Die NATO im Ukraine-Krieg: Hannemann geh du voran

Um diese Frage ging es gestern bei Hart aber fair mit Frank Plasberg (Alles auf eine Karte: Wie hoch pokert Putin noch? 26.9.22): Wer zögert bei den Panzerlieferungen und warum tut er das?

Wir, normale Konsumenten von Nachrichten, werden auf den Arm genommen. Das ist mir gestern bei dieser Sendung wieder einmal vor Augen geführt worden. Was die Eingeladenen so gesagt haben, das kam mir teilweise spanisch vor. Aber auch Widersprüche, die wir entdecken, helfen uns weiter. Der Nebel lichtet sich, das Bild wird klarer.

Nun zur Sendung. Kevin Kühnert verteidigt die Haltung des Bundeskanzlers Olaf Scholz: Waffenlieferungen nur in Absprache mit den Verbündeten und die USA lieferten ja auch keine Panzer.

Der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger widerspricht und gibt eine Begründung für die amerikanische Zurückhaltung: Der amerikanische Abrams-Panzer sei zu schwer, Brücken würden unter ihm zusammenbrechen und außerdem müssten die US-Panzer ja erst über den großen Teich gebracht werden. Gegen deutsche Panzerlieferungen spreche hingegen nichts.

Ein Blick in die Datenblätter zeigt, dass der Leopard 1 gegenüber dem Abrams-Panzer auch kein Leichtgewicht ist. Der Leopard 2 ist sogar noch etwas schwerer als der Abrams. Zum Argument der großen Entfernung fällt mir ein: Mitte der 60er Jahre diente ich in einem Panzerbataillon der Bundeswehr. Wir hatten ausschließlich amerikanische Panzer, und die kamen von sehr weit her, aus dem Korea-Krieg, wenn ich mich recht erinnere.

Gemessen an den wenig glaubwürdigen Auslassungen Ischingers sind die Erläuterungen der Expertin für Sicherheits- und Verteidigungspolitik Claudia Major wirklich erhellend. Sie geht auf die Frage ein, warum die Bundesrepublik Panzerhaubitzen liefert und sich bei den Kampfpanzern zurückhält. Beides seien ja „dicke Fahrzeuge mit Ketten und ein dickes Rohr vorne dran“, wie Plasberg sich ausdrückt (ab Minute 28). Claudia Major erklärt den Unterschied so: Mit der Artillerie, hier Panzerhaubitze 2000, soll die gegnerische Stellung sturmreif geschossen werden. Für die Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete würden Kampfpanzer und Schützenpanzer gebraucht, Bodentruppen also.

Da ist mir ein Licht aufgegangen: Wer die Rückeroberung will, der muss Kampfpanzer liefern. Wer das Risiko des Versuchs einer Rückeroberung als zu hoch einschätzt, wird das bleiben lassen. Daraus schließe ich: Den USA ist momentan der Schritt zu einer Rückeroberung offenbar zu riskant und sie liefern wohl deshalb keine Kampfpanzer. Den Ukrainern will man das so nicht sagen. Das erklärt die scheinbare Bereitschaft zu liefern und die uneingestandene Zurückhaltung. Scholz soll’s machen.

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Fortschrittsapologeten und Warner

Naysayer: das trifft auf mich zu. Das Wort hat leider einen negativen Beiklang: „Neinsager“. Deshalb spreche ich lieber von Warnern und nicht von Naysayern. Jedenfalls handelt es sich um Leute, die gewohnheitsmäßig skeptisch sind und die immer auch den möglichen negativen Ausgang einer Unternehmung zu bedenken geben.

Die Fortschrittsapologeten sollten nicht vergessen, dass sie den Warnern eine ganze Menge zu verdanken haben. Ich erinnere mich an einen Lernvorgang in den frühen 70er Jahren. Damals machte die Erkenntnis die Runde, dass alle menschlichen Anstrengungen und Tätigkeiten die Entropie der Erde unvermeidlich erhöhen, ein unumkehrbarer Prozess, hin zum Chaos. Mich interessierte damals vor allem die mathematische Seite des Satzes von der Entropie, der damals vom engen Geltungsbereich der Wärmelehre auf alle Prozesse dieser Welt erweitert wurde. Der Mensch spielt darin die Rolle des Beschleunigers.

Bei der Nutzung fossiler Rohstoffe leuchtet das unmittelbar ein. Später dämmerte mir, dass die Recyclingmasche kaum mehr als Selbstbetrug ist. Auch das Recycling erhöht die Entropie, wie alle unsere Aktivitäten. Allein manche Engpässe lassen sich auf diese Weise mildern; dafür wird’s an anderer Stelle knapp. Auf lange Sicht gesehen wirkt das Entropiegesetz unerbittlich.

Solange wir die Erde als abgeschlossenes System betrachtet, sieht es für den Menschen sehr, sehr schlecht aus. Die Grenzen des Wachstums sind nah.

Schon in den 70er Jahren wurde klar, dass wir die Systemgrenzen weiter fassen müssen. Auch für das Sonnensystem gilt das Entropiegesetz. Aber mit der Sonne haben wir eine, nach menschlichem Ermessen, unerschöpfliche Energiequelle.

Die Sonne macht Leben möglich, und damit ein Absenken der Entropie auf dieser Erde. Sie schafft Ordnung bei uns. Über diese natürlichen Prozesse hinausgehend wollen die vielen Menschen mehr Komfort. Bisher haben vor allem die fossilen Energieträger dafür gesorgt, bei gleichzeitig gewaltiger Entropieerhöhung. Auf lange Sicht bleibt uns aber nur die intensive Nutzung der Sonnenenergie.

(Was ich hier schreibe, habe ich in den letzten 50 Jahren quasi verinnerlicht. Verlangen Sie bitte keine Quellenangaben von mir. Es würde in eine nervige Sucherei ausarten.)

Fortschrittsapologeten, die auf Sonnenenergie setzen und die im letzten Artikel zur Wort kamen, haben meine Sympathie. Sie sollten nur nicht vergessen, dass ihre Bewegung den Warnern zu verdanken ist. Und sie sollten auch zukünftig auf Warner hören.

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Von welcher Freiheit ist die Rede?

Im Hoppla!-Artikel über Moralisierung und politische Lagerbildung sowie in der darauffolgenden Diskussion war viel von Freiheit die Rede. Jedermann verbindet mit diesem Begriff etwas Positives. Deshalb eignet er sich gut für Propaganda, wie gerade wieder einmal im Ukraine-Krieg. Im aktuellen Spiegel (Nr. 37/10.09.22) gibt sich der ungarische Regierungschef Morawiecki „überzeugt, dass die Ukraine nicht nur ums eigene Überleben kämpft, sondern für die Freiheit Europas“ und dass die Ukraine heute „unsere Werte“ verteidigt.

Aber meinen wir alle mit „Freiheit“ dasselbe? Nein. Es gibt sehr widersprüchliche Auffassungen vom Freiheitsbegriff. Für den Sozialisten beispielsweise ist Freiheit die Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen. Für den Liberalen anglo-amerikanischer Prägung hingegen sind die Zwänge des Marktes das Lebenselixier der Wirtschaft. Freiheit ohne Sicherheit ist schwer denkbar. „Zugleich gilt, dass ein Euro, der in die militärische Sicherheit fließt, nicht zugleich für soziale Sicherheit ausgegeben werden kann.“ (Der Spiegel vom 10.09.2022 auf Seite 80) Bereits die Basis der Freiheit ist wackelig.

Und was bedeutet Freiheit in einer Welt, in der das Bevölkerungsgesetz wirksam wird? Thomas Robert Malthus fomulierte erstmals dieses Gesetz, wonach die Bevölkerung stärker wächst als die Nahrungsmittelproduktion – mit den erwartbaren Folgen (1798). Dieses Gesetz habe ich zu Beginn meines Studium kennengelernt, Jahre bevor die Grenzen des Wachstums ins allgemeine Bewusstsein drangen. Die Prämissen haben sich im Laufe der Jahrhunderte aufgrund des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts geändert. Das Grundproblem des Bevölkerungsgesetzes ist geblieben. Das wird uns gerade mit dem Klimawandel drastisch vor Augen geführt: Die Spielräume werden kleiner.

In unseren Kaufentscheidungen sind wir immerhin frei, oder etwa nicht? Aber was bedeutet diese Freiheit in einer Gesellschaft, in der der Wert der Dinge durch ihren Preis bestimmt wird und nicht etwa der Preis durch den Wert? (Mariana Mazzucato: The Value of Everything. 2018) Bei den Luxusgütern ist der hohe Preis sogar das eigentliche Distinktionsmerkmal. Dass die Freiheit, solange man sie nicht auf Fragen reduziert wie die, ob die Fingernägel grün, rot oder blau lackiert sein dürfen, auch ein Opfer der Werbung ist, darauf hat uns vor vielen Jahren Vance Packard mit The Hidden Persuaders aufmerksam gemacht (1957).

Ein gut gemeinter Rat, auch an mich selbst: Wenn dir jemand mit „Freiheit“ kommt, frag nach, was er damit meint. Für mich sind die Grundrechte, wie sie im Grundgesetz verankert sind und durch die Justiz mitgestaltet werden, ein hohes Gut. Wir haben genug damit zu tun, dieses Gut nicht verkommen zu lassen. Nehmen wir die informationelle Selbstbestimmung. Die Wachsamkeit in diesem Punkt hat seit den 80er Jahren ziemlich nachgelassen. Die Gepflogenheiten im Internet zeigen das.

Die Bedrohung kommt zunächst einmal von innen. Die müssen wir zuallererst abwehren. Wenn uns das zufriedenstellend gelingt, dann haben wir etwas, das eine Verteidigung gegen Bedrohung von außen lohnt. Ich halte es für fraglich, dass wir dafür Unterstützung seitens der USA bekommen, der Heimat der Datenkraken. Die Vorgänge um das Spionagesystem Prism und seine Brüder haben nichts Beruhigendes.

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Gute Ideen gefragt

Die staatliche Großforschung hat mit einem Anerkennungsproblem zu kämpfen: die Apparate werden immer größer und die Resultate immer kleiner. Die Physikerin Sabine Hossenfelder beklagt, soweit ich sie verstanden habe, dass wir zwar viele schöne Theorien haben, aber trotz aller Großforschungsanstrengungen zu wenige Daten, um sie prüfen zu können (Das hässliche Universum, 2018).

Innovationstreiber Staat

Das führt dazu, dass die Beteiligten an Großforschungsprojekten in einer Art Rechtfertigungszwang möglichst viele innovative Entwicklungen mit gesellschaftlicher Breitenwirkung den Großforschungsprojekten zuschreiben. Sie haben nun in Mariana Mazzucato eine prominente Fürsprecherin. Im Buch „The Entrepreneurial State: debunking public vs. private sector myths“  (2013) behauptet sie unter anderem, dass der Staat die führende Antriebskraft für das Entstehen innovativer Technologien sei und nennt uns Beispiele: Massenproduktion, Luftfahrt, Raumfahrt, Informationstechnologien, Internettechnologien und Kernkraft (S. 68 f.).

Das widerspricht einem von mir seit Jahrzehnten gepflegten Vorurteil (gemeinhin Hypothese genannt): Natürlich sorgt der Staat mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen für die wissenschaftlichen Grundlagen, dass überhaupt Neues entstehen kann, aber der Zündfunke einer neuen Technologie oder breitenwirksamen innovativen Entwicklung entsteht in einem einziger Kopf, meist unabhängig von Großprojekten und auch ungeplant, wie das Beispiel Alexander Fleming eindrucksvoll zeigt. Er bemerkte nach einem Urlaub, dass einige seiner versehentlich stehen gebliebenen Bakterienkulturen verdorben waren. Dadurch entdeckte er das Penicillin.

Serendipity

Von der Rolle des glücklichen Zufalls (Serendipity) handeln viele Bücher über das Erfinden. Auch ich habe in „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“ (2016, 2020) darüber geschrieben.

Ich fürchte, dass Mariana Mazzucato Wesentliches übersieht. Hier nur zwei Beispiele: Otto Lilienthal und Konrad Zuse gelten zurecht als der Erfinder des Flugzeugs der eine bzw des Computers der andere. Die Erfindungen waren nicht das Ergebnis groß geplanter staatlicher Forschungsanstrengungen, also anders als von Mariana Mezzucato dargestellt.
Auch dieses Beispiel finden wir bei ihr (S. 111): Leute des CERN – eine internationale Großforschungseinrichtung in Genf – haben das World Wide Web erfunden, und das hat die Welt revolutioniert. Das stimmt. Aber das Internet stand nicht auf der Agenda. Im CERN sitzen eben viele hoch qualifizierte Leute. Und man kann mit keinem Projekt verhindern, dass in klugen Köpfen Kluges passiert.
Mein Freund, selbst in der staatlich geförderten Elementarteilchenforschung tätig, widerspricht mir vehement. Beim CERN geschehe nichts außerhalb von Projekten. Alles gehe nach Plan. Ich bin beeindruckt, aber lasse nicht locker. Am besten kommt der Erfinder selbst zu Wort. „Eigentlich gab es da niemanden, dem ich das geben konnte. Im CERN gibt es eine Menge Kommissionen, bei denen Sie Vorschläge für Physikexperimente machen können. Aber es war ja kein Vorschlag für ein Physikexperiment“, erinnert sich Tim Berners-Lee auf der Geburtstagsfeier für das World Wide Web 2019.

Anders lief es beim Touchscreen. Er war offenbar tatsächlich eine Entwicklung innerhalb eines CERN-Projekts (Mazzucato, S. 107). Jedoch gab es Vorarbeiten in anderen Institutionen und von anderen Entwicklern.
Ich warte immer noch auf ein konkretes und ausgearbeitetes Gegenbeispiel zu meiner Hypothese, dass das Neue sich nicht herbeiplanen lässt und dass der Geistesblitz sich notgedrungen in einem einzigen Kopf ereignet.

Forschung und Entwicklung an Hochschulen

Welche Folgerungen erlaubt diese Erkenntnis? Ich sehe die Aufgabe des Staates darin, in der Großforschung Freiräume zu schaffen, in denen eben nicht alles nach Plan laufen muss und in denen auch Verrücktes passieren darf, Scheitern inbegriffen. Solche Freiräume kosten viel Geld und sie zahlen sich erst auf sehr lange Sicht aus und der Gewinn daraus lässt sich nicht direkt zuordnen.  Man wird diese Anstrengungen auf die Großforschungsinstitute und auf einige Hochschulen konzentrieren müssen. Ich frage mich, ob die Angleichung von Universitäten und Fachhochschulen im Zuge des Bologna-Prozesses wirklich eine so gute Idee war. Ich bin dafür, die Grundlagenforschung und das Promotionsrecht schwerpunktmäßig bei den Universitäten zu belassen und die anwendungsnahe Forschung sowie die Entwicklung bei den Fachhochschulen, den Universities of Applied Sciences. Jedenfalls sollte begabten Fachhochschulabsolventen der Übergang zur Universität, hin zur Grundlagenforschung und zur Promotion weit offen stehen. Dass Fachhochschulprofessoren an Großprojekten teilhaben können, ist ebenfalls eine gute Idee. Dass das heute reibungslos geschehen kann, dazu haben mein Freund und ich Beiträge geleistet.

Die Ideen für ein gegliedertes Bildungssystem sind nicht neu. Im politischen Prozess der internationalen Angleichung sind sie etwas verschüttet worden. Sich daran zu erinnern, könnte helfen.

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Transbewegung, Deadnaming und Konstruktivismus

Unter kulturellem Verhalten verstehen wir die generationenübergreifende Stabilität von ontogenetisch erworbenen Verhaltensmustern in der kommunikativen Dynamik eines sozialen Milieus

Humberto Maturana, Francisco Varela

Den Hollywoodschauspieler Elliot Page habe ich in dem köstlichen Film Juno erlebt. Oh nein, damals war es eine Ellen Page, die ich im Film gesehen habe. Das war vor ihrem Entschluss, den Namen eines Mannes zu tragen und als ein solcher gesehen zu werden. Die entsprechende Meldung habe ich 2020 beiläufig zur Kenntnis genommen.

Viel interessanter als dieser Sachverhalt ist, dass ich mich, indem ich das schreibe, eines Vergehens schuldig mache. Das jedenfalls meinen die Dogmatiker der Transbewegung, die bei uns von linken und grünen Politikern vorangetrieben wird, wie René Pfister schreibt (Ein falsches Wort. Der Spiegel, 35/2022, S. 78-84). Zur „Entwicklungen der Trans*bewegung in Deutschland“ informiert die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb, 2018).

Mein Vergehen nennt sich Deadnaming. Ich hätte den Namen Ellen nicht hinschreiben dürfen. Denn Ellen/Elliott war schon immer Mann, jedenfalls nach dem Verständnis der Transbewegung. Der erste Name ist sozusagen tot. Seine Nennung gilt als Beleidigung. Boris Palmer hat die Transfrau Maike Pfuderer, wie Palmer Mitglied der Grünen, vor Jahren mit ihrem früheren Namen angesprochen. Sie zeigte Palmer wegen Beleidigung an. Ohne Erfolg. Das ist für die Grünen offenbar Grund genug, die gesetzlichen Grundlagen für eine solche Klage zu schaffen: das neu zu schaffende Selbstbestimmungsgesetz. Es sieht vor, dass eine Person ohne weitere Prüfung seinen Geschlechtseintrag im Pass ändern lassen kann. Relevant ist allein, was im eigenen Kopf abgeht.

Nun ja, wir werden sehen. Das regt mich nicht sonderlich auf. Sobald dieser Gesetzentwurf ins Tageslicht rückt, wird sich die Mehrheit der Bürger schon noch zu Wort melden.

Schlimmer finde ich, was von René Pfister gegen die Transbewegung vorgebracht wird: Sie sei radikaler Konstruktivismus. Ich bin nun gewiss kein Anhänger des radikalen Konstruktvismus. Mich überzeugt eher der kritische Rationalismus des Karl Raimund Popper. Letzterer enthält – wie viele andere Philosophien auch – einen gehörigen Schuss Konstruktivismus.

Die aus meiner Sicht ins Absurde abdriftende Transbewegung mit dem Etikett radikaler Konstruktivismus zu versehen, ist für mich die Verunglimpfung einer ernst zu nehmenden philosophischen Richtung. Mein Eindruck ist, dass der Artikel von René Pfister weniger dazu dient, die Transbewegung zu diskreditieren, als dazu, den Konstruktivismus herabzuwürdigen.

Eine so weitreichende Deutung wie die, „dass es eine Grenzüberschreitung sei, den abgelegten Namen auch nur auszusprechen“, gibt selbst ein voll ausgebauter Konstruktivismus wie der des Humberto Maturana nicht her. Maturana geht es, auch wenn er der Verarbeitung innerhalb des Kopfes eines Menschen einen sehr großen Anteil zumisst, um das Überleben des Organismus in seinem (sozialen) Umfeld. „Das Zentrale beim Operieren eines menschlichen sozialen Systems [ist] der von den Komponenten (Mitgliedern) erzeugte sprachliche Bereich sowie die Erweiterung der Eigenschaften der Mitglieder.“ ( Humberto R Maturana, Francisco J Varela: Der Baum der Erkenntnis. 2020, S. 216 f.) Was die Geschlechtsbestimmung angeht, hat die Gesellschaft ein Wörtchen mitzureden.

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Zeitenwende

Relativist oder Wahrheitssucher

In meinen 15 Jahren bei der Skeptikerbewegung habe ich eine Menge gelernt. Am Anfang stand für mich die erste kantsche Frage: Was kann ich wissen? Darüber gerieten zwei Parteien in Streit: die Relativisten und die Wahrheitssucher. Relativismus ist in diesen Kreisen ein Schimpfwort. Ich gestehe, dass ich mich dieser Partei zurechnen muss. Ich habe gelernt zu differenzieren. Herausgekommen ist eine Ehrenrettung des Relativismus.

Wenn von Relativismus die Rede ist, denkt kaum noch jemand an Protagoras („Der Mensch ist das Maß aller Dinge“), eher kommt einem Einsteins Relativitätstheorie in den Sinn. Damals wie heute: der Relativismus verweist auf die Grenzen unserer Erkenntnis.

Der Relativismus sieht die Wahrheit von Aussagen, Forderungen und Prinzipien grundsätzlich als von etwas anderem bedingt an. Nehmen wir beispielsweise die Mathematik: Die Wahrheit eines Satzes hängt immer von Axiomen und von vorab postulierten Rechenregeln ab. Ein Mathematiker wird niemals fragen, ob diese Axiome in einem höheren Sinne wahr sind, ob sich ihre Wahrheit aus einem kosmischen Gesetz ergibt. Er setzt sie einfach als wahr voraus. Und solange sich kein Widerspruch daraus ergibt, ist das auch in Ordnung. Derartige Axiomensysteme sind nicht einander gleichwertig. Es gibt bessere und schlechtere und sogar völlig ungeeignete. Für einen Ingenieur oder einen Naturwissenschaftler hängt ihr Nutzen davon ab, was man damit erklären kann, das heißt, welche Beziehung zwischen physikalischen Größen sie herzustellen gestatten.

Insofern ist der Mathematiker ein Musterbeispiel für einen Relativisten. Obwohl Wahrheit für ihn ein Begriff ist, sucht er nicht nach der allumfassenden Wahrheit. Er versucht nicht, das Wesen dieser Welt zu ergründen. Extreme Exemplare dieser Spezies verlangen von ihren Gedankengebäuden sogar, dass sie keinerlei Nutzen haben, so wie Godfrey Harold Hardy: „Ich habe nie etwas gemacht, das ‚nützlich‘ gewesen wäre. Für das Wohlbefinden der Welt hatte keine meiner Entdeckungen – ob im Guten oder im Schlechten – je die geringste Bedeutung, und daran wird sich vermutlich auch nichts ändern. Ich habe mitgeholfen, andere Mathematiker auszubilden, aber Mathematiker von derselben Art, wie ich einer bin, und ihre Arbeit war, zumindest soweit ich sie dabei unterstützt habe, so nutzlos wie meine eigene.“ Mathematik, die ein Ingenieur voller Stolz anwendet, bedeutet Hardy nichts; er nennt sie „trivial“ (Davis, Hersh, 1985, S. 85).

So gesehen ist Mathematik Relativismus in Reinstform. Sie ist geradezu das Gegenteil von Wahrheitssuche im großen Maßstab. In ihr geht es nicht um die Erkenntnis des Wesens dieser Welt, nicht um das Absolute.

Naturalisten und Realisten behaupten unermüdlich, dass die Hauptaufgabe des Wissenschaftlers das Streben nach Wahrheit sei. Wahrheit ist für sie die Übereinstimmung unserer Aussagen mit dem was ist. Sie geben zu, dass es Wahrheitskriterien nicht gibt. Zur Beschreibung dessen, was ist, haben sie nur die Aussagen der Wissenschaft zu bieten. Wahrheit wäre demnach die Übereinstimmungen der Aussagen mit genau diesen Aussagen. Das finde ich unbefriedigend.

Es ist wohl eher so: Der Wissenschaftler strebt nach Erkenntnis, nicht aber nach der Wahrheit. Unsere Erkenntnis, unser Wissen setzt sich aus all den Hypothesen zusammen, die eine strenge Prüfung bestanden haben. Also auch in der Wissenschaft gibt es keine unbedingten oder absoluten Wahrheiten. In der Wissenschaft kommt der Relativismus darin zum Ausdruck, dass unter konkurrierenden Theorien immer die besser bestätigte gewinnt. Also: sowohl in der Mathematik als auch in der Wissenschaft gibt es keine voraussetzungslose Erkenntnis oder Wahrheit. Alles ist relativ.

In Mathematik und Naturwissenschaft kann man von Wissensfortschritt sprechen. In der Wissenschaft werden Theorien durch bessere ersetzt. In der Mathematik kommt mit jedem Erkenntnisschritt nur etwas hinzu, vorausgesetzt dass nichts vergessen wird. Da der Wissensumfang immer größer wird, stellt sich früher oder später das Problem, dass Wissen – unter anderem aufgrund schlechter Kopien  – verschüttet wird und damit unauffindbar bleibt. Dann geht doch etwas verloren.

In Mathematik und Wissenschaft haben wir es mit einer Aufwärtsbewegung und zuweilen mit einer Abwärtsbewegung zu tun. Ganz anderes auf dem Gebiet der Moral. Dort geht es nicht auf und ab, sondern eher hin und her.

Was soll ich tun?

Der wissenschaftliche Fortschritt sorgt für veränderte Lebensverhältnisse und Moralvorstellungen. Die Moralvorstellungen früher Generationen mögen aus der Mode gekommen sein – schlechter als unsere sind sie deshalb nicht.

Jeder fragt sich wohl irgendwann einmal, was der Sinn des Lebens ist. Was sind die Werte, die für uns alle verbindlich sind? Meine Antwort ist lapidar: Der Sinn des Lebens ist das Leben, weiter nichts. Sogar einem Empiriker wie Ian Morris ist das zu wenig. Er rechnet zu den menschlichen Grundwerten Fairness, Gerechtigkeit, Liebe und Hass, Selbstschutz und die gemeinsame Vorstellung, dass manche Dinge heilig sind. Für ihn sind das aber keine unverrückbaren Wahrheiten, sondern sie werden in Abhängigkeit von den sich ändernden Lebensverhältnissen unterschiedlich interpretiert. Das ist zweifellos ein relativistischer Standpunkt („Beute, Ernte, Öl“. 2015, S. 315). Passenderweise zitiert er Bert Brecht: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Seine Theorie der moralischen Flexibilität macht er an drei aufeinander folgenden grobkörnigen Kulturen deutlich, derjenigen der Wildbeuter (Jäger und Sammler), der Bauern und der Fossilenergienutzer (Industriegesellschaft).

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Moralisierung und politische Lagerbildung

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat erfasst, welche Werte den Bürgern Europas zurzeit besonders wichtig sind.

Sogar die USA mit ihrer freiheitlichen Verfassung sind kein Ausbund an westlichen Tugenden, wie John Mearsheimer feststellt (The Great Delusion, 2018, S. 114 f.). Er erinnert an die Zwangsmaßnahmen des Abraham Lincoln während des Bürgerkriegs von 1861-65, den immer noch vorhandenen Rassismus und die andauernde Diskriminierung von Migranten. Die westlichen Werte genießen in der westlichen Bevölkerung eine nur mäßige Wertschätzung.

In der politischen Diskussion erhalten diese Werte, wenn es in den Kram passt, eine geradezu religiöse Aura. Die „Europäischen Werte“ werden zurzeit am Schwarzen Meer verteidigt. Dieser hohe Anspruch wird erhoben, um den hohen Blutzoll zu rechtfertigen, den die Ukraine derzeit bezahlt und auch um die hohen Kosten erträglich erscheinen zu lassen, die der Westen zu tragen hat.

Peter Handke sagt: „Die europäischen Werte? Wenn die das anführen, dann als Erpressung und als Rechthaberei. Jeder kann damit leben und sollte sein Leben damit bestreiten oder bespielen oder besingen oder bemalen; aber er soll aufhören, dann aus den europäischen Werten eine Axt gegen andere zu machen. Leute die so reden, sind das neue Gesindel. Sich der Gefühle der anderen zu bemächtigen und damit Politik zu betreiben, das ist eines der übelsten Übel der Menschheit.“ (ORF, 3.3 2016, auszugsweise) Was Peter Handke hier anspricht, nenne ich Moralchauvinismus.

Aufseiten der Skeptikerbewegung wird die Meinung vertreten, dass es zuweilen „rational angebracht ist, einen Diskurs stark zu moralisieren, die politische Lagerbildung zu forcieren und strategische Allianzen zu schmieden“. (Forumsbeiträge über Produktives Streiten aus den skeptiker-Heften 1/2022 und 2/2022).

Laut Adriano Mannino und Marina Moreno werden die diskursprägenden Gruppenzugehörigkeiten und Moralisierungen von der Skeptikerbewegung genutzt, weil die diskursiven Ressourcen zu eng begrenzt seien, „als dass wir uns ewig mit uferlosen Irrationalitäten abgeben könnten“ (skeptiker 1/2022, S. 16-20). Aber Gruppenbildung und Moralisierung bringen offenbar nichts, denn die Sketikerbewegung schlägt sich ständig uferlos mit Irrationalitäten herum. Wie zur Probe aufs Exempel wird im skeptiker-Folgeheft 2/2022 zum gefühlt tausendsten Mal über die Astrologie hergezogen.

Moralisierung reduziert Mehrdeutigkeiten unserer Welt zugunsten einer Polarisierung von Gut und Böse und erzeugt eine Art moralischen Sachzwang. Das geschieht durch das gefühlsgeleitete Herausgreifen und Verabsolutieren übergeordneter abstrakter Werte und Grundrechte sowie durch das Ausblenden des Kontextes.

„Du sollst nicht lügen“ ist eine moralische Forderung. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ ist ein sachliches Gebot im Rahmen eines Rechtssystems.

Adriano Mannino und Marina Moreno von der LMU scheinen davon auszugehen, dass Grundrechte etwas uns Gegebenes und unserem Denken Übergeordnetes sind und folglich eine Moralisierung des Diskurses und beispielsweise die Rede von einem „moralisch inakzeptablen Speziesismus“ gerechtfertigt sein kann. Ich will konkreter werden: Rasse ist kein wissenschaftlicher Begriff; er beschreibt eine ziemlich willkürliche Zuschreibung. Bei Haushunden gilt eine Rasse als solche, wenn sie von einer Person oder einem Verein als Rasse definiert wurde. Die Forderung, das Wort Rasse aus dem Grundgesetz zu streichen, lässt sich jedenfalls nicht aus irgendeinem Grundrecht ableiten. Sie ist ein Anzeichen von Cancel Culture und Ergebnis der Moralisierung. Das ist nicht zielführend.

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Moralchauvinismus

Streit ist ein Privileg der Demokratie. Ich liebe diesen Satz, weil ich den fruchtbaren Streit und die fein entwickelte Streitkultur schätze. Durch die sozialen Medien ist diese Kultur bedroht. Fundsachen werden zu Meinungen. Der internettypische Koagulationsprozess führt zu Zusammenrottung von Leuten gleicher Meinung, die sich wechselseitig mit Herzchen und Daumenhoch-Symbolen auszeichnen und die Andersdenkende verachten. Die Meinung der anderen dient nicht mehr als Wetzstein für die eigene Sicht, sondern wird bedingungslos bekämpft – bis zur Vernichtung.

Da ein Kampf bis aufs Messer mehr Unterhaltungswert hat als ein freundschaftlicher Meinungsaustausch, folgen die auf Einschaltquoten fixierten öffentlichen Medien diesem Trend. Einen Tiefpunkt bietet Markus Lanz am 2. Juni 2022.

Ulrike Guérot richtet in dieser Talkshow den Blick von der Ukraine auf Europa, auf die NATO und auf Amerika. Bekanntlich gilt ja Europa als Amerikas essentieller geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent.

Guérot beklagt die „eng geführte Debatte“, in der nur der militärische Sieg der gute sei. Für sie liegt „der Schlüssel des Problems in Amerika“ und deshalb müsse es ein Gespräch zwischen Biden und Putin geben. Daraufhin leitet der Gastgeber mit der Bemerkung „Wer fängt an“ ein  Schlachtfest ein. Frau Guérot wird von ihm und den Talkshowgästen Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Frederik Pleitgen in moralischem Furor lautstark niedergemacht (ab 15. Minute).

Es fällt auf, dass der sonst so coole Markus Lanz sehr emotional argumentiert: „… und fünf Minuten später wird man Zeuge, hochschwanger, wie der eigene Ehemann brutal … mit dutzenden Kugeln durchsiebt und erschossen wird… Hat das irgendetwas mit der NATO zu tun?“

Empathie kann zum Moralchauvinismus verkommen, wenn sie nicht durch rationale Überlegungen begleitet ist: Rache erscheint als moralisch geboten. Über Vehandlungsangebote auch nur zu reden, verbietet sich dann von selbst. Wir haben es mit einer Spielart der Cancel Culture zu tun: Unliebsamen Meinungen wird die öffentliche Plattform entzogen; sie werden als ungeheure Dummheit abqualifiziert. Weiterlesen

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NATO-Osterweiterung und Ukraine-Krieg. Was hat die Aufklärung damit zu tun?

Geschichte hat mich früher nicht interessiert. Alles was ich wissen muss, ist in den Gesetzen, so habe ich lange Zeit geglaubt. Ich hatte Karl Raimund Popper wohl überinterpretiert. Diesen Irrtum konnte ich überwinden. Ich fragte mich, warum wir in der Bundesrepublik einen schlechten Bundeskanzler nicht so einfach loswerden können und warum es das konstruktive Misstrauensvotum gibt. Das Warum konnte ich der Geschichte der Weimarer Republik entnehmen: Antidemokratische Kräfte stürzten bestehende Regierungen, ohne eine neue zu wählen, und machten die Republik damit politisch handlungsunfähig. Schließlich akzeptierte ich auch diesen Satz: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten“ (Helmut Kohl im Deutschen Bundestag 1995). Ich möchte schon wissen, mit welcher Soße ich verspeist werde, sagte Alfred Grosser. Wem es genauso geht, der kann sich nicht mit den aktuellen Nachrichten und Talkshows begnügen. Er muss den Blick zurück und nach vorn wagen.

Wie konnte es so weit kommen?

Der jetzige Krieg in Europa wurde begonnen mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022, acht Jahre nach der ebenfalls völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Die Frage „Wer hat angefangen?“ lässt sich selten einfach beantworten. Mir fällt dazu das Problem der „Interpunktion von Ereignisfolgen“ ein, das Paul Watzlawick beschrieben hat. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte, und diese Vorgeschichte hat selbst wieder eine Vorgeschichte. Gewöhnlich schließt sich die Folge der Ereignisse zu einem Kreis, ohne Anfang und ohne Ende.

Klaus von Dohnanyi schreibt, dass es schon seit dem 19. Jahrhundert eine imperialistische Grundlinie US-amerikanischer Außenpolitik gebe. Für das aktuelle Geschehen in der Ukraine bedeutsam ist die Feststellung von Zbigniew Brzezinski (von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter), dass Europa Amerikas essentieller geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent sei. Wladimir Putin hat wiederholt deutlich gemacht, dass er einen seinem Land feindlich gesinnten Hegemon nicht dulden wird. Was folgt, ist ein Spiel mit dem Feuer, auch angefacht durch das gebrochene Versprechen, dass es über die damaligen Ostgrenzen der DDR hinaus keine Erweiterung der NATO geben werde. Die US-Amerikaner haben ein wirksames Instrument für ihre Machtausweitung nach Osten: die NATO. So betrachtet, fällt mir eine eindeutige Schuldzuweisung schwer. Jeder Versuch führt mich in einen Argumentationzirkel. Weiterlesen

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Die Welt ist nicht schwarz-weiß

Die aktuelle Nachrichtenlage ist geprägt durch eine unglückselige Vermengung von Tatsachen mit Emotionen. Was ich lese, höre oder sehe ist ein Ergebnis des Affektjournalismus. Es werden herzzerreißende Bilder aus den Straßen von Butscha gezeigt, verbunden mit einer Forderung nach mehr und schwereren Waffen für die Ukraine: Haubitzen, Panzer, Flugzeuge.

Das Publikum soll den Eindruck gewinnen, dass dadurch Leid zu vermeiden sei. Seine Empathie wird für den Waffengang mobilisiert, seine Aufmerksamkeit auf die aktuelle Not gelenkt, weg von einer Analyse der Ursachen und der möglichen Konsequenzen. Das Bild der Realität verliert seine Schattierungen, sie weichen einem harten Schwarz-Weiß: Es gibt nur noch Freunde und Feinde. Die eine Seite hat Recht und ist im Besitze der Wahrheit. Unrecht und Lüge sind auf der anderen Seite.

Hier muss der Skeptiker einhaken. Er will sich an die Fakten halten. Das aber ist ihm nicht so ohne Weiteres möglich, denn er ist auf einer Seite eingeschlossen, nämlich auf der Seite der Wahrheitbesitzer. (Das ist immer so, egal ob in Ost oder West.) Ihn erreichen nur leise Zweifel der eigenen Leute und die gefilterten Gegenwahrheiten der anderen Seite.

Um dem Eingeschlossensein zu entkommen, könnte er die Attribute wahr und falsch einfach vertauschen und sich mit der Gegenseite solidarisieren. Aber da ist kein Entkommen. Das Gefängnis wäre nur ein anderes und womöglich ein noch viel hässlicheres. Um zu sehen, wie er rauskommen könnte, müsste er die Grautöne des Bildes der Realität wieder herstellen.

Zwei Regeln können ihm dabei helfen:

1. Emotionen von den Fakten trennen und der Reflexion den Vorrang vor der Intuition einräumen.

2. Die Unschuldsvermutung für das eigene Tun und das der eigenen Seite aufgeben.

Die Hoppla!-Artikel seit April sind Versuche in diese Richtung. Berichtenswert ist auch der Streit um John Mearsheimer, der den Ukraine-Krieg kommen sah.

Persönlicher Rückblick: Staatspropaganda verabscheue ich seit diesen Tagen

https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:MARX,_ENGELS,_LENIN_Y_STALIN.jpg

Um den XX. Parteitag der KPdSU herum, verschwand Stalin aus dem Bild. Zu der Zeit wurde ich aus der DDR in die BRD „verschleppt“. Karl May wurde mir wichtiger als Karl Marx. An die Stelle von Spartacus aus dem Geschichtsunterricht trat Old Jed der Trapper vom Bertelsmann Buchclub. Weiterlesen

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