathematical Theory Shaped the Modern World“ von Amir Alexander (2014).

Das Denken der Antike musste an seine Grenzen stoßen. Die Infinitesimalrechnung passte nicht in das ganzheitliche System und so wurde eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Mathematik unterbunden. Der Fortschritt wurde erst möglich, nachdem die Knoten zwischen Macht, Glauben und Wissen wenn schon nicht gelöst so doch mindestens gelockert waren. Die von Michel Foucault in „Die Ordnung der Dinge“ (1966) als klassische Zeit bezeichnete Epoche ist die Zeit der Zergliederung, der Taxonomien und Tabellen. Typisch für dieses klassische Denken ist das Natursystem des Carl von Linné (1707-1778).

Und das sind einige der Stationen der Entstehung des zergliedernden Denkens: Martin Luther veröffentlicht 1517 seine 95 Thesen. Damit beginnt die Auflösung des Universalismus der katholischen Kirche. Die Welt des Glaubens zerfällt in Teile, ein äußerst schmerzhafter Prozess angesichts des Dreißigjährigen Krieges. Zu den wesentlichen Stationen der Entwicklung gehören der Augsburger Religionsfriede (1555) und der Westfälische Frieden (1648). Die Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz brechen sich Bahn.

Nathan der Weise und seine Ringparabel (1779) bringen uns den Wert der Toleranz in ergreifender Weise nahe (Gotthold Ephraim Lessing, 1729-1781).

Die wesentlichen Grundzüge dieses Denkens bestehen im Trennen, Ordnen und dem systematischen Vereinigen der Teile. Das strukturierte große Ganze steht nicht am Anfang der Erkenntnis, wie noch in der Antike, sondern an deren Ende.

Konkret wird das in der Vorgehensweise des Immanuel Kant (1724-1804): Er startet mit dem Zerlegen und Analysieren unserer Gedanken über die Welt – er nennt es Kritik. Er identifiziert als wesentliche Komponenten unseres Denkens das Wissen, das Sollen, also die Moral, und das Hoffen, also das Streben nach Glückseligkeit. Kant stellt uns klar getrennte Bereiche vor, für die er jeweils spezifische Herangehensweisen aufzeigt. Und schließlich ist er bestrebt, alles wieder zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufügen. Gott ist für Kant die regulative Idee, die genau das leistet. Heute würde man vielleicht andere regulative Ideen bevorzugen oder vielleicht ganz auf eine solche verzichten.

Im Gefolge der Französischen Revolution (1789-1799) finden Glaubens- und Gewissensfreiheit ihren Weg in die Verfassungen der USA und Frankreichs. Die Trennung von Staat und Kirche wird zum weithin akzeptierten Imperativ.

Moderne: Abgrenzung von Wissenschaft und Metaphysik

Das Trennen und Klassifizieren ist seither Ausgangspunkt aller Welterkenntnis. Eine Theorie der Welt muss mit dem Trennen anfangen, nicht mit dem Messen und Abwägen, schreibt die Anthropologin Mary Douglas in ihrem Büchlein „How Institutions Think“ (1986).

In der Moderne, besonders im 20. Jahrhundert, wird insbesondere die Notwendigkeit einer konsequenten Abgrenzung der Wissenschaft von der Metaphysik gesehen. Die Vorstellung einer ganzheitlichen Welterkenntnis wird endgültig zu den Akten gelegt. Karl Raimund Popper veröffentlicht das nach ihm benannte Abgrenzungskriterium in seinem Hauptwerk „Logik der Forschung“ (1934):  Prüfbarkeit und insbesondere die Falsifizierbarkeit zeichnen die wissenschaftlichen Aussagen aus. Unprüfbare Aussagen zum Weltgefüge zählen zur Metaphysik.

Der Wissenschaftler braucht sich fortan nicht mehr mit metaphysischen und mithin unentscheidbaren Fragen zum Sinn hinter allem und zum Wesen der Dinge herumzuplagen. Was er nicht prüfen kann, entzieht sich seinem Zugriff – und das stellt er ohne Bedauern fest. Seither kann sich der Wissenschaftler zermürbende zirkelhafte Diskussionen über Glaubensfragen ersparen.

Der Pseudoskeptiker fällt in das hermetische Denken zurück

Der Pseudoskeptizismus extremer Ausprägung ist ein Rückfall in vormodernes, hermetisches Denken: Der Naturalismus samt seiner metaphysischen Keine-Übernatur-Hypothese wird als unabdingbare Voraussetzung der Realwissenschaften betrachtet. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Metaphysik wird aufgehoben; wissenschaftliche Erkenntnisse werden zu Wahrheit erklärt. Die Gründe dafür halte ich für zentrale Argumentationsfehler des Naturalismus.

Das sind die Konsequenzen: Da Religionen mit dem Naturalismus unvereinbar sind, geraten sie in das Fadenkreuz der Pseudoskeptiker. Naturalistische Wahrheitsbesitzer treten gegen religiöse Wahrheitsbesitzer auf den Plan.

Heinz von Foerster beschreibt die Konsequenzen so: „Meine Auffassung ist in der Tat, dass die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet – man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition – Krieg. […] Ja – und auf einmal stehen die großen Armeen der Gläubigen einander gegenüber, sie knien nieder und beten beide zu ihrem Gott, dass die Wahrheit, dass ihre Wahrheit siegen möge. – Wer hat recht? […] Um diese Frage zu entscheiden wird geschlachtet und geschlachtet.“ (Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 1998)

Die Skeptikerbewegung spiegelt im Kleinen das wieder, was sich auch in der großen Politik zeigt: die Aufhebung der strukturierten Aufgliederung. Bei den Pseudoskeptikern ist es die erneute Unterordnung der Wissenschaft unter den Glauben („Es gibt keine Übernatur“).  In der Türkei wird die Trennung von Staat und Religion aufgehoben. Der Präsident der USA unterwirft die Wahrheit der Macht.

Natürlich kennt auch der Pseudoskeptiker die ruhmreiche wissenschaftliche Methode, von Karl Raimund Popper kritischer Rationalismus genannt. Er benutzt sie auch – allerdings vornehmlich zu Werbezwecken; sie gibt seinen Auftritten einen seriösen Anstrich. Hin und wieder erhascht man auch ein entsprechendes Bekenntnis eines Pseudoskeptikers (20.01.2017): Wenn man einem Journalisten sage, dass etwas nicht funktioniere, weil es nicht funktionieren könne oder weil es irgendwelchen Naturgesetzen widerspreche, dann klinge das schon etwas nach dogmatischer Neinsagerei. Wenn man allerdings sage, dass man schon zig Leute erfolglos getestet habe, dann sei das viel überzeugender. Dann breche auch der letzte Widerstand zusammen. Tests lohnten sich, auch wenn es eigentlich nicht mehr darum gehe, dabei tatsächlich etwas herauszufinden. Soweit die Auffassung dieses Verfechters des Naturalismus.

Skeptiker halten sich aus Glaubenskämpfen heraus

„Im Horror der religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts haben die europäischen Gesellschaften gelernt, dass es nicht allein auf das „Leben in Wahrheit“ ankommt, sondern auch auf das Leben in Frieden miteinander.“ Das schreibt Peter Strohschneider, der amtierende Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), als Mahnung vor den reaktionären Tendenzen in den USA und in Europa (Der Spiegel, 16/2017, S. 109).

Ein Rückfall in das hermetische Denken wird vom wahren Skeptiker vermieden. Er folgt der modernen Auffassung von den Erfahrungswissenschaften. Die Metaphysik bekümmert ihn nicht. Insbesondere die Religionen gehören nicht zu den vorrangigen Zielen seiner Kritik.

Diese Haltung wird ihm von der Kirche leicht gemacht: In seiner Botschaft „Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien“ erkennt Papst Johannes Paul II. die Rolle an, die die Evolutionstheorie in der heutigen Wissenschaft spielt (Vatikan, 22. Oktober 1996). Gleichzeitig beharrt er erwartungsgemäß auf der Vorstellung einer Leib-Seele-Trennung: „Der menschliche Körper hat seinen Ursprung in der belebten Materie, die vor ihm existiert. Die Geistseele hingegen ist unmittelbar von Gott geschaffen.“

Das heißt nicht, dass sich der Skeptiker die Kirchen- und Religionskritik gänzlich verkneifen muss. Er verzichtet jedoch auf metaphysische Argumente und auf abschätzige Bemerkungen à la „Albernheiten religiösen Glaubens“. Er sucht die Auseinandersetzung auf Augenhöhe.

Unstrittig ist, dass wissenschaftliche Geltungsansprüche, auch wenn sie von einer Religionsgemeinschaft kommen, prüfbar und damit der genauen Untersuchung durch Skeptiker zugänglich sind. Da die amerikanischen Ausprägungen des christlichen Glaubens, der Kreationismus und das Intelligent Design, mit Wissenschaftsanspruch auftreten, müssen sie sich die Kritik durch Skeptiker gefallen lassen. Eine solche habe ich vor Jahren abgeliefert: „Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution“.

Jedenfalls sollte sich der Skeptiker über die Ziele seiner Kritik im Klaren sein: Geht es um beobachtbare Effekte oder um Glaubensinhalte. Bezüglich der Glaubensinhalte plädiere ich für Toleranz und Pluralismus. Das vermeidet fruchtlose und zirkelhafte Debatten.

Das bedeutet nicht das Aus für eine sinnvoller Kirchenkritik. Die Gebote der Toleranz und des Pluralismus werfen durchaus rational behandelbare praktische Fragen auf: Wie steht es beispielsweise mit dem Gebot einer Trennung von Staat und Kirche? Was hat der Religionsunterricht an Schulen, was die Theologie an staatlichen Hochschulen zu suchen? Wie sind die Steuerungsgremien der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten besetzt? Warum nimmt das Finanzamt auch die Kirchensteuer entgegen? Und so weiter.

Aber das sind nicht die Themen der Skeptiker. Hier sind die Weltanschauungsgemeinschaften gefragt, z. B. der Humanistische Verband Deutschlands (HVD).

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Skeptizismus und Skeptikerbewegung

Vortragsankündigung

Angekündigt hatte die Würzburger Regionalgruppe der GWUP einen Vortrag mit dem Titel „Fragen an einen Skeptiker“ und lieferte einen Katalog möglicher Fragen gleich mit: „Wer sind diese Skeptiker? Seit wann gibt es sie? Was untersuchen sie? Mit welchen Methoden tun sie das? Wissen Skeptiker mehr? Handelt es sich um eine neue Religion? Woran glauben sie? Darf ein Skeptiker auch Kirchenmitglied sein? Was sind für Skeptiker eigentlich Parawissenschaften?“

Und weiter: „All diese Fragen kann man an einen der führenden Skeptiker stellen. Herzlich willkommen zu einem Abend mit Prof. Dr. Timm Grams.“ (Termin: 30.1.2017, 19.00 Uhr in der Gaststätte Herieden in Würzburg/Heidingsfeld.)

Ich dachte mir damals: Nach der Veranstaltung sollte den Besuchern klar sein, dass die Wendung „führender Skeptiker“ ein Oxymoron ist. Ein Skeptiker, der führt, macht etwas falsch! Ich beließ es bei dem Formulierungsvorschlag der Regionalgruppe in der Ahnung, dass er zur Überhitzung manch eines empfindsamen Gemüts führen würde. Nun zur Veranstaltung selbst.

Vor Beginn der Diskussion stellte ich den Denkrahmen der Veranstaltung vor, insbesondere meinen Zugang zum Thema über meine Beschäftigung mit Denkfallen. Daran schloss sich ein Exkurs über den Skeptizismus als Ausgangspunkt aller Philosophien der Erkenntnis an. Dem folgte ein Abriss der Geschichte der Skeptikerbwegungen in den USA und in Deutschland.

Im philosophischen Skeptizismus geht es um die Frage:

Fällt der Skeptiker aus der Wirklichkeit?

Bereits die Denkfallen zeigen, dass wir nicht alles für bare Münze nehmen dürfen: Unsere Wahrnehmungs- und Denkmechanismen sind zwar bewährt, in manche Situation aber verkehrt. Es kommt zu Täuschungen. Manches Sein entpuppt sich als Schein. Unsere Sicherheit schwindet und auf nichts scheint mehr Verlass zu sein. Das Bild von der Realität zerfließt und es stellt sich die Frage, ob es diese Realität, dieses von unserem Bewusstsein unabhängige Sein, das von Recht und Ordnung stabil zusammengehalten wird, überhaupt gibt. Das Einzige, was wir erkennen, sind die Erscheinungen, das was auf unsere Sinne trifft und unsere Erfahrung ausmacht.

Und genau das ist der erste Schritt, den wohl jeder gehen muss, der über die Frage nachdenkt, was wir wissen können. Er startet als Skeptiker, genauer: als Außenweltskeptiker. Das war bei Platon so, bei Descartes, bei Kant, bei Hilary Putnam und vielen anderen. Man beachte, dass in diesem Begriff des Skeptikers bereits eine leichte Bedeutungsverschiebung steckt: Eigentlich bedeutet das aus dem Griechischen stammende Wort soviel wie „genaue Untersuchung“, die natürlich mit Zweifel einhergehen kann. Heute versteht man unter Skepsis den systematischen Zweifel.

Im Laufe der Zeit wurde eine ganze Reihe von skeptischen Szenarien formuliert. Heute findet man diese im  Film wieder. Das Gehirne-im-Tank-Szenario (Hilary Putnam) wurde in den Matrix-Filmen der Wachowski-Geschwister, in „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder, in „The 13th Floor“ von Roland Emmerich, in „Open your eyes“ und „Vanilla Sky“ (beide mit Penelope Cruz) künstlerisch umgesetzt. Das Traum-Szenario (Platon, Descartes) begegnet uns in den Filmen „Inception“ (mit Leonardo di Caprio) und in „A beautiful mind“ (mit Russell Crowe).

Immer geht es darum, dass wir die uns im Traum oder von einem Computer vorgespiegelte Wirklichkeit nicht von der „wirklichen Wirklichkeit“ unterscheiden können – falls es letztere überhaupt gibt. Diese Szenarien sind unwiderlegbar. Wir landen im „Abgrund des Skeptizismus“ (Immanuel Kant). Für den Skeptiker ist die Vorstellung einer bewusstseinsunabhängigen Realität das unbegreifliche Jenseits. Davon wendet er sich ab.

Und über die Jahrhunderte stellten sich Philosophen immer wieder die Frage, wie man diesem „Abgrund des Skeptizismus“ am besten entkommen könne.

Descartes hatte für sich einen Ausweg gefunden.  Er meinte, „dass die Dinge, welche wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, alle wahr sind, aber dass allein darin einige Schwierigkeit liege, wohl zu bemerken, welches die Dinge sind, die wir deutlich begreifen.“ (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, viertes Kapitel, 1637). Er sah es als erwiesen an, dass „es vollkommener sei, zu erkennen als zu zweifeln“. Er schreibt: „Denn vor allem ist selbst jener Satz, den ich eben zur Regel genommen habe, dass nämlich alle Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, wahr sind, nur deshalb sicher, weil Gott ist oder existiert und weil er ein vollkommenes Wesen ist und alles in uns von ihm herrührt.“ Ich sage es etwas flapsig: Es muss einen Gott geben, der uns – dank seiner Vollkommenheit – nicht hinters Licht führen kann.

Für den Skeptiker gibt es andere Auswege. Er findet vielleicht Trost bei Immanuel Kant, für den die Welt der Erscheinungen selbst bereits die Realität bildet. Kant wendet sein Denken ganz dem Diesseits zu und formuliert den empirischen Realismus, also den allein auf Erfahrung basierenden Realismus.

Wir wollen diese veränderte Bedeutung des Wortes Realismus gleich wieder vergessen und bleiben bei der Gleichsetzung von Realität und Jenseits. Der Gedanke von Kant erscheint in modernisierter Version in Karl Raimund Poppers Logik der Forschung, der er später den Namen kritischer Rationalismus verpasste. Der kritische Rationalismus ist vollkommen dem Diesseits zugewandt und er kommt ohne die Vorstellung einer Realität aus. Er bildet die methodische Basis aller Erfahrungswissenschaft: Kühne Vermutungen über die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen sind die rationale Seite, und die Prüfung dieser Theorien anhand der Fakten die kritische. Wissenschaftliche Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie prinzipiell widerlegt werden können. Mit diesem Kriterium der Falsifizierbarkeit grenzt Popper die Wissenschaft von der Metaphysik ab.

Wir haben also eine Methode für den Wissenserwerb. Dieses Wissen ist objektiv in dem Sinne, dass es intersubjektiv überprüfbar ist. Wir haben die tröstliche Einsicht gewonnen, dass der Skeptiker vielleicht  aus der Wirklichkeit fällt, aber dass er sich in seinem Diesseits sehr gut zurechtfinden kann.

Das moderne skeptische Denken ist wissenschaftsorientiert; es bewegt sich vollständig im Rahmen der oberen Hälfte der folgenden Tabelle. Ein gutes Anwendungsbeispiel für skeptisches Denken, das es erlaubt Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu trennen, bietet die Homöopathie.

Darüber hinaus möchte manch ein Skeptiker mehr Halt, auch sucht er nach einer Verbindung des Alltagsrealismus mit seiner Denkwelt: Wir sagen ja nicht: „Diese Erscheinung, der wir alle den Namen Tasse geben, enthält eine Erscheinung, die wir Tee nennen.“ Wir sagen: „Das ist eine Tasse Tee.“

Dieser Skeptiker – nicht jeder Skeptiker braucht das – erhält Halt durch Karl Raimund Popper, den wohl ein ähnliches Unbehagen mit der Realitätslosigkeit beschlichen hat. Er führt ein regulatives Prinzip ein, nämlich die Vorstellung einer Realität, an die sich der Forscher mit seinen Theorien immer stärker annähert. Dabei bleibt bei Popper offen, wie diese Realität aussieht und wie nah man bereits an ihr dran ist.

Diese Realitätsannahme erlaubte es, von einer Annäherung an die Wahrheit zu sprechen und von relativer Wahrheitsnähe. Diese Annäherung an die Wahrheit – ich habe sie durch mein Stöckchen-Beispiel veranschaulicht – entspricht genau dem Erkenntnisfortschritt, den Popper bereits in seinem kritischen Rationalismus beschrieben hat und der sich auch ohne Realitätsannahme genau fassen lässt.

Da sich die Realitätsannahme nicht prüfen lässt, gehört sie in das Reich der Metaphysik. Die Realität bleibt wesentlich unbestimmt. Der schwache Realismus Poppers erhält in der folgenden Tabelle ein Sternchen (*). Es steht für einen schwachen Anteil an Metaphysik.

Manch ein Skeptiker sucht nach mehr Gewissheit. Ihm steht der wissenschaftliche Realismus (Scientific Realism) des Hilary Putnam zur Verfügung. Er geht davon aus, dass sich die Wahrheit wenigstens approximativ bestimmen lässt. Und er behauptet, dass sich auch ein Maß für die Wahrheitsnähe finden lasse. Die Vorstellung, dass sich die Wahrheitsnähe an der Natur ablesen lässt, ist eine weitere metaphysische Hypothese. So etwas hat eine Art Offenbarung zur Voraussetzung. Deshalb: zwei Sternchen für diesen starken Realismus.

Noch weiter geht der Naturalismus. Er behauptet, dass es eine reale Welt gibt und dass diese auch – zumindest partiell – erkannt werden kann. Und er setzt auf das „Keine-Übernatur-Prinzip“: Die Welt ist kausal geschlossen und es gibt keine Wechselwirkung mit einer Übernatur. Das sind weitere metaphysische Hypothesen, sie sind drei Sternchen wert.

Die Tabelle ist analog zu den russischen Puppen-in-Puppen aufgebaut: Im Innersten steckt der Skeptizismus. Darüber kommen Kants und darauf Poppers Erkenntnissystem. Auch die Glaubenssysteme sind additiv zu sehen: Der Naturalismus impliziert den starken, und dieser wiederum den schwachen Realismus. Aber für alle bildet der kritische Rationalismus des Karl Raimund Popper die Basis. Deshalb stehen bei allen dieser Denksysteme in der letzten Spalte als Methode die kritische Prüfung und das Abgrenzungskriterium der Falsifizierbarkeit. Der Erwerb von Wissen wird immer darauf zurückgreifen.

Der Meinungsaustausch über Glaubensangelegenheiten bringt demgegenüber keinen Erkenntnisgewinn: Dort stehen unprüfbare Aussagen gegen andere, ebenfalls unprüfbare Aussagen. Zirkuläre Diskussionen sind die Folge.

Die Skeptikerbewegung

Die Skeptikerbewegung, die vor etwa 40 Jahren in den USA entstanden ist, bewegt sich gedanklich in dem von mir aufgezeigten Raster. Das Committee for Skeptical Inquiry (CSI) wurde 1976 – damals noch unter dem Kürzel CSICOP – gegründet mit der Zwecksetzung, einer unkritischen Akzeptanz und Verbreitung paranormaler Behauptungen entgegenzuwirken und zum kritischen und wissenschaftlichen Denken zu ermutigen. Die deutsche Skeptikerbewegung, organisiert in der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), entstand etwa ein Jahrzehnt später, nämlich 1987.

Bereits in der Gründungsphase kam es zu einem bemerkenswerten Konflikt. Er zieht sich durch die gesamte Geschichte dieser Bewegung, in deren Verlauf es immer wieder zu Zerwürfnissen und spektakulären Austritten kam. Trotzdem blieb die Bewegung über die Zeit gesehen ziemlich stabil.

Damals ging es um eine Stellungnahme gegen die Astrologie. Diese „Objections to Astrology“ von 1975 wurden von 186 führenden Wissenschaftlern unterschrieben. Die konfliktträchtigen einleitenden Sätze dieser Erklärung sind die Folgenden: “Scientists in a variety of fields have become concerned about the increased acceptance of astrology in many parts of the world. We, the undersigned – astronomers, astrophysicists, and scientists in other fields – wish to caution the public against the unquestioning acceptance of the predictions and advice given privately and publicly by astrologers. Those who wish to believe in astrology should realize that there is no scientific foundation for its tenets.

In ancient times people believed in the predictions and advice of astrologers because astrology was part and parcel of their magical world view. They looked upon celestial objects as abodes or omens of the gods and, thus, intimately connected with events here on earth; they had no concept of the vast distances from the earth to the planets and stars. Now that these distances can and have been calculated, we can see how infinitesimally small are the gravitational and other effects produced by the distant planets and the far more distant stars. It is simply a mistake to imagine that the forces exerted by stars and planets at the moment of birth can in any way shape our futures.”

Die treibende Kraft hinter dieser Erklärung war Paul Kurtz, der bald darauf mit Gründung des Skeptikerkomitees auch dessen Vorsitz übernahm. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben ihm James Randi, Marcello Truzzi, Ray Hyman, Martin Gardner, Carl Sagan, Isaac Asimov. Weitere Wissenschaftler von Rang und Namen waren dabei.

Der berühmte Philosoph Paul Feyerabend („Anything goes“) monierte bereits den ersten Satz der Erklärung und verglich ihn mit der Einleitung zum Hexenhammer, einem berüchtigten Machwerk, das Kirchenleute über Hexerei informieren sollte: “The book has an introduction, a bull by Pope Innocent VIII, issued in 1484. The bull reads ‚It has indeed come to our ears, not without afflicting us with bitter sorrow, that in …‘ – and now comes the long list of countries and counties – ‚many persons of both sexes, unmindful of their own salvation have strayed from the Catholic Faith and have abandoned themselves to devils… ‚ and so on.”

Carl Sagan verweigerte die Unterschrift unter die Stellungnahme, weil er ihren Ton für autoritär hielt und er schreibt über seine damaligen Beweggründe: „Die Frage ist doch nicht, aus welchen unsicheren und rudimentären Wissensquellen die Astrologie stammt, sondern worin ihre gegenwärtige Gültigkeit besteht.“ Weiter meint Sagan: Dass wir uns keinen Mechanismus vorstellen können nach dem die Astrologie funktionieren könnte, sei sicher ein wichtiger Punkt, aber an sich noch kein überzeugendes Argument („Der Drache in meiner Garage“, Kapitel 17. Original: The Demon-Haunted World, 1996).

Ich erinnere daran, dass Isaac Newton einst auch auf dem Feld der Alchemie gearbeitet hat und daran, dass das heliozentrische Weltsystem, wie Karl Raimund Popper im 8. Kapitel seiner Vermutungen und Widerlegungen „Über die Stellung der Erfahrungswissenschaft und der Metaphysik“ schreibt, religiös-neuplatonische Wurzeln hat.

Ein Skeptiker der ersten Stunde, Marcello Truzzi, kennzeichnet die von Sagan angeprangerte Art des Skeptizismus so (1987): „Weil sich der Begriff ‚Skeptizismus‘ korrekterweise auf den Zweifel und nicht auf eine Verneinung (also einen Unglauben anstelle eines Glaubens) bezieht, sind Kritiker, die statt einer agnostischen eine negative Haltung einnehmen und sich trotzdem ‚Skeptiker‘ nennen, in Wirklichkeit Pseudoskeptiker.“

Der Naturalist, der seinen (Nicht-)Glauben in dieser Weise gegen die Homöopathie beispielsweise in Stellung bringt, ist ein solcher Pseudoskeptiker. Er pflegt eine Art „Skeptizismus für Faulpelze und Dummköpfe“: Anstatt sich in die Niederungen der wissenschaftlichen Arbeit zu begeben und sich mit Testplanung, Testauswertung und der Interpretation von statistischen Kennzahlen zu quälen, führt er einfach seinen Glaubenssatz „Es gibt keine Übernatur“ gegen die ebenfalls metaphysischen Begründungen der Homöopathieanhänger ins Feld. Das Beharren der Homöopathen auf „geistartige Kräfte“ steht dann der ebenfalls metaphysischen Aussage gegenüber, dass solche Kräfte zur Übernatur zu rechnen seien und dass es eine solche nicht geben könne.

Der Skeptiker muss nicht Naturalist sein. Aber nach meiner Kenntnis sehen sich wohl die meisten Skeptiker, die über derartige Grundlagen nachdenken, als Realisten oder Naturalisten. Aber in der praktischen Arbeit merkt man davon im besten Falle nichts.  Ein gutes Beispiel ist der Psi-Test der GWUP, der seit einiger Zeit jährlich in Würzburg durchgeführt wird (skeptiker 3/2016, S. 125-129).

Zu diesen Tests mit Aussicht auf ein Preisgeld können sich Personen melden, die sich für Psi-begabt halten: Wünschelrutengänger, Wahrsager usw. Im vergangenen Jahr war unter den Kandidaten eine Homöopathin, die angab, Verunreinigung in Pflanzenerde erkennen zu können.

Die Versuchsleiter sind bekennende Naturalisten. Aber Metaphysisches wurde ausschließlich seitens der Kandidatin geäußert: Sie führt ihre Fähigkeit darauf zurück, dass sie ihre Informationen im Dialog mit „Besserwissern“ aus einer anderen Welt erfahren könne und dass sich richtige Antworten dadurch bemerkbar machten, dass es „wie Wellen durch meinen Körper“ gehe.

Davon geben sich die Versuchsleiter ziemlich unbeeindruckt und sie schreiten zur wissenschaftlichen Tat. Sie füllen zehn Petrischalen mit Blumenerde, in einer davon ist – für die Kandidatin unsichtbar – kontaminierte Erde. Die Kandidatin muss nun ihre Fähigkeit nachweisen, indem sie die Schale mit kontaminierter Erde herausfindet. Das wird dreizehn Mal gemacht. Schließlich hat die Kandidatin zwei Treffer zu verzeichnen, was sich sehr gut mit der Annahme verträgt, dass es ein Zufallsergebnis ist und dass sich ihre Psi-Fähigkeit zumindest hier nicht gezeigt hat.

Die Versuchsleiter belassen es bei dieser Mitteilung und überlassen es der Kandidatin, mit ihren „Besserwissern aus der anderen Welt“ zu hadern. So funktioniert guter Skeptizismus.

Beantwortung der Fragen und Diskussion

Wer sind diese Skeptiker? Jeder, der sich das kritische Hinterfragen zur Regel macht, insbesondere die Anhänger der Skeptikerbewegungen.

Seit wann gibt es sie? In den USA seit 1976 und in Deutschland, Österreich und Schweiz seit 1987.

Was untersuchen sie? Außergewöhnliche Ansprüche, die mit der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis unvereinbar scheinen.

Mit welchen Methoden tun sie das? Sie führen den Stand der Wissenschaft ins Feld; sie schauen nach, ob es bereits qualifizierte Testberichte zum Thema gibt und sie führen selbst Tests auf wissenschaftlicher Grundlage durch.

Wissen Skeptiker mehr? Besserwisserei ist dem Skeptiker fremd. (Beim Pseudoskeptiker bin ich mir da nicht so sicher.) Zu bevorzugen ist der dialogische Prozess der Erkenntnisgewinnung, wie das auf dem Feld der Wissenschaft üblich ist.

Handelt es sich um eine neue Religion? Auch wenn viele Skeptiker dem Glauben an den Naturalismus anhängen, ist diese „Religion“ nicht verbindlich. Solange man sich auf die wissenschaftliche Arbeitsweise verständigen kann, ist Pluralismus angesagt: Gottgläubige, Naturalisten, Agnostiker usw. – alle finden hier eine geistige Ankerstelle.

Woran glauben sie? An alles Mögliche, mancher auch an nichts oder fast nichts. Der Glaube setzt auf Behauptungen. Der Skeptiker hingegen setzt auf den Zweifel. Der gläubige Skeptiker gibt seinen Glauben an der Tür zum Labor ab. Dann geht es nur noch darum, Sachverhalte zu prüfen und nicht deren jenseitige Ursachen.

Darf ein Skeptiker auch Kirchenmitglied sein? Ein prominentes Gründungsmitglied der amerikanischen Skeptiker, Martin Gardner, hat sich zum Glauben an Gott bekannt, was ja bekanntlich mit dem Naturalismus unverträglich ist. Auch ein Kirchenmitglied kann Skeptiker sein.

Was sind für Skeptiker eigentlich Parawissenschaften? Alles, was sich als Wissenschaft ausgibt und diesen Anspruch nicht oder möglicherweise nicht einlösen kann.

In der Diskussion sprach ein Naturalist die Frage an, ob die „Keine-Übernatur-Hypothese“ nicht vielleicht doch falsifizierbar sei. Er meinte, wenn sich über ihm die Wolken auftäten und zwischen ihnen ein Bild Gottes (was auch immer er sich darunter vorstellt) erschiene, dann könne ihn das in seiner Ansicht schwanken lassen. Ich frage mich: warum eigentlich? Diese Erscheinung hat für ihn ja nur widerlegt, dass es nicht passieren könne, dass sich die Wolken teilen und zwischen ihnen ein Gottesbild erscheint. Weitergehende Schlüsse hinsichtlich einer Übernatur lässt die Beobachtung nicht zu. So lässt sich die Keine-Übernatur-Hypothese jedenfalls nicht widerlegen. Soweit ich sehen kann, entgeht sie unter allen Umständen der Falsifizierung. Sie ist nicht wissenschaftlich.

Nachtrag vom 11. Juni 2018

Der etwas skurrile Feodor-Text Skepsis, Wissenschaft und Skeptikerbewegung ist offenbar eine Replik auf den vorstehenden Artikel.

Was der Feodor-Text soll und inwieweit er sein Ziel erreicht, möge jeder Leser selbst herausfinden. Ich bin über sonderbare Begriffsbestimmungen gestolpert und habe mich über ein paar waghalsige Schlussfolgerungen gewundert. Mit den folgenden Bemerkungen habe ich versucht, das Ganze für mich in Reih und Glied zu bringen.

Die antike Skepsis verneint die Möglichkeit einer zureichenden Begründung („Letztbegründung“). Diese Auffassung ist ziemlich modern und prägt auch die heutige Wissenschaft.

Urteilsenthaltung ist keineswegs eine Konsequenz dieser Ansicht. Die antike Skepsis zeigt sogar, dass die Empfehlung einer universalen Urteilsenthaltung paradox ist (Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis, 2008, S.83 ff.).

Normale Wissenschaft unterliegt dem Wandel. Das Anomale steht definitionsgemäß im Widerspruch zur Normal-Wissenschaft. Folglich unterliegt auch die Auffassung vom Anomalen dem Wandel. Genau die Anomalien sind es nämlich, die den Fortschritt der Wissenschaft bewirken (Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. IX. Das Wesen und die Notwendigkeit wissenschaftlicher Revolutionen):

Wenn eine existierende Theorie den Wissenschaftler nur in Bezug auf existierende Anwendungen bindet, dann kann es keine Überraschungen, Anomalien oder Krisen geben. Aber gerade dies sind die Wegweiser, die den Pfad zur außerordentlichen Wissenschaft zeigen.

Ich halte es für einen Fehler, den wissenschaftlichen Skeptizismus über die normale Wissenschaft definieren zu wollen. Das wäre letztlich dogmatisch und dann doch wieder eine Art zureichende Begründung. Thomas Kuhn hat eine solche statische Auffassung von Wissenschaft jedenfalls nicht gemeint.

Die streng agnostische Annahme (am 12.6.18 umbenannt in streng skeptische Annahme) ist ein Popanz: Der Agnostiker enthält sich eines Urteils in Angelegenheiten der Metaphysik und nicht notwendigerweise auch im Allgemeinen. Der Skeptiker — meist in Personalunion — tut es ihm gleich.

Psi meint etwas Übernatürliches und wird beispielsweise der Gedankenübertragung und der Wünschelrutengängerei zugeschrieben. Das aber sind keine Anomalien. Diese Effekte verschwinden beim näheren Hinsehen. Und wo kein Effekt, da keine Anomalie. Für derartige effektfreie Bemühungen gibt es eine gut definierte Sammelbezeichnung: Pseudowissenschaft (oder Anwartschaft darauf).

Psi gehört ins Reich der Metaphysik und ist daher kein Thema für den Agnostiker. Folglich sind auch alle Gedankenspiele, in denen Psi vorkommt, für den Agnostiker sinnlos. Dasselbe gilt auch für den Skeptiker, denn der übt Urteilsenthaltung zwar nicht allgemein, jedoch in Angelegenheiten der Metaphysik und des Glaubens. Insofern ist er auch Agnostiker.

Nachtrag vom 2.8.2020

Aktuelle Hoppla!-Artikel zum Thema sind

Siebtes Intermezzo: Der Skeptiker in seiner Welt

Pseudoskeptiker

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Der Realist und seine Echokammer

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners
Heinz von Foerster

Ins Fadenkreuz eines missionierenden Realisten geraten sind „Instrumentalisten, die auf Logik bestehen und bei anderen, vor allem bei Realisten, gar Denkfehler diagnostizieren wollen“  und die damit lediglich ihr Elend der philosophischen Inkonsequenz demonstrieren würden (skeptiker 4/2016 (S. 176). Dahinter steckt die Ansicht, dass die Wahrheit kennen müsse, wer einen Denkfehler feststellen will. Der Realist traut sich das zu. Dem Instrumentalisten spricht er diese Fähigkeit ab.

Obwohl ungenannt gilt der Angriff auf „das Elend des Instrumentalismus“ ganz offensichtlich meinem Buch „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“, insbesondere dem 9. Kapitel „Um Wahrheit geht es nicht“.

Gern würde ich den Ausführungen dieses Realisten direkt entgegnen. Aber der hat sich in seine Echokammer eingeschlossen: Leserbriefe an den skeptiker werden allein mit der Begründung, dass man nicht zustimmen könne, abgewiesen. Das einschlägige Internetforum lässt Kommentare eines ernsthaften Kritikers nicht zu. Da ein Diskurs unterbunden ist, kann unser Realist seine Rede und den Beifall seiner Anhänger ungeschmälert genießen.

Die Fehldeutungen, die Rabulistik und die Manipulationsversuche kann ich so jedoch nicht stehen lassen. Eine Replik ist unvermeidbar – dann eben auf dem Umweg über dieses Hoppla!-Blog.

Was ist ein Instrumentalist?

Ein Instrumentalist ist einer, für den die Naturgesetze nichts weiter als Werkzeuge sind, die in einem gewissen Weltausschnitt ihren Dienst tun wie beispielsweise die Newtonschen Gesetze im Maschinenbau. Ingenieure sind demnach Instrumentalisten: Der Ingenieur benutzt weiter die newtonsche Formel „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“, obwohl er weiß, dass er im allgemeinen Fall relativistisch in Sinne Einsteins rechnen sollte.

Aber auch ein „Skeptiker“ aus der Echokammer ist ein Instrumentalist in diesem Sinne, wenn er von unwandelbaren Naturgesetzen  spricht und damit meint, dass viele Naturgesetze  in gewissen Grenzen nach wie vor gültig bleiben, selbst wenn sie durch genauere, weiterreichende übertrumpft werden.

Karl Raimund Popper meint, dass dem Instrumentalisten das Streben nach Erkenntnis – der Entdeckergeist also – fehle (Vermutungen und Widerlegungen, 1963/1994, Kapitel 3). Er stellt dem Instrumentalisten den wahrheitsliebenden Realisten gegenüber. Dabei meint er eine sehr milde Form des Realismus, denn er spricht nur von einer Annäherung an die Wahrheit und vermeidet konsequent Aussagen über die Güte der Annäherung im Sinne einer partiellen oder approximativen Wahrheit. Wenn man genau hinsieht, kann man seine Wendung von der Annäherung an die Wahrheit verlustfrei ersetzen durch den Begriff des Erkenntnisfortschritts. Er braucht den Begriff der Realität (Wirklichkeit) für seine Logik der Forschung, den kritischen Rationalismus, eigentlich nicht und er sagt das auch selbst: „Die Idee der Wahrheit und insbesondere auch die der Annäherung an die Wahrheit, spielt in der Logik der Forschung eine wichtige Rolle, obwohl die in diesem Buch entwickelte Theorie an keiner Stelle von dieser Idee abhängt“ (Anhang *XV. Über Wahrheitsnähe).

Glaube und Wohlgefühl

Die poppersche milde Form des Realismus ist zwar unnötig, aber auch – aus meiner Sicht jedenfalls – unschädlich: Der Realismus bleibt bescheiden und vermeidet Rechthaberei. Über den missionierenden Realisten lässt sich das nicht sagen.

Wofür braucht Popper den Realitätsbegriff? Ich habe da eine Vermutung: Der Glaube an eine wie auch immer ausgeprägte bewusstseinsunabhängige Realität erleichtert das Formulieren. Wir alle sind Realisten des Alltags. Eine Übertragung der Alltagssprache in die Welt der Wissenschaft vermeidet sprachliche Brüche und Umständlichkeiten. Das dient dem Wohlgefühl und der Eleganz. Es ist wie bei den traditionellen chinesischen Kampfkünsten: Bildhafte Vorstellungen wie „das Chi in die eigene Faust fließen zu lassen“, könne korrekte Ausführungen bestimmter Bewegungen durchaus erleichtern, meint Holm Hümmler in seinem Artikel über „Das Geheimnis des Kung Fu“ (skeptiker 3/2006, 112).

Kurz gesagt: Gegen den Realismus in milder Form spricht nichts. Aber es gibt alternative und ebenso harmlose Vorstellungen, die dem Gläubigen von Nutzen sein mögen. Ich plädiere für einen Pluralismus der Weltanschauungen, weil dieser das Leben unserer modernen Gesellschaften in Bewegung hält und dem Fortschritt dient.

Worum geht’s bei „Klüger irren“?

Mir geht es nicht vorrangig um die Philosophien der Leute. In meinem Buch stelle ich ins Zentrum die Aussage, dass wir alle mehrere Spiele spielen: Wissenschaft, Mathematik, Esoterik, Gottglauben, … Und für diese Spiele gelten Regeln. Wer meint, sich an die Regeln zu halten und dabei in die Irre geht, der ist womöglich in eine Denkfalle geraten: Wer auf die Müller-Lyer-Täuschung oder die sandersche Figur hereinfällt, hat eben im Spiel der Geometrie daneben gelegen. So etwas kann man durchaus als Fehler ansehen, ohne dabei gleich die ewig gültigen Wahrheiten ins Spiel zu bringen. Fehler sind Abweichungen von der Norm, nichts weiter. Da ist kein Tiefsinn dahinter und auch keine „Korrespondenztheorie der Wahrheit“, wie die Philosophen sich auszudrücken pflegen. Wobei ich dem Fehler bei der Weiterentwicklung von Normen eine tragende Rolle zubillige.

Der Angriff des missionierenden Realisten verfehlt folglich sein Ziel:  Ich bin nicht im „Elend der philosophischen Inkonsequenz“ gelandet. Die Fähigkeit der Fehlervermeidung, wie ich sie voranzubringen versuche, steht im Dienste des Erkenntnisfortschritts. Um Wahrheit geht es nicht.

Detaillierte Erwiderung des skeptiker-Aufsatzes

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Scientabilität – ein überflüssiger Begriff?

In einem Interview zu seinem Buch „Die Homöopathie-Lüge“ im skeptiker 4/2012, S. 181-185, erklärt Christian Weymayr den von ihm vorgeschlagenen Begriff der Scientabilität am Beispiel der  Homöopathie: „Homöopathische Arzneimittel sind ‚nicht scientabel‘, also nicht mit den üblichen Werkzeugen der evidenzbasierten Medizin greif- und erforschbar, weil sie Naturgesetzen widersprechen. Allein schon deswegen ist ihre Untersuchung von vorneherein sinnlos und die Methodik der Evidenz-basierten Medizin nicht anwendbar.“

Und weiter: „Bevor es an klinische Studien geht, sollte man erst einmal fragen, ob das behauptete Verfahren im Einklang mit den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaften steht. Ist das nicht der Fall, sollte es keine klinische Untersuchung geben, weil die Ergebnisse irrelevant sind. Damit wird sichergestellt, dass positive Ergebnisse, die zum Beispiel auf dem Hidden Bias oder auch nur auf Zufall beruhen, nicht missbraucht werden können.“

Am 20. April 2013 mische ich mich als „Till“ in die laufende Diskussion ein:

Christian Weymayr behauptet, „dass alle klinischen Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel irrelevant sind“, wo doch das Credo der Skeptiker ist, dass allein die Prüfung entscheidet, was Wissenschaft ist und was Pseudowissenschaft oder Metaphysik. Als neues Abgrenzungskriterium schlägt er demgegenüber „Scientabilität“ vor. – Mit Neologismen hat bereits Martin Heidegger die Welt genervt. Aber es ist nicht nur die phantasievolle Wortwahl, die mich stört. Es ist die Absicht, die dahinter steckt.

Nach Weymayrs Ansicht sind homöopathische Arzneimittel „nicht scientabel“. Er meint damit, dass eine Überprüfung der Wirksamkeit dieser Mittel entbehrlich ist, da das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht und folglich ganz offensichtlich Quatsch ist.

Die „gesicherte Erkenntnis“ – was immer das sein mag – scheidet nach dieser Ansicht in absoluter Weise Sinn von Unsinn. Für mich ist das ein Dogmatismus, der dem Skeptiker eigentlich fremd sein sollte. Schauen wir uns die Konsequenzen von Weymayrs Abgrenzungskriterium an einem uns allen wohlbekannten historischen Beispiel einmal an: Von der Antike bis in die Neuzeit galt das ptolemäische Weltbild als „gesicherte Erkenntnis“. Kopernikus‘ Hypothese war folglich „nicht scientabel“, eine Überprüfung entbehrlich. Gut, dass sich Galileo Galilei nicht daran gehalten hat.

„Scientabilität“ als Abgrenzungskriterium verhindert, zu Ende gedacht, jeglichen wissenschaftlichen Fortschritt. Ich halte den Begriff bereits aus forschungslogischen Gründen für unhaltbar. Dabei ist mir klar, dass der Irrtum der hässliche Bruder der Erkenntnis ist. Prüfungen sind fehlerträchtig und es kann immer wieder einmal zur Bestätigung von Humbug kommen. Damit müssen wir leben.

Die Einlassungen von Amardeo Sarma zum Thema leuchten mir ein. Er sieht „drei Prozesse, die für wissenschaftliches Vorgehen relevant sind: Aussagen und Behauptungen müssen erst einmal verstanden und auf ihre innere Konsistenz geprüft werden. Danach sollte zweitens geklärt werden, wie sich eine Aussage mit bestehendem, verlässlichem Wissen verhält. Das ist eine Plausibilitätsprüfung. Drittens sollte eine allgemeine Behauptung getestet oder ein bestimmtes Phänomen, zum Beispiel eine Spukbehauptung, recherchiert werden.“

Der Skeptiker arbeitet mit Logik, wendet wissenschaftliche Erkenntnisse an, wohl wissend, dass auch diese kein endgültiges Wissen darstellen – und er prüft. Da ist nicht die Rede davon, dass man sich die Prüfung schenken kann, wenn etwas als nicht plausibel erscheint. Es existiert kein Filter, der das Untersuchenswerte vom –unwerten trennt.

Der Skeptiker wird angreifbar, wenn er Dogmen verkündet und Selbstgewissheit ausstrahlt. Er sollte besser Widersprüche aufzeigen, Fragen aufwerfen und zum Selberdenken anregen. Das Finden von Antworten kann er dem Adressaten überlassen. Ein gebildeter Mensch wird sich schon selbst darüber klar werden, welchen Hypothesen er eher vertrauen will: denen der weithin akzeptierten Wissenschaft oder denen der Scharlatane und Beutelschneider.

Wir sollten dort ansetzen, wo wir etwas bewirken können, bei der Jugend und in der Bildung. Kritisches Denken gehört auf den Lehrplan. Mathematik und empirische Wissenschaften müssen in der Gesellschaft wieder zu höherem Ansehen kommen. Demgegenüber hat es kaum Sinn, sich mit eingefleischten Anhängern einer Pseudowissenschaft herumzustreiten. Aus diesem Grunde halte ich jedes weitere Buch zur Homöopathie für vergebene Liebesmüh.

Christian Weymayr antwortet (22.4.2013):

Ich habe den Begriff “Scientabilität” vorgeschlagen, weil es manchmal praktisch ist, einen Namen für etwas zu haben.

Natürlich muss die Prüfung entscheiden, ob etwas wirkt. Ich fordere allerdings, dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss. So heißt es im Methodenpapier des IQWiG, dass für dramatische Effekte klinische Studien unnötig sind, für die üblichen medizinischen Fragen sind klinische Studien notwendig, und ich ergänze:

Für angebliche Effekte, die Naturgesetze über den Haufen werfen, sind klinische Studien irrelevant.

Man braucht für sie eine Prüfmethode, die ähnlich fehlerrobust ist wie die gesicherte Erkenntnis (weil theoretisch plausibel und praktisch bislang widerspruchsfrei), die der angebliche Effekt in Frage stellt. Eine klinische Studie ist dagegen durchaus fehleranfällig.

Ich nenne es das EbM-Paradoxon, dass man sich einerseits der Fehlanfälligkeit klinischer Studien bewusst ist, und sie andererseits für aussagekräftig genug hält, um Naturgesetze zu bestätigen oder zu widerlegen.

Ich sage also nicht, dass die Überprüfung der Wirksamkeit homöopathischer Arzneien entbehrlich ist, sondern dass klinische Studien dafür ebenso wenig geeignet sind, wie eine handelsübliche Stoppuhr zur Überprüfung der Lichtgeschwindigkeit, oder eine Fotografie zur Überprüfung der Existenz von Einhörnern.

Eine verbreitete These ist noch keine gesicherte Erkenntnis.

Aber wenn noch niemals etwas Geistartiges nachgewiesen wurde, und wenn so etwas wie eine geistartige Heilkraft auch den Gesetzen der Physik und Chemie widerspricht, sehe ich es eine gesicherte Erkenntnis an, dass es solche Heilkräfte nicht gibt. Auch das mag in Ihren Augen ebenso sehr nur eine These sein wie die Behauptung, dass Sie gerade in einen Computermonitor schauen, aber das sind Gedankenspiele und theoretische Überlegungen, die mit der sehr konkreten Frage, ob Kochsalz C30 im realen Leben Haarausfall stoppen kann, nichts zu tun haben.

Dass mein Buch vergebene Liebesmüh ist, stimmt natürlich.

Meine Replik vom selben Tag:

Dass EbM-Prüfmethoden vergleichsweise unscharf sind, gehört zum Geschäft; das trifft aber nicht ganz den Punkt.

Es geht um das Objekt der Prüfung, nämlich um die von der Homöopathie behaupteten messbaren Zusammenhänge einerseits (Heilwirkung durch Globulikonsum) und um Modellvorstellungen von den Wirkmechanismen andererseits (geistartige Heilkraft).

Wenn Modellvorstellungen („Geistartiges“) über den Haufen geworfen werden – und genau die sind wohl das Ziel des Angriffs seitens der etablierten Wissenschaft –, kann dennoch das Erkenntnissystem (die „Theorie“) überstehen. Im Rahmen der etablierten Physik hat beispielsweise die Überwindung der Ätherhypothese dem Kern der elektromagnetischen Theorie nicht geschadet. Eine Debatte über Geistartiges finde ich nicht übermäßig interessant.

Das Hauptargument gegen die Homöopathie ist für mich, dass sie ihre Wirksamkeit eben nicht prüft und dass sie sich deshalb auch nicht entwickeln kann, selbst wenn prinzipiell die Möglichkeit dazu bestünde. Angesichts der Scheu vor Prüfungen sehe ich diese Möglichkeit jedoch nicht.

Die Homöopathie ist zu einem Glaubenssystem geworden, fernab jeder Wissenschaft. Sie ist unfruchtbar.

Den Reigen beendet Christian Weymayr am 26.4.2013:

Ihrem letzten Satz stimme ich zu. Ihrem vorletzten nur eingeschränkt, denn Homöopathie war von jeher ein Glaubenssystem, und sie ist in der Wissenschaft stärker verankert denn je.

Bezeichnend finde ich allerdings auch, dass der ganz normale Otto-Normal-Homöopath das Verfahren nicht überprüft, obwohl es ganz einfach wäre. Man nehme verdeckt eine von zwei stark unterschiedlich “wirkenden” Substanzen und versuche anhand der Symptome herauszufinden, welche man genommen hat. Wenn die Trefferquote dauerhaft von 50% abweicht, kann man schon mal bei der GWUP vorsprechen, und sich für die 1 Mio Euro Preisgeld vormerken lassen.

Mag sein, dass es noch Alternativ-Erklärungen zu den geistartigen Kräften für die Wirkung homöopathischer Arzneien gibt. Allerdings bleibt die Behauptung bestehen, dass Substanzen in physiologisch unwirksamen Konzentrationen wirken sollen. Diese Behauptung, egal mit welcher Theorie man sie zu erklären versucht, widerspricht Erkenntnissen, die so gesichert sind, dass klinische Studien sie nicht erschüttern können.

Meine Kritik am Scientabilitätskonzept bedeutet nicht, dass ich die Idee dahinter in Bausch und Bogen ablehne. Ich stimme Weymayrs Auffassung zu, „dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss“. Das bringe ich im Hoppla!-Beitrag Oberflächenkompetenz und Tiefenscheinwissen auch zum Ausdruck.

Aber braucht man für das Naheliegende wirklich einen neuen Begriff?

Der Begriff kann sogar Schaden anrichten, besonders dann, wenn man das Konzept auf die Spitze treibt und folgert, dass es nicht geben könne, was gegen die Naturgesetze verstößt oder dass eine Überprüfung entbehrlich sei, wenn die Begründung für das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht. So würde dann tatsächlich der Blick auf Neues verstellt.

 

Zum Schluss bringe ich eine Buchwerbung in eigener Sache:

KlügerIrren

 

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„Terror“ – ein moralisches Dilemma?

Am 17. Oktober 2016 wurde uns ein Fernsehereignis der Extraklasse geboten. Das Erste zeigte den Fernsehfilm „Terror“, eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach.

Der Film handelt von einer Gerichtsverhandlung. Angeklagt ist ein junger Bundeswehrpilot. Er hatte eine Lufthansa-Maschine mit 164 Passagieren abgeschossen, weil sich dieser von Terroristen gekaperte Airbus im Anflug auf die mit 70.000 Menschen vollbesetzte Allianz-Arena in München befand.

Das moralische Dilemma – aktiv Menschen töten um viele zu retten – steht im Zentrum des Films und die Zuschauer waren aufgefordert, in die Rolle von Schöffen zu schlüpfen und ihr Urteil abzugeben: Schuldig oder nicht schuldig.

Mein Bauchgefühl sagte mir an  diesem Abend: Da stimmt etwas nicht. Ich habe ganz bewusst entschieden, nicht zu entscheiden. Mein Verdacht war, dass im Film der Falsche vor Gericht steht.

Bestärkt darin hat mich das sehr engagierte Eintreten des früheren Innenministers Gerhart Baum für das oberste Grundrecht „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in der anschließenden Sendung „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg. Es war für mich das wahre Highlight des Abends.

Auch in den späteren Diskussionen im privaten Kreis konnte ich mich nicht der Mehrheit derer anschließen, die auf „unschuldig“ erkannten. Ich zweifelte und zweifle immer noch daran, dass es wirklich nötig war, den Piloten in die Dilemma-Situation zu bringen.

Im Laufe der Gerichtsverhandlung des Films hat die Anklägerin ausreichend Zeit, deutlich zu machen, dass eine rechtzeitige Evakuierung des Stadions möglich gewesen wäre und dass es weitere Auswege aus dem drohenden Desaster gab. Sie weist auf ein mögliches Fehlverhalten der Administration und eine Fehlfunktion der Befehlskette hin: Die höherrangigen Verantwortlichen haben sich an die rechtlichen Vorgaben gehalten und den Abschuss nicht freigegeben; dabei wussten sie, dass der Pilot so ausgebildet war, dass er die eigentlich gewünschte Entscheidung zum Abschuss treffen würde.

Der Darstellung dieser für mich wirklich erschreckenden Konstellation wird im Film genügend Zeit gegeben.

Damit komme ich zum für mich entscheidenden Punkt: In anschließenden Diskussionen unter Freunden und Bekannten wurde mir vorgehalten, dass die Dilemma-Situation allein ausschlaggebend sei. Die mir wichtige Betrachtung der Umstände wurde als Nebensache abgetan, obwohl der Film darin durchaus explizit war. Ich halte das für eine Denkfalle: Das emotional aufwühlende moralische Dilemma drängt sich in den Vordergrund des Denkens; die Vernunft muss ihm Platz machen.

Dabei sind wir sehr wohl in der Lage, den Verstand einzuschalten. Das braucht etwas Zeit. Vermutlich hatten die Theaterbesucher mehr davon: Nach dem Theaterstück stimmten im Schnitt dreimal mehr „Schöffen“ für die Verurteilung als unmittelbar nach dem Fernsehfilm.

Das hervorstechende Dilemma zwingt die „Schöffen“ zu einem unmenschlichen Urteil, wie auch immer sie sich entscheiden. Das eigentliche Problem, nämlich dass am Recht und dessen Umsetzung etwas nicht stimmen könnte, wird dadurch aber nicht gelöst und leider an den Rand gedrängt.

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Determinismus kontra Freiheit?

Was muss ich da lesen? Neben den allseits bekannten drei Kränkungen des Menschen sind ihm inzwischen noch neun weitere widerfahren. So schreibt Micheal Schmidt-Salomon in seinem „Manifest des evolutionären Humanismus“ (2005).

Daran, dass wir nicht mehr  im Mittelpunkt der Welt stehen, an diesen Gedanken konnten wir uns ja seit vier Jahrhunderten gewöhnen. Dass wir – die Krone der Schöpfung – unseren Stammbaum in Affennähe finden, haben wir auch verdaut. Das 19. Jahrhundert hielt neben dieser zweiten noch eine dritte Zumutung parat: Wir sind noch nicht einmal Herr im eigenen Gedankengehäuse. Soweit die Aufklärung durch Kopernikus, Darwin und Freud.

Als hätten wir der Selbstkasteiung noch nicht genug und als lechzten wir nach mehr davon, kommen uns die sogenannten evolutionären Humanisten und die neuen Atheisten mit einem Haufen neuer Kränkungen. Die letzte davon soll mein Thema sein. Es ist die neurobiologische Kränkung, zugespitzt auf die Formulierung: Die Willensfreiheit ist eine Illusion (Benjamin Libet, Gerhard Roth, Wolf Singer).

Ja, das haben wir schon gehört: Der Weltenlauf folgt Gesetzen, die wir erkennen können. Der Ablauf ist in groben Zügen vorhersehbar und alternativlos – so würde man es heute ausdrücken.

Insbesondere Karl Marx folgte dieser famosen Idee. Die zukünftig vermeintlich Begünstigten nahmen die Verkündigung mit Dankbarkeit auf. Sie glaubten daran, mit einigen unangenehmen Folgen. An der Beseitigung der Spuren arbeiten wir heute noch.

Wir sind also wieder dort angekommen, wo wir hergekommen sind, bei der Schicksalsergebenheit der Antike. Damals waren es die Götter, die unser Schicksal bestimmten, heute ist es eben die Realität mit ihren Gesetzen und Kausalitäten. Dieser Rückfall mag dem einen oder anderen bequem erscheinen: Er kann über diese Abhängigkeiten, den Lauf der Geschichte und über die Zwangsläufigkeit persönlicher Schicksale belehrend tätig werden. Und er kann sich der Verantwortung für sein Tun enthoben fühlen. Schuld und Sühne verlieren für ihn an Bedeutung.

Eins vergisst er dabei, nämlich dass Freiheit und Verantwortung sich nicht mit Naturgesetzen begründen und schon gar nicht durch diese eliminieren lassen. Es sind menschengemachte Begriffe; sie gehören in das Reich der Moral. Immanuel Kant hat dieses Reich wohlweislich nicht unter der Frage „Was kann ich wissen?“ abgehandelt, sondern unter der Frage: „Was soll ich tun?“. Und er hat über seine Antworten auf die beiden Fragen auch zwei Bücher geschrieben, eins über die Möglichkeiten des Erfahrungswissens („Kritik der reinen Vernunft“) und das andere über die Grundlagen der Moral („Kritik der praktischen Vernunft“).

Entscheidungsfreiheit setzt voraus, dass uns Alternativen unseres zukünftigen Handelns ins Bewusstsein kommen, wie kausal bedingt dieses Erscheinen auch immer sein mag. Und wir können entscheiden, welche der Alternativen wir wählen. Auch diese Entscheidungen sind wohl durch unser Wissen und durch die Situation, also materiell, bedingt. Aber zu diesem Wissen und zu diesen Bedingungen gehört eben auch das Bewusstsein, dass wir für das schließlich gewählte Handeln zur Verantwortung gezogen werden können. Durch diese Rückkopplung entwickelt das Bewusstsein der Freiheit eine regulative Kraft.

Die Anerkenntnis dieser regulativen Kraft der Freiheit ist meines Wissens gar nicht so alt. Die Griechen schoben die Schuld an ihrem Schicksal noch weitgehend den Göttern in die Schuhe. Die Freiheitsidee muss aber schon damals entstanden sein. Ein Dokument, das uns vor Augen führt, wie der Mensch die Verantwortung für sein Tun übernimmt, ist für mich das erste Buch Mose.

Der Schreiber dieses Buches hatte eine tolle Idee: Er erfand die Geschichte vom Baum der Erkenntnis, von dessen Früchten der Mensch verbotenerweise naschte. Gott, um seine Alleinstellung fürchtend, vertrieb den Menschen daraufhin aus dem Paradies. Und dieser hatte von nun an zwar Mühsal und Plage am Hals, aber eben auch die Freiheit gewonnen, insbesondere die Freiheit der Entscheidung. Die Entscheidungsfreiheit wurde ihm von Gott gewährt: „Und Gott der Herr sprach: Siehe der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ (1. Mose 3, 22)

Diese Geschichte führt uns auch vor Augen, dass die Freiheit nicht umsonst zu haben ist. Unter Mühe und Plage muss das Bewusstsein dafür immer neu wach gehalten werden. Und das halte ich gerade heute, wo sich an allen Ecken der Welt totalitäre Tendenzen bemerkbar machen, für außerordentlich wichtig.

Es ist nur eine Geschichte, aber eine, die dem Menschen verdeutlicht, dass er mit seiner Freiheit verantwortungsvoll umzugehen hat. Freiheit ist heute die Basis funktionierender Gesellschaften und sie steht auch in der Liste der Grundrechte ganz weit oben, unter anderem im zweiten Artikel unseres Grundgesetzes. Dass es bei dieser Hochachtung bleibt, dafür lohnt es sich einzusetzen.

Wem diese Bemerkungen, die eines Ingenieurs, der sich ins Philosophische verirrt hat, zu oberflächlich sind, dem kann vielleicht der eine oder andere Fachphilosoph weiter helfen. Kurz und gut schreibt beispielsweise Michael Pauen in  „Eine Frage der Selbstbestimmung“ über Freiheit, Verantwortung, Strafjustiz, Schuld und Sühne (Spektrum der Wissenschaft  3/2011, 68).

In „Wie frei ist der Mensch?“ bekundet Eddy Nahmias: „Die meisten philosophischen Theorien entwickeln eine Idee vom freien Willen, die sich durchaus mit einer naturwissenschaftlichen Auffassung der menschlichen Natur vereinbaren lässt.“ (Spektrum der Wissenschaft 9/2015, 60-63)

Lüder Deecke, einer der Entdecker und Namensgeber des Bereitschaftspotentials, wendet sich  im Spiegel-Interview „Keinen Kobold im Kopf“ (Der Spiegel 34/2016, 104) gegen die „entgleiste Debatte“, zu der die deterministischen Deutungen seiner Versuche geführt haben. In den Versuchen wurde das Bereitschaftspotential einer Handlung bereits 1,2 Sekunden vor der Handlung und auch vor deren Bewusstwerdung messbar. Lüder Deecke sagt: „Wir haben das Unbewusste immer als einen superintelligenten Filter angesehen. Das Unbewusste sortiert vor und legt dem Bewusstsein sozusagen nur unterschriftsreife Entscheidungen vor.“ Bei schwierigen Entscheidungen sollten wir „nicht sofort entscheiden, sondern erst nach reiflicher Überlegung. Bei schwierigen Fragen ist es immer hilfreich, eine Nacht darüber zu schlafen, um am nächsten Morgen zu wissen, was man tun muss.“

Kurz gesagt: Naturgesetzlichkeit und Freiheit vertragen sich sehr gut miteinander. Die Vorstellung eines totalen Determinismus hilft nicht weiter.

Bei meinen Arbeiten zum Thema Denkfallen geht es darum, Teile des Unbewussten ans Licht des Bewusstseins zu zerren und der rationalen Entscheidung zugänglich zu machen. Das heißt: Freiheit gewinnen im Gewebe der Kausalitäten.

Zum Schluss bringe ich eine Buchwerbung in dieser Sache.

Timm Grams: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer, Berlin Heidelberg 2016 (http://www.springer.com/de/book/9783662502792)

KlügerIrren

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„Skeptiker“: Grenzen der Verständigung

Friedemann Schulz von Thun erinnert sich an einen Vorfall gescheiterter Verständigung (2014) . Er liegt offenbar lange zurück und hat mit einer damals in Hamburg aktiven linksradikalen Sekte zu tun. Diese  Leute kamen in gut besuchte Vorlesungen, ergriffen das Wort um „den Hörsaal in ein Absurdistan zu verwandeln und mich verächtlich zu machen“. Diese Gruppe habe – so Schulz von Thun – die Toleranz des Vortragenden für die eigene Intoleranz missbraucht und ihn in eine Zwickmühle gebracht: „Reagiere ich nämlich dialogisch aufgeschlossen, bin ich der Dumme und gehe ihnen auf den Leim. Reagiere ich abweisend und repressiv, bin ich der Böse, dessen wahres Gesicht jetzt entlarvt werden kann.“

Der Diskussionsprozesses von Himmelfahrt 2014 bis 2015 unter  „Skeptikern“ ist ein weiteres Beispiel für die Grenzen der Kommunikation. Hier will ich analysieren, woran dieser Diskurs scheitern musste.

Basis der Analyse: Grundregeln gelingender Kommunikation

Die Grundregeln gelingender Kommunikation entnehme ich den Büchern „Menschliche Kommunikation“ (Watzlawick, 1969) und „Kommunikation als Lebenskunst“ (Pörksen/Schulz von Thun, 2014).

Grundlegend für die Analyse ist die Aufgliederung des Kommunikationsprozesses in eine Beziehungsebene  und eine Sachebene (Inhaltsebene).

Die dialogische Erarbeitung von neuem Wissen gelingt, wenn auf der Beziehungsebene Stimmigkeit herrscht. Grundlegende Voraussetzung ist die menschliche Begegnung auf Augenhöhe. Gegenseitiger Respekt und Empathie sind unerlässlich: Man muss auch dem anderen eine Chance geben zu überzeugen. So funktioniert partnerschaftliche Kommunikation. Absolutheitsansprüche und Bevormundung, autoritäres Verhalten und die Zuweisung eines Oben und eines Unten sind für den dialogischen Prozess tödlich.

Was die Sachebene angeht, sollte man etwas zu sagen haben. In der wissenschaftsorientierten Kommunikation setzt das eine angemessene Vertrautheit mit dem Gegenstand voraus. Der Sprachgebrauch sollte der allgemein übliche sein (Duden, Enzyklopädie, Fachwortlexika). Nötige Abweichungen sind zu erklären. Die Darstellung sollte einfach, gut gegliedert und in sich schlüssig sein.

Verkorkste Beziehung

Wie man bereits auf der Beziehungsebene daneben liegen kann, zeigt der Vortrag eines „Skeptikers“ am 12.10.2016 in Würzburg. Angekündigt ist Stephan Angene mit dem Thema „Auf welche Art sollte man Menschen überzeugen?“

Bereits das Thema signalisiert: Hier spricht ein Wahrheitsbesitzer zu Leuten, die er für arm an Wahrheit hält. Wenn man im Blog des Vortragenden stöbert, stößt man bereits in der Selbstdarstellung auf diesen irritierenden Satz: „Ganz ehrlich, Menschen haben ein Recht darauf, dumm zu sein, und ich wäre der letzte, der ihnen dieses Recht absprechen würde.“  Der Titel des Blogs lautet „Nachdenken … bitte“. Der Blogger meint wohl, dass seine Adressaten Leute sind, die sich ihrer grauen Zellen gewohnheitsmäßig nicht bedienen.

Schon diese verkorkste Voreinstellung – Wissensbesitzer hier, Dumme da – verhindert, dass die partnerschaftliche Kommunikation gelingen kann. Sie lässt keine Begegnung auf Augenhöhe erwarten. Unser Blogger ist mit dieser Einstellung nicht allein. Im Internet finde ich auf den „Skeptiker“-Seiten Vergleichbares, nämlich Blogs mit den Namen „Less Wrong“, „Die Wahrheit“, „You are not so smart“ und „The Quackometer“.

Hier werden Autoritätsgefälle konstruiert. Offenbar geht es um Missionierung der Wahrheitsbedürftigen durch die Wahrheitsbesitzer. Diese herablassende Haltung vernichtet die Chancen für ein dialogisches Miteinander.

Wie geben sich solche Missionare zu erkennen? Unter anderem durch Beteuerungen, nicht missionieren zu wollen und mit Floskeln wie dieser: „Ehrlich, ich würde sofort meine Ansicht ändern, wenn ich ernstzunehmende Belege präsentiert bekommen würde.“

Wirrwarr auf Sachebene

Auf der Sachebene erreichen die Wortführer der „Skeptiker“, gemessen an den formalen Bildungsabschlüssen in dieser Gemeinschaft, nur ein unterdurchschnittliches Niveau. Der Sprachgebrauch weicht vom Üblichen ab. Vorherrschend ist Vermengung von Begriffen und mangelnde Differenzierung. Ich habe ein paar Beispiele  aufgelistet:

  1. Realismus = Skeptizismus
  2. Wahrheit = Erkenntnis (Wissen)
  3. Approximative Wahrheit = relative Wahrheitsnähe
  4. Religionskritik = Kirchenkritik
  5. Atheismus = Agnostizismus
  6. Wahrscheinlichkeit = Plausibilität

Nicht alle dieser Vermengungen sind in der „Skeptiker“-Szene durchgängig in Gebrauch. Konstant ist die Verwechslung von Realismus mit Skeptizismus, von Wahrheit mit Erkenntnis. Mit der Differenzierung approximativ-relativ will sich der Normal-„Skeptiker“ offenbar nicht auseinandersetzen. Dasselbe gilt wohl für die Differenzierungen der Religionskritik. Aber manche Vermengungen dienen ausschließlich dem Augenblicksdogmatismus, sind pure Rabulistik. Besonders auffällig ist das im Zusammenhang mit dem Atheismus, der bei passender Gelegenheit zum Agnostizismus verharmlost wird.

Auch wenn ich oben Gleichheitszeichen verwende: Um exakte Gleichheit geht es nicht, nur um die Vermengung von Begriffen, um die Verwischung der Bedeutungsgrenzen. Das ist ein Zug unserer Zeit: In den Internetlexika und in den Internetforen darf jeder seine Auffassung zum Besten geben. Die Interpretationen stehen nebeneinander und jeder kann sich das herauspicken, was ihm gerade passt. Die ordnende Kraft der klassischen Lexika schwindet. Begriffsbestimmungen werden zunehmend zur Privatsache. Damit wird das Feld für die Missionare und Augenblicksdogmatiker bereitet.

Für jede der Vermengungen bringe ich Zitate und meinen Kommentar dazu.

  1. Aus der Selbstdarstellung eines „Skeptikers“: „In aller Kürze gesagt bin ich ein Realist, kritischer Rationalist, Skeptiker und Naturalist.“  Kommentar: Der Realist behauptet, dass es die bewusstseinsunabhängige Realität gibt und dass wir die Wahrheit darüber wenigstens partiell oder approximativ erkennen können. Der Skeptiker demgegenüber behauptet gar nichts. Er stellt in Frage, sät Zweifel und überlässt es seinem Gegenüber, sich seine Meinung zu bilden. Ein Realist kann nicht zugleich Skeptiker sein.
  2. Derselbe „Skeptiker“ traut sich zu, über Wahrheit und Realität Profundes von sich zu geben: „Die mächtigste, stärkste und, ich behaupte, einzig funktionierende Möglichkeit und Methode, wie man die Übereinstimmung mit der Realität (und damit Wahrheit) entscheiden kann, sind Vernunft und Verstand, also Rationalität und der sich daraus entwickelte einzigartige Werkzeugkasten: Die Wissenschaften.“ Kommentar: Die Wissenschaftler, die ich kenne, interessieren sich nicht für die Wahrheit. Ihnen geht es um Erkenntnis, um Wissen. Auch dem Skeptiker im eigentlichen Sinn geht es nicht um die Wahrheit. Ganz in Gegenteil: Durch die skeptischen Szenarien (Traumargument, Descartes‘ böser Dämon, Brain in a Vat) wird die Realitätsannahme ja gerade infrage gestellt. Anders als die Skeptiker neigen Realisten dazu, Wissen (intersubjektiv nachprüfbare Erkenntnisse) für die zutreffende Beschreibung einer bewusstseinsunabhängigen Realität – für die Wahrheit also – zu halten. Das ist eine Glaubensangelegenheit. Dagegen ist nichts zu sagen. Unserer Gesellschaft ist auf Pluralismus, auf die Koexistenz verschiedener Weltanschauungen angelegt. Der Realist findet darin seinen sicheren Platz. Die Selbstbezeichnung „Skeptiker“ steht ihm jedoch nicht zu (Grams, 2016, Kapitel „Um Wahrheit geht es nicht“).
  3. Den etwas diffizilen Punkt approximativ kontra relativ behandle ich im Hoppla!-Artikel „Skeptiker“ über Wissenschaft und Wahrheit.
  4.  Der „Skeptiker“ Martin Mahner schreibt im skeptiker 4/2009: „Schließlich können sogar Religionen [unter die Parawissenschaften] fallen, insofern sie Erkenntnisansprüche erheben. In der Tat kommt letztlich keine Religion – wenn sie einen Wahrheitsanspruch geltende machen will – ohne Tatsachenbehauptungen über den Menschen und sein Verhältnis zu den jeweiligen angenommenen Kräften und Wesenheiten aus.“ Kommentar: Dogmen (Tatsachenbehauptungen) fallen in das Gebiet der Kirche. Und die katholische Kirche beispielsweise verzichtet heute bekanntlich auf Tatsachenbehauptungen, die der Wissenschaft widersprechen. In seiner Botschaft Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien  erkennt Papst Johannes Paul II. die Rolle der modernen Wissenschaft als eigenständig an (22.10.1996). Kirchenkritik gibt es schon seit Jahrhunderten auf ziemlich hohem Niveau. In jüngerer Zeit haben sich Karlheinz Deschner und Joachim Kahl auf diesem Feld hervorgetan. Auf eine grobschlächtige, an Richard Dawkins orientierte Religionskritik scheint man in diesen Kreisen nicht gerade gewartet zu haben.
  5. Glaubensbekenntnis  eines „Skeptikers“: „Ich denke auch nicht, dass es Gott gibt. Atheist bin ich daher praktisch automatisch als Folge meines Naturalismus.“ Im direkten Gedankenaustausch hat der „Skeptiker“ seine Ansicht präzisiert: „Atheismus ist nur die Position zu einer einzigen Frage, nämlich ‚Denkst du, dass Gott existiert?‘ Jede andere Antwort als Ja, macht einen zum Atheisten.“ Demzufolge stellt unser „Skeptiker“ die Atheisten den Agnostikern gleich. Anders sieht das Richard Dawkins, ein Vordenker der „Skeptiker“-Szene in Sachen Religionskritik. Dieser Atheist schüttet in seinem Buch „The God Delusion“ alles was er an Häme finden kann über die Agnostiker aus. Ich bevorzuge die klassischen und eventuell behutsam weiterentwickelten Begriffe: Der Agnostiker hält das Übersinnliche und Göttliche für unerkennbar oder gar für zu unbestimmt, als dass sich sinnvoll darüber reden ließe. Der Atheist leugnet die Existenz eines persönlichen Gottes. Insofern ist Richard Dawkins nahe an der klassischen Definition, obwohl er, so wie seinerzeit Blaise Pascal, unpassenderweise die Wahrscheinlichkeitsrechnung für seine Differenzierung in Anspruch nimmt.
  6. Aus Scientabilität – Kritik einer Gegenrede: „Erstens gibt es unendlich (wortwörtlich!) viele Behauptungen, die falsch sind, man fährt also schon aus Wahrscheinlichkeitserwägungen besser, wenn man eine Behauptung für falsch hält, weil die Wahrscheinlichkeit viel höher ist, dass sie [eher] falsch als wahr ist (es gibt mehr falsche, als wahre Behauptungen!).“ Kommentar: Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist hier fehl am Platz und das implizit vorausgesetzte Indifferenzprinzip ganz offensichtlich nicht anwendbar (Grams, 2016). Die Aussage ist Nonsens.

Auf Sachebene wird also ebenfalls nichts dem Dialog Förderliches geboten. Die Regeln gelingender Kommunikation werden sowohl auf Beziehungs- wie auf Sachebene verletzt.

Gescheiterte Kommunikation: die Echokammer

Die Kommunikation muss scheitern, weil die Grundanforderungen an einen partnerschaftlichen Meinungsaustausch nicht erfüllt werden: ausreichendes und sorgfältig in Worte gefasstes Wissen einerseits und dialogisches Prinzip andererseits. Was also ist der Zweck der „Skeptiker“-Aktionen?

Es geht meines Erachtens vor allem um ein positives Selbstbild, um die fortwährende Bestätigung der eigenen Überlegenheit. Die Herablassung gilt Leuten, die argumentativ noch weniger zu bieten haben als sie selbst: Astrologiegläubige, Wünschelrutengänger, Wahrsager,  Esoteriker, Anhänger der Homöopathie. In den Blogs der „Skeptiker“ wird in vielen Fällen Humor mit Häme und Verächtlichmachung verwechselt.

Das funktioniert natürlich nur, wenn sich die Akteure im Besitz der Wahrheit wähnen können. Jede Verunsicherung ist abzuwehren, sonst geht das Geschäftsmodell baden.

Unliebsame interne Kritiker werden an den Rand gedrängt. Gewöhnlich verlassen diese die Gesellschaft freiwillig. Ab und zu begegne ich solchen Versprengten im Internet. Andere werden auf die Liste der unerwünschten Kommentatoren gesetzt; so ist es mir beim offiziellen Internetforum der „Skeptiker“, dem GWUP-Blog, ergangen.

Übrig bleiben die, die sich in ihrer Meinung gegenseitig stützen. Abweichler, die nicht ernsthaft die Grundlagen der Gesellschaft infrage stellen, sind durchaus geduldet. Das verschafft den Eindruck der Toleranz und des Pluralismus, den man aus propagandistischen Gründen gern pflegt. Eine tiefere Wirkung dürfen diese Kritiker allerdings nicht entfalten.

Es entsteht eine Echokammer, in der jeder sein Überlegenheitsgefühl ausleben kann und nach Lust und Laune die vermeintlich dümmeren Leuten außerhalb der Echokammer verhöhnen darf. Von denen hört aber keiner zu. Häme und Herablassung werden nur von Gleichgesinnten innerhalb der Meinungsblase goutiert und sorgen dort für ausgelassene Fröhlichkeit.

Mir geht es nicht darum, „Skeptiker“-Aktionen wie den Würzburger „Psi-Test“ oder die Verleihung des „Goldenen Bretts vor dem Kopf“ in Wien zu verdammen, obwohl auch diese ein gewisses „Geschmäckle“ haben. Wenn es um die Erregung von Aufmerksamkeit geht, können derartige PR-Veranstaltungen ihren Zweck erfüllen. Aber dabei sollte es nicht bleiben.

Mich bekümmert die gesellschaftliche Geringschätzung der Mathematik wesentlich mehr als die Tatsache, dass einige meiner Freunde der Homöopathie anhängen oder den Verheißungen des Neurolinguistischen Programmierens Glauben schenken.

Wichtiger noch als die PR-Aktionen wäre ein partnerschaftlicher Dialgog mit den Leistungsträgern unseres Bildungswesens. Wünschenswert sind Veranstaltungen mit dem Ziel, der Jugend eine bessere Orientierung zu ermöglichen darüber, was Wissenschaft ist und was Scharlatanerie.

Eine Überwindung der Grenzen der Verständigung ist grundsätzlich möglich.

Literaturhinweise

Paul Watzlawick, Janet  H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Hans Huber, Bern 1969

Bernhard Pörksen, Friedemann Schulz von Thun: Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens. Carl-Auer, Heidelberg 2014

Timm Grams: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer, Berlin Heidelberg 2016 (http://www.springer.com/de/book/9783662502792)

KlügerIrren

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Das Geburtstagsparadoxon

In einem Mathe-Blog wird gefragt: Wie groß muss eine wild zusammengewürfelte Personengruppe sein, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von wenigstens 50 Prozent darunter zwei Personen sind, die am selben Tag Geburtstag haben? Die Antwort: Die Gruppe muss aus 23 Personen bestehen.

Dann wird diese Herleitung angeboten: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einer Gruppe (wenigstens) eine Person befindet, die an einem bestimmten Tag Geburtstag feiert, steigt mit der Gruppengröße; bei 253 Personen beträgt diese Wahrscheinlichkeit 50%, vorausgesetzt, die Geburtstage der Leute verteilen sich gleichmäßig über das Jahr von 365 Tagen.

Besteht eine Gruppe aus 23 Personen, dann ergibt das 23·22/2 = 253 mögliche Paarungen. Es gibt also ebenfalls 253 paarweise Vergleiche der Geburtstage von je zwei Partygästen. Folglich muss die Trefferwahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeit wenigstens einer Übereinstimmung) ebenfalls 50% betragen.

Den errechneten Wert finde ich plausibel. Mir ist nur rätselhaft, was an der Sache paradox sein soll.

Aber Hoppla! Mein Bauchgefühl sagt mir: Mit der Berechnung stimmt etwas nicht. Nur was?

An der ersten Aussage, nämlich dass es 253 Personen braucht, um darunter mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine zu finden, die an einem vorbestimmten Tag Geburtstag hat, ist gewiss nichts auszusetzen, denn: Eine beliebig herausgegriffene Person hat mit der Wahrscheinlichkeit 364/365 nicht diesen Geburtstag. Dass alle 253 Personen nicht diesen Geburtstag haben, hat die Wahrscheinlichkeit (364/365)253 und diese liegt knapp unter 50%. Die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer ist das Komplement zu eins dieses Wertes; sie beträgt 50,05%.

Auch die Aussage, dass es in einer Gruppe von 23 Personen 253 verschiedene Paarungen gibt, ist unstrittig. Aber wie steht es mit der Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens eines dieser Paare einen gemeinsamen Geburtstag hat? Die Potenzformel setzt voraus, dass die Trefferwahrscheinlichkeiten für alle diese Paare voneinander statistisch unabhängig sind. Und daran hapert es. Die Kandidaten für jede der Paarungen werden ja alle aus derselben Grundgesamtheit von nur 23 Leuten ausgewählt; nur deren Geburtstage stehen zur Debatte. (Bei 366 Personen wäre mit 100-prozentiger Sicherheit ein Paar mit gemeinsamem Geburtstag vorhanden. Die Potenzformel – jetzt mit wahnsinnig großem Exponenten – liefert aber einen Wert unter 100%, zwar sehr geringfügig darunter, aber immerhin.)

Ich habe ein kleines Experiment gemacht und die Trefferwahrscheinlichkeit bei einer Gruppe von 23 Personen mittels stochastischer Simulation ermittelt. Es ergab sich eine Trefferwahrscheinlichkeit  von 50,727% mit einer zweifachen Standardabweichung von ±0,01%. Die Trefferwahrscheinlichkeit liegt also deutlich höher als zunächst berechnet.

Rechnen wir genauer. Vor allem: Wählen wir ein stimmiges Modell! Wir berechnen zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Gruppe von 23 Leuten keinen gemeinsamen Geburtstag gibt.

Wir entnehmen der Gruppe die erste Person. Sie kann mit den bereits entnommenen – da ist keine – keinen gemeinsamen Geburtstag haben. Wir entnehmen der Gruppe die zweite Person. Die hat mit den entnommenen (vorerst nur eine) mit der Wahrscheinlichkeit 364/365 keinen gemeinsamen Geburtstag. Für die nächste sind noch 363 von 365 Tagen übrig. Sie hat mit den bereits entnommenen mit der Wahrscheinlichkeit von 363/365 keinen gemeinsamen Geburtstag. Und so weiter.

Zusammengefasst: Unter der Bedingung dass unter den m bereits entnommenen Personen keine gemeinsamen Geburtstage zu finden sind, beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch die Person m+1 keinen Treffer bringt, (365-m)/365. Wir errechnen das Produkt all dieser Wahrscheinlichkeiten von m=1 bis m=22.

Dieser Wert ist noch von eins abzuziehen und schon haben wir das Resultat: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass in einer Gruppe von 23 Personen zwei mit gleichem Geburtstag zu finden sind, beträgt 50,7297%. Das passt zum Ergebnis der stochastischen Simulation.

(Ich werde jeden Kommentar schnellstmöglich bearbeiten. Wie in anderen Fällen auch, werde ich notfalls vor der Freischaltung mit den Einsendern per E-Mail diskutieren. Das soll den Diskussionsfaden vor einer Anhäufung von Wirrtümern bewahren und die Redundanz reduzieren. Ich will vermeiden, dass die Unterhaltungsmathematik hier ebenso ungenießbar wird, wie in manch anderem Internetforum.)

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