Ist Pseudowissenschaft unvernünftig?

Unter Pseudowissenschaft verstehe ich, und mit mir tun das viele andere, ein auf Erkenntnis angelegtes System, das einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, diesen aber nicht einlösen kann. Ihre Vertreter geben vor, ein Spiel nach gewissen Regeln zu spielen, hier ist es das Spiel „empirische Wissenschaft“, aber sie verletzen genau diese Regeln.

Das klingt nach verwerflichem Tun. Tatsächlich haftet dem Begriff der Pseudowissenschaft der Ruf der Unvernunft an. Aber allein die Verletzung bestimmter Spielregeln ist für sich gesehen noch nichts Unanständiges. Das habe ich vor vier Jahren bereits im zweiten Intermezzo dieses Weblogbuchs deutlich gemacht: Tarnen, Täuschen und Manipulation gehören so sehr zum Leben auf dieser Erde, dass man sich generelle moralische Urteile über dieses Verhalten besser verkneifen solle, schrieb ich damals. Täuschung und Manipulation abzuschaffen, sei schon aus Gründen des Wettbewerbs aussichtslos, denn wer will schon auf große Vorteile verzichten, die zu moderaten Kosten zu haben sind.

Ich wage die Aussage, dass das Verletzen der Regeln der Wissenschaft zu den Spielregeln  der Pseudowissenschaft gehört. Es ist ein anderes Spiel.

Es ist gut, „Pseudowissenschaft“ nicht von vornherein als Schimpfwort zu verstehen. Im Sinne eines gesellschaftlichen Pluralismus enthalte ich mich einer moralischen Bewertung. Ich stelle mir die Frage, ob diese Spielregeln unvernünftig sind oder nicht.

Zur Klärung dieser Frage kommt mir ein Büchlein gelegen, das erst kürzlich erschienen ist. Es ist von Natalie Grams und heißt „Homöopathie neu gedacht“ (Springer, Berlin, Heidelberg 2015).

Die Ärztin „war lange Zeit überzeugte Homöopathin“. Dann stellte sie fest, dass die Grundsätze der Homöopathie „sich zwar irgendwie gut anfühlen, deren Prinzipien jedoch wissenschaftlichem Denken teilweise komplett widersprechen“. In der Folge distanzierte sich Grams von der Homöopathie und wurde zu einer engagierten Kritikerin.

Für Natalie Grams ist Homöopathie eine Methode, „mit der man in Ruhe Gespräche führt, die es dem Patienten und seinem Körper ermöglichen, etwas für sich selbst zu tun“. Die Globuli sieht sie „als Placebos, aber auch als Träger einer individuellen Autosuggestion“. Im weiteren Verlauf ihres Textes zeigt sie auf, dass aus wissenschaftlicher Sicht die Homöopathika wirkungslos sind. So weit – so gut.

Weil der Homöopath im Zuge der Anamnese sich dem Patienten methodenbedingt stärker zuwendet als es einem Arzt im Rahmen der Gebührenordnung möglich ist, hält Natalie Grams es für „wünschenswert, die Teile der Homöopathie, die sie so menschlich machen, in unsere symptomfokussierte und zeitarme Medizin zu übernehmen“.

Aber Hoppla! Hier tut sich ein riesengroßes Loch in der Argumentation auf. Denn was soll eine gefühlvolle Anamnese, wenn dem kein Akt der Medikation, keine Heilungsanstrengung folgt, die den Patienten überzeugt? Erst die Darreichung eines Homöopathikums setzt doch die Selbstheilungskräfte in Bewegung. Die Heilwirkung mag auf einer Täuschung beruhen. Aber diese Täuschung ist letztlich unentbehrlicher Bestandteil der Methode.

Der Glaube des Patienten ist dabei ausschlaggebend. Dass er auf einer Täuschung beruht, schmälert die Wirkung nicht. Und die Täuschung gelingt am besten, wenn auch der behandelnde Homöopath an seine Sache glaubt: Wer sich selbst betrügt, kann andere besser täuschen, meint Robert Trivers.

Das ist bei der Homöopathie so, aber auch beim Schamanismus: Der Patient muss erfahren, dass zum Zwecke seiner Heilung etwas Großartiges passiert. Beim Schamanen sind es die Trommelei und der Tanz. Bei der Homöopathie ist es die Potenzierung, die schrittweise Verdünnung der Ausgangssubstanz und das rituelle Verschütteln. Es sind diese  magischen Handlungen, die den Glauben an die Wirksamkeit hervorrufen.

In ihrer Rezension des Buches von Natalie Grams schreibt Irene Kapuschewski am 10. August 2015 bei Amazon: „Die Schlussfolgerung der Autorin lautet danach: Homöpathische Anamnese ja, weil gut, Globuli nein, weil wirkungslos. Aber das ist doch völlig unlogisch! Die Homöpathie funktioniert – auch nach dem, was die Autorin schreibt – doch genau auf der Kombination aus gründlicher Anamnese und genau passenden Globuli. Ohne die Globuli wäre doch auch die Anamnese wirkungslos. Insofern frage ich mich – auch wenn ich Homöpathie ablehnen würde – warum um alles in der Welt lässt man das System nicht so wie es ist, wenn man damit vielen Menschen hilft?“

Wenn Natalie Grams ihr Werk zu Ende geschrieben hätte, wäre möglicherweise ein Plädoyer für die Homöopathie dabei herausgekommen. Denn im Grunde zeigt sie, dass dieser Pseudowissenschaft eine gewisse Vernünftigkeit nicht abzusprechen ist.

Das mag so sein. Aber damit wird die Homöopathie noch lange nicht zu einer Wissenschaft. An Hochschulen, dem Ort der Wissenschaft, hat die Homöopathie nichts zu suchen.

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Astrologie funktioniert!

Die Aufregung um „Die Akte Astrologie“ von Gunter Sachs hat sich inzwischen gelegt. Ich wärme die Sache auf, weil sich daran gut demonstrieren lässt, wie unterschiedlich Skeptiker an vermeintlichen Hokuspokus herangehen, und inwieweit sie fähig sind, pfiffige Streiche als solche zu erkennen.

Zur Erinnerung: Manch ein Skeptiker beruft sich auf eine Metaphysik – den ontologischen Naturalismus beispielsweise – und neigt dazu, bei seinen Urteilen vorzugsweise Patentrezepten zu folgen nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Skeptiker  in der Tradition der pyrrhonischen Skepsis und deren moderner Varianten vermeiden derartige schnelle Urteile nach Möglichkeit; sie sind überhaupt vorsichtig mit Urteilen aller Art (Markus Gabriel, 2008). Ein beherzigenswerter Leitsatz ist der Gerichtspraxis entlehnt: „Man muss gut zuhören können.“ (Steller, 2015).

Gunter Sachs hat sein datenreiches Buch 1997 vorgelegt. Die darin enthaltenen Statistiken erfassen sehr viele Fälle, in der Regel mehrere hunderttausend. In den Tabellen des Buches findet man beispielsweise, dass Mann und Frau mit demselben Tierkreiszeichen überdurchschnittlich oft einander heiraten. Das ist ein Zeichen, dass die Astrologie zu funktionieren scheint.

Nehmen wir als Beispiel die Widder-Menschen. Die folgende Tabelle zeigt: Von den insgesamt 358709 erfassten Paaren sind 33009 Männer und 32830 Frauen im Tierkreiszeichen Widder geboren. Würde die Paarbildung rein zufällig passieren, ergäben sich im Schnitt 33009×32830/358709 = 3021 reine Widder-Paare. Diese Zahl kommt so zustande: Der Anteil der Widder-Frauen unter den Frauen, die einen Widder-Mann heiraten, ist unter der Zufallsannahme etwa so groß, wie der Anteil der Widder-Frauen unter den Frauen insgesamt. Sei also x die Zahl der reinen Widder-Ehen, m die Zahl der Widder-Männer, f die Zahl der Widder-Frauen, und n die Zahl der Ehen und damit auch der Frauen insgesamt, dann gilt x/m = f/n. Also ist x = mf/n.

Die Statistik weist aus, dass es tatsächlich 3154 Widder-Paare sind, also 133 mehr als erwartet.

Die Tafel der Eheschließungen bezieht sich auf die Schweiz und die Jahre 1987-1994. Verblüffend ist, dass über die gesamte Tabelle gesehen zwischen den Tierkreiszeichen und den Eheschließungen ein Zusammenhang im Sinne der Astrologie erkennbar ist. Die Zusammenhänge sind zum Teil sehr deutlich. Der Wert der Prüfgröße für das Widder-Vierfelderschema ist beispielsweise gleich P = 7,09, und das zeichnet den Zusammenhang als signifikant auf dem 1 %-Niveau aus (Sachs, 1992).

Müssen die Astrologie-Skeptiker auf Grund dieser Zahlen ihr Weltbild revidieren? Jedenfalls hat das Buch des Gunter Sachs diese Gemeinde in erhebliche Unruhe versetzt. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, hat man schnell Gegenargumente parat: Die Studie habe „methodische Mängel“ und außerdem könnten „irrelevante kleinere gruppenspezifische Besonderheiten im Jahresrhythmus“ schuld sein (Ponocny/Ponocny-Seliger, 2009).

Dabei ist die Aufregung unnötig. Es kommt nicht nur auf die Signifikanz eines Zusammenhangs an, sondern auch auf dessen Größe. Und daran mangelt es in diesem Fall. Die Vorhersagen der Astrologen sind zwar deutlich belegt, aber die Effekte sind klein.

Widder-PaareAngesichts der Kleinheit der zu erklärenden Effekte können selbst geringe Einflüsse eine große Rolle spielen. Mit der direkten Einwirkung der Sterne hat das alles nichts zu tun.

Interessant ist beispielsweise, dass 0,7 % der Verheirateten bezeugen, dass das Sternzeichen bei der Wahl des Partners eine Rolle gespielt hat, und 3,9 % geben zu, dass das „ein bisschen der Fall“ war. Und genau die Möglichkeit, dass selbsterfüllende Prophezeiungen hinter den Effekten stehen könnten, hat uns Gunter Sachs in seinem Buch auch verraten.

Manch ein Astrologiegegner war aber offenbar schon nach den ersten Seiten beim Gegenangriff. Er hat die Auflösung des Rätsels dann gar nicht mehr mitbekommen. An die Stelle des genauen Studiums traten Rätselraten und die Konstruktion eines „Erklärungsmodells“ mit passenden Daten gemäß der Vermutung, dass „bei der Paarbildung diese Kombination aus astrologischen Motiven von den Partnern als günstig angesehen wurde“ (Basler, 1998).

Mein persönliches Fazit aus der Analyse der „Akte Astrologie“:

  1. Size matters: Die von Sachs berichteten Effekte, nämlich die Abweichungen von dem rein zufällig zu Erwartenden, betragen nur wenige Prozent (im Widder-Fall 4 %). Das ermöglicht keine wirklich überzeugenden Prognosen.
  2. Die Astrologie funktioniert tatsächlich, und zwar im Sinne der selbsterfüllenden Prophezeiungen.

Zum Weiterlesen

Gunter Sachs: Die Akte Astrologie. 1997

Lothar Sachs: Angewandte Statistik. Anwendung statistischer Methoden. 1992

Ivo Ponocny, Elisabeth Ponocny-Seliger: Akte Astrologie Österreich. skeptiker 4/2009, S. 176-190

Herbert Basler: „Die Akte Astrologie“ von Gunter Sachs aus Sicht der Mathematischen Statistik. Skeptiker 3/1998, S. 104-111

Markus Gabriel: Antike und moderne Skepsis. 2008

Max Steller: Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werdene kann. 2015

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Oberflächenkompetenz und Tiefenscheinwissen

Die Welt bringt am 28.05.15 eine aufsehenerregende Meldung über den 50. „Jugend forscht“-Bundeswettbewerb: „Niedersächsin behandelt Bienen homöopathisch.“ Wenn es Bienen schlecht gehe, könne man es auch mal mit Homöopathie versuchen, meint die Jungforscherin. Sie hat drei von Varroamilben geplagte Völker ein Jahr lang mit einem homöopathischen Präparat behandelt. Aus den Stöcken seien vergleichsweise deutlich weniger tote Milben gefallen als aus Bienenstöcken, deren Bevölkerungen nur Zuckerwasser bekommen haben. „Es scheint zu funktionieren“, sagt die 18-Jährige über ihr Projekt.

Dieses Resultat ist weniger spektakulär als die Tatsache, dass es die Jungforscherin bis ins Finale des 50. Bundeswettbewerbs von „Jugend forscht“ geschafft hat. Bereits 2009 hatte es einen Preis für alternative Heilmethoden in neuer Anwendung gegeben: „Akupunktur bei Pflanzen“. In der Projektmitteilung von „Jugend forscht“ heißt es: „Bei Mensch und Tier erzielt die Akupunktur Heilerfolge. Energieströme sollen durch sie geleitet, umgeleitet und geöffnet werden.“ An den Naturwissenschaften sind diese Erkenntnisse weitgehend spurlos vorübergegangen.

An der Forschung zur Homöopathie und zur Akupunktur ist zunächst einmal nichts auszusetzen – selbst wenn die Themen im Grunde ausgelutscht sind. Die allgemein zugängliche und deutliche Beweislage besagt, dass die Erfolgsaussichten, wirklich neue Einsichten auf diesen Gebieten zu gewinnen, außerordentlich niedrig sind. Wenn überhaupt, hat nur derjenige eine Chance auf neue Ergebnisse, der über ein umfangreiches und tiefgehendes Fachwissen verfügt, der Versuche professionell planen und durchführen kann und dem dafür die erforderlichen Ressourcen in materieller und personeller Hinsicht zur Verfügung stehen. Jedenfalls scheint es von vornherein aussichtslos zu sein, sich einer solchen Sache als Jungforscher zu nähern.

War denn da kein Lehrer, der die angehenden Jungforscher gewarnt hat? Haben die Eltern versäumt, sie vor nutzlosem Treiben zu bewahren? Hat ihnen niemand gesagt, dass Studien mit sehr kleinen Stichproben keinerlei wissenschaftlich bedeutende Ergebnisse erbringen können? Oder geht es hier nur um Werbebotschaften?

Damit bin ich bei meinem Thema, nämlich bei den zwei Trends in der Bildung, die ich für bedauerlich halte: Oberflächenkompetenz und Tiefenscheinwissen.

Oberflächenkompetenz

Michael Berger ruft im aktuellen Journal des Fachbereichstags für Elektrotechnik und Informationstechnik zu mehr Bildung auf: „Die Fachhochschulen haben sich lange vor der Bologna-Reform von der Vermittlung von Rezeptwissen – zu wissen wie, aber nicht warum – verabschiedet[…] Der Abschied vom Rezept war sicher kein Fehler.“ Berger meint ferner, dass sich die Schüler (sozusagen befreit vom Rezeptwissen) auf das lnternet im Smartphone oder Tablet verließen. Unter Zugrundelegung wissenschaftlicher Maßstäbe könne man diese Art der lnformationsgewinnung nur als unzureichend und oberflächlich bezeichnen.

Mit dem allgemeinen Trend zur Oberflächlichkeit geht das sinkende Interesse von Schülern einher, einen Ingenieurstudiengang zu beginnen. Das folgende Vorkommnis an einer höheren Schule markiert so etwas wie den Endpunkt der Entwicklung. Ein Schüler weigert sich, die Integralrechnung zu lernen. Seine Begründung: „Auf meinem Taschenrechner gibt es das Integralzeichen.“

Der freudvolle Umgang mit Problemen aller Art – mathematischen, technischen oder auch alltagspraktischen – geht verloren. Wer jegliche Anstrengung vermeidet, wird niemals die Freude empfinden können, die mit einem selbst gelösten Problem einhergeht. Und er kann auch nicht den damit verbundenen tiefen Lerneffekt erfahren.

Die lebenserhaltende Fähigkeit der Stressbewältigung bleibt auf der Strecke (Hüther, 2005). Stattdessen wird Stressvermeidung geübt. Es bleibt bei einer Arbeit an der Oberfläche und dem damit verbundenen bescheidenen Lustgewinn. Es entsteht eine Art Oberflächenkompetenz, eine Kompetenz, die nicht auf einer aktiven Durchdringung des Gegenstands beruht. Die Kritikfähigkeit bekommt keine Entwicklungschance. Mehr darüber in „Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten“ (2006).

Tiefenscheinwissen

Michael Berger schreibt weiter: „Ein zweiter Trend besteht in einer gewissen Selbstzufriedenheit mit dem eigenen Wissen. Die Studierenden glauben zum Teil schon in jungen Jahren, Wichtiges von Unwichtigem für ihre Zukunft und ihr Berufsleben unterscheiden zu können.“

Als ich einen meiner Studenten auf Mängel in seinem Computerprogramm hinwies, meinte er, dass sein Programm ausgereift sei. Oberflächliches Wissen geht mit Selbstgewissheit einher. Wer wenig weiß, kann sich seiner Sache ziemlich sicher sein.

Demgegenüber ist Wissenschaft durch Unsicherheit geprägt. Mit jeder Antwort auf eine Frage tun sich neue Fragen auf. Wissenschaftler zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit solchen Unsicherheiten leben können.

Beim vordringenden Zeitgeist der Bequemlichkeit kommt diese Haltung aus der Mode. Das Selbstbild lässt sich auch mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen vorteilhaft gestalten.

Darum geht es: Anstrengungslos Experte werden und Gewissheit erlangen. Da bieten sich Scheinerklärungen an. Bei der Akupunktur sind es irgendwelche okkulten „Energieströme“ und die Homöopathie beruht auf dem „geistartigen Wesen“ von Arzneisubstanzen. Das sind anstrengungslose Begründungen, die zur Beruhigung der Gemüter beitragen. Es ist metaphysisches Gedankengut, unüberprüfbares „Wissen“ über tiefer Liegendes; es sind einfache Antworten, die dem Fragen ein Ende machen. Das nenne ich Tiefenscheinwissen.

Metaphyisches Gedankengut findet sich nicht nur bei den Esoterikern. Die um sich greifenden Glaubenssysteme machen auch vor den „Skeptikern“ nicht halt, denn: Glauben ist einfacher als denken.

Eigentlich sind die „Skeptiker“ strenge Kritiker von Okkultem aus den Bereichen Homöopathie und traditionelle chinesische Medizin. Das dortige Tiefenscheinwissen wird heftig gegeißelt. Dabei wird angeprangert, dass Pseudowissenschaften nur unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit mit methodisch fragwürdigen Methodiken arbeiteten und ein Weltbild voraussetzten, welches dem ontologischen Naturalismus entgegenstehe.

Auch diese Leute haben ihr Tiefenscheinwissen. Sie glauben an die Prinzipien des ontologischen Naturalismus, beispielsweise daran, dass es keine Übernatur gebe und dass die Welt kausal geschlossen sei. Ein Pseudowissenschaftler setze ihrer Meinung nach ein völlig anderes Weltbild voraus und sei sich nicht bewusst, dass er sich unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit über deren „wahre Prinzipien“ hinwegsetze.

Der „Skeptiker“ hat demnach ein einfaches Rezept, wonach er Pseudowissenschaft als solche erkennen kann. Prüfstein ist sein Weltbild. Er argumentiert metaphysisch.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff frei von Metaphysik. Unter Pseudowissenschaften versteht man nämlich „Behauptungen, Lehren, Theorien, Praktiken und Institutionen, die beanspruchen, Wissenschaft zu sein, aber Ansprüche an Wissenschaften nicht erfüllen“ (Wikipedia, Zugriff am 12.12.2015). Wissenschaft hat mit Transparenz, Falsifizierbarkeit, Diskussionsbereitschaft, Offenheit, Freiheit, also mit allerlei Diesseitigem zu tun. Diese Auffassung von Pseudowissenschaft kommt ohne Bezug auf irgendeine Ontologie aus. Aber sie macht Arbeit: Um die Spreu vom Weizen zu trennen, muss sich der Skeptiker in das anstrengende Geschäft der Wissenschaft begeben. Oberflächenkompetenz ist dabei ziemlich nutzlos und Tiefenscheinwissen hinderlich.

Zum Weiterlesen

Michael Berger: Mehr Bildung! Ein Aufruf zur Unzeit. FBTEI-Journal Wintersemester 2015/16

Timm Grams: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten. Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung. Erschienen in THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6

Felix von Cube: Gefährliche Sicherheit. Die Verhaltensbiologie des Risikos. 1995

Gerald Hüther: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. 2005

 

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Die Patentrezepte der „Skeptiker“ und der Medizin-Nobelpreis 2015

Der gute Wille ist
keine Entschuldigung
für schlechte Arbeit.

Winston Churchill

Wir lieben einfache Lösungen. Wer wird schon den Werbebrief genauer studieren, der ihm Gewinn und Reichtum oder eine kostenlose Fernreise verspricht? Die Zeichen sind allzu deutlich: Abzocke droht – weg damit. Eine genauere Prüfung des Angebots ist entbehrlich.

„Skeptiker“ sind Großmeister einfacher Lösungen dieser Art. Sie kennen die Warnzeichen, die auf Pseudowissenschaften hinweisen: Yin Yang, Chi, geistartige Kräfte, Äther, Unvereinbarkeit mit den heute anerkannten Naturgesetzen usw. Diese Merkmale machen es ihnen leicht, Irrwege zu erkennen und sie von wahrer Erkenntnis zu unterscheiden.

Das ausgefeilteste Konzept, das in diese Richtung geht, ist das der Scientabilität von Christian Weymayr. Nach seiner Ansicht sind beispielsweise homöopathische Arzneimittel nicht scientabel. Weymayr meint damit, dass eine Überprüfung der Wirksamkeit dieser Mittel entbehrlich sei, da die Begründung für das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspreche. Folglich sei ein Bestehen der Prüfung von vornherein auszuschließen ­(Die Homöopathie-Lüge“ – Ein Interview).

Schön wäre es, könnte man die Welt so einfach sortieren. Leider ist dem nicht so. Die „Skeptiker“ geraten in Gefahr, mit ihren einfachen Rezepten in Denkfallen zu stolpern.

Die Begründungsmuster der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) eignen sich vorzüglich zur satirischen Herabwürdigung ihrer Rezepturen. Und diesem Geschäft widmen sich einige „Skeptiker“ mit großer Hingabe. Ich nehme an, dass sie damit großenteils auch richtig liegen. Aber wohl nicht immer. Hier ein paar Beispiele:

Große Aufregung erfasste diese „Skeptiker“, als der diesjährige Nobelpreis der Medizin an die chinesische Wissenschaftlerin Youyou Tu ging, die sich der TCM tief verbunden fühlt. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, wird ein wahrer Eiertanz aufgeführt (Geht der Medizin-Nobelpreis 2015 an die Traditionelle Chinesische Medizin?). Der „Skeptiker“ fragt sich irritiert „Und das macht nun die pseudomedizinische TCM mit einem Paukenschlag salonfähig?“ und er gibt sich auch gleich die Antwort: „Man könnte sogar argumentieren, dass Youyou Tu gezeigt hat, wie unzureichend TCM ist.“ (Edzard Ernst, emeritierter Professor für Alternativmedizin)

Eingedenk der Umkehrung von Churchills Spruch – etwa so: Ein fragwürdiger Ansatz garantiert noch nicht den Misserfolg – wage ich den folgenden Kommentar.

Die (empirische) Wissenschaft hat zwei Seiten, nämlich die kritisch-rationale und die schöpferische. Karl Raimund Popper hat sein Hauptwerk dem – wie er es später nannte – kritischen Rationalismus gewidmet. Von dort aus hat er die Abgrenzung zur Metaphysik unternommen. Diese andere Seite hat er nicht tiefer ausgeleuchtet, aber ihm war wohl bewusst, dass auf der anderen Seite die Illusion, die Spekulation, der Zufall, der fruchtbare Irrtum, die Mystik zuhause sind, und dass diese Seite für den schöpferischen Prozess unverzichtbar ist. Ohne diese Seite wäre der kritische Rationalismus des Karl Raimund Popper sinnlos: Es gäbe ja nichts, was zur Falsifizierung anstehen könnte.

Alexander Flemings Entdeckung des Penicillins ist nicht weniger wert, nur weil er sie im Grunde der eigenen Schlamperei zu verdanken hat. Und die Erfinder des Telefons werden nicht gescholten, nur weil ihre Leistung letztlich auf einem Zufallsfund beruht – Serendipity eben.

Die kritisch-rationale Seite der Wissenschaft ist gut im Aufräumen und Optimieren. Aber wirklich Neues bringt der kritische Rationalismus nicht hervor. Manches von Belang entsteht nun einmal in einem mystischen und illusionären Umfeld, wie sogar Karl Raimund Popper zugesteht.

Vom TCM-Bashing hat keiner etwas. Wer sich ausdauernd über den „mystischen und pseudowissenschaftlichen Überbau der TCM“ aufregt, bringt die Wissenschaft nicht voran. Die Berufung auf das Geistartige ist eben nur ein Warnzeichen. Verlassen kann man sich nicht darauf, dass auf dem Hintergrund solcher Vorstellungen nur Blödsinn entsteht.

Einfache Lösungen sind in erster Linie eins: einfach. Wer sicher gehen will, prüft im Detail. Und die TCM wird kritisch geprüft, und zwar von kompetenter Seite, von den Kennern, wie dieser Artikel der New York Times andeutet:

http://www.nytimes.com/2015/10/11/world/asia/nobel-renews-debate-on-chinese-medicine.html

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Pseudomathematik

Thy wish was father to that thought
William Shakespeare. Heinrich IV

Was nach Wissenschaft klingt, aber keine ist, nennen wir Pseudowissenschaft. Harald Walach beispielsweise betreibt Pseudowissenschaft, wenn er die Welt der Esoterik in wissenschaftliches Licht taucht. Er nutzt, wie er zugibt, nur die „wissenschaftliche Terminologie“, nicht etwa die Methoden und Erkenntnisse der Wissenschaft. Er gibt also vor, ein Spiel nach bestimmten Regeln zu spielen; dabei hat er gar nicht vor, diese einzuhalten.

Dasselbe kann man mit Mathematik machen: Pseudomathematik klingt wie Mathematik, ist aber keine.

Um das Feld einzugrenzen, um das es hier geht, stelle ich klar: Ich spreche nicht von den notorischen Fehlern in Herleitungen und Formeln, die bei nächster Gelegenheit bereinigt werden. Denn: Zum Werkzeug des Mathematikers gehören Papier, Bleistift und ein großes Radiergummi. Das Studium notorischer Fehler ist ein grundlegendes pädagogisches Prinzip: Aufgedeckte Fehler sind lehrreich, wie Walter Lietzmann in „Wo steckt der Fehler“ schreibt. Ich gebe ein klassisches Beispiel für diese Art von Fehlern: a2a2 lässt sich auf mehrerlei Arten darstellen, beispielsweise so: a(aa) oder auch so: (a+a)(aa). Also ist a(aa) = (a+a)(aa). Wir kürzen den Faktor aa heraus und erhalten a = 2a. Jede Zahl ist also ihrem Doppelten gleich. (Nicht immer springt einem die unerlaubte Division durch null so ins Gesicht wie hier.)

Also: Um diese Art von Fehlern geht es mir nicht. Für viel wichtiger halte ich die weit verbreitete grundlegende Fehlauffassung von mathematischen Konzepten. So etwas nenne ich Pseudomathematik.

Ich beginne mit einem Beispiel, bei dem schon die Aufgabenstellung falsch in Formeln umgesetzt wird, nach dem Motto: Wenn du nicht beweisen kannst, was du beweisen willst, dann demonstriere etwas anderes und behaupte, es sei dasselbe. Der Problemlöser macht sich sozusagen an einem Stellvertreter zu schaffen, der leichter zugänglich ist als das Original, und gibt vor, das schwere Problem zu lösen.

So etwas finden wir beispielsweise in Konsumstudien, wenn die in der Stadt angetroffenen Besucher als repräsentativ für die Bürger des Einzugsbereichs gelten, oder auch in öffentlichen Statistiken, wenn die Absolventenquote eines Jahrgangs als Absolventenquote aller Schüler oder Studenten einer Kohorte ausgegeben wird.

Umtauschparadoxon und Ziegenproblem

Ein Stück Pseudomathematik habe ich auf der Suchliste zum Stichwort „Umtauschparadoxon“ gefunden:

http://www.reiter1.com/Glossar/Umtauschparadoxon.html.

Die gute Google-Platzierung spricht dafür, dass die hier angebotene einfache Lösung allgemeinen Beifall findet. Hier der Text.

Jemand erhält einen Briefumschlag. Ihm wird gesagt, dass es insgesamt 2 Umschläge gibt, wobei im einen doppelt so viel Geld drin ist wie im anderen.

Frage: Soll er den Umschlag behalten, oder gegen den anderen umtauschen?

Die naive Rechnung lautet: Seien die beiden Beträge x und 2x. Bei Tausch erhält man zu jeweils 50% Wahrscheinlichkeit den doppelten bzw. den halben Betrag, also 0.5x/2 +0.5×2x = 1.25x. Man gewinnt demnach bei Tausch statistisch im Mittel 25% dazu.

Dass das Umtauschparadoxon in Wahrheit gar kein Paradoxon ist, erkennt man, wenn man das Rätsel anders formuliert, ohne es mathematisch und logisch zu verändern: Jemand erhält 2 Briefumschläge. Ihm wird gesagt, dass im einen doppelt so viel Geld drin ist wie im anderen.

Welchen soll er nehmen?

Hier erkennt man, dass der Beschenkte gar keinen gezielten Einfluss auf den erzielten Gewinn haben kann, denn die beiden Umschläge sind völlig gleichberechtigt. Er kann nur den einen oder anderen wählen.

Hier gilt die folgende Rechnung: 0.5x + 0.5×2x = 1.5x. Das jetzige x bezieht sich auf den kleineren Betrag, von dem man nicht weiß, in welchem Brief er steckt.

Das x in der naiven Rechnung weiter oben dagegen bezieht sich auf den unbekannten Betrag, welcher in dem Umschlag ist, den der Beschenkte gerade in Händen hält.

Allerdings wird in der naiven Rechnung die Bezugsbasis gewechselt: Das erste x geht davon aus, dass man den Brief mit dem größeren Betrag in Händen hält, während das zweite x davon ausgeht, dass man den Brief mit dem kleineren Betrag in Händen hält.

Ferner ist in der naiven Rechnung von 0.5x und 2x die Rede, was ja um Faktor 4 auseinander liegt, was für sich genommen schon der Ausgangsformulierung widerspricht.

Deshalb ist das Ergebnis 1,25x ohne jegliche Bedeutung.

Dem Autor ist das passiert, was man die „Leugnung des Problems durch Umformulierung“ nennen könnte. Wenn er schreibt „Hier gilt die folgende Rechnung: 0.5x + 0.5×2x = 1.5x“, so hat er die eigentliche Aufgabe aus den Augen verloren. Ohne nähere Begründung – und auch ohne das so zu benennen – gibt er die Gewinnerwartung an. Aber danach war gar nicht gefragt. Gefragt war, ob es sich lohnt zu tauschen.

Den interessierten Leser, der sich dem Umtauschparadoxon nähern will und der sich mit derartigen Kurzschlüssen nicht zufrieden gibt, den verweise ich auf meine Denkfallen-Seite.

Eine ganz ähnliche Leugnung des Problems wie hier ist mir im Zusammenhang mit dem sogenannten Ziegenproblem begegnet.

Nun wende ich mich einem anderen Bereich der Pseudomathematik zu: Fehlerhafte Herleitungen von Hypothesenwahrscheinlichkeiten und Fehlauffassungen zu Konfidenzintervallen in der schließenden Statistik. Denn eins zeigt sich immer  wieder: Auch geübte Statistiker wechseln ohne Vorwarnung von der  Testtheorie zur Bayes-Schätzung und wieder zurück und beachten nicht, dass  jeweils ganz verschiedene Voraussetzungen gelten.

Die „exakten“ Konfidenzintervalle nach Clopper und Pearson

Es gibt Leute, die behaupten, dass sich das Wissen der Menschheit alle sieben Jahre verdoppele. Diese Leute messen wohl nur die Berge an Papier oder Textzeilen, die produziert werden. Meiner Meinung nach irren sich diese Leute.

Lehrbuchautoren pflegen von anderen abzuschreiben. Und da sich einfache „Beweise“ leichter „verkaufen“ lassen als komplizierte, breiten sie sich auf dem Lehrbuchmarkt auch schneller aus.

Leichtfassliches hat einen Selektionsvorteil. Scheinwissen, das den Schülern und Studenten mit geringem kognitiven Aufwand nahe gebracht werden kann, hat eine größere Wachstumsrate als das Schwerverdauliche. Die einfache und plausible, wenngleich logisch und mathematisch windige Herleitung hat im Darwinschen Überlebenskampf der Ideen die besseren Karten.

Durch diesen Mechanismus werden wertvolle Erkenntnisse zugeschüttet. Das gewaltige Wissenswachstum ist in vielen Bereichen nur vorgetäuscht.

Das habe ich bereits während meiner Studienzeit bemerkt, als ich in einem weit verbreiteten damals aktuellen Lehrbuch der Variationsrechnung (Gelfand/Fomin) einen fehlerhaften Beweis entdeckte. Erst später las ich, dass dieser Fehler in der Fachliteratur unter dem Titel „Irrtum von Lagrange“ bereits aktenkundig war. Aber unter den Lehrbuchschreibern hatte der korrekte langwierige Beweis offensichtlich keine Verbreitungschance.

Vor einigen Jahren begegneten mir die in Statistikerkreisen gut bekannten Formeln für die Schätzung einer Wahrscheinlichkeit von Clopper und Pearson. Diese Formel und besonders die zugehörige Herleitung erschienen mir ziemlich dubios

Diese Formeln werden in vielen Lehrbüchern – beispielsweise auch in dem zu meinen Studienzeiten beliebten Buch von Heinhold und Gaede – als „exakte“ Vertrauensgrenzen nach Clopper und Pearson ausgegeben. Auch in dem von mir geschätzten Buch „Qualität und Zuverlässigkeit technischer Systeme“ von Birolini habe ich die Formeln samt „Herleitung“ gefunden.

Ich bin meinen Zweifeln auf den Grund gegangen und habe ein Programm geschrieben, das bei vorgegebener Wahrscheinlichkeit p mir eine Reihe von möglichen Stichproben der Größe n zieht. Für jeden der Versuche habe ich also die zufällige Trefferzahl k ermittelt. Zu jedem dieser Werte k und n habe ich dann das Konfidenzintervall nach den Formeln von Clopper und Pearson errechnet. Als Aussagewahrscheinlichkeit 1-b1b2 habe ich 95% gewählt. Genauer: b1 = b2 = 2.5%.

Das Ergebnis von hundert solcher Versuche ist in der folgenden Grafik für die Wahrscheinlichkeit p = 0.07, und die Stichprobengröße n = 10 dargestellt. Der exakte Wert p müsste in etwa 5% der Fälle außerhalb des Intervalls liegen. Tatsächlich wird der exakte Wert aber von allen hundert Intervallen überdeckt.

151002ClopperPearsonDas kann Zufall sein. Also habe ich 100 000 Versuche gemacht. Anstelle einer „Daneben-Rate“ von 5% komme ich auf etwa 3 Promille. Der tatsächliche Wert ist also um wenigstens den Faktor zehn kleiner als die angebliche Aussageunsicherheit.

Bei anderen Zahlenkombinationen sind die Abweichungen von den Clopper-Pearson-Vorgaben nicht ganz so drastisch. Aber die tatsächliche Daneben-Rate ist stets signifikant geringer als die „exakte“ Vorhersage nach Clopper und Pearson.

Immer noch zweifelte ich an meinen Zweifeln. Wenn die Formeln falsch sind, dann muss sich das in der Literatur niedergeschlagen haben. Also bin ich ins Internet. Bereits der dritte Google-Eintrag zu Clopper und Pearson förderte ein Papier zutage, das meine Daten bestätigte. Dort finde ich auch den Satz: „Nun ist seit langem bekannt, dass die Clopper-Pearson-Intervalle die zugelassene Irrtumswahrscheinlichkeit bei weitem nicht ausschöpfen, was zu unnötig langen Intervallen führt.“ (Johannes Gladitz in den RZ-Mitteilungen Nr. 9 vom Dezember 1994. Titel der Schrift: Fudizialintervalle für den Parameter der Binomialverteilung mit SPSS 6.0 für Windows.)

Mir scheint, dass Clopper und Pearson auf der Basis falscher Annahmen zufällig Formeln gefunden haben, die als pessimistische Schätzungen durchgehen können.

Ich stelle nun mit gestärkter Überzeugung fest, dass manche der in den Lehrbüchern vorgebrachten Gründe oder „Herleitungen“ für Konfidenzintervalle und Hypothesenwahrscheinlichkeiten sich nur als Mathematik ausgeben. Einen weiteren Beleg für derartige Pseudomathematik findet der Leser auf meiner Denkfallen-Seite unter dem Stichwort Software-Verifikation und –Test. Die hier aufgespießte Pseudomathematik nimmt sich auch Gerd Gigerenzer in seinem gut lesbaren Aufsatz „Die Evolution des statistischen Denkens“ vor (Unterrichstswissenschaft 32(2004)1, S. 4-22).

Es gibt Leute, die behaupten, dass sich das Wissen der Menschheit alle sieben Jahre verdoppele. – Diese Ansicht ist zu bezweifeln.

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Über Wunder

Ein mystisches Weltbild und dessen Überwindung

In den zehn Jahre meiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und bei Veranstaltungen des Humanistischen Verbandes Deutschland (hvd) bin ich auf Leute gestoßen, für die sich alles nach den geltenden Naturgesetzen richtet. Dieser Standpunkt weckte meinen Widerstand und in diesen Disputen schärfte ich meinen Standpunkt: Ich habe einiges über Wunder gelernt und auch über den Zusammenhang zwischen Wundern und Kreativität.

Wie nun denkt man in Kreisen der sogenannten Skeptiker über Wunder? Inge Hüsgen und Martin Mahner schreiben am  12.11.2011: „Ein Wunder ist ein Ereignis, das der allgemeinen Erfahrung widerspricht, naturgesetzlich unmöglich ist, und daher von einer übernatürlichen Wesenheit verursacht wurde.“

Der Skeptiker-Chefreporter kennt „(unwandelbare) Naturgesetze“ (GWUP-Blog, 16. März 2014). Dieser Auffassung begegnete ich folgendermaßen: „Auch die Idee von den ‚(unwandelbaren) Naturgesetzen‘ ist letztlich Glaubenssache.“ Der Chefreporter darauf: „Klar, ich habe gleich Pause, werde mal aus dem vierten Stock springen – bin sicher, dass die Gravitation nur eine Glaubenssache ist.“ (17. März 2014)

Gemessen an solchen Grobschlächtigkeiten kommt Martin Mahner eher feinsinnig daher (Unverzichtbarkeit und Reichweite des ontologischen Naturalismus, 2007). Aber auch er kennt grundlegende und nichthinterfragbare Naturgesetzlichkeiten und nennt sie Postulate. Diese Postulate stehen für ein im Grunde statisches Weltbild.

Eine der wohl machtvollsten Begründungen für diesen, letztlich in der Zahlenmystik wurzelnden Standpunkt liefert der Nobelpreisträger Eugene Wigner. In seinem Aufsatz „The unreasonable effectiveness of mathematics in the natural sciences“ (1960) bietet er eine Rechtfertigung für Galileis berühmte Aussage, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben sei (1623). Diese Auffassung reicht weit zurück, bis zu Platon und Pythagoras, denen man den Ausspruch „Alles ist Zahl“ zuschreibt. (Die „Philosophie der Physik“ von Norman Sieroka, 2014, gibt eine Einführung in den hier angesprochenen Themenkreis.)

Wigner bescheibt etwas, worüber wir uns nur wundern können: ein Wunder.

Erst kürzlich erschien im Spiegel (33/2015) ein Interview mit dem Nobelpreisträger Frank Wilczek. Der Nobelpreisträger meint darin: „Es ist eine grandiose Tatsache, dass wir die Natur, wenn wir ihr auf den Grund gehen, in ihrem Innersten verstehen können. Die einzige, aber zutiefst spekulative Erklärung könnte sein, dass irgendein Sternenmacher, ein Ingenieur verantwortlich ist für das Design dieser Welt.“

Aus all dem spricht ein mystisches Wissenschaftsverständnis: Es gibt ewig wahre Naturgesetze. Diese liegen großteils noch im Dunkeln, aber mit unserem Aufklärungsscheinwerfer leuchten wir immer größere Teile dieser Landschaft aus.

Das ist ein unbiologischer Standpunkt. Er erinnert an die Idee vom Intelligent Design, eine von den „Skeptikern“ gründlich verachtete Denkrichtung. Sie wird dem evolutionären Charakter der Weltbildentstehung nicht gerecht. Die Wissenschaft nahm ihren Aufschwung erst, als sie nicht mehr danach fragte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Deshalb gibt es auch geistreiche Entgegnungen auf die mystische Auffassung vom Weltgefüge, beispielsweise die Antwort des Richard Hamming auf Eugene Wigner (1980). Schauen wir einmal nach, ob es ihm gelingt, das Wunder zu entzaubern.

Hammings Gegenposition hat ihre Wurzeln in der Evolutionslehre des Charles Darwin. Im Jahr 1897 formulierte der bedeutende Physiker Ludwig Boltzman die Grundidee des (später von Popper so genannten) kritischen Rationalismus: „Das Gehirn betrachten wir als den Apparat, das Organ zur Herstellung der Weltbilder, welches sich wegen der großen Nützlichkeit dieser Weltbilder für die Erhaltung der Art entsprechend der Darwinschen Theorie beim Menschen geradeso zur besonderen Vollkommenheit herausbildete, wie bei der Giraffe der Hals, beim Storch der Schnabel zu ungewöhnlicher Länge.“

In seiner Antrittsvorlesung von 1900 führte Boltzmann das weiter aus: „Nach meiner Überzeugung sind die Denkgesetze dadurch entstanden, dass sich die Verknüpfung der inneren Ideen, die wir von den Gegenständen entwerfen, immer mehr der Verknüpfung der Gegenstände anpasste. Alle Verknüpfungsregeln, welche auf Widersprüche mit der Erfahrung führten, wurden verworfen und dagegen die allzeit auf Richtiges führenden mit solcher Energie festgehalten […], dass wir in solchen Regeln schließlich Axiome oder angeborene Denknotwendigkeiten sahen.“

Wunderbares

Der Naturwissenschaftler mit mystisch begründetem Weltbild kann sich noch der Illusion hingeben, er könne Wunder als solche identifizieren. Er glaubt ja, einige der unverrückbaren Naturgesetze zu kennen. Da tut sich der kritische Rationalist mit evolutionär begründetem Weltbild schwerer. Ihm fehlt bereits der Begriff der „übernatürlichen Wesenheit“ und folglich auch die Vorstellung eines von einer solchen Wesenheit verursachten Ereignisses. Er hat kein Mittel, ein solches Ereignis von einem mit noch unbekanntem aber letztlich prüfbarem Wirkmechanismus zu unterscheiden.

Martin Mahner folgt dem einfachen Rezept des Mystikers: Wunder sind Verstöße gegen die geltenden Naturgesetze. Und was gegen die Naturgesetze verstößt, kann es nicht geben.

Meistens liegt der Naturalist und „Skeptiker“ damit richtig: Wünschelrutengängerei, Astrologie, Homöopathie, Gedankenübertragung und vieles mehr lässt sich irrtumsfrei auf diese Weise verdammen. Aber in all diesen Fällen braucht man das Argument, dass ein Verstoß gegen die momentane Wissenschaftsauffassung vorliegt, tatsächlich nicht: Bei den vorgeblichen Wundern handelt es sich um prüfbare Effekte, die sich im Laufe der Prüfung verflüchtigen, die der Prüfung also nicht standhalten. Das Argument, sie stünden im Widerspruch zu geltenden Naturgesetzen, fügt dem nichts hinzu.

Wer Wunderberichte in Bausch und Bogen durch Hinweis auf die bekannten Naturgesetze ablehnt, verliert den Blick für das Wunderbare, für interessante Anomalien, deren Untersuchung zu neuen Erkenntnissen führt. Der Kampf gegen den Wunderglauben hat, ebenso wie die Verächtlichmachung des illusionären Denkens, eine kontraproduktive Kehrseite: Man schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Sobald wir die schwer fassbare Übernatur außer Acht lassen, wird der Zugang zum Begriff des Wunders leichter. Aus rein diesseitiger Sicht, also durchweg in unserer Erfahrungswelt angesiedelt, gibt es

  1. die alltägliche Wunder der Natur und des Lebens,
  2. die Wunder, denen bereits bekannte aber verborgene Wirkmechanismen zugrunde liegen, und es gibt
  3. wunderbare Erfindungen und Entdeckungen.

Ich kann mich immer noch darüber wundern, dass ein Stein zu Boden fällt, dass Flugzeuge fliegen und dass wir Naturgesetze kennen, die uns Ingenieuren erlauben, Maschinen zu bauen, die den Menschen das Leben erleichtern.

Trotz aller Fortschritte der Biologie und der Künstlichen Intelligenz bleiben die Wunder des Lebens auf geheimnisvolle Art überwältigend. Erneut hat mir das der Aufsatz „Roboter mit Ego“ von Tony Prescott (Spektr. d. Wiss. 8/2015, S. 80-85) vor Augen geführt: Es ist schon erstaunlich, wie langsam die Wissenschaft der Künstlichen Intelligenz trotz aller großartigen Verkündigungen ihrer Apologeten vorankommt.

Der 14. Vers des 139. Psalms drückt dieses Erstaunen angesichts der Wunder der ersten Art aus: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin.“

Aber diese Wunder erster Art sind sicherlich nicht gemeint, wenn wir von Wundern sprechen: Ein Wunder ist für uns kein Wunder mehr, wenn es sich auf Alltägliches und gut Geprüftes zurückführen lässt.

Diese Rückführung ist nicht immer leicht. Manches Wunder lässt sich nicht einfach entzaubern. Schon aus diesem Grund ist es völlig daneben, von übernatürlichen Wundern zu sprechen: Wir könnten sie ja nicht von Wundern unterscheiden, die sich im Prinzip entzaubern lassen und die sich beharrlich der Entzauberung entziehen.

Bei den folgenden beiden Wundern der zweiten Art stecken hinter den wundersamen Effekten nahezu triviale Mechanismen. Man muss sie nur erkennen.

Die Masse macht’s

„Am 18. August 1913 gab es in Monte Carlo ein bemerkenswertes Ereignis. In dem legendären Spielcasino, in dem sich die Oberschicht halb Europas in Frack und Abendgarderobe ein Stelldichein gab, landete die Kugel des Roulette stolze sechsundzwanzig Mal hintereinander auf Schwarz“ (Frankfurter Allgemeine, 30.06.2012).

Bei vielen Gelegenheiten für ein „Wunder“ erscheint halt hin und wieder eins. Um dieses spezielle Casino-„Wunder“ zu produzieren, müssen weltweit nämlich höchstens ein paar hundert Millionen Mal die Rouletteräder gedreht werden. Sehr diesseitig ist das.

Für den mathematisch Interessierten: Die Anzahl der Spielrunden am Roulettetisch bis erstmals 26 Mal Schwarz erscheint, ist nicht allzu groß. Der Erwartungswert für die Zahl der Runden, bis ein solches Ereignis eintritt, beträgt nur 134.217.726, also etwa 134 Millionen. Bei der weltweit großen Zahl an Spieltischen ist eine solche Rundenzahl etwas durchaus Irdisches. Man sollte sich wundern, wenn ein solches Ereignis nicht irgendwann einmal eintritt (Problemsammlung Querbeet, Aufgabe 24 Zufall oder nicht?).

Verborgene Strukturen

Hier ist ein weiteres Beispiel für Trivialitäten, die sich als Wunder ausgeben. Es ist der Unterhaltungsmathematik zuzuordnen. Ich stelle Ihnen jetzt eine kleine Rechenaufgabe.

Schreiben Sie eine beliebige Zahl, die nicht negativ und kleiner als zehntausend ist, auf einen Zettel. Schreiben Sie diese Zahl mit vier Ziffern, notfalls ergänzen Sie die Zahl um führende Nullen. Nun stellen Sie aus diesen vier Ziffern durch Umordnen die größtmögliche und die kleinstmögliche Zahl her. Nun bilden Sie die Differenz der beiden Zahlen. Diese neue Zahl bezeichnen wir als Folgezahl zur zunächst gewählten. Von dieser Zahl bilden wir nach derselben Vorgehensweise erneut die Folgezahl, und damit wieder und wieder. Falls wir mit 7777 starten liefert der Prozess diese Folge

7777 → 0000 → 0000.

Wir landen also bei der Zahl 0, was weiter kein Wunder ist. Interessant wird es, wenn wir anfangs eine Zahl mit nicht durchweg identischen Ziffern wählen, beispielweise 0021. Dann ergibt sich die Folge

0021 → 2088 → 8532 → 6174 → 6174 → …

Wir landen bei der Zahl 6174. Und das Sonderbare ist: Egal von welcher der 9990 möglichen Zahlen wir starten, immer wieder ergibt sich 6174. Die Zahl 6174 scheint eine wunderbare magische Anziehungskraft zu besitzen. Mancher Mathematiker hat sich davon narren lassen.

Entzauberung (wiederum für den mathematisch Interessierten): Wir fassen alle wesentlichen Zahlen zur Menge K0 zusammen. Von den Zahlen, die allein durch Umordnen der Ziffern entstehen, nehmen wir jeweils nur einen Repräsentanten in die Menge auf. Das sind dann insgesamt 715 Zahlen, also schon deutlich weniger als die zunächst eingebrachten zehntausend. Nun gehen wir zur Menge K1 der Repräsentanten der direkten Nachfolger dieser Zahlen über. Dann bilden wir die Menge K2 aller Nachfolger der Zahlen aus K1. Und so weiter. Es entsteht eine Folge von Mengen K0, K1, K2, … Die Rechenvorschrift für den Nachfolger bewirkt, dass jede Folgemenge ausschließlich Elemente der jeweiligen Vorgängermenge enthält, aber – und das ist der Witz – manchmal nur einen kleinen Teil davon.

In unserem Fall schrumpfen die Zahlenmengen ziemlich rasch von 715 auf 31, 18, 13, 9, 6, 3 und schließlich auf nur noch zwei Zahlen zusammen. K7 enthält nur noch die Repräsentanten der Zahlen 0 und 6174.

Es kann gar nicht ausbleiben, dass nach wenigen Schritten, hier sind es sieben, nur noch wenige Zahlen übrigbleiben und dass sich diese Zahlenmenge nicht weiter reduzieren lässt. Die letzte Menge muss ausschließlich Zyklen von Zahlen enthalten, bei denen die Nachfolgerbeziehung irgendwann auf die Ausgangszahl zurückführt. Solch ein Zyklus wird erwartungsgemäß ziemlich kurz sein, im Extremfall besteht er aus nur einem Element.

Bei den vierstelligen Dezimalzahlen sind das zwei Zyklen aus jeweils nur einer Zahl: 0000 und 6174. An der Zahl 6174 ist so besehen als überhaupt nichts magisch oder wunderbar.

Wenn man mit anderen Stellenzahlen und Basiswerten (Oktalsystem, Hexadezimalsystem) experimentiert, kommt man ebenfalls auf kleine Zyklen. Bei den zweistelligen Dezimalzahlen kommt man neben dem Nullzyklus noch auf den Zyklus aus fünf Zahlen:

09 → 18 → 36 → 45 → 27 → 09

Bei den zweistelligen Zahlen im Stellenwertsystem zur Basis sieben gibt es schließlich nur noch den 0-Zyklus: Egal mit welcher der 49 möglichen Zahlen man startet, stets landet man bei 00.

Erfindungen und Entdeckungen: Serendipity

Was für die meisten Leute ein Wunder ist (beispielsweise die Tatsache, dass die Lichtgeschwindigkeit eine obere Schranke für die Ausbreitung von Energie oder die Bewegung von Körpern darstellt), ist für den Physiker kein Wunder mehr. Aber auch er – und gerade er – begegnet immer neuen Wundern. Die Welt ist voller Wunder, einfach weil uns viele Wirkmechanismen nicht bekannt sind. Ob etwas ein Wunder ist oder nicht, hängt offenbar vom Wissensstand des Betrachters ab. Der Begriff des Wunders im dritten Sinne ist subjektiv und zeitabhängig.

Es ist ein Fehlschluss, wenn man meint, man könne solchen Wundern im Rahmen der massiven Forschungsförderung und mit riesigen Teams auf die Spur kommen. In meinem Artikel „Skeptiker“ kontra Skeptiker über Kreativität in der Wissenschaft“ gehe ich darauf ein.

Neue Lösungen und Entdeckungen werden keinesfalls in Teamarbeit und zielgerichtet angegangen. Der Geistesblitz ereignet sich stets in einem einzigen Kopf! Meist entdecken die Genies rein zufällig Lösungen für Probleme, die sie eigentlich gar nicht hatten. Und das ist wunderbar.

Diese Auffassung wird von vielen Autoren vertreten, die über das Wesen der Kreativität schreiben. Der Vorgang des Erfindens und Entdeckens wird in ihren Büchern meist anhand des Märchens der „drei Prinzen aus Serendip“ erläutert: Durch Zufall und Weisheit machen diese Drei unerwartete Entdeckungen. Diese Sicht der Dinge hat sogar Eingang in den angelsächsischen Wortschatz gefunden: Serendipity steht für glückliche Fügung, genauer: für die zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist.

Echokammern und Wunderverhinderung

Wer meint, gegen Wundervorstellungen ankämpfen zu müssen, gerät in zwei wesentliche Schwierigkeiten; die erste ist formaler Natur und die zweite betrifft die praktischen Konsequenzen.

  1. Wer übernatürliche Wunder als nichtexistent nachweisen will, muss sagen, was er unter einem solchen Wunder versteht. Und das wird ihm mit seinem komplett diesseitigen Instrumentarium nicht gelingen. Es gibt kein Kriterium für Ereignisse, die von einer Übernatur verursacht sind. Sie lassen sich nicht unterscheiden von Ereignissen, die noch nicht ausreichend untersucht worden sind und über deren Wirkmechanismen noch keine Erfahrungen vorliegen.
  2. Wer unter Wunder all das begreift, was der heutigen Naturwissenschaft und den bisherigen Erfahrungen widerspricht, wird blind für Neues, unempfindlich für das Wunderbare. Er schließt sich in eine Echokammer ein, die nur das widerhallen lässt, was er bereits gut kennt.

Der zweite Punkt scheint mir besonders wichtig zu sein. Er spiegelt den Zeitgeist der grassierenden Bequemlichkeit wieder. Wenn ich heute über das Internet ein Buch bestellen will, bekomme ich seitens Amazon bereits Kaufvorschläge, die auf den Spuren beruhen, die ich – insbesondere aufgrund meiner bisherigen Bestellungen und Wahlhandlungen – im Internet hinterlassen habe. Cass R. Sunstein hat sich mit diesen Fragen in seinem Buch „Choosing not to choose“ (2015) eingehend beschäftigt: “There is a risk to learning and development in any situation in which people are defaulted into a kind of echo chamber, even if they themselves took the initial step to devise it” (Seite 109). „The problem, in short, is that if defaults are based on such choices, the process of personal development might be stunted. When your experiences are closely tailored to your past choices, your defaults are personalized, which is highly convenient, but you will also be far less likely to develop new tastes, preferences, and values” (Seite 161).

Sunstein spricht von Standardregeln (default rules), die uns von der interessierten Wirtschaft auferlegt werden. Die so erzeugten Echokammern behindern unsere geistige Entwicklung.

Das Internet bietet eine nahezu grenzenlose Freiheit der Informationsgewinnung. Gleichzeitig geraten wir in ein neues Paradoxon: „Die moderne, durch hochverdichtete Netze zusammengebundene Industriegesellschaft […] lässt sich […] zentralistisch nicht mehr organisieren. Entsprechend wächst mit der Netzverdichtung und mit dem ihr entsprechenden Grad der Komplexität moderner Lebensverhältnisse unsere Angewiesenheit auf Formen lebendiger politischer Selbstorganisation nicht zuletzt in kleinen Einheiten und Kommunitäten“ (Hermann Lübbe in „Modernisierung und Folgelasten“, 1997, S. 20). Die homogene Massengesellschaft zerfällt in homogene abgeschottete Untermassen, die sich in ihre Echokammern einschließen.

Ein Muster dieses Isolierungsprozesses ist der Präsidentschaftswahlkampf 2004 in den USA. Erstmals wurde die politische Diskussion im großen Maßstab durch Blogs geprägt, sauber getrennt nach Red Believers (Republikaner um Präsident Bush) und Blue Believers (Demokraten um den Herausforderer Kerry). „Technology made it possible to nationalize the sense of community, help people find political soul mates and search for their personal truths online; but the political class also helped peel people apart. Both parties redrew districts to be more political homogeneous, marginalized their centrists, elevated their flamethrowers, viewed with suspicion anyone who sounded temperate or reached across the aisle.” (Time, September 27, 2004, p. 42)

Der Wissenschaftsgläubige, der das Wesen der Dinge zumindest partiell erkannt zu haben meint, macht etwas Ähnliches: Er setzt auf das bereits Bekannte und bildet sich seine eigene Echokammer. Das macht ihn unaufmerksam gegenüber dem überraschend Neuen. Und damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angelangt: Die Fokussierung der Abwehr auf „übernatürliche  Wunder“ — ein im Grunde sinnfreien Begriff  — sorgt für gedankliche Enge.

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Viertes Intermezzo: Täuschung und Selbstbetrug

Glaube, Wissenschaft und Selbstbetrug

Der Gläubige hält an seinen Überzeugungen fest, auch wenn Widersprüche auftauchen: Da gibt es den Philosophen, der bei der Lösung seines Transzendenzproblems in Zirkelschlüsse und Selbstwidersprüche gerät und den Theologen, der sich mit der Theodizee konfrontiert sieht. Es kommt zu geistigen Spannungen und Dissonanzen. Der Glaube wird anstrengend. Selbstbetrug als Mittel der Stressvermeidung tritt auf den Plan. Das wiederum führt zu neuerlichem, weniger bewusstem Stress.

Der wissenschaftlich denkende Mensch strebt danach, Widersprüche zu vermeiden, anstatt sie zu verstecken. Er lässt – Karl Raimund Popper folgend – liebgewonnene aber widerlegte Theorien an seiner Stelle sterben. Im Idealfall kommt er ohne Selbstbetrug aus.

Beispiele für Selbstbetrug in diesem Weblogbuch

In diesem Weblogbuch habe ich gelegentlich versucht, irgendwelche mir absonderlich erscheinenden Glaubensbekenntnisse mit Selbstbetrug zu erklären. Beispiele:

In diesen Fällen werden „Wahrheiten“ verkauft, die wohl auch dem „Verkäufer“ nicht geheuer sind. Wahr ist, dass etwas Falsches behauptet wird. Sich dessen bewusst zu sein, dürfte dem „Verkäufer“ großes Unwohlsein bereiten. Im Sinne des seelischen Gleichgewichts muss dieser Gedanke verschwinden. Er wird verstaut und unsichtbar gemacht nach dem Motto: Wer sich selbst betrügt, kann andere besser hereinlegen.

„Fooling yourself the better to fool others“ ist der Untertitel eines Buches des Evolutionstheoretikers Robert Trivers. Ich komme darauf zurück.

Aura-Reading

Die Gesundheitsmesse ist eine Veranstaltung, zu der Klinikchef Dr. Jürgen Freiherr von Rosen jährlich nach Gersfeld einlädt. Im Artikel über Homöopathie war bereits von ihm die Rede. Die Messe ist ein Stelldichein für Alternativheiler. Im Jahr 2012 wollte ich mir die Sache einmal näher ansehen.

150819Aura-ReadingIch stieß auf einen würdigen älteren Herrn mit weißem Haupthaar und Vollbart. Neben ihm eine Dame mittleren Alters, offenbar seine Kundin, deren Hand auf einer Unterlage mit mehreren Kontaktpunkten lag, die mit einem Computer verbunden war. Auf dem Bildschirm vor den beiden waren schemenhaft ein menschlicher Körper und dessen „Energiezentren“ zu sehen.

Versprochen war ein Aura-Chakra-Clearing für 25 €.

Im Verlaufe des Gesprächs zwischen dem Heiler und der Kundin flackerten die Chakren eindrucksvoll. Ich weiß nicht, was die beiden besprochen haben.

Zuerst habe ich an Betrug gedacht: Die Dame wird hier mit irgendwelchem Hokuspokus abgezockt. Dann meldete sich der Skeptiker in mir. Liegt die Sache vielleicht ganz anders? Die Kontaktfläche sah verdächtig nach einem Aufnahmegerät für Hautspannungen aus. Der Computer arbeitete wohl wie eine Art Lügendetektor mittels Hautwiderstandsmessungen (Galvanic Skin Response, GSR).

Da dämmerte es mir: Nicht der Heiler betrügt, nein, er deckt möglicherweise geheime Wahrheiten auf, die die Dame in ihrem Unterbewusstsein verstaut hat. Vielleicht hilft der Heiler ihr gar, über ein geschicktes Frage-Antwort-Spiel unter Beachtung der Bildschirmsignale, mehr über sich selbst zu erfahren als sie selber weiß.

Denn das ist durch die Forschung zum Thema Selbstbetrug ziemlich gut belegt: Die Haut weiß mehr als das Gehirn. – Natürlich „weiß“ die Haut gar nichts. Aber über Erregungszustände teilt sie etwas mit. Und diese Erregungszustände werden auch durch das Unbewusste gesteuert.

Es gibt ein berühmtes Experiment zur unbewussten Stimmerkennung von Gur und Sackheim (1979). Ich habe davon aus dem Buch Buch Deceit and Self-Deception von Robert Trivers erfahren (2011, S. 59 ff.).

In diesem Experiment werden den Versuchspersonen Aufnahmen vorgespielt, in denen sie selbst oder ein anderer einen Abschnitt eines Buches vorlesen. In den Aufnahmen hören die Versuchspersonen manchmal ihre eigene und manchmal die Stimme einer anderen Person. Per Knopfdruck sollen sie zu erkennen geben, ob sie die eigene oder aber eine fremde Stimme wahrnehmen. Dabei sind sie an ein Messgerät zur Bestimmung des Hautwiderstands angeschlossen. Beim Hören der eigenen Stimme ist der Messwert gegenüber dem anderen Fall deutlich erhöht.

Das per Knopfdruck mitgeteilte Ergebnis ist zuweilen falsch. Falsch-positiv ist es, wenn die eigene Stimme erkannt wird, obwohl es eine andere ist, falsch-negativ, wenn die eigene Stimme einem nicht als solche erscheint.

Etwas Erstaunliches zeigte sich bei diesen Experimenten. Die Haut lag immer richtig: erhöhter Messwert bei der eigenen Stimme, niedriger bei der fremden. Und noch erstaunlicher ist, dass die falsch-negativen Antworten vornehmlich von jenen stammten, denen kurz zuvor – im Schein – eine demütigende Niederlage beigebracht wurde. Wurden Erfolgserlebnisse vorgespiegelt, kam es zu falsch-positiven Entscheidungen.

Ein Freund leidet

Mein Freund und ich, wir stehen in unserer Lieblingskneipe beim Bier. Er meint:

  • Du, seit einiger Zeit quälen mich öfter ganz grässliche Kreuzschmerzen. Neulich in der Frühe bin ich kaum aus dem Bett gekommen. Ich habe gefühlt mindestens eine halbe Stunde gebraucht, um ins Bad zu kommen.
  • Was sagt Dein Arzt dazu?
  • Ja, ganz entgegen meiner Gewohnheiten habe ich ihn zum Hausbesuch bestellt. Er hat nichts gefunden. Das Diagnoseergebnis war gleich null.
  • Hast Du Dein Liebesleben endlich in Ordnung gebracht?
  • Wieso denn das? Ich bin mit Barbara und Sandra vollkommen glücklich. Sie wissen auch voneinander. Sie sind vielleicht etwas weniger glücklich als ich. Aber ich habe die Schmerzen, nicht sie.

Viele Monate später berichtet mein Freund, dass Sandra nach drei Jahren von diesem Dreierverhältnis genug gehabt habe und abgesprungen sei. Nun gut.

  • Was machen Deine Kreuzschmerzen?
  • Jetzt, wo Du drauf zu sprechen kommst, hallo: Die sind seit einiger Zeit wie weggeblasen.

Da ich kürzlich das Buch „Deceit and Self-Deception“ von Robert Trivers gelesen habe, komme ich auf eine verrückte Idee zu sprechen:

  • Könnten Deine damaligen Nöte nicht damit zusammenhängen, dass Dein Gehirn die hässliche Wahrheit, nämlich Dein Unbehagen mit der Situation und mit den Notlügen, im Unterbewusstsein verstaut und Dir in Deinem Bewusstsein die Glückslüge vorgegaukelt hat? So etwas bedeutet Stress für den Körper und sein Immunsystem.

Dann erzähle ich ihm von dem Experiment zur unbewussten Stimmerkennung von Gur und Sackheim und auch von den Kosten des Selbstbetrugs: Unterdrückte Wahrheiten belasten Immunsystem und Gesundheit.

Nach ein paar weiteren Bier sehen wir klar: So muss es gewesen sein. Wir wollen einmal sehen, ob diese Wahrheit morgen, in aller Nüchternheit gesehen, immer noch Bestand hat.

Manch einer betrügt sich ganz bewusst selbst – und es funktioniert

Zwei junge Pharmazeuten und Apotheker berichten von ihren Erlebnissen.

A. Welker: Gestern erhielt ich eine telefonische Kundenanfrage in der Apotheke, die mich auf das Thema Selbstbetrug mit neuen Augen blicken ließ. Bisher ging ich davon aus, dass Selbsttäuschung, wie zum Beispiel der Glaube an die Heilkraft der Homöopathie, auch aus einem (berechtigten) Skeptizismus des Alternativlers gegenüber Big-Pharma resultiert und er deshalb nach Alternativen sucht. Einen bewussten Selbstbetrug hatte ich bisher jedoch nicht in Betracht gezogen! Nun dieses Erlebnis. Es war gestern.

  • Haben Sie noch Rescue-Kaugummis? Die werden nicht mehr produziert, ich weiß; aber haben Sie noch Restbestände?
  • Nein.
  • Ich brauch die gegen Flugangst. Haben Sie wirklich keine mehr?
  • Nein, es gibt da Alternativpräparate, Mittel gegen Reiseübelkeit, die auch beruhigen, sowie Verschreibungspflichtiges, das gut wirkt.
  • Können Sie mal schauen, ob sie nicht noch irgendwo eine leere Schachtel von den Rescue-Kaugummis haben? Da können Sie mir dann auch normale Kaugummis reintun, ganz egal, ich brauch das für die Beruhigung

Wenn wir als Skeptiker versuchen, Menschen durch Diskussion und Nachdenken zu überzeugen, sollte man vielleicht berücksichtigen, dass es manchen Menschen weder um Nachdenken, Erkenntnis oder Wahrheit geht, sondern dass sie irgendwie aus einer unangenehmen Situation (z.B. Krankheit) heraus möchten, und ein probates Mittel ist Selbstbetrug, selbst wenn dieser ganz bewusst geschieht.

Christian Lutsch antwortet: Trifft nicht folgendes Totschlagargument das von Dir beschriebene Szenario: „Wer heilt, hat Recht“, unabhängig davon, ob plausibel oder kausal. Hier lässt sich noch etwas weiter differenzieren: Zwischen denen, die sich bewusst selbst betrügen wollen (?) und jenen, die es nicht besser wissen und subjektive Erfahrung über alles andere stellen. Letztere sollten ja die Adressaten unserer Arbeit sein. Aber bei Ersteren wird einfach eine Unwahrheit bewusst akzeptiert. Was soll oder kann man dagegen tun?

In der Pharmazeutischen Zeitung gab es vor knapp einem Jahr einen Artikel über die Wirkung von Placebos, die selbst dann wirkten, wenn sie ausdrücklich als Placebos verabreicht wurden. Ich denke, dass der Kontext, das Ritual, sich etwas gegen etwas einzuwerfen, und vielleicht auch der Hauch einer Chance, dass vielleicht doch irgendwie etwas Wirksames enthalten sein könnte, durchaus hilfreich sein können. Dass man sich diesen Effekt auch bewusst zunutze machen kann, ist für mich nachvollziehbar. Dazu eine kleine Anekdote.

Ich leide hin und wieder an Lippen-Herpes, meist stressbedingt. Das übliche Kribbeln warnt mich und ich trage umgehend Aciclovir-Creme auf. So habe ich schon häufig einen Ausbruch komplett verhindert. Als ich die Creme noch nicht kannte, war das Kribbeln Vorbote für einen hundertprozentig sicheren Herpes-Ausbruch.

Nun war ich unterwegs und spürte das Kribbeln. Kein Aciclovir dabei und keine Apotheke in der Nähe. Ich musste schnell handeln. Was tun?

Ich erinnerte mich, dass in den Tiefen meines Rucksacks noch ein Fläschchen mit Globuli war, das mir eine Freundin einmal gutgemeint gegen Kniebeschwerden mitgegeben hatte und das seit vielen Monaten von mir ignoriert wurde.

Indikation?

Plausibilität?

Egal!

Ich habe mich an den PZ-Artikel erinnert, ein paar Globuli genommen und gehofft, dass es irgendwie mein Immunsystem stärkt. Der Herpes ist nicht ausgebrochen! Ob nun das Ritual oder die homöopathische Wirkung ausschlaggebend waren, sei dahingestellt :)

Für mich war es zumindest das erste Mal ohne Hilfe von Aciclovir.

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Die Unterwanderungsstrategie des Neuen Atheismus

Dies ist ein Fallbericht. Er zeigt, wie der Neue Atheismus (GBS, Brights) weltanschaulich pluralistische oder neutrale Vereine und Verbände mit säkular-laizistischer Grundhaltung (GWUP, HVD) unterwandert und dabei totalitäre Strukturen aufbaut. Das habe ich erst in den letzten Wochen klar erkannt, obwohl ich durch den Spiegel-Artikel Der Kreuzzug der Gottlosen von 2007 hätte vorgewarnt sein müssen. Aber ich habe den Ausriss erst jetzt, anlässlich der Recherchen, in meinem Exemplar des Richard-Dawkins-Werkes „The God Delusion“ wiederentdeckt.

Die GWUP öffnet sich der atheistischen Mission

Eine offizielle Informationsschrift der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) hat den Titel „Parawissenschaft – Pseudowissenschaft“ (Martin Mahner, 5.1.2010). Sie steht im Widerspruch zur gültigen GWUP-Satzung.

Es geht um eine Ausweitung des Arbeitsfeldes der GWUP. Die entscheidende Grenze für die GWUP soll danach nicht länger zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft verlaufen, sondern zwischen Erkenntnis und Illusion (Martin Mahner in „Was sind Parawissenschaften?“, skeptiker 4/2009, S. 186-190). Auch Metaphysik und Religionen sollen demnach in das Zielgebiet der GWUP fallen.

Auf der Mitgliederversammlung 2014 in München (traditionell am Freitag nach Himmelfahrt) stellte ich einen Antrag, in dem der Vorstand aufgefordert wird, die Widersprüche zwischen offiziellen Verlautbarungen und Satzung zu beseitigen und insbesondere die Neudefinition „Parawissenschaft – Pseudowissenschaft“ zurückzuziehen.

In der Versammlung wurde der Wunsch nach einer gründlichen Diskussion laut. Die Entscheidung wurde auf das Folgejahr vertagt, also auf Himmelfahrt 2015.

In diesem Jahr, am Freitag nach Himmelfahrt, lag der Mitgliederversammlung ein Beschlussvorschlag des Vorstands zu einer Satzungsänderung vor. Dieser bezweckt eine Ausweitung und Aufweichung des Vereinszwecks derart, dass die GWUP-Informationsschrift und die Ausweitung des GWUP-Arbeitsfeldes nun satzungskonform sind. In der Begründung dieses Antrags spielte die von mir kritisierte Informationsschrift keine Rolle, stattdessen wurden ein paar, im Grunde haltlose, Argumente vorgeschoben. Es ging also nicht mehr darum, sich nach der Satzung zu richten, sondern darum, die Satzung so zu ändern, dass die Informationsschrift dann satzungskonform ist.

Die Möglichkeit, neben der Esoterik auch die Religionen aufs Korn zu nehmen, wird damit ausdrücklich eröffnet. Offenbar besteht die Absicht, die GWUP zu einer Einrichtung der atheistischen Missionierung umzubauen.

Giordano-Bruno-Stiftung und Brights

Zweifel an dieser Zielsetzung verfliegen, wenn man sich das Personal, die in prominenter Stellung Handelnden, ansieht. Es folgt ein Auszug aus der Besetzungsliste.

Martin Mahner, Verfasser der GWUP-Informationsschriften, ist Hausphilosoph der GWUP und zugleich Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS). Amardeo Sarma, Vorsitzender der GWUP, gibt sich als Mitglied der GBS zu erkennen. Viele Anhänger der GBS sind gleichzeitig Anhänger oder Mitglieder der Brights.

Eine Schlüsselfigur des noch zu schildernden einjährigen „Diskussionsprozesses“ von Himmelfahrt 2014 bis Himmelfahrt 2015 ist Rainer Wolf. Er ist sowohl Mitglied im Vorstand und dort zugleich Repräsentant des Wissenschaftsrats der GWUP als auch Mitglied der Brights. Rainer Rosenzweig, ehemals Doktorand von Rainer Wolf, ist Mitglied im Wissenschaftsrat der GWUP und im Beirat der GBS.

Die GBS als auch die Brights missionieren aggressiv für den Neuen Atheismus in der Gefolgschaft von Richard Dawkins („The God Delusion“, 2006). Die Ziele und Methoden dieser Vereinigungen sind mit den Grundsätzen eines weltanschaulichen Pluralismus unverträglich. Im Hoppla!-Artikel „Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich?“ habe ich ein paar Bemerkungen dazu gemacht.

Das Büchlein „Manifest des evolutionären Humanismus“ von Michael Schmidt-Salomon aus dem Jahre 2005 bildet die „philosophische“ Grundlage der GBS. Die Absicht dahinter wird schnell klar: Jeder liberale Geist soll sich darin irgendwo wiederfinden können. Nur nachdenken darf er dabei nicht. Der Text ist, wie der ihm zugrundeliegende ontologische Naturalismus mahnerscher Prägung, von haarsträubender Oberflächlichkeit. Dazu strotzt er vor inneren Widersprüchen. Hier nur zwei weitere Beispiele.

Erstens: Der auf Seite 37 angesprochene Falsifikationismus des Karl Raimund Popper ist eng verbunden mit dessen „Sozialtechnik der Einzelprobleme“ (aus: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“). Das großsprecherische 10. (An‑)Gebot des Evolutionären Humanismus auf  S. 158 steht im unversöhnbaren Gegensatz dazu: „Stelle Dein Leben in den Dienst einer ‚größeren Sache‘“. Aus diesem Satz spricht Totalitarismus, also das Ziel, „ein umfassendes neues Wertsystem durchzusetzen“ (Brockhaus). Nichts lag Popper ferner.

Zweitens: Auf S. 94 wird der naturalistische Fehlschluss angesprochen, nach dem man das Sollen, das sind die moralischen Gesetze, aus dem Sein, den Naturgesetzen also, herleiten könne. Obwohl das Scheitern dieses Programms zugestanden wird, versucht Schmidt-Salomon einige Seiten später (S. 120 ff.) genau das: Die Etablierung einer humanistischen Ethik auf der Basis von Vernunft und Naturverständnis. Der Präferenzutilitarismus des Peter Singer wird geradezu als Denknotwendigkeit angeboten.

Kürzlich wurde selbst Schmidt-Salomon ob der Wahl des Peter Singer zur Leitfigur  unheimlich zumute.

Für Joachim Kahl vom HVD sind die zehn Angebote des evolutionären Humanismus ein Türöffner der Beliebigkeit (Fürther Streitgespräch vom 27.06.2006). Allmählich spricht sich herum, wie dürftig das Angebot des evolutionären Humanismus der GBS ist.

Missionsgebiete: GWUP und HVD

Weltanschaulich pluralistische und eher dem Diesseits zugewandte Vereinigungen wie der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) und die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), die gut ohne derartige Metaphysik auskommen, gehören zum Missionsgebiet der Neuen Atheisten. Auch wenn der HVD eine säkular-laizistische Gesellschaft zum Ziel hat und den politische Einfluss der Kirchen zurückdrängen will, heißt das noch lange nicht, dass in die dann vermeintlich entstehende Lücke eine andere Religion, eine in der Gestalt des Neuen Atheismus, hineingestopft werden muss.

Der zunehmende Einfluss der Neuen Atheisten auf den HVD wird ersichtlich, wenn man das 2011  verfasste „Humanistische Selbstverständnis“ des HVD mit den im Jahr darauf publizierten „Humanistischen Grundsätzen“ des HVD Bayern vergleicht: Das erstgenannte Papier ist weitgehend frei vom ideologischen Gedankengut der Neuen Atheisten. In dem zweiten verrät sich deren Einfluss durch typischen Naturalisten-Sprech: „Es geht überall mit rechten Dingen zu“, „Humanisten sind Naturalisten“ und dergleichen mehr.

Einen Großteil des Einflusses erreichen die neuen Atheisten durch Personalunion. Im Falle der GWUP leisten das die Herren Sarma, Mahner, Rosenzweig und Wolf. Dazu kommen die Philosophen Gerhard Vollmer und Bernulf Kanitscheider, die sowohl Mitglieder des GWUP-Wissenschaftsrats als auch des GBS-Beirats sind. Das sind nur die Personen, deren Zugehörigkeiten ich zweifelsfrei kenne.

Die GWUP-interne „Diskussion“ zur Satzungsänderung zeigt, wie die Neuen Atheisten ihren Einflussbereich ausweiten. Mit offenen, wissenschaftsorientierten Diskussionen hat das nichts zu tun. Es läuft nach dem Motto: Wir sind die Aufgeklärten, die Brights, wir haben Recht, und deshalb heiligt der Zweck die Mittel.

Um bereits jetzt unangebrachten Vorwürfen zu begegnen: Auf den monatlichen Treffen der Würzburger GWUPler habe ich immer wieder betont: Mein Untersuchungsgegenstand ist nicht die Homöopathie, auch nicht Astrologie oder Wünschelrutengängerei; mein Interesse gilt seit einiger Zeit der GWUP, ihren inneren Strukturen und ihrer Diskussionskultur.

Eine „Diskussion“ mit Glaubenskämpfern

Ein Jahr lang, von Himmelfahrt 2014 bis Himmelfahrt 2015, fand eine bemerkenswerte „Diskussion“ zum Thema Satzungsänderung statt. Sie ist wesentlich durch die  totalitäre Grundhaltung der GBS-Leute innerhalb der GWUP geprägt.

In diesem Diskussionsprozess nahm ich einige Demütigungen in Kauf, denn ich hatte ein Ziel vor Augen, nämlich den Strukturen der GWUP näher zu kommen. Ich stelle ein paar Wesenszüge des Prozesses heraus. Eine Schlüsselfigur ist Rainer Wolf.

1. Kompromisslosigkeit. Sie ist eine Eigenschaft aller Glaubenskämpfer und kommt hier nicht überraschend. Der harte und nicht anzweifelbare Glaubenskern wird durch ein gefälliges Drumherum versüßt. Man darf sich durch die verbalen Schleifchen nicht täuschen lassen: „Deine kritischen Überlegungen kann ich sehr gut nachvollziehen, und ich glaube, sie treffen ganz Wesentliches. Drei Punkte sehe ich, wo ich wohl etwas anders denke …“ Oder so: „Auch wenn ich nicht allen Formulierungen von Michael Schmidt-Salomon  zustimme, ist er doch einer der wenigen Philosophen …“ Oder so: „Wir schließen die Festlegung auf eine Weltanschauung aus“ und gleichzeitig wird alles getan, um genau eine solche Festlegung zu ermöglichen. Ein Diskurs kommt aufgrund der Ablenkung durch Strohmann- und Stellvertreter-Argumente erst gar nicht zustande.

2. Intransparenz. Mir war zu keinem Zeitpunkt klar, mit welchen Personen (Wissenschaftsrat? Vorstand?) ich es zu tun hatte und wie der Konsens unter ihnen zustande gekommen sein könnte.

3. Totalkontrolle. Einem Hinweis vom 01.08.2014 entnehme ich, dass die Lenkung der Meinungsbildung einer „kleinen Kommission“, bestehend aus Rainer Rosenzweig, Martin Mahner und Rainer Wolf übergeben worden war. So funktioniert das totalitäre Regime: Es gibt eine Kommission der Eingeweihten, in diesem Falle alles Neuatheisten; ihnen gegenüber sitzt der Delinquent, in dem Fall ich. Warum ich auf so etwas allergisch reagiere, kann man in meiner Abschiedsvorlesung im Zusammenhang mit der „Entnazifizierung eines Achtjährigen“ nachlesen.

4. Bevormundung. Manche meiner E-Mails wurden von Rainer Wolf einfach zurückgehalten. Auf Nachfrage gab er mir den Bescheid, dass damit Porzellan zerschlagen würde. Andere E-Mails wurden von Rainer Wolf mit Kommentaren versehen und erst dann an den internen Zirkel weitergeleitet. Ein Leserbrief zu einem Mahneraufsatz im skeptiker hat die Redaktion wohl erst gar nicht erreicht. Anstelle einer Eingangsbestätigung erhalte ich nur Wolfs Kommentar: „Dem Inhalt Deines Leserbriefs kann ich beim besten Willen nicht zustimmen“ (Wolf, 21.12.2014). Und das war’s dann.

5. Gutsherrenart. Mein mehrfach geäußerter Wunsch, meinen Gegenantrag genauso wie den Vorstandsantrag vorab an alle Mitglieder zu verteilen, aus Kostengründen nur per E-Mail, wurde abgelehnt mit den Worten: „Der Vorstand hat bereits nach eingehender Diskussion vor mehr als eine Woche beschlossen, Ihr Schreiben nicht per reguläre Post an alle Mitglieder zu verschicken“ (Sarma, 14.04.2015). Meine Versuche, die Mitgliedschaft doch noch direkt zu erreichen, wurden dadurch vereitelt, dass mir tote Geleise gewiesen wurden, wie beispielsweise eine vermeintliche Mailingliste der Mitglieder (Sarma, 09.04.2015). Ich musste erst mühsam lernen, dass es sich dabei um ein fluktuierendes Forum handelt, an dem immer nur wenige Mitglieder teilnehmen.

6. Autoritätsargumente. Fremde Ideen muss man schnell wieder loswerden. Wie das funktioniert? Man setzt auf das Autoritätsargument und auf Einschüchterung: „Mir liegt mittlerweile die Rückmeldung vor, dass alle Wissenschaftsräte sich einstimmig für die neue Satzung ausgesprochen haben“ (Rainer Wolf am 12.05.2015).

Ein Teilnehmer der Mitgliederversammlung 2015 kritisierte das starre Verhalten des Vorstands und empfahl, sich doch besser an dem bekannten Ausspruch zu orientieren: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“

Abschluss des Verfahrens

Angesichts des massiven Auftretens des Vorstands für die Satzungsänderung war mir die Chancenlosigkeit meines Widerstands seit Monaten klar. Aber ich wollte ja sehen, wie die Sache abläuft. Bis zum bitteren Ende. Immerhin gab es ein paar Mitglieder, die dem Vorstand, trotz dessen massiven Auftretens, nicht  gefolgt sind. Mutig.

Nachdem der Vorstandsvorschlag von der Versammlung mehrheitlich angenommen war, gab ich eine Erklärung zu Protokoll. Darin wiederholte ich meine bereits vor einem Jahr geäußerte Auffassung, dass einem solchen Beschluss, der eine wesentliche Zweckänderung des Vereins nach sich ziehe,  alle Vereinsmitglieder, ob anwesend oder nicht, zustimmen müssten. Unter diesen Bedingungen müsse der Vorstandsantrag als gescheitert gelten. Diese Stellungnahme sollte dem Amtsrichter in Darmstadt, der über die Satzungsänderung zu befinden hat, vorgelegt werden.

Daraufhin gab das Vorstandsmitglied Ralf Neugebauer, Richter am OLG Düsseldorf, zu verstehen: Das sei alles mit dem Amtsrichter vorab geklärt worden.

Auch dahinter könnte man Ungeheuerliches vermuten. Vorsichtshalber habe ich im Anschluss an die Mitgliederversammlung meine Erklärung dem Amtsgericht direkt zugeschickt. Mal sehen, was daraus wird.

Meine Erfahrung zusammengefasst: Wer sich mit den Brights oder den Vertretern der  Giordano-Bruno-Stiftung anlegt, der bekommt es mit Feinden der offenen Gesellschaft zu tun.

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Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich?

Die Giordano-Bruno-Stiftung vertritt nach eigener Auskunft „die Position des ‚Evolutionären Humanismus‘, die Mitte des letzten Jahrhunderts von dem bedeutenden Evolutionsbiologen und ersten Generaldirektor der UNESCO, Julian Huxley, formuliert wurde“.

In dem vom Geschäftsführer der GBS Michael Schmidt-Salomon verfassten Manifest des evolutionären Humanismus (erschienen 2005 im einschlägig tätigen Alibri-Verlag) steht der Hinweis auf die philosophischen Grundlagen der Stiftung: „Evolutionäre Humanisten vertreten ein dezidiert naturalistisches Weltbild. Das heißt: Sie gehen von einem Bild des Kosmos aus, in dem ‚alles mit rechten Dingen‘ zugeht.“ Dabei verweist Schmidt-Salomon auf das Werk „Über die Natur der Dinge“ von Mario Bunge und Martin Mahner. Auch der Hinweis auf die Übernatur, bevölkert von Göttern, Dämonen, Hexen und Kobolden, fehlt nicht.

Man will sich also an der Wissenschaft orientieren. Esoterik, Mystizismus, metaphysisches Gedankengut und ganz besonders die Religionen sind es, die es zu bekämpfen gilt. Diese Intention der Stiftung wird durch das 1. (An-)Gebot des evolutionären Humanismus Schmidt-Salomonscher Prägung klar gemacht: „Diene weder fremden noch heimischen ‚Göttern‘ (die bei genauer Betrachtung nichts weiter als naive Primatenhirn-Konstruktionen sind), sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid der Welt zu mindern! Diejenigen, die behaupteten, besonders nah bei ‚Gott‘ zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fern standen. Beteilige dich nicht an diesem Trauerspiel! Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!“

Aber hoppla! Hier wird doch der Atheismus zur neuen Religion erhoben und auch über den Namensgeber Giordano Bruno haben wir doch etwas ganz anderes gehört und gelesen, als hier unterstellt wird.

Giordano Bruno – Märtyrer der Wissenschaft?

Warum gerade Giordano Bruno und nicht Galileo Galilei? Für eine kämpferische Glaubensgemeinschaft wie die GBS ist Galilei einfach nicht Märtyrer genug! Die Autoren Lawrence S. Lerner und Edward A. Gosselin schreiben in ihrem Aufsatz „Galileo Galilei und der Schatten des Giordano Bruno“: „Galileo ist eine schlechte Besetzung für Heldenrollen“ (Spektr. d. Wiss. 1/1987, S. 102-113).

Und da kommt dieser Vorgänger Galileis, Giordano Bruno, ins Spiel. Einer, der auf dem Scheiterhaufen der Inquisition landete. Dieser Mann macht sich als Märtyrer wesentlich besser. In der Begeisterung für diesen Helden des kopernikanischen  Weltsystems wurde wohl übersehen, dass mit Giordano ein ausgemachter Mystiker zum Helden erwählt wurde: „Giordano versteht das kopernikanische Modell des Sonnensystems falsch“ (Lerner/Gosselin). Und weiter: „Der Wert des kopernikanischen Systems liegt für Giordano Bruno nicht in seinen astronomischen Einzelheiten, sondern in den Möglichkeiten, die es als poetisches und metaphorisches Medium für weitergehende philosophische Spekulationen bietet.“

Giordano Bruno bezieht sich, ebenso wie die heutigen Esoteriker, auf die okkult-esoterische Offenbarungs- und Geheimlehre des sagenhaften Hermes Trismegistos. Was Bruno in Schwierigkeiten brachte, war weniger sein Eintreten für das kopernikanische Weltbild, sondern eher sein Bekehrungseifer im Dienste einer hermetischen Mystik, die sich auf neuplatonische Schriften des 2. und 3. Jahrhunderts berief.

Die Naturalisten stehen in Gegnerschaft zum Mystizismus. Als Vorzeigegestalt des Naturalismus ist Giordano Bruno jedenfalls denkbar ungeeignet. Was die GBS anrichtet, ist wirres Zeug.

Sehr interessant finde ich die personelle Besetzung des GBS-Kuratoriums: Zum Vorstand gehört Dr. Michael Schmidt-Salomon. Im Leitbild der Stiftung steht: „Im Auftrag der Stiftung wurden Huxleys Ideen u.a. im ‚Manifest des evolutionären Humanismus‘ wieder aufgegriffen und auf den Stand der heutigen Forschung gebracht.“ Hier hat also jemand sich selbst einen Auftrag erteilt. Ich erkenne eine Grundfigur wieder, die in diesen Naturalisten-Kreisen hohe Wertschätzung genießt: Selbstüberhöhung durch Zirkelbezug bei gleichzeitiger Immunisierung gegen fremdes Gedankengut.

Im Stiftungsbeirat finden wir einige uns bereits vertraute Personen: Bernulf Kanitscheider, Gerhard Vollmer und Martin Mahner. Sie sind eingefleischte Atheisten und sie fühlen sich in der GBS sicherlich gut aufgehoben. Warum diese Leute, nachdem sie in der  GBS ein lohnendes Tätigkeitsfeld gefunden haben, auch noch die rein wissenschaftsorientierte GWUP auf Linie bringen wollen, bleibt mir ein Rätsel.

Julian Huxley und Eugenik

Da sich die GBS auf Julian Huxley als Namensgeber des Evolutionären Humanismus beruft, sollte sich die Stiftung in Julian-Huxley-Stiftung (JHS) umbenennen. Allerdings bekäme die Stiftung dann ein Problem: Sie müsste sich wortreich von Huxleys Eugenik („Eugenics in Evolutionary Perspective“) distanzieren. Schauen wir uns ein paar Zeilen aus Huxleys Werk „Evolutionary Humanism“, 1964, an.

Die Menschheit sei unvollkommen, meint Huxley, und das in zunehmendem Maße, wenn wir nicht dagegen steuerten. Letzteres gelinge, wenn erst einmal klar sei, was den genetischen Verfall verursacht und indem man fehlerhafte und minderwertige Typen davon abbringe, sich zu vermehren. („The obverse of Man’s actual and potential further defectiveness is the vast extent of his possible future improvement. To effect this, he must first of all check the processes making for genetic deterioration. This means reducing man-made radiation to a minimum, discouraging genetically defective or inferior types from breeding, reducing human overmultiplication in general and the high differential fertility  of various regions, nations and classes in particular.“)

Solcherart Auslese brauche Verhütungs- und Sterilisierungsmethoden in Kombination mit künstlicher Befruchtung oder anderen  Methoden stellvertretender Elternschaft.  („The implementation of negative eugenics […] in practice  will depend on the use of methods of contraception or sterilization, combined where possible with A.I.D. (artificial insemination by donor) or other methods of vicarious parenthood.“)

Es sei zwingend, das genetische Niveau des Menschen hinsichtlich der geistigen und handwerklichen Fähigkeiten anzuheben. In der Praxis lasse sich das wohl mittels künstlicher Befruchtung durch ausgewählte Spender erreichen. (We „must rely increasingly on raising the genetic level of man’s intellectual and practical abilities […] Artificial insemination by selected donors could bring about such a result in practice“.)

Nur insoweit, als diese Überzeugungen auf wissenschaftlichem und überprüftem Wissen beruhen, seien sie geeignet, die menschliche Evolution in die gewünschte Richtung zu lenken. („Only in so far, as those purposes and beliefs are grounded on scientific and tested knowledge, will they serve to steer human evolution in a desirable direction.“)

Wem jetzt noch nicht schlecht geworden ist, der kann sich ja das letzte Kapitel von Huxleys Buch reinziehen.

Der Zweck heiligt die Mittel

Mit dem Satz „Der Zweck heiligt die Mittel“ hat man schon manche Schandtat gerechtfertigt. Folter scheint erlaubt. Der Totalitarismus ist nicht weit. Aber auch der evolutionäre Humanismus hat da einiges zu bieten. Fündig wird man im 4. (An-)Gebot des evolutionären Humanismus: „Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen.“

Mich irritiert, dass hier keine Einschränkung gemacht wird. Nur ein paar Beispiele werden genannt: Lügen zugunsten verfolgter Juden und der Tyrannenmord seien erlaubt. Jedoch geht es um etwas anderes, es geht um die „Ideale des Humanismus“ ganz allgemein. Nun tauchen ein paar ganz zentrale Fragen auf: Wer formuliert den Kanon der humanistischen Ideale? Wer soll ihn durchsetzen? Und vor allem: Wie soll das geschehen? Auch mit Lug und Trug?

In welche Zwickmühlen man bei diesem Vorhaben geraten kann, ist den Äußerungen selbsternannter Humanisten zu entnehmen. Peter Singer ist ein solcher. Er hat im Jahr 2011 als einer der Ersten den von der GBS verliehenen Ethikpreis der GBS erhalten.

Utilitarismus

Um der Geisteshaltung des Peter Singer, eine Spielart des Utilitarismus, etwas näher zu kommen, zitiere ich aus einem SPIEGEL-Interview mit der Überschrift „Nicht alles Leben ist heilig“. Kommentieren kann ich das Interview nicht; das würde mich überfordern. Eins zumindest – so meine ich – wird dennoch klar: Die ethischen Normen sollten niemals Angelegenheit nur einer gesellschaftlichen Gruppierung oder nur einer Weltanschauungsgemeinschaft sein.

SPIEGEL: Schon einmal, in der Aufklärung, gab es den Versuch, eine Weltsicht auf die Vernunft zu gründen. Aber damals setzten die Philosophen, anders als Sie, die Würde des Menschen an den Anfang all ihrer Überlegungen.

Singer: Es stimmt, Sie finden diesen Gedanken Ende des 18. Jahrhunderts in der Erklärung der Menschenrechte. Aber nehmen Sie zum Beispiel Kant: Er sagt, der Mensch sei stets als „Zweck an sich selbst“ zu betrachten. Doch wenn Sie sich seine Argumentation genauer ansehen, dann stellen Sie fest, dass er sich auf die Fähigkeit zu Vernunft und Autonomie beruft. Dieser Gedanke ist dann missbraucht worden, um allen menschlichen Wesen diesen Status zuzusprechen – obwohl es keine 30 Sekunden Nachdenken braucht, um sich klar zu machen, dass es durchaus menschliche Wesen gibt, die weder vernunftbegabt noch autonom sind.

SPIEGEL: Lassen Sie uns versuchen, Ihr Denkmodell auf Embryonen anzuwenden. Zunächst: Wann beginnt in Ihren Augen menschliches Leben?

Singer: Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen – aber unter ethischem Gesichtspunkt ist es gar nicht furchtbar wichtig, für welche davon man sich entscheidet.

SPIEGEL: Nein? Über keine Frage wird in der gegenwärtigen Debatte um embryonale Stammzellen so erbittert gestritten wie über diese.

Singer: Das ist eben falsch. Moralisch wichtig ist doch nicht, ob ein Embryo menschliches Leben ist, sondern einzig die Frage, welche Fähigkeiten und Eigenschaften er hat. Denn auf diese gründet sich sein moralischer Status.

SPIEGEL: Ein früher Embryo hat aber kaum höhere Fähigkeiten als ein Bakterium oder, sagen wir, eine Kartoffelpflanze. Also steht er mit ihnen auf einer moralischen Stufe?

Singer: Der Unterschied besteht aber darin, dass der Embryo leibliche Eltern hat, denen dieser Embryo etwas bedeuten könnte. Und die hat eine Kartoffelpflanze nicht.

SPIEGEL: Solange aber diese Eltern damit einverstanden wären, könnte man diesen Embryo für jeden beliebigen Zweck verwenden – selbst wenn man Embryos zu einer Schönheitscreme oder einem Potenzmittel verarbeiten wollte?

Singer: Ein ethisches Problem hätte ich damit nicht

[…]

SPIEGEL: Wann wachsen dem Embryo denn, nach Ihrer Auffassung, erstmals irgendwelche Rechte zu?

Singer: Ein wesentlicher Punkt ist das Einsetzen von Schmerzempfinden. Ab diesem Zeitpunkt verdient der Embryo einen gewissen Schutz – ähnlich wie ihn ein Tier auch verdient.

SPIEGEL: Das heißt: Vorher gleicht der Embryo, ethisch betrachtet, einer Kartoffel, nun steigt er auf zum moralischen Wert einer Ratte?

Singer: Was den Embryo selbst betrifft, würde ich die Frage mit „Ja“ beantworten – allerdings mit der Einschränkung, dass es, wie schon gesagt, eine Sicht der Eltern gibt, die es zu berücksichtigen gilt.

[…]

SPIEGEL: Sie koppeln also das Lebensrecht, das höchste aller menschlichen Rechte, an einen Zeitpunkt, den Sie allenfalls sehr vage benennen können?

[…]

Singer: Ich habe einmal den Vorschlag gemacht, eine Phase von 28 Tagen nach der Geburt festzusetzen, nach der dann das volle Lebensrecht erst in Kraft tritt. Das ist zwar ein sehr willkürlicher Zeitpunkt, den wir einer Idee aus dem antiken Griechenland entlehnt haben. Aber es würde den Eltern Zeit für ihre Entscheidungen geben.

[…]

SPIEGEL: Bisher haben wir weitgehend über gesunde Babys gesprochen. Wie aber steht es mit schwer behinderten Babys, die möglicherweise nie volles Bewusstsein ihrer selbst erlangen werden. Kommen die nie im Laufe ihres Lebens in den Genuss eines vollwertigen Rechts zu leben?

Singer: In derartigen Fällen bin ich der Auffassung, dass sie selbst kein derartiges Recht haben. Aber sie können Eltern haben, denen sie etwas bedeuten, die ihnen Liebe geben und die sich um sie kümmern.

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„Viel hilft viel“ oder „Weniger ist mehr“?

 

Hier geht es ein wenig „mathematischer“ zu als in den vorhergehenden Artikeln. Gleichzeitig nähere ich mich wieder mehr den Leitlinien dieses Weblogbuchs, in dem es darum gehen soll, Stolpersteine oder Denkfallen aufzugreifen, die uns im Alltag und in den Medien begegnen. Diesmal hab ich mir den Stolperstein selbst hingelegt und ihn vorübergehend aus dem Auge verloren.

Für die Lehrveranstaltung Problemlösen hatte ich die Denksportaufgabe „Wie viele Taxis?“ ausgegeben. Aus einer Menge von Beobachtungen war eine Schätzung für Anzahl der Taxis in einer Stadt abzuleiten. Der ersten Eingebung folgend, denkt man sich: Je mehr der Informationen ich benutze, desto genauer wird mein Schätzwert wohl werden. Aber Hoppla! Das stimmt nicht.

Die Aufgabe ist ein schönes Beispiel für die von Gerd Gigerenzer wärmstens empfohlene Weniger-ist-mehr-Heuristik. Im Artikel Bauchgefühle: Je dümmer, desto klüger? und danach in Kopf oder Bauch? habe ich die Grenzen dieser Heuristik deutlich gemacht und gezeigt, dass sie mit Bauchgefühlen recht wenig zu tun hat und eher dem „langsamen Denken auf kurzen Wegen“ zugeordnet werden muss.

Das Taxi-Beispiel gibt sehr eingängige Hinweise darauf, wann diese Heuristik hilfreich sein kann. Die Anregung  zur Taxi-Aufgabe habe ich vom Büchlein „Mathematisches Sammelsurium“ von Christian Hesse, München 2012.

Wie viele Taxis? Nehmen wir an, Sie sitzen etwas gelangweilt in einem Café und notieren sich die Nummern der vorbeifahrenden Taxis: 477, 491, 342, 596, 68, 251, 258, 917, 775, 954, 160, 875, 618, 74, 457, 100, 181, 628, 512 und 729. Sie fragen sich nun, wie viele Taxis es in der Stadt wohl gibt.

Um überhaupt zu einer mathematisch lösbaren Aufgabe zu kommen, brauchen wir ein paar Annahmen:

  1. Die Taxis der Stadt sind von 1 bis zu einer Zahl N lückenlos durchnummeriert.
  2. Die Auswahl geschieht rein zufällig: Jede der Nummern von 1 bis N erscheint also mit derselben Wahrscheinlichkeit vor dem Fenster des Cafés.
  3. Jedes mehrfach erscheinende Taxi wird nur einmal erfasst. Für den Statistiker ist das ein Urnenmodell ohne Zurücklegen.

Wir sind also an einer Schätzung des uns unbekannten Wertes N interessiert. Mit a will ich die kleinste der beobachteten Taxinummern bezeichnen und mit b die größte. Die Zahl der insgesamt beobachteten Taxis ist n, hier gleich 20.

Dass die Nummer b = 954 bereits die größte der Nummern und damit gleich der Anzahl der Taxis ist, dass also b = N gilt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Zur besseren Abschätzung des Wertes N schlage ich Ihnen die Formel b*(n+1)/n – 1 vor. Das gäbe im vorliegenden Fall den Wert 1001.

Auf diese Formel bin ich durch die Analogie-Heuristik gekommen: Habe ich Ähnliches schon einmal gesehen? Kenne ich ein verwandtes Problem?

In der Tat hat das Taxi-Problem eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Problem „Das erste Ass“ aus meiner Problemsammlung Querbeet. Jetzt geht es nur noch darum, den dort beschriebenen Lösungsvorschlag auf das Taxi-Problem zu übertragen. Ich will dies in gebotener Kürze tun. Wem es jetzt zu mühsam ist, dem Gedankengang zu folgen, der kann die folgenden eingerückten Absätze vorerst überschlagen; er muss die Formel halt einfach so hinnehmen.

Wenn man gedanklich sämtliche N Taxis der Stadt nach aufsteigenden Nummern hintereinander anordnet und dann die beobachteten Taxis markiert, dann liegt es nahe, davon auszugehen, dass die Abstände zwischen den markierten Taxis alle in derselben Weise verteilt sind und folglich auch denselben Mittelwert haben. Aber es gibt die Schwierigkeit mit Anfang und Ende der Liste: Wie viele Taxis mit Nummern kleiner als a gibt es und wie viele oberhalb des Maximalwerts b?

Um diese Schwierigkeit zu umgehen, greifen wir zu demselben Trick wie beim Das-erste-Ass-Problem. Allerdings müssen wir unser Gedankenmodell entsprechend vorbereiten. Sicherlich ist es für die Statistik egal, ob man sich im Café die Nummern merkt, oder ob man die vorbei kommenden Taxis irgendwie markiert, indem man beispielsweise einen Zettel auf die Rückbank legt – rein gedanklich. Die Taxis brauchen dazu gar nicht nummeriert zu sein. Wir können – ohne die Statistik wesentlich zu stören – diese Nummerierung sogar nachholen. Wir stellen uns nun vor, dass sämtliche Taxis zum Nummerieren auf einen riesigen Betriebshof gebracht werden. Um mit der Nummerierung irgendwo anfangen zu können, fügen wir ein weiteres Taxi hinzu und geben ihm die Nummer 0.

Nun ordnen wir sämtliche Taxis rein zufällig im Kreis an. Das entspricht dem Mischen eines Spielkartenstapels. Das Zusatztaxi mit der Nummer 0 spielt hier die Rolle eines zufällig gesetzten Ortes, an dem die fortlaufenden Nummerierung beginnt, so wie wir beim Kartenstapel eine Karte eingefügt haben, die den Ort markierte, wo der Stapel beim Abheben geteilt wird. Vom 0-Taxi ausgehend folgen wir dem Kreis, beispielsweise im Uhrzeigersinn, und vergeben fortlaufend die Nummern 1, 2, 3, …, N.

Um zu zeigen, dass die Einfügung eines 0-Taxis an den statistischen Verhältnissen nichts ändert, muss man sich nur klar  machen, dass jede zyklische Anordnung der Taxis einschließlich 0-Taxi eine Eins-zu-eins-Entsprechung in der linearen Anordnung der Taxis hat — letztere ohne das Zusatztaxi.

Die Nummern der beobachteten und markierten Taxis erscheinen nun in aufsteigender Folge. Weil alle Taxis unterschiedslos behandelt worden sind, können wir davon ausgehen, dass die Abstände zwischen aufeinanderfolgenden Markierungen derselben Statistik genügen. Der Mittelwert der insgesamt n+1 Abstände zwischen den Taxis einschließlich des 0-Taxis lässt sich folglich durch den Quotienten (N+1)/(n+1) errechnen. Wenn wir nun – ausgehend vom 0-Taxi – nur die folgenden n Abstände betrachten, den Abstand des b-ten Taxis zum darauf folgenden 0-Taxi also außer Acht lassen, erhalten wir mit b/n eine weitere Abschätzung dieses mittleren Abstands. Gleichsetzen dieser beiden Mittelwerte und Auflösen nach N liefert die gesuchte Formel für den Schätzwert.

Die Formel b*(n+1)/n-1 bezeichnen wir als erste Schätzung. Sie scheint ein wenig windig zu sein: Nur der Maximalwert b kommt darin davor. Wir nutzen nur ein Minimum der verfügbaren Information. Deshalb besorgen wir uns eine weitere Schätzung über eine Symmetriebedingung: Es werden im Mittel genauso viele Zahlen unterhalb des Minimalwerts a liegen, nämlich a-1, wie oberhalb des Maximalwerts b, nämlich Nb. Gleichsetzung ergibt die zweite Schätzung für N, nämlich a+b-1 = 1021.

Die zweite Schätzung nutzt schon mehr Information als die erste, nämlich a und b. Wäre es nicht noch besser, alle Taxinummern für die Schätzung heranzuziehen? Wir können beispielsweise den Mittelwert m aller beobachteten Nummern berechnen und diesen mit dem Mittelwert (N+1)/2 der Zahlen von 1 bis N gleichsetzen. So erhalten wir die dritte Schätzung: 2m – 1 = 945. Ein Mangel dieser Schätzung fällt sofort ins Auge: Der Schätzwert für N kann kleiner als b werden, im Widerspruch zu den Tatsachen.

Nun wollen wir noch wissen, was es mit diesen Schätzungen auf sich hat und wie gut sie sind. Dazu realisiere ich eine kleine Simulation mit dem PC. Der Rechner führt viele Male hintereinander das folgende Experiment durch: Erzeugung von 20 paarweise verschiedenen Zufallszahlen aus dem Bereich von 1 bis 1000. Jede Zahl hat dieselbe Chance, ausgewählt zu werden. Jedes Mal werden die Schätzwerte nach den drei Formeln berechnet.

Schließlich werden die Mittelwerte der Schätzungen über sämtliche Versuche sowie deren Standardabweichung (ein Maß für die Streuung) ermittelt. Es zeigt sich, dass alle Schätzer erwartungstreu sind: Für jeden Schätzer ergibt sich ein Mittelwert (Erwartungswert) von 1000, was ja genau die für den Test angenommene Anzahl von Taxis ist. Für den ersten Schätzer ist die Standardabweichung gleich 48, für den zweiten gleich 66 und für den dritten gleich 129.

Fazit. Je mehr Information in die Schätzungen einfließt, desto schlechter wird sie. Hier gilt also nicht „Viel hilft viel“, sondern „Weniger ist mehr“.

Aber Hoppla! Das kann nicht durchweg stimmen. Es kommt darauf an, auf welche Information man sich stützt und welche man ignoriert. Und für diese Entscheidung sind dann doch wieder Rationalität und umfassende Kenntnis der Problemlage gefragt. In diesem Sinne hilft viel dann tatsächlich viel. Wie man mit der Weniger-ist-mehr-Heuristik daneben liegen kann, zeigt uns eine vierte Schätzung auf der Basis der kleinsten beobachteten Nummer: a*(n+1)-1 = 1427. Auch diese Schätzung ist erwartungstreu. Von daher lässt sich nichts gegen die Formel sagen. Aber die Streuung der Schätzwerte ist exorbitant. Die Standardabweichung ist gleich 944. Die Schätzung taugt nichts.

Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse des Simulationsexperiments für die ersten 20 Versuche für alle vier der von mir vorgestellten Schätzformeln.

Die Schätzergebnisse aus den ersten 20 Versuchen der stochastischen Simulation

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