Scientabilität – ein überflüssiger Begriff?

In einem Interview zu seinem Buch „Die Homöopathie-Lüge“ im skeptiker 4/2012, S. 181-185, erklärt Christian Weymayr den von ihm vorgeschlagenen Begriff der Scientabilität am Beispiel der  Homöopathie: „Homöopathische Arzneimittel sind ‚nicht scientabel‘, also nicht mit den üblichen Werkzeugen der evidenzbasierten Medizin greif- und erforschbar, weil sie Naturgesetzen widersprechen. Allein schon deswegen ist ihre Untersuchung von vorneherein sinnlos und die Methodik der Evidenz-basierten Medizin nicht anwendbar.“

Und weiter: „Bevor es an klinische Studien geht, sollte man erst einmal fragen, ob das behauptete Verfahren im Einklang mit den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaften steht. Ist das nicht der Fall, sollte es keine klinische Untersuchung geben, weil die Ergebnisse irrelevant sind. Damit wird sichergestellt, dass positive Ergebnisse, die zum Beispiel auf dem Hidden Bias oder auch nur auf Zufall beruhen, nicht missbraucht werden können.“

Am 20. April 2013 mische ich mich als „Till“ in die laufende Diskussion ein:

Christian Weymayr behauptet, „dass alle klinischen Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel irrelevant sind“, wo doch das Credo der Skeptiker ist, dass allein die Prüfung entscheidet, was Wissenschaft ist und was Pseudowissenschaft oder Metaphysik. Als neues Abgrenzungskriterium schlägt er demgegenüber „Scientabilität“ vor. – Mit Neologismen hat bereits Martin Heidegger die Welt genervt. Aber es ist nicht nur die phantasievolle Wortwahl, die mich stört. Es ist die Absicht, die dahinter steckt.

Nach Weymayrs Ansicht sind homöopathische Arzneimittel „nicht scientabel“. Er meint damit, dass eine Überprüfung der Wirksamkeit dieser Mittel entbehrlich ist, da das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht und folglich ganz offensichtlich Quatsch ist.

Die „gesicherte Erkenntnis“ – was immer das sein mag – scheidet nach dieser Ansicht in absoluter Weise Sinn von Unsinn. Für mich ist das ein Dogmatismus, der dem Skeptiker eigentlich fremd sein sollte. Schauen wir uns die Konsequenzen von Weymayrs Abgrenzungskriterium an einem uns allen wohlbekannten historischen Beispiel einmal an: Von der Antike bis in die Neuzeit galt das ptolemäische Weltbild als „gesicherte Erkenntnis“. Kopernikus‘ Hypothese war folglich „nicht scientabel“, eine Überprüfung entbehrlich. Gut, dass sich Galileo Galilei nicht daran gehalten hat.

„Scientabilität“ als Abgrenzungskriterium verhindert, zu Ende gedacht, jeglichen wissenschaftlichen Fortschritt. Ich halte den Begriff bereits aus forschungslogischen Gründen für unhaltbar. Dabei ist mir klar, dass der Irrtum der hässliche Bruder der Erkenntnis ist. Prüfungen sind fehlerträchtig und es kann immer wieder einmal zur Bestätigung von Humbug kommen. Damit müssen wir leben.

Die Einlassungen von Amardeo Sarma zum Thema leuchten mir ein. Er sieht „drei Prozesse, die für wissenschaftliches Vorgehen relevant sind: Aussagen und Behauptungen müssen erst einmal verstanden und auf ihre innere Konsistenz geprüft werden. Danach sollte zweitens geklärt werden, wie sich eine Aussage mit bestehendem, verlässlichem Wissen verhält. Das ist eine Plausibilitätsprüfung. Drittens sollte eine allgemeine Behauptung getestet oder ein bestimmtes Phänomen, zum Beispiel eine Spukbehauptung, recherchiert werden.“

Der Skeptiker arbeitet mit Logik, wendet wissenschaftliche Erkenntnisse an, wohl wissend, dass auch diese kein endgültiges Wissen darstellen – und er prüft. Da ist nicht die Rede davon, dass man sich die Prüfung schenken kann, wenn etwas als nicht plausibel erscheint. Es existiert kein Filter, der das Untersuchenswerte vom –unwerten trennt.

Der Skeptiker wird angreifbar, wenn er Dogmen verkündet und Selbstgewissheit ausstrahlt. Er sollte besser Widersprüche aufzeigen, Fragen aufwerfen und zum Selberdenken anregen. Das Finden von Antworten kann er dem Adressaten überlassen. Ein gebildeter Mensch wird sich schon selbst darüber klar werden, welchen Hypothesen er eher vertrauen will: denen der weithin akzeptierten Wissenschaft oder denen der Scharlatane und Beutelschneider.

Wir sollten dort ansetzen, wo wir etwas bewirken können, bei der Jugend und in der Bildung. Kritisches Denken gehört auf den Lehrplan. Mathematik und empirische Wissenschaften müssen in der Gesellschaft wieder zu höherem Ansehen kommen. Demgegenüber hat es kaum Sinn, sich mit eingefleischten Anhängern einer Pseudowissenschaft herumzustreiten. Aus diesem Grunde halte ich jedes weitere Buch zur Homöopathie für vergebene Liebesmüh.

Christian Weymayr antwortet (22.4.2013):

Ich habe den Begriff “Scientabilität” vorgeschlagen, weil es manchmal praktisch ist, einen Namen für etwas zu haben.

Natürlich muss die Prüfung entscheiden, ob etwas wirkt. Ich fordere allerdings, dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss. So heißt es im Methodenpapier des IQWiG, dass für dramatische Effekte klinische Studien unnötig sind, für die üblichen medizinischen Fragen sind klinische Studien notwendig, und ich ergänze:

Für angebliche Effekte, die Naturgesetze über den Haufen werfen, sind klinische Studien irrelevant.

Man braucht für sie eine Prüfmethode, die ähnlich fehlerrobust ist wie die gesicherte Erkenntnis (weil theoretisch plausibel und praktisch bislang widerspruchsfrei), die der angebliche Effekt in Frage stellt. Eine klinische Studie ist dagegen durchaus fehleranfällig.

Ich nenne es das EbM-Paradoxon, dass man sich einerseits der Fehlanfälligkeit klinischer Studien bewusst ist, und sie andererseits für aussagekräftig genug hält, um Naturgesetze zu bestätigen oder zu widerlegen.

Ich sage also nicht, dass die Überprüfung der Wirksamkeit homöopathischer Arzneien entbehrlich ist, sondern dass klinische Studien dafür ebenso wenig geeignet sind, wie eine handelsübliche Stoppuhr zur Überprüfung der Lichtgeschwindigkeit, oder eine Fotografie zur Überprüfung der Existenz von Einhörnern.

Eine verbreitete These ist noch keine gesicherte Erkenntnis.

Aber wenn noch niemals etwas Geistartiges nachgewiesen wurde, und wenn so etwas wie eine geistartige Heilkraft auch den Gesetzen der Physik und Chemie widerspricht, sehe ich es eine gesicherte Erkenntnis an, dass es solche Heilkräfte nicht gibt. Auch das mag in Ihren Augen ebenso sehr nur eine These sein wie die Behauptung, dass Sie gerade in einen Computermonitor schauen, aber das sind Gedankenspiele und theoretische Überlegungen, die mit der sehr konkreten Frage, ob Kochsalz C30 im realen Leben Haarausfall stoppen kann, nichts zu tun haben.

Dass mein Buch vergebene Liebesmüh ist, stimmt natürlich.

Meine Replik vom selben Tag:

Dass EbM-Prüfmethoden vergleichsweise unscharf sind, gehört zum Geschäft; das trifft aber nicht ganz den Punkt.

Es geht um das Objekt der Prüfung, nämlich um die von der Homöopathie behaupteten messbaren Zusammenhänge einerseits (Heilwirkung durch Globulikonsum) und um Modellvorstellungen von den Wirkmechanismen andererseits (geistartige Heilkraft).

Wenn Modellvorstellungen („Geistartiges“) über den Haufen geworfen werden – und genau die sind wohl das Ziel des Angriffs seitens der etablierten Wissenschaft –, kann dennoch das Erkenntnissystem (die „Theorie“) überstehen. Im Rahmen der etablierten Physik hat beispielsweise die Überwindung der Ätherhypothese dem Kern der elektromagnetischen Theorie nicht geschadet. Eine Debatte über Geistartiges finde ich nicht übermäßig interessant.

Das Hauptargument gegen die Homöopathie ist für mich, dass sie ihre Wirksamkeit eben nicht prüft und dass sie sich deshalb auch nicht entwickeln kann, selbst wenn prinzipiell die Möglichkeit dazu bestünde. Angesichts der Scheu vor Prüfungen sehe ich diese Möglichkeit jedoch nicht.

Die Homöopathie ist zu einem Glaubenssystem geworden, fernab jeder Wissenschaft. Sie ist unfruchtbar.

Den Reigen beendet Christian Weymayr am 26.4.2013:

Ihrem letzten Satz stimme ich zu. Ihrem vorletzten nur eingeschränkt, denn Homöopathie war von jeher ein Glaubenssystem, und sie ist in der Wissenschaft stärker verankert denn je.

Bezeichnend finde ich allerdings auch, dass der ganz normale Otto-Normal-Homöopath das Verfahren nicht überprüft, obwohl es ganz einfach wäre. Man nehme verdeckt eine von zwei stark unterschiedlich “wirkenden” Substanzen und versuche anhand der Symptome herauszufinden, welche man genommen hat. Wenn die Trefferquote dauerhaft von 50% abweicht, kann man schon mal bei der GWUP vorsprechen, und sich für die 1 Mio Euro Preisgeld vormerken lassen.

Mag sein, dass es noch Alternativ-Erklärungen zu den geistartigen Kräften für die Wirkung homöopathischer Arzneien gibt. Allerdings bleibt die Behauptung bestehen, dass Substanzen in physiologisch unwirksamen Konzentrationen wirken sollen. Diese Behauptung, egal mit welcher Theorie man sie zu erklären versucht, widerspricht Erkenntnissen, die so gesichert sind, dass klinische Studien sie nicht erschüttern können.

Meine Kritik am Scientabilitätskonzept bedeutet nicht, dass ich die Idee dahinter in Bausch und Bogen ablehne. Ich stimme Weymayrs Auffassung zu, „dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss“. Das bringe ich im Hoppla!-Beitrag Oberflächenkompetenz und Tiefenscheinwissen auch zum Ausdruck.

Aber braucht man für das Naheliegende wirklich einen neuen Begriff?

Der Begriff kann sogar Schaden anrichten, besonders dann, wenn man das Konzept auf die Spitze treibt und folgert, dass es nicht geben könne, was gegen die Naturgesetze verstößt oder dass eine Überprüfung entbehrlich sei, wenn die Begründung für das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht. So würde dann tatsächlich der Blick auf Neues verstellt.

 

Zum Schluss bringe ich eine Buchwerbung in eigener Sache:

KlügerIrren

 

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„Terror“ – ein moralisches Dilemma?

Am 17. Oktober 2016 wurde uns ein Fernsehereignis der Extraklasse geboten. Das Erste zeigte den Fernsehfilm „Terror“, eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach.

Der Film handelt von einer Gerichtsverhandlung. Angeklagt ist ein junger Bundeswehrpilot. Er hatte eine Lufthansa-Maschine mit 164 Passagieren abgeschossen, weil sich dieser von Terroristen gekaperte Airbus im Anflug auf die mit 70.000 Menschen vollbesetzte Allianz-Arena in München befand.

Das moralische Dilemma – aktiv Menschen töten um viele zu retten – steht im Zentrum des Films und die Zuschauer waren aufgefordert, in die Rolle von Schöffen zu schlüpfen und ihr Urteil abzugeben: Schuldig oder nicht schuldig.

Mein Bauchgefühl sagte mir an  diesem Abend: Da stimmt etwas nicht. Ich habe ganz bewusst entschieden, nicht zu entscheiden. Mein Verdacht war, dass im Film der Falsche vor Gericht steht.

Bestärkt darin hat mich das sehr engagierte Eintreten des früheren Innenministers Gerhart Baum für das oberste Grundrecht „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in der anschließenden Sendung „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg. Es war für mich das wahre Highlight des Abends.

Auch in den späteren Diskussionen im privaten Kreis konnte ich mich nicht der Mehrheit derer anschließen, die auf „unschuldig“ erkannten. Ich zweifelte und zweifle immer noch daran, dass es wirklich nötig war, den Piloten in die Dilemma-Situation zu bringen.

Im Laufe der Gerichtsverhandlung des Films hat die Anklägerin ausreichend Zeit, deutlich zu machen, dass eine rechtzeitige Evakuierung des Stadions möglich gewesen wäre und dass es weitere Auswege aus dem drohenden Desaster gab. Sie weist auf ein mögliches Fehlverhalten der Administration und eine Fehlfunktion der Befehlskette hin: Die höherrangigen Verantwortlichen haben sich an die rechtlichen Vorgaben gehalten und den Abschuss nicht freigegeben; dabei wussten sie, dass der Pilot so ausgebildet war, dass er die eigentlich gewünschte Entscheidung zum Abschuss treffen würde.

Der Darstellung dieser für mich wirklich erschreckenden Konstellation wird im Film genügend Zeit gegeben.

Damit komme ich zum für mich entscheidenden Punkt: In anschließenden Diskussionen unter Freunden und Bekannten wurde mir vorgehalten, dass die Dilemma-Situation allein ausschlaggebend sei. Die mir wichtige Betrachtung der Umstände wurde als Nebensache abgetan, obwohl der Film darin durchaus explizit war. Ich halte das für eine Denkfalle: Das emotional aufwühlende moralische Dilemma drängt sich in den Vordergrund des Denkens; die Vernunft muss ihm Platz machen.

Dabei sind wir sehr wohl in der Lage, den Verstand einzuschalten. Das braucht etwas Zeit. Vermutlich hatten die Theaterbesucher mehr davon: Nach dem Theaterstück stimmten im Schnitt dreimal mehr „Schöffen“ für die Verurteilung als unmittelbar nach dem Fernsehfilm.

Das hervorstechende Dilemma zwingt die „Schöffen“ zu einem unmenschlichen Urteil, wie auch immer sie sich entscheiden. Das eigentliche Problem, nämlich dass am Recht und dessen Umsetzung etwas nicht stimmen könnte, wird dadurch aber nicht gelöst und leider an den Rand gedrängt.

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Determinismus kontra Freiheit?

Was muss ich da lesen? Neben den allseits bekannten drei Kränkungen des Menschen sind ihm inzwischen noch neun weitere widerfahren. So schreibt Micheal Schmidt-Salomon in seinem „Manifest des evolutionären Humanismus“ (2005).

Daran, dass wir nicht mehr  im Mittelpunkt der Welt stehen, an diesen Gedanken konnten wir uns ja seit vier Jahrhunderten gewöhnen. Dass wir – die Krone der Schöpfung – unseren Stammbaum in Affennähe finden, haben wir auch verdaut. Das 19. Jahrhundert hielt neben dieser zweiten noch eine dritte Zumutung parat: Wir sind noch nicht einmal Herr im eigenen Gedankengehäuse. Soweit die Aufklärung durch Kopernikus, Darwin und Freud.

Als hätten wir der Selbstkasteiung noch nicht genug und als lechzten wir nach mehr davon, kommen uns die sogenannten evolutionären Humanisten und die neuen Atheisten mit einem Haufen neuer Kränkungen. Die letzte davon soll mein Thema sein. Es ist die neurobiologische Kränkung, zugespitzt auf die Formulierung: Die Willensfreiheit ist eine Illusion (Benjamin Libet, Gerhard Roth, Wolf Singer).

Ja, das haben wir schon gehört: Der Weltenlauf folgt Gesetzen, die wir erkennen können. Der Ablauf ist in groben Zügen vorhersehbar und alternativlos – so würde man es heute ausdrücken.

Insbesondere Karl Marx folgte dieser famosen Idee. Die zukünftig vermeintlich Begünstigten nahmen die Verkündigung mit Dankbarkeit auf. Sie glaubten daran, mit einigen unangenehmen Folgen. An der Beseitigung der Spuren arbeiten wir heute noch.

Wir sind also wieder dort angekommen, wo wir hergekommen sind, bei der Schicksalsergebenheit der Antike. Damals waren es die Götter, die unser Schicksal bestimmten, heute ist es eben die Realität mit ihren Gesetzen und Kausalitäten. Dieser Rückfall mag dem einen oder anderen bequem erscheinen: Er kann über diese Abhängigkeiten, den Lauf der Geschichte und über die Zwangsläufigkeit persönlicher Schicksale belehrend tätig werden. Und er kann sich der Verantwortung für sein Tun enthoben fühlen. Schuld und Sühne verlieren für ihn an Bedeutung.

Eins vergisst er dabei, nämlich dass Freiheit und Verantwortung sich nicht mit Naturgesetzen begründen und schon gar nicht durch diese eliminieren lassen. Es sind menschengemachte Begriffe; sie gehören in das Reich der Moral. Immanuel Kant hat dieses Reich wohlweislich nicht unter der Frage „Was kann ich wissen?“ abgehandelt, sondern unter der Frage: „Was soll ich tun?“. Und er hat über seine Antworten auf die beiden Fragen auch zwei Bücher geschrieben, eins über die Möglichkeiten des Erfahrungswissens („Kritik der reinen Vernunft“) und das andere über die Grundlagen der Moral („Kritik der praktischen Vernunft“).

Entscheidungsfreiheit setzt voraus, dass uns Alternativen unseres zukünftigen Handelns ins Bewusstsein kommen, wie kausal bedingt dieses Erscheinen auch immer sein mag. Und wir können entscheiden, welche der Alternativen wir wählen. Auch diese Entscheidungen sind wohl durch unser Wissen und durch die Situation, also materiell, bedingt. Aber zu diesem Wissen und zu diesen Bedingungen gehört eben auch das Bewusstsein, dass wir für das schließlich gewählte Handeln zur Verantwortung gezogen werden können. Durch diese Rückkopplung entwickelt das Bewusstsein der Freiheit eine regulative Kraft.

Die Anerkenntnis dieser regulativen Kraft der Freiheit ist meines Wissens gar nicht so alt. Die Griechen schoben die Schuld an ihrem Schicksal noch weitgehend den Göttern in die Schuhe. Die Freiheitsidee muss aber schon damals entstanden sein. Ein Dokument, das uns vor Augen führt, wie der Mensch die Verantwortung für sein Tun übernimmt, ist für mich das erste Buch Mose.

Der Schreiber dieses Buches hatte eine tolle Idee: Er erfand die Geschichte vom Baum der Erkenntnis, von dessen Früchten der Mensch verbotenerweise naschte. Gott, um seine Alleinstellung fürchtend, vertrieb den Menschen daraufhin aus dem Paradies. Und dieser hatte von nun an zwar Mühsal und Plage am Hals, aber eben auch die Freiheit gewonnen, insbesondere die Freiheit der Entscheidung. Die Entscheidungsfreiheit wurde ihm von Gott gewährt: „Und Gott der Herr sprach: Siehe der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ (1. Mose 3, 22)

Diese Geschichte führt uns auch vor Augen, dass die Freiheit nicht umsonst zu haben ist. Unter Mühe und Plage muss das Bewusstsein dafür immer neu wach gehalten werden. Und das halte ich gerade heute, wo sich an allen Ecken der Welt totalitäre Tendenzen bemerkbar machen, für außerordentlich wichtig.

Es ist nur eine Geschichte, aber eine, die dem Menschen verdeutlicht, dass er mit seiner Freiheit verantwortungsvoll umzugehen hat. Freiheit ist heute die Basis funktionierender Gesellschaften und sie steht auch in der Liste der Grundrechte ganz weit oben, unter anderem im zweiten Artikel unseres Grundgesetzes. Dass es bei dieser Hochachtung bleibt, dafür lohnt es sich einzusetzen.

Wem diese Bemerkungen, die eines Ingenieurs, der sich ins Philosophische verirrt hat, zu oberflächlich sind, dem kann vielleicht der eine oder andere Fachphilosoph weiter helfen. Kurz und gut schreibt beispielsweise Michael Pauen in  „Eine Frage der Selbstbestimmung“ über Freiheit, Verantwortung, Strafjustiz, Schuld und Sühne (Spektrum der Wissenschaft  3/2011, 68).

In „Wie frei ist der Mensch?“ bekundet Eddy Nahmias: „Die meisten philosophischen Theorien entwickeln eine Idee vom freien Willen, die sich durchaus mit einer naturwissenschaftlichen Auffassung der menschlichen Natur vereinbaren lässt.“ (Spektrum der Wissenschaft 9/2015, 60-63)

Lüder Deecke, einer der Entdecker und Namensgeber des Bereitschaftspotentials, wendet sich  im Spiegel-Interview „Keinen Kobold im Kopf“ (Der Spiegel 34/2016, 104) gegen die „entgleiste Debatte“, zu der die deterministischen Deutungen seiner Versuche geführt haben. In den Versuchen wurde das Bereitschaftspotential einer Handlung bereits 1,2 Sekunden vor der Handlung und auch vor deren Bewusstwerdung messbar. Lüder Deecke sagt: „Wir haben das Unbewusste immer als einen superintelligenten Filter angesehen. Das Unbewusste sortiert vor und legt dem Bewusstsein sozusagen nur unterschriftsreife Entscheidungen vor.“ Bei schwierigen Entscheidungen sollten wir „nicht sofort entscheiden, sondern erst nach reiflicher Überlegung. Bei schwierigen Fragen ist es immer hilfreich, eine Nacht darüber zu schlafen, um am nächsten Morgen zu wissen, was man tun muss.“

Kurz gesagt: Naturgesetzlichkeit und Freiheit vertragen sich sehr gut miteinander. Die Vorstellung eines totalen Determinismus hilft nicht weiter.

Bei meinen Arbeiten zum Thema Denkfallen geht es darum, Teile des Unbewussten ans Licht des Bewusstseins zu zerren und der rationalen Entscheidung zugänglich zu machen. Das heißt: Freiheit gewinnen im Gewebe der Kausalitäten.

Zum Schluss bringe ich eine Buchwerbung in dieser Sache.

Timm Grams: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer, Berlin Heidelberg 2016 (http://www.springer.com/de/book/9783662502792)

KlügerIrren

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„Skeptiker“: Grenzen der Verständigung

Friedemann Schulz von Thun erinnert sich an einen Vorfall gescheiterter Verständigung (2014) . Er liegt offenbar lange zurück und hat mit einer damals in Hamburg aktiven linksradikalen Sekte zu tun. Diese  Leute kamen in gut besuchte Vorlesungen, ergriffen das Wort um „den Hörsaal in ein Absurdistan zu verwandeln und mich verächtlich zu machen“. Diese Gruppe habe – so Schulz von Thun – die Toleranz des Vortragenden für die eigene Intoleranz missbraucht und ihn in eine Zwickmühle gebracht: „Reagiere ich nämlich dialogisch aufgeschlossen, bin ich der Dumme und gehe ihnen auf den Leim. Reagiere ich abweisend und repressiv, bin ich der Böse, dessen wahres Gesicht jetzt entlarvt werden kann.“

Der Diskussionsprozesses von Himmelfahrt 2014 bis 2015 unter  „Skeptikern“ ist ein weiteres Beispiel für die Grenzen der Kommunikation. Hier will ich analysieren, woran dieser Diskurs scheitern musste.

Basis der Analyse: Grundregeln gelingender Kommunikation

Die Grundregeln gelingender Kommunikation entnehme ich den Büchern „Menschliche Kommunikation“ (Watzlawick, 1969) und „Kommunikation als Lebenskunst“ (Pörksen/Schulz von Thun, 2014).

Grundlegend für die Analyse ist die Aufgliederung des Kommunikationsprozesses in eine Beziehungsebene  und eine Sachebene (Inhaltsebene).

Die dialogische Erarbeitung von neuem Wissen gelingt, wenn auf der Beziehungsebene Stimmigkeit herrscht. Grundlegende Voraussetzung ist die menschliche Begegnung auf Augenhöhe. Gegenseitiger Respekt und Empathie sind unerlässlich: Man muss auch dem anderen eine Chance geben zu überzeugen. So funktioniert partnerschaftliche Kommunikation. Absolutheitsansprüche und Bevormundung, autoritäres Verhalten und die Zuweisung eines Oben und eines Unten sind für den dialogischen Prozess tödlich.

Was die Sachebene angeht, sollte man etwas zu sagen haben. In der wissenschaftsorientierten Kommunikation setzt das eine angemessene Vertrautheit mit dem Gegenstand voraus. Der Sprachgebrauch sollte der allgemein übliche sein (Duden, Enzyklopädie, Fachwortlexika). Nötige Abweichungen sind zu erklären. Die Darstellung sollte einfach, gut gegliedert und in sich schlüssig sein.

Verkorkste Beziehung

Wie man bereits auf der Beziehungsebene daneben liegen kann, zeigt der Vortrag eines „Skeptikers“ am 12.10.2016 in Würzburg. Angekündigt ist Stephan Angene mit dem Thema „Auf welche Art sollte man Menschen überzeugen?“

Bereits das Thema signalisiert: Hier spricht ein Wahrheitsbesitzer zu Leuten, die er für arm an Wahrheit hält. Wenn man im Blog des Vortragenden stöbert, stößt man bereits in der Selbstdarstellung auf diesen irritierenden Satz: „Ganz ehrlich, Menschen haben ein Recht darauf, dumm zu sein, und ich wäre der letzte, der ihnen dieses Recht absprechen würde.“  Der Titel des Blogs lautet „Nachdenken … bitte“. Der Blogger meint wohl, dass seine Adressaten Leute sind, die sich ihrer grauen Zellen gewohnheitsmäßig nicht bedienen.

Schon diese verkorkste Voreinstellung – Wissensbesitzer hier, Dumme da – verhindert, dass die partnerschaftliche Kommunikation gelingen kann. Sie lässt keine Begegnung auf Augenhöhe erwarten. Unser Blogger ist mit dieser Einstellung nicht allein. Im Internet finde ich auf den „Skeptiker“-Seiten Vergleichbares, nämlich Blogs mit den Namen „Less Wrong“, „Die Wahrheit“, „You are not so smart“ und „The Quackometer“.

Hier werden Autoritätsgefälle konstruiert. Offenbar geht es um Missionierung der Wahrheitsbedürftigen durch die Wahrheitsbesitzer. Diese herablassende Haltung vernichtet die Chancen für ein dialogisches Miteinander.

Wie geben sich solche Missionare zu erkennen? Unter anderem durch Beteuerungen, nicht missionieren zu wollen und mit Floskeln wie dieser: „Ehrlich, ich würde sofort meine Ansicht ändern, wenn ich ernstzunehmende Belege präsentiert bekommen würde.“

Wirrwarr auf Sachebene

Auf der Sachebene erreichen die Wortführer der „Skeptiker“, gemessen an den formalen Bildungsabschlüssen in dieser Gemeinschaft, nur ein unterdurchschnittliches Niveau. Der Sprachgebrauch weicht vom Üblichen ab. Vorherrschend ist Vermengung von Begriffen und mangelnde Differenzierung. Ich habe ein paar Beispiele  aufgelistet:

  1. Realismus = Skeptizismus
  2. Wahrheit = Erkenntnis (Wissen)
  3. Approximative Wahrheit = relative Wahrheitsnähe
  4. Religionskritik = Kirchenkritik
  5. Atheismus = Agnostizismus
  6. Wahrscheinlichkeit = Plausibilität

Nicht alle dieser Vermengungen sind in der „Skeptiker“-Szene durchgängig in Gebrauch. Konstant ist die Verwechslung von Realismus mit Skeptizismus, von Wahrheit mit Erkenntnis. Mit der Differenzierung approximativ-relativ will sich der Normal-„Skeptiker“ offenbar nicht auseinandersetzen. Dasselbe gilt wohl für die Differenzierungen der Religionskritik. Aber manche Vermengungen dienen ausschließlich dem Augenblicksdogmatismus, sind pure Rabulistik. Besonders auffällig ist das im Zusammenhang mit dem Atheismus, der bei passender Gelegenheit zum Agnostizismus verharmlost wird.

Auch wenn ich oben Gleichheitszeichen verwende: Um exakte Gleichheit geht es nicht, nur um die Vermengung von Begriffen, um die Verwischung der Bedeutungsgrenzen. Das ist ein Zug unserer Zeit: In den Internetlexika und in den Internetforen darf jeder seine Auffassung zum Besten geben. Die Interpretationen stehen nebeneinander und jeder kann sich das herauspicken, was ihm gerade passt. Die ordnende Kraft der klassischen Lexika schwindet. Begriffsbestimmungen werden zunehmend zur Privatsache. Damit wird das Feld für die Missionare und Augenblicksdogmatiker bereitet.

Für jede der Vermengungen bringe ich Zitate und meinen Kommentar dazu.

  1. Aus der Selbstdarstellung eines „Skeptikers“: „In aller Kürze gesagt bin ich ein Realist, kritischer Rationalist, Skeptiker und Naturalist.“  Kommentar: Der Realist behauptet, dass es die bewusstseinsunabhängige Realität gibt und dass wir die Wahrheit darüber wenigstens partiell oder approximativ erkennen können. Der Skeptiker demgegenüber behauptet gar nichts. Er stellt in Frage, sät Zweifel und überlässt es seinem Gegenüber, sich seine Meinung zu bilden. Ein Realist kann nicht zugleich Skeptiker sein.
  2. Derselbe „Skeptiker“ traut sich zu, über Wahrheit und Realität Profundes von sich zu geben: „Die mächtigste, stärkste und, ich behaupte, einzig funktionierende Möglichkeit und Methode, wie man die Übereinstimmung mit der Realität (und damit Wahrheit) entscheiden kann, sind Vernunft und Verstand, also Rationalität und der sich daraus entwickelte einzigartige Werkzeugkasten: Die Wissenschaften.“ Kommentar: Die Wissenschaftler, die ich kenne, interessieren sich nicht für die Wahrheit. Ihnen geht es um Erkenntnis, um Wissen. Auch dem Skeptiker im eigentlichen Sinn geht es nicht um die Wahrheit. Ganz in Gegenteil: Durch die skeptischen Szenarien (Traumargument, Descartes‘ böser Dämon, Brain in a Vat) wird die Realitätsannahme ja gerade infrage gestellt. Anders als die Skeptiker neigen Realisten dazu, Wissen (intersubjektiv nachprüfbare Erkenntnisse) für die zutreffende Beschreibung einer bewusstseinsunabhängigen Realität – für die Wahrheit also – zu halten. Das ist eine Glaubensangelegenheit. Dagegen ist nichts zu sagen. Unserer Gesellschaft ist auf Pluralismus, auf die Koexistenz verschiedener Weltanschauungen angelegt. Der Realist findet darin seinen sicheren Platz. Die Selbstbezeichnung „Skeptiker“ steht ihm jedoch nicht zu (Grams, 2016, Kapitel „Um Wahrheit geht es nicht“).
  3. Den etwas diffizilen Punkt approximativ kontra relativ behandle ich im Hoppla!-Artikel „Skeptiker“ über Wissenschaft und Wahrheit.
  4.  Der „Skeptiker“ Martin Mahner schreibt im skeptiker 4/2009: „Schließlich können sogar Religionen [unter die Parawissenschaften] fallen, insofern sie Erkenntnisansprüche erheben. In der Tat kommt letztlich keine Religion – wenn sie einen Wahrheitsanspruch geltende machen will – ohne Tatsachenbehauptungen über den Menschen und sein Verhältnis zu den jeweiligen angenommenen Kräften und Wesenheiten aus.“ Kommentar: Dogmen (Tatsachenbehauptungen) fallen in das Gebiet der Kirche. Und die katholische Kirche beispielsweise verzichtet heute bekanntlich auf Tatsachenbehauptungen, die der Wissenschaft widersprechen. In seiner Botschaft Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien  erkennt Papst Johannes Paul II. die Rolle der modernen Wissenschaft als eigenständig an (22.10.1996). Kirchenkritik gibt es schon seit Jahrhunderten auf ziemlich hohem Niveau. In jüngerer Zeit haben sich Karlheinz Deschner und Joachim Kahl auf diesem Feld hervorgetan. Auf eine grobschlächtige, an Richard Dawkins orientierte Religionskritik scheint man in diesen Kreisen nicht gerade gewartet zu haben.
  5. Glaubensbekenntnis  eines „Skeptikers“: „Ich denke auch nicht, dass es Gott gibt. Atheist bin ich daher praktisch automatisch als Folge meines Naturalismus.“ Im direkten Gedankenaustausch hat der „Skeptiker“ seine Ansicht präzisiert: „Atheismus ist nur die Position zu einer einzigen Frage, nämlich ‚Denkst du, dass Gott existiert?‘ Jede andere Antwort als Ja, macht einen zum Atheisten.“ Demzufolge stellt unser „Skeptiker“ die Atheisten den Agnostikern gleich. Anders sieht das Richard Dawkins, ein Vordenker der „Skeptiker“-Szene in Sachen Religionskritik. Dieser Atheist schüttet in seinem Buch „The God Delusion“ alles was er an Häme finden kann über die Agnostiker aus. Ich bevorzuge die klassischen und eventuell behutsam weiterentwickelten Begriffe: Der Agnostiker hält das Übersinnliche und Göttliche für unerkennbar oder gar für zu unbestimmt, als dass sich sinnvoll darüber reden ließe. Der Atheist leugnet die Existenz eines persönlichen Gottes. Insofern ist Richard Dawkins nahe an der klassischen Definition, obwohl er, so wie seinerzeit Blaise Pascal, unpassenderweise die Wahrscheinlichkeitsrechnung für seine Differenzierung in Anspruch nimmt.
  6. Aus Scientabilität – Kritik einer Gegenrede: „Erstens gibt es unendlich (wortwörtlich!) viele Behauptungen, die falsch sind, man fährt also schon aus Wahrscheinlichkeitserwägungen besser, wenn man eine Behauptung für falsch hält, weil die Wahrscheinlichkeit viel höher ist, dass sie [eher] falsch als wahr ist (es gibt mehr falsche, als wahre Behauptungen!).“ Kommentar: Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist hier fehl am Platz und das implizit vorausgesetzte Indifferenzprinzip ganz offensichtlich nicht anwendbar (Grams, 2016). Die Aussage ist Nonsens.

Auf Sachebene wird also ebenfalls nichts dem Dialog Förderliches geboten. Die Regeln gelingender Kommunikation werden sowohl auf Beziehungs- wie auf Sachebene verletzt.

Gescheiterte Kommunikation: die Echokammer

Die Kommunikation muss scheitern, weil die Grundanforderungen an einen partnerschaftlichen Meinungsaustausch nicht erfüllt werden: ausreichendes und sorgfältig in Worte gefasstes Wissen einerseits und dialogisches Prinzip andererseits. Was also ist der Zweck der „Skeptiker“-Aktionen?

Es geht meines Erachtens vor allem um ein positives Selbstbild, um die fortwährende Bestätigung der eigenen Überlegenheit. Die Herablassung gilt Leuten, die argumentativ noch weniger zu bieten haben als sie selbst: Astrologiegläubige, Wünschelrutengänger, Wahrsager,  Esoteriker, Anhänger der Homöopathie. In den Blogs der „Skeptiker“ wird in vielen Fällen Humor mit Häme und Verächtlichmachung verwechselt.

Das funktioniert natürlich nur, wenn sich die Akteure im Besitz der Wahrheit wähnen können. Jede Verunsicherung ist abzuwehren, sonst geht das Geschäftsmodell baden.

Unliebsame interne Kritiker werden an den Rand gedrängt. Gewöhnlich verlassen diese die Gesellschaft freiwillig. Ab und zu begegne ich solchen Versprengten im Internet. Andere werden auf die Liste der unerwünschten Kommentatoren gesetzt; so ist es mir beim offiziellen Internetforum der „Skeptiker“, dem GWUP-Blog, ergangen.

Übrig bleiben die, die sich in ihrer Meinung gegenseitig stützen. Abweichler, die nicht ernsthaft die Grundlagen der Gesellschaft infrage stellen, sind durchaus geduldet. Das verschafft den Eindruck der Toleranz und des Pluralismus, den man aus propagandistischen Gründen gern pflegt. Eine tiefere Wirkung dürfen diese Kritiker allerdings nicht entfalten.

Es entsteht eine Echokammer, in der jeder sein Überlegenheitsgefühl ausleben kann und nach Lust und Laune die vermeintlich dümmeren Leuten außerhalb der Echokammer verhöhnen darf. Von denen hört aber keiner zu. Häme und Herablassung werden nur von Gleichgesinnten innerhalb der Meinungsblase goutiert und sorgen dort für ausgelassene Fröhlichkeit.

Mir geht es nicht darum, „Skeptiker“-Aktionen wie den Würzburger „Psi-Test“ oder die Verleihung des „Goldenen Bretts vor dem Kopf“ in Wien zu verdammen, obwohl auch diese ein gewisses „Geschmäckle“ haben. Wenn es um die Erregung von Aufmerksamkeit geht, können derartige PR-Veranstaltungen ihren Zweck erfüllen. Aber dabei sollte es nicht bleiben.

Mich bekümmert die gesellschaftliche Geringschätzung der Mathematik wesentlich mehr als die Tatsache, dass einige meiner Freunde der Homöopathie anhängen oder den Verheißungen des Neurolinguistischen Programmierens Glauben schenken.

Wichtiger noch als die PR-Aktionen wäre ein partnerschaftlicher Dialgog mit den Leistungsträgern unseres Bildungswesens. Wünschenswert sind Veranstaltungen mit dem Ziel, der Jugend eine bessere Orientierung zu ermöglichen darüber, was Wissenschaft ist und was Scharlatanerie.

Eine Überwindung der Grenzen der Verständigung ist grundsätzlich möglich.

Literaturhinweise

Paul Watzlawick, Janet  H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Hans Huber, Bern 1969

Bernhard Pörksen, Friedemann Schulz von Thun: Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens. Carl-Auer, Heidelberg 2014

Timm Grams: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer, Berlin Heidelberg 2016 (http://www.springer.com/de/book/9783662502792)

KlügerIrren

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Das Geburtstagsparadoxon

In einem Mathe-Blog wird gefragt: Wie groß muss eine wild zusammengewürfelte Personengruppe sein, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von wenigstens 50 Prozent darunter zwei Personen sind, die am selben Tag Geburtstag haben? Die Antwort: Die Gruppe muss aus 23 Personen bestehen.

Dann wird diese Herleitung angeboten: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einer Gruppe (wenigstens) eine Person befindet, die an einem bestimmten Tag Geburtstag feiert, steigt mit der Gruppengröße; bei 253 Personen beträgt diese Wahrscheinlichkeit 50%, vorausgesetzt, die Geburtstage der Leute verteilen sich gleichmäßig über das Jahr von 365 Tagen.

Besteht eine Gruppe aus 23 Personen, dann ergibt das 23·22/2 = 253 mögliche Paarungen. Es gibt also ebenfalls 253 paarweise Vergleiche der Geburtstage von je zwei Partygästen. Folglich muss die Trefferwahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeit wenigstens einer Übereinstimmung) ebenfalls 50% betragen.

Den errechneten Wert finde ich plausibel. Mir ist nur rätselhaft, was an der Sache paradox sein soll.

Aber Hoppla! Mein Bauchgefühl sagt mir: Mit der Berechnung stimmt etwas nicht. Nur was?

An der ersten Aussage, nämlich dass es 253 Personen braucht, um darunter mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine zu finden, die an einem vorbestimmten Tag Geburtstag hat, ist gewiss nichts auszusetzen, denn: Eine beliebig herausgegriffene Person hat mit der Wahrscheinlichkeit 364/365 nicht diesen Geburtstag. Dass alle 253 Personen nicht diesen Geburtstag haben, hat die Wahrscheinlichkeit (364/365)253 und diese liegt knapp unter 50%. Die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer ist das Komplement zu eins dieses Wertes; sie beträgt 50,05%.

Auch die Aussage, dass es in einer Gruppe von 23 Personen 253 verschiedene Paarungen gibt, ist unstrittig. Aber wie steht es mit der Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens eines dieser Paare einen gemeinsamen Geburtstag hat? Die Potenzformel setzt voraus, dass die Trefferwahrscheinlichkeiten für alle diese Paare voneinander statistisch unabhängig sind. Und daran hapert es. Die Kandidaten für jede der Paarungen werden ja alle aus derselben Grundgesamtheit von nur 23 Leuten ausgewählt; nur deren Geburtstage stehen zur Debatte. (Bei 366 Personen wäre mit 100-prozentiger Sicherheit ein Paar mit gemeinsamem Geburtstag vorhanden. Die Potenzformel – jetzt mit wahnsinnig großem Exponenten – liefert aber einen Wert unter 100%, zwar sehr geringfügig darunter, aber immerhin.)

Ich habe ein kleines Experiment gemacht und die Trefferwahrscheinlichkeit bei einer Gruppe von 23 Personen mittels stochastischer Simulation ermittelt. Es ergab sich eine Trefferwahrscheinlichkeit  von 50,727% mit einer zweifachen Standardabweichung von ±0,01%. Die Trefferwahrscheinlichkeit liegt also deutlich höher als zunächst berechnet.

Rechnen wir genauer. Vor allem: Wählen wir ein stimmiges Modell! Wir berechnen zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Gruppe von 23 Leuten keinen gemeinsamen Geburtstag gibt.

Wir entnehmen der Gruppe die erste Person. Sie kann mit den bereits entnommenen – da ist keine – keinen gemeinsamen Geburtstag haben. Wir entnehmen der Gruppe die zweite Person. Die hat mit den entnommenen (vorerst nur eine) mit der Wahrscheinlichkeit 364/365 keinen gemeinsamen Geburtstag. Für die nächste sind noch 363 von 365 Tagen übrig. Sie hat mit den bereits entnommenen mit der Wahrscheinlichkeit von 363/365 keinen gemeinsamen Geburtstag. Und so weiter.

Zusammengefasst: Unter der Bedingung dass unter den m bereits entnommenen Personen keine gemeinsamen Geburtstage zu finden sind, beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch die Person m+1 keinen Treffer bringt, (365-m)/365. Wir errechnen das Produkt all dieser Wahrscheinlichkeiten von m=1 bis m=22.

Dieser Wert ist noch von eins abzuziehen und schon haben wir das Resultat: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass in einer Gruppe von 23 Personen zwei mit gleichem Geburtstag zu finden sind, beträgt 50,7297%. Das passt zum Ergebnis der stochastischen Simulation.

(Ich werde jeden Kommentar schnellstmöglich bearbeiten. Wie in anderen Fällen auch, werde ich notfalls vor der Freischaltung mit den Einsendern per E-Mail diskutieren. Das soll den Diskussionsfaden vor einer Anhäufung von Wirrtümern bewahren und die Redundanz reduzieren. Ich will vermeiden, dass die Unterhaltungsmathematik hier ebenso ungenießbar wird, wie in manch anderem Internetforum.)

KlügerIrrenWerbung in eigener Sache

 

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Denkfallen vermeiden mit System (Buch)

Seit über 30 Jahren gehört das Thema Denkfallen zu meinem Interessengebiet. Dem Leser dieses Weblogbuchs ist das eine oder andere Resultat meiner Anstrengungen schon begegnet.

Anfangs lag mein Schwerpunkt auf der Entlarvung von Irrtümern auf dem Gebiet  meiner Berufstätigkeit: Ingenieurwissenschaft und Informatik. Daraus entstand im Jahr 1990 das Springer-Buch „Denkfallen und Programmierfehler“. Das war der Anfang der Taxonomie System der Denkfallen.

Ich habe gemerkt, dass sich das System und die damit einhergehende negative Methode auf Alltagssituationen gewinnbringend anwenden lassen.

In einem früheren Artikel, habe ich darüber berichtet, dass ein Verlag an dem Thema interessiert war und dass meine Ernüchterung über das Vorhaben dazu führte, dass ich das Buch nicht mehr machen wollte. Jetzt habe ich es doch gemacht – im renommierten Springer-Verlag. Er hat meine Intention aufs Beste umgesetzt:

KlügerIrrenhttp://www.springer.com/de/book/9783662502792
http://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-662-50280-8

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Der Scheuklappen-Effekt

Wer Scheuklappen trägt, den erschreckt nichts, was abseits seines Weges liegt. Für Pferde ist das im Allgemeinen eine gute Sache. Beim Menschen nicht immer.

Dass auch er Scheuklappen trägt, hat einen einfachen Grund: Er muss mit begrenzten mentalen Ressourcen zurechtkommen: Sein Gehirn hat nun einmal eine begrenzte Kapazität für die Speicherung und die Verarbeitung von Informationen. Der von den Sinnesorganen erfasste Informationsfluss ist um viele Millionen Male größer als das, was er wahrnehmen kann. Er muss den Scheinwerfer seiner Aufmerksamkeit auf das momentan jeweils Wichtigste ausrichten – eine im Grunde gute Sache.

Zuweilen empfiehlt es sich, die Scheuklappen abzusetzen. Nur wann? Die folgenden Beispiele geben Hinweise.

Das Neun-Punkte-Problem

Ich beginne mit einer Denksportaufgabe. Sie werden das Problem kennen: Gegeben sind neun im Quadrate regelmäßig angeordnete Punkte. Je drei nebeneinander, je drei untereinander. Diese Punkte sind in einem Zug durch vier gerade Linien zu verbinden.

Erstaunlicherweise vereinfacht sich die Lösungssuche, wenn Sie zwei weitere Punkte hinzunehmen: Einen Punkt zusätzlich in der ersten Zeile und einen in der ersten Spalte. Das Punktemuster sieht nun so aus:

•   •   •   •
•   •   •
•   •   •

Eine Lösung ist leicht zu finden: Zuerst verbindet man die Punkte der ersten Reihe und zieht den Stift von links nach rechts, dann folgt die Diagonale von rechts oben nach links unten. Danach geht es senkrecht nach oben zurück zur ersten Zeile. Schließlich zieht man von links oben zum Punkt rechts unten. Fertig. Mit dem Elf-Punkte-Problem ist natürlich auch das Neun-Punkte-Problem gelöst.

Warum ist es bei den neun Punkten so schwer, die Lösung zu finden, und warum ist es bei den elf Punkten so leicht? Einfach weil der Denksportler bei der ursprünglichen Aufgabe die Scheuklappen absetzen muss. Er muss seinen Blick weiten und erkennen, dass er zur Lösungsfindung den vorgegebenen Rahmen, der durch die neun Punkte abgesteckt ist, verlassen darf.

Verzerrte Stichproben

Mit der Statistik wird viel Schindluder betrieben. Spektakuläres und stimmige Storys engen das Blickfeld ein. Ich berichtete darüber im Artikel Proben mit Stich.

Besonders dreist geschieht das bei den sogenannten TED-Umfragen, die von den Tageszeitungen, dem Rundfunk oder auch im Internet initiiert werden. Niemand weiß etwas über den Teilnehmerkreis einer solchen Umfrage, nur die Antworten sind bekannt. Das Ergebnis solcher Umfragen ist genauso interessant und informativ wie das wöchentliche Horoskop.

In einem Fall wurde um Antwort gebeten auf die Frage „Glauben Sie an (den christlichen) Gott?“ Für die Antwort konnte aus fünf Abstufungen gewählt werden. Fast alle Teilnehmer wählten eine der beiden Extremantworten: Ja oder Nein. Die Agnostiker waren zusammen mit den Wachsweichen der einen oder anderen Neigung klar in der Minderheit. Man sieht: Um sich zur Teilnahme aufraffen zu können, braucht man schon etwas Enthusiasmus. Der ist sowohl bei den Gläubigen als auch bei den Atheisten offenbar vorhanden. Wahrlich keine weltbewegende Erkenntnis.

Ebenso unsinnig ist es, die Besucher eines Kneipenviertels danach zu fragen, wie oft sie hierher kommen und dann deren Antworten zum Maßstab der Beliebtheit des Viertels zu machen. Da man nur die fragen kann, die da sind, müssen die Vielbesucher in der Stichprobe zwangsläufig überrepräsentiert sein.

Risikofaktoren

Im Artikel über Wundersame Geldvermehrung erzähle ich von einem Politiker, der uns weismachen will, dass der Ankauf von Staatsanleihen ursächlich für den Zusammenbruch einer Währung ist. Nach derselben „Logik“ könnte man aus der Tatsache, dass den meisten Auto-Karambolagen eine Vollbremsung vorausgeht, folgern, dass die Vollbremsung ein Risikofaktor ist und deshalb besser unterbleiben sollte.

In dem Artikel können Sie auch sehen, wie professionelle Unfallforscher zum Opfer des Scheuklappeneffekts werden. Das geschieht beispielsweise dann, wenn bei der Analyse von Unfallursachen nur die tatsächlichen Unfälle in Betracht gezogen werden. Charles Perrow stellte anhand einer Statistik fest, dass bei einer Reihe von Schiffszusammenstößen in den meisten Fällen ein Ausweichmanöver vorausgegangen ist. Er macht dann die Ausweichmanöver für die Kollisionen verantwortlich. Das ist zu eng gesehen.

In Weitwinkelperspektive geraten auch die Beinaheunfälle ins Blickfeld, die durch Ausweichmanöver verhindert worden sind. Das Urteil, dass Ausweichmanöver ein Risikofaktor sind, relativiert sich dann.

Patientenzufriedenheit

Eine Studie zur Patientenzufriedenheit ermittelte für zufällig ausgewählte Arztpraxen das Verhältnis aus erzielter Zufriedenheit in Relation zu den Anforderungen der Patienten. Die Einschätzungen der Ärzte und Medizinischen Fachangestellten wurde mit dem Ergebnis einer Patientenbefragung abgeglichen.

Die Patientenbefragung ergab einen Durchschnittswert von 48,6%. „Die in den Praxen arbeitenden Ärzte gingen davon aus, eine Betreuungsqualität von 81,4% zu erzielen, also nahezu das Optimum. Das Personal zeigte sich hingegen mit einer mittleren Einschätzung von 53,9% deutlich kritischer.“

Der Bericht über die Studie trägt die Überschrift „Der Scheuklappen-Effekt: Gravierende Diskrepanzen zwischen Eigen- und Fremdbild in Arztpraxen“.

Ballerspiele für Terroristen und Amokläufer

Dem Bericht „Unter Beschuss“ der Zeitschrift Stern vom 4.8.2016, S. 112-115, entnehme ich: Der 18-Jährige, der vor Kurzem in München neun Menschen erschoss, hatte Shooter-Spiele auf seinem Computer, ebenso die Schützen von Littleton (1999), der Menschenjäger auf der Insel Utøya, die Jugendlichen, die 2002 in Erfurt und 2009 in Winnenden insgesamt 27 Menschen töteten.

Der Schluss liegt nahe, dass Ballerspiele auf dem Computer Böses mit sich bringen, dass sie ursächlich für die Taten sind.

Weiten wir den Blick. Virtuelle Ballerspiele werden immer beliebter. Heute werden sie von etwa 17 Millionen Deutschen gespielt. So steht es in dem Stern-Artikel. Die Zahl der Tötungsdelikte sank in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten auf weniger als die Hälfte. Ein möglicher negativer Einfluss von Ballerspielen wird offensichtlich durch mildernde Effekte überdeckt. Vielleicht gibt es diesen negativen Einfluss gar nicht.

Will man etwas über die Kausalbeziehung zweier Erscheinungen erfahren, sollte man immer in Betracht ziehen, dass ein Drittes die gemeinsame Ursache beider Erscheinungen sein kann. Das ist eine einfache Technik der Blickfelderweiterung.

Der Stern hat Experten zu den Einflussfaktoren, die Gewaltbereitschaft betreffend, befragt und ein paar Antworten erhalten: Traumata, Flucht, Vergewaltigung, geraubte Kindheit, genetische Veranlagung. „Die Biografien und Befunde jener Täter, deren Gewaltakte uns einfach nicht in den Kopf wollen, legen tiefe seelische Wunden und womöglich auch psychische Deformationen als hauptsächliche Ursachen nahe. […] Es leuchtet ein, dass jemand, der das Leiden anderer als Befriedigung erlebt, auch Spaß am virtuellen Töten haben kann. Der Umkehrschluss hingegen gilt nicht – wer ‚Counter-Strike‘ mag, ist nicht schon Sadist.“

Prognosen: Laien schlagen Experten

Der Spiegel (33/2016, S. 124-125) berichtet unter der Überschrift „Anleitung zum Wahrsagen“, dass gerade die Gurus eines Fachgebiets mit ihren Prognosen daneben liegen. Mehrere Gründe werden gesehen.

Der Experte hat seine Theorie, mit der er steht und fällt. Er ändert sie möglichst nicht, da er Gesichtsverlust befürchtet. Er trifft auf Menschen, die jede Erklärung begierig aufgreifen, die ihnen halbwegs stimmig erscheint. Eine gute Geschichte oder eine halbwegs plausible Analogie stellen sie zufrieden. Außerdem haben die Menschen ein ziemlich schlechtes Gedächtnis, was die Prognosen der Vergangenheit angeht. Die Treffergenauigkeit eines Experten wird daher kaum infrage gestellt. Alles zusammen fördert den Rechthaber-Mechanismus. „Je bekannter ein Experte ist, desto schlechter sind seine Prognosen.“ So zitiert der Spiegel den Psychologen und Politikwissenschaftler der University of Pennsylvania Philip Tetlock.

Sie ahnen es schon: Es liegt an der Blickverengung. Vielleicht aber haben Sie auch noch andere Erklärungen.

Tetlock stellte den Expertenaussagen die Aussagen von Laien gegenüber. Unter diesen Laien gab es Superprognostiker, die besser abschnitten als beispielsweise die Analysten der Geheimdienste. Was zeichnet sie aus? „Sie lesen viele Bücher, sie informieren sich vorrangig aus sogenannten Qualitätsmedien, sie können gut mit Zahlen umgehen. Und sie zählen zu den intelligentesten 20 Prozent der Bevölkerung. Aber: Sie sind, gemessen an ihrem Intelligenzquotienten, keine Genies.“ Philip Tetlock charakterisiert die erfolgreichen Prognostiker als offen, vorsichtig, selbstkritisch und bescheiden. Sie nutzten die Meinungsvielfalt der Masse und sie kombinierten die verschiedenen Perspektiven. Und das geschehe in einem einzigen Kopf.

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Fünftes Intermezzo: Der Agnostiker

Till ist einer, den ich sehr gut kenne – besser als jeden anderen. Heute schreibe ich über ihn, vor allem darüber, wie er die Welt sieht.

Diesseits

Die Welt besteht für Till aus den Vorstellungen in seinem Kopf. Die innere Welt in seinem Kopf ist das Resultat eigenen Erlebens, das Wissen über die Erscheinungen und Phantastisches aus allen möglichen Kunstgattungen. Diese innere Welt ist ein Vorstellungsbild.

Ob es eine äußere Welt gibt, die vom Bewusstsein unabhängig ist, dafür interessiert sich Till nicht sonderlich. Er kann nichts damit anfangen, wenn Realisten behaupten, dass sich die Außenwelt, die Realität, sogar erkennen ließe. Auch lässt ihn die Frage nach den Ursachen, nach dem Schöpfer der hypothetischen Realität kalt: Das alles sind Fragen, die sich seinem Erleben und seiner Erkenntnis entziehen und die für ihn deshalb belanglos sind.

Gottgläubige und Realisten kann er nicht so recht voneinander unterscheiden: Er meint, der Realist schließe nur die Augen vor der Frage, wer die von ihm so geschätzte Außenwelt eigentlich geschaffen hat. Till ist Agnostiker durch und durch und Skeptiker im klassischen Sinn (Sextus Empiricus, 2. Jahrhundert).

Till denkt über Welt in seinem Kopf nach. Er will wissen, wie sein Weltbild zustande kommt und ob es ihn verlässlich leitet oder ob es ihn manchmal auch narrt. Dazu muss er sich die Welt in seinem  Kopf vorstellen. Wer so etwas tut, begibt sich in höchste Gefahr: Das Nachdenken über diese Welt gehört selbst zur inneren Welt. Der Denker droht, in einen Teufelskreis zu geraten. Er muss darauf achten dass ihm vor lauter Reflexion seine Welt nicht abhanden kommt.

Till kennt einen Weg aus der Gefahr: „Meine Gedanken über die Welt in meinem Kopf betreffen ein abgeleitetes Vorstellungsbild, eines, das mein Vorstellungsbild von der Welt zum Gegenstand hat. Mit meinem Vorstellungsbild von der Welt, diesem von einem Vorstellungsbild abgeleiteten Vorstellungsbild, kann ich machen, was ich will. Ich entferne daraus das Denken über Vorstellungsbilder; ich denke einfach nicht weiter darüber nach.“ Das klingt nach Trotz. Aber es hilft.

Das Nachdenken über die Welt im Kopf ist offenbar eine halsbrecherische Sache. Für seine Gewaltlösung holt sich Till Unterstützung bei einem Großdenker von Format: Immanuel Kant wies seinerzeit darauf hin, dass „das denkende Subjekt ihm selbst in der inneren Anschauung bloß Erscheinung“ ist (Kritik der praktischen Vernunft, 1788 , Akademie-Ausgabe AA6). Es ist ja gut, dass Till das versteht. Ich will versuchen, mit einer Grafik Klarheit in die Sache zu bringen (Bild: Diesseits 1).

 

Diesseits 1

Wichtig für ein Ende der Reflexionskette ist, dass das eingebettete Vorstellungsbild der inneren Welt keine weitere rückbezügliche Einbettung enthält! Es gibt keinen unendliche Regress und auch keinen teuflischen Zirkelbezug.

Aber etwas Wichtiges fehlt noch. Es betrifft Tills Hobby: Er sammelt Denkfallen und versucht diese in ein Klassifikationsschema zu bringen. Indem er das tut, bewegt sich sein Denken auf einer weiteren Ebene: Till denkt über das Nachdenken nach. Eingebettet in die innere Welt ist nun auch die Reflexion über die Reflexion des Vorstellungsbilds (Bild Diesseits 2).

Diesseits 2

Diesseits 2

Es ist wie im Film „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder: Fred Stiller – der Held der Geschichte – ist Herr über eine Simulation der Welt. Ein Wesen dieser simulierten Welt erkennt seine Lage und will heraus aus der Simulation und aufsteigen in Stillers Realität. Stiller erkennt schließlich, dass er selbst Teil einer Simulation ist. Als er aus dieser simulierten Welt heraufsteigt, bleibt unklar, ob er jetzt in der wirklichen Wirklichkeit gelandet ist oder ob es sich wieder nur um eine virtuelle Realität handelt.

Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Unserem Weltbild aber schon. Prinzipiell hat Till recht: Irgendwann ist Schluss mit der Reflexion der Reflexionen. Das Nachdenken über die innere Welt bleibt notgedrungen bruchstückhaft und endlich – allein aus Gründen der Kapazitätsbeschränkung. Es gibt keinen Zirkel und auch keinen unendlichen Regress. Es ist schon komisch: Die Endlichkeit des Denkens ermöglicht, dass wir uns einen Begriff von der „Welt“ machen.

Wissen

Es gibt viele Menschen und deshalb auch viele Welten. Dennoch bleiben Sprachverwirrung und grundlegendes gegenseitiges Unverständnis aus. Denn glücklicherweise können wir uns über wesentliche Teile unserer Vorstellungsbilder einigen, meistens jedenfalls. Die intersubjektiv nachprüfbaren Bestandteile nennen wir Wissen. Glaubensakte sind für den Wissenserwerb nicht erforderlich. Die Regeln des kritischen Rationalismus genügen (Karl Raimund Popper, 1902-1994).

Dass unsere innere Welt von Recht und Ordnung zusammengehalten wird und dass wir uns über das Wissen darüber verständigen können, ist ein großes Wunder. Der Realist versucht dieses Wunder zu eliminieren, indem er sich eine bewusstseinsunabhängige Realität vorstellt, die kausal für alle Erscheinungen ist (Hilary Putnam, On Not Writing Off Scientific Realism, 2010). Till ist von der Idee nicht angetan und sagt: „Anstelle der wunderbaren Ordnung der Erscheinungen tritt dann doch bloß die Realität, und die ist nicht weniger wunderbar. Der Gedanke einer bewusstseinsunabhängigen Realität schafft das Wunder nicht aus der Welt.“

Aufgabe der Wissenschaft ist, Hypothesen über die Erscheinungen zu prüfen und in Kommunikationsprozessen die besten Hypothesen herauszufiltern. Das Wissen über die Welt ist letztlich die Gesamtheit der gut geprüften und bewährten Hypothesen; es beinhaltet die allgemein akzeptierten und bewährten Erkenntnisse über das kommunizierbare Erleben aller; Dieses Wissen wird zumindest auszugsweise zum Bestandteil von Tills innerer Welt. Wissen und Weltbild befinden sich im dauernden Wandel.

Tun

Aber nicht nur Objektives, also intersubjektiv Nachprüfbares, gehört zum diesseitigen Weltbild. Die innere Welt ordnet sich nicht nur nach der ersten der berühmten drei Kantschen Fragen, nämlich: „Was kann ich wissen?“, sondern wenigstens noch nach der zweiten: „Was soll ich tun?“

Das ist das Feld der praktischen Vernunft. Dort herrschen Wertvorstellungen und die Moral, und dafür gibt es keine empirische Basis. Der naturgesetzliche Zwang entfällt. Hier herrscht die Freiheit, die Freiheit in der Wahl der Weltanschauung und der sie regierenden Maximen, Grundsätze und Dogmen.

Till gesteht jedermann die Freiheit zu, sich seine eigene Weltanschauung zuzulegen. Er verträgt sich mit Atheisten, weltlichen Humanisten, Juden, Katholiken, Moslems – also Gläubigen jedweder Couleur. Er hat Verständnis für alle, die einen festen Halt für ihr Weltbild suchen und die diesen in irgendeiner Weise gefunden haben: in Gott, in der Materie, in der Natur.

Till selbst ist toleranter Agnostiker. Er meint, dass sein Weltbild denkbar sparsam und friedfertig sei. Bekehrungseifer ist ihm fremd. Die Vielfalt der Überzeugungen, das Bunte in der Welt, ist für ihn der wesentliche Fortschrittsmotor. So wie die biologische Evolution die Variabilität braucht (Charles Darwin, 1859), so braucht die Gesellschaft den weltanschaulichen Pluralismus.

Nach Tills Überzeugung lässt sich für kein Glaubenssystem ein Überlegenheitsanspruch herleiten. Es geht nur darum, wie es sich auf dem Feld der „praktischen Vernunft“ (Kant) im friedlichen Wettstreit mit anderen bewährt. Es kommt nicht darauf an, was einer glaubt, sondern was er tut.

Tills Dogmen zeichnen sich aus durch die Hochschätzung von Freiheit, Toleranz und Pluralismus.

Tills Friedfertigkeit hat Grenzen. Er leistet Widerstand, wenn jemand seinen Glauben dort ins Spiel bringt, wo er nichts zu suchen hat – insbesondere in der Wissenschaft. Wer die Bibel wörtlich nimmt und diese Interpretation gegen die Naturwissenschaften ins Feld führt, wie es die US-amerikanischen Kreationisten und Anhänger des Intelligent Design tun, ruft ihn auf den Plan. Auch wenn ihm jemand weismachen will, dass der Realismus eine unabdingbare Voraussetzung der empirischen Wissenschaft sei und dass es so etwas wie „approximative oder partielle Wahrheit“ geben müsse, dann regt sich sein Widerspruchsgeist.

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Betet Richard Dawkins?

Was, Sie kennen die „Skala des Gottesglaubens“ noch nicht? Dann wird es höchste Zeit für eine Lektion in dieser Sache. Ich habe davon erstmals in dem Buch „The God Delusion“ von Richard Dawkins (2006) gelesen (deutsch: „Der Gotteswahn“) . Er mag sie erfunden haben. Aber letztlich stammt die Grundidee vom großen Mathematiker Blaise Pascal. Sie hat vermutlich nicht zu seinem Ruhm beigetragen.

Wenn jemand wie Richard Dawkins heute noch damit hausieren geht, muss er sich einigen Spott gefallen lassen. Die Idee ist nämlich ein Musterbeispiel für den Versuch, Glaubensfragen mit mathematisch-wissenschaftlichen Methoden zu lösen. Es geht darum, der eigenen Überzeugung Nachdruck zu verleihen. Die Geschichte zeigt, dass sich der Apologet dabei fast notgedrungen in fusseligen Gedankenfäden verheddert und auf die Nase fällt.

Das gilt für Gläubige wie Pascal und für Atheisten wie Dawkins gleichermaßen. Beginnen wir mit

Pascals Wette auf die Existenz Gottes

Vom französische Religionsphilosophen, Mathematiker und Physiker Blaise Pascal (1623-1662) stammt diese Wette: Wenn du an Gott glaubst – sozusagen auf ihn setzt – und Gott existiert nicht, so verlierst du nichts. Wenn du aber nicht an Gott glaubst und Gott existiert, dann kommst du in die Hölle. Deswegen ist es vernünftig, an Gott zu glauben. So wahrst du deine Chance, in den Himmel zu kommen.

Lassen wir die Hölle einstweilen links liegen und beschäftigen wir uns nur mit der Nutzenseite der Angelegenheit. Nach Pascal ergibt sich der zu erwartende Nutzen als Produkt aus Wahrscheinlichkeit und Nutzen.

Da wir nicht genau wissen, ob es Gott gibt, setzen wir für die Wahrscheinlichkeit seiner Existenz die Variable p ein. Wie alle Wahrscheinlichkeiten ist das ein Wert im Bereich von null bis eins. Der Nutzen für den Gläubigen ist, falls es Gott tatsächlich gibt, riesengroß – für uns Erdenbürger jedenfalls gleich unendlich, in Zeichen: ∞. Damit ergibt sich der zu erwartende Nutzen des Glaubens zu p·∞. Pascal meint, dass die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes zwar klein, vielleicht sogar sehr klein, niemals aber gleich null sein könne. Folglich ist der zu erwartende Nutzen nach den Regeln der Mathematik gleich ∞.

Für den Ungläubigen sieht die Rechnung ganz genauso aus, nur dass hier der drohende Schaden – nämlich das Schmoren in der Hölle – gleich unendlich ist.

Gottesdienst und Beten als Ausdruck des Glaubens und gottgefälliger Lebenswandel sind demnach das einzig vernünftige Handeln. Wir wollen das einmal so hinnehmen.

Dawkins’ Skala des Gottesglaubens

Richard Dawkins ist der wortmächtige Anführer der so genannten Neuen Atheisten. Er hat in seinem Buch von 2006 Pascals Idee aufgegriffen. Seine Gedankenspiele landen – vorhersehbar – im Absurden.

Dawkins will zwar nicht den Glauben, sondern den Unglauben begründen. Sein mathematisches Instrumentarium aber ist dasselbe wie das pascalsche; und es ist in diesem Fall gleichermaßen ungeeignet. Warum Dawkins voller Emphase diese Denkfalle ansteuert und prompt darin untergeht, wird sein Geheimnis bleiben.

Dawkins schlägt vor, die Intensität des Glaubens mit der Wahrscheinlichkeit p zu bewerten, genau wie es Pascal tut. Seine Skala des Gottglaubens reicht von p = 100%, das sind die starken Theisten, über die De-facto-Theisten mit p knapp unter 100%, die Agnostiker mit p = 50%, die De-facto-Atheisten mit sehr kleinem, aber immerhin noch positivem p bis hin zu den starken Atheisten mit p = 0%. Dawkins zählt sich zu den De-facto-Atheisten („I cannot know for certain but I think God is very improbable“). Und damit landet er in der Falle der Pascalschen Wette. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auf Gott zu setzen.

Wer sich auf solche Wahrscheinlichkeitsrechnungen einlässt, muss wissen, worum es geht. Und da haben wir nun einmal – das gilt für Dawkins wie für Pascal –  das von der Kirche vermittelte Bild von Gott, Himmel und Hölle. Man sollte nicht, wenn einem das Ergebnis des Kalküls missfällt, an den Definitionen herumdoktern.

Der Fehler liegt bereits im Ansatz: Im Aufsatz 1654: Ein neues Denken beginnt zeige ich, dass Pascals Risikoformeln hier gar nicht anwendbar sind. Richard Dawkins scheint das nicht weiter zu interessieren. Er verliert sich in Phantasien über das Gottesbild.

Glaubenspluralismus

Dawkins ist ein Glaubenskämpfer in Sachen Atheismus. Ihm will offenbar nicht einleuchten, dass der Agnostizismus eine logisch einwandfreie und entschiedene Position der Entscheidungsenthaltung ist: Der Agnostiker verweigert sich der Zumutung, eine Aussage für oder gegen die Existenz Gottes zu treffen. Und dieselbe Verweigerungshaltung gilt für Wahrscheinlichkeitsaussagen. Eine Wahrscheinlichkeitszumessung zur Existenz Gottes ist für den Agnostiker ohne Sinn, da jeglicher Erfahrungshintergrund fehlt. Ohne Aussicht auf eine Statistik bleibt für ihn  die Ungewissheit total.

Frank Stößel spricht in seinem Kommentar zum Hoppla-Artikel Die Unterwanderungsstrategie des Neuen Atheismus  von einer Skala des Agnostizismus — in Anlehnung an Dawkins. Er meint damit eine Vielzahl von Standpunkten und Glaubensrichtungen.

Das Wort Skala halte ich in dem Zusammenhang für falsch. Eine Skala setzt voraus, dass sich die Standpunkte messen lassen. Es bleibt die Frage nach einer geeigneten Maßzahl. Jedenfalls ist die hier angesprochene Wahrscheinlichkeit p als Maß für die Glaubensintensität nicht geeignet: Bereits beim Agnostiker scheitert der Versuch einer Vermessung und Einordnung. Deshalb würde ich lieber von Glaubenspluralismus sprechen und nicht von einer Skala des Agnostizismus.

Glaubenspluralismus und Toleranz halten unsere offene Gesellschaft am Laufen. Die verschiedenen Dogmensysteme treten im freien und friedlichen Spiel auf dem Feld der praktischen Vernunft gegeneinander an. In diesem Spiel findet sich auch der De-facto-Atheist wieder. Dass er sich bei der Begründungen seines Standpunkts rettungslos verheddert, muss uns nicht weiter bekümmern. Anderen Gläubigen geht es mit ihrer Apologetik auch nicht besser.

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„Skeptiker“ über Wissenschaft und Wahrheit

Die sich irrtümlich als Skeptiker bezeichnenden Leute liefern immer wieder überzeugende Lehrbeispiele für fehlleitende Argumentation. Wer nicht aufpasst, tappt in die von diesen Leuten aufgestellten Denkfallen. Ein Ziel dieses Weblogbuchs ist, sich durch Analyse solcher Beispiele gegen Reinfälle zu wappnen.

2007 schrieb einer der „dogmatischen Skeptiker“: „Es gibt keine Wechselwirkung mit einer Übernatur.“ Ich berichtete in Argumentationsfehler des ontologischen Naturalismus davon. Ganz aktuell gibt er unter dem Titel „Wissenschaft und Wahrheit“ zu Protokoll: „Es gibt keine negativen Sachverhalte.“ Ohnehin sei es unser Ziel, „das festzustellen, was ist“ (skeptiker, 2/2016, S. 75 ff.). Für mich postuliert der Dogmatiker mit der Keine-Übernatur-Hypothese einen negativen Sachverhalt. Ich sehe hier einen Widerspruch; die Aussagen lassen sich nicht unter einen Hut bringen.

Neben solch Schwerverständlichem bietet der Dogmatiker Thesen, die auf den ersten Blick vernünftig erscheinen. Bei näherem Hinsehen verflüchtigt sich der positive Eindruck. Es folgen zwei Beispiele aus dem bereits zitierten skeptiker-Artikel.

  1. „Es gibt […] gute Argumente dafür, dass das Streben nach Wahrheit unverzichtbarer Bestandteil der Wissenschaft ist.“

Die meisten der mir bekannten Wissenschaftler streben nicht nach Wahrheit, sondern nach Erkenntnis, das heißt: nach Theorien, welche die Phänomene möglichst gut erklären und die eine gute Chance auf Bewährung haben. Das Wort „unverzichtbar“ habe ich von ihnen in diesem Zusammenhang nicht gehört. Es ist aus dem Sprachschatz der Dogmatiker und nicht aus dem der Wissenschaftler.

  1. „[Es muss] so etwas geben wie approximative oder partielle Wahrheit.“

Als Zeuge wird Karl Raimund Popper aufgeführt. Ich finde bei Popper dies: „Da wir aber die Wahrheit nicht kennen, so ist es klar, dass wir bestenfalls immer nur die relative Wahrheitsnähe zweier oder mehrerer Theorien vergleichen können“ (Logik der Forschung, *XV. Über Wahrheitsnähe). Mein Stöckchen-Beispiel aus dem Artikel Kontrastbetonung sollte genau das deutlich machen. Relative Wahrheitsnähe mit approximativer oder gar partieller Wahrheit gleichzusetzen, ist ein Argumentationsfehler des ontologischen Naturalismus. Popper wird also zu Unrecht für eine Metaphysik vereinnahmt.

Die „dogmatischen Skeptiker“ stehen mit ihrer Rabulistik nicht allein. Der Begriff der „approximativen Wahrheit“ wird auch vom Philosophen Hilary Putnam falsch verwendet. Dabei ist er sich über die Wortbedeutung sehr wohl im Klaren: „And if one says that most scientific ‚findings‘ are at least approximately true, then where are the criteria by which we can determine how good the approximation is?“

Im Rahmen seines „scientific realism“ bezieht Hilary Putnam die Genauigkeit der Approximation jedoch nur auf eine bessere Theorie und nicht etwa auf die Wahrheit schlechthin. Es handelt sich folglich um relative Wahrheitsnähe und nicht um approximative Wahrheit: „In this sense Newtonian physics is robust; it is ‚approximately true‘, and later physics tells us just how good the approximation is“ („Philosophy in an Age of Science“, 2012, Kapitel 4: „On Not Writing Off Scientific Realism“, S. 91-108).

Es würde der Klarheit dienen, wenn die „Skeptiker“ endlich einmal von dieser Selbstbezeichnung Abstand nehmen würden. Sie sehen sich offenbar als Realisten, und diese sind in der über zweitausendjährigen gemeinsamen Geschichte hinweg die direkten Gegenspieler der Skeptiker. Durch eine solche Klarstellung würde dann auch jedermann deutlich, dass die ganze Debatte auf dem Feld der Metaphysik stattfindet, also dort, wo der Skeptiker sich gewöhnlich nicht aufhält.

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