Der Krieg braucht Emotionen, der Frieden kühlen Kopf

Der Spiegel gibt seinem aktuellen Heft (23.4,2022) den Titel „Wovor haben Sie Angst, Herr Scholz?“

Hoppla! Das kann nur eine rhetorische Frage sein, denn der Bundeskanzler hat ja klar ausgedrückt, dass er eine Eskalation des Krieges in der Ukraine fürchtet und er vermeiden will, dass Deutschland und auch die NATO in den Konflikt hineingezogen werden. Das Unheil könnte durch die Lieferung von schweren Waffen größer werden. Ob die Furcht berechtigt ist – wer weiß das schon? Mir scheint das Zögern des Bundeskanzlers eine vernünftige Reaktion angesichts der Umstände zu sein.

Aber diese rhetorische Frage soll offenbar Druck erzeugen. Der Spiegel wird genauer: „Seit Tagen drängen Kiew, die Bündnispartner und Politiker Ihrer Koalition bis hin zur Außenministerin auf die Lieferung schwerer Waffen. Warum tun sie das nicht?“ Damit schwenkt der Spiegel auf die von einigen Meinungsmachern wie dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk lautstark vertretene Linie ein: möglichst schnell Panzer und anderes schweres Gerät in das Kriegsgebiet liefern. Wer das nicht tut, verrät die Werte des Westens. Denn: „Europas Freiheit wird in der Ukraine verteidigt.“ So jedenfalls gibt Paul Ronzheimer von der Bild-Zeitung eine derzeit virulente Erzählung wieder (16.1.2022). Der Krieg braucht Emotionen. Pathos.

Im Laufe der Diskussion meines letzten Artikels kommt es zu einer bemerkenswerten Entgleisung.

Sebastian Bartoschek stellt auf Facebook fest, „dass bewußtes menschliches Handeln aus Gefühlen erwächst. Ja, diese Gefühle sind in Abwägung zu bringen, und nicht ungebremst auszuleben. Ich habe auch weder von Michael Roth, Agnes Strack-Zimmermann, von Anton Hofreiter, oder gar von Andre Melnyk, oder Wolodymyr Selenskyj eine rein emotional bedingte Forderung, wie die Bombardierung von Moskau, aus Wut und Vergeltung, gehört.“ Und weiter: „Was ich aber gehört habe ist eine generelle Abwertung emotionaler Zustände. Vielleicht ist es eine typisch deutsche Eigenart: die Überzeugung, dass das beste Handeln kalt sei. Dass Abwägungen und Entscheidungen am besten sind, wenn sie unabhängig menschlicher Gefühle gefällt werden. Wenn man mit ihnen, unabhängig persönlicher Gefühle, einem höheren Ziel zuarbeitet. Diese Haltung hat viel Leid über Menschen durch deutsche Hand gebracht, und es führt derzeit Leid weiter.“

Den Artikel Kopf oder Bauch? erinnernd antworte ich: „Der Skeptiker hält sich in dieser Frage eher an Daniel Kahneman (schnelles/langsames Denken) und weniger an Gerd Gigerenzer (Bauchentscheidungen). Emotionen gegen das rationale Denken zu wenden, finde ich irgendwie unangemessen. Das Bemühen um rationale Bewältigung der Situation ist nicht notwendigerweise mit Gefühlsarmut verbunden.“

Bartoschek erspart sich Argumente und meint: „Haben wir´s langsam, Putintroll?“

Das ist feindselig und niederträchtig. Eine frei erfundene Anschuldigung, eine reine Gefühlsäußerung ohne sachliche Begründung, wird ins Feld geführt. Anlass ist eine im Grunde unbedeutende Meinungsverschiedenheit. Ungebremste Emotionen vertiefen Konflikte und schüren Hass. So entstehen Kriege.

Wir Bürger, im Allgemeinen keine Fachleute für globale Strategien und Militärwesen, sind der Propaganda ausgeliefert – der des Gegners und der der eigenen Seite  – einschließlich Gegenpropaganda. In der freien Welt haben wir freien Zugang zu den Medien. Deshalb sollte es uns gelingen, die Propaganda des Gegners zu entlarven. Schwieriger wird es bei der Propaganda in den eigenen Reihen. Die Propagandisten kennen nämlich die Regeln der liberalen Presse und nutzen sie. Ein wesentliches Element der Propaganda ist die Emotionalisierung. Wer nicht Opfer werden will, sollte seine Intuition durch Reflexion kontrollieren.

Propaganda als solche zu identifizieren, kann auf zwei Weisen gelingen: durch das Aufzeigen innerer Widersprüche und durch gut bestätigte falsifizierende Fakten. Manchmal gelingt das gut, manchmal weniger.

Ich bringe ein paar Beispiele dafür, wo meines Erachtens kritisches Denken angezeigt ist.

Bilder wirken unter Umgehung des kritischen Verstandes direkt aufs Gemüt. Warum also bringt man im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Schreckensbilder aus den Kriegsgebieten mit dem Hinweis, dass diese nicht von unabhängiger Seite verifiziert sind? Was bei den Leuten hängen bleibt, sind die Bilder und die Schuldzuweisungen. Der Haftungsausschluss geht in der Gefühlswallung unter. Das ist voraussehbar und von den Redakteuren offenbar auch gewollt.

Die Stimmungslage wird in den Debatten genutzt. Ich frage nach Argumenten für Waffenlieferungen und bekomme als Antwort Videos von den Kriegsverbrechen. Wir sehen die herzzerreißenden Bilder aus der Ukraine und wissen: Dieses Sterben muss aufhören. Ob das am besten gelingt, wenn man Leopard-Panzer liefert, ist eine Frage, die aber unabhängig von den Schreckensbildern beantwortet werden muss.

Für Jahrzehnte galt: keine Waffen in Krisengebiete. Jetzt soll diese Regel nicht mehr gelten. Der Blick auf das Elend berührt uns. Die Bilder aus der Ukraine erregen unsere Empathie. Die Emotionen überwältigen uns und gewinnen die Oberhand über das rationale Denken, über die Reflexion. Dadurch öffnet sich das Einfallstor für Manipulation, Propaganda und Hetze. So können wir leicht auf die schiefe Bahn geraten und uns ins Verderben stürzen.

Wenn wir uns fragen, wie es zur Katastrophe kommen konnte oder wie wir aus diesem Elend wieder herausfinden können, dann hilft es uns nicht weiter, wenn wir uns ständig die Bilder des Elends vor Augen führen. Das mag gefühlskalt klingen. Die rationale Aufarbeitung aber ist der einzige gangbare Weg heraus aus der Katastrophe.

Mit der Emotionalisierung haben wir schon unschöne Erfahrungen gemacht. Peter Struck verlautbarte am 4. Dezember 2002 diese Begründung des Afghanistan-Einsatzes: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Das schmähliche Ende der Operation ist noch nicht lange her. Haben wir die Lehren daraus schon wieder vergessen? Heute heißt es unverdrossen „Europas Freiheit wird in der Ukraine verteidigt.“ Nein, wird sie nicht. Selenskyj hatte vor Kriegsbeginn in seinem Land stark an Beliebtheit eingebüßt, weil er unter anderem sein Wahlversprechen der Korruptionsbekämpfung nicht eingelöst hat. (Bereits vor drei Jahren, am 22.05.2019, schrieb Heiko Pleines diesen Kommentar: Wie sich die Ukraine unter Präsident Selenskyj entwickeln könnte.)

Olaf Scholz ist zuzutrauen, dass er einen kühlen Kopf bewahrt. Genau ein solcher wird momentan dringend gebraucht. Weiterlesen

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Selenskyj, Melnyk, Baerbock, Hofreiter: auf abschüssiger Bahn?

Melnyk und Selenskyj agitieren wirkungsvoll. Es ist ihr Metier. Jetzt folgen sogar die Grünen, einst eine Friedenspartei, ihren Forderungen und wollen schwere Waffen liefern.

Der Grundsatz „keine Waffen in Krisengebiete“ wurde bereits mit der Lieferung von schultergestützten Abwehrwaffen gegen Panzer und Flugzeuge durchbrochen. Angesichts eines skrupellosen Aggressors ist dagegen kaum etwas einzuwenden. Jetzt aber geht es um schweres Gerät, um Panzer und Flugzeuge, also um Angriffswaffen.

Bei der russischen Übermacht und Putins Entschlossenheit, wie sie in praktisch allen Kommentaren zum Ausdruck kommen, kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Aktion zu einem frühen Ende des Krieges führt. Ich rechne mit einer Ausweitung des Leides, wenn man auf diesem Wege fortfährt. Mir scheint er eine abschüssige Bahn in noch größeres Unglück zu sein.

Melnyk und Selenskyj führen sich vor dem schrecklichen Hintergrund von Putins Verbrechen wie Kriegstreiber auf. Sie äußern Sympathien für die neonazistische Asow-Truppe und auch für den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera. Ihr Verhalten gegenüber Steinmeier finde ich unangemessen und beleidigend. Mit Diplomatie hat das nichts zu tun. Frieden lässt sich so nicht erreichen.

Dass  Selenskyj und seine Truppe sich derartig laienhaft aufführen und uns alle in höchste Gefahr bringen, liegt vermutlich an der fehlenden Qualifikation für ihr Amt und an der uns weitgehend verborgenen Agenda ihrer Unterstützer.

Florian Hassel (SZ) schreibt am 22. April 2019, 11:23 Uhr: „Wolodymyr Selenskys kometenhafter Aufstieg ist ebenfalls Ausdruck des kranken ukrainischen Systems: Er war nur möglich, weil ukrainische Medien von Oligarchen dominiert werden, die bestimmen, wer in ihre Fernsehsender kommt – und wer nicht.“ Weiterlesen

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Unscharfe Sprache

Unschärferelation und Sprache

Nach Heisenberg wissen wir, dass es prinzipiell unmöglich ist, gleichzeitig den Ort und die Geschwindigkeit eines Elementarteilchens zu bestimmen. Der Grund leuchtet sofort ein: Die Lichtquanten, die bei der Beobachtung eines Teilchen auf dieses treffen, wirken auf es ein. Daraus folgt, dass dieses Teilchen sich durch Beobachtung anders als unbeobachtet verhält.

Man muss sich bewusst machen, dass dies nur im subatomaren Bereich gilt, wo das Beobachtete und das Mittel der Beobachtung in der gleichen Größenordnung sind. Der Fußball, dessen Flug verfolgt wird, schert sich wahrhaftig nur theoretisch um die auf ihn gerichteten Blicke.

Als die Menschheit das Sprechen erfand, war das zunächst nur ein praktisches Hilfsmittel, die Welt und ihre Dinge in dem Sinne handhabbarer zu machen, dass man nicht mehr auf alles, worüber man Informationen austauschen wollte, deuten oder es berühren musste. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich Sprache, die Zusammenhänge zwischen den benannten Dingen herstellte, und durch die fortwährende Erweiterung sprachlicher Zusammenhänge löste sich das Informationsübertragungsmittel Sprache zunehmend von diesem ursprünglichen Zweck. Es ist nicht mehr getan mit „Me Tarzan – you Jane“, weil es irgendwann beispielsweise Beziehungsfragen zu klären gilt.

Über die Jahrtausende ist Sprache dann letztendlich zum Selbstzweck geworden, Stichwort Literatur, und zum Forschungsgegenstand, Stichwort Linguistik. Sie ist aber auch zum Kampfsport geworden, zum Zeitvertreib, zum Problemlöser, aber auch zum Manipulationswerkzeug bis zu dem Punkt, weltzerstörerische Gefahren heraufzubeschwören und sie dem eigenen Volk zugleich als berechtigt darzustellen, wie der Ukrainekrieg gerade zeigt. Wie leicht das Regierenden immer wieder gefallen ist, wissen wir Deutsche nur zu gut. Weiterlesen

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Normale Irrtümer

Frank-Walter Steinmeier hat, wie viele andere auch, auf Putin gesetzt. Damals war er Außenminister. Aus heutiger Sicht war diese Entscheidung ein großer Fehler.

Es scheint paradox zu sein: Die Entscheidung für einen Irrweg kann durchaus richtig sein. Stehen zum Entscheidungszeitpunkt nur lückenhafte und schlecht quantifizierbare Informationen zur Verfügung, gehören Irrtümer zur Normalität. (Einiges wollte man in kollektiver Geschlossenheit aber auch gar nicht sehen: Tschetschenien, Georgien.)

Das gilt nicht nur für Entscheidungen unter Ungewissheit, sondern passiert sogar bei Entscheidung unter Risiko, wie ein einfaches Beispiel zeigt:

Angeboten wird Ihnen, auf den Wurf eines Würfels zu wetten. Bei einem Sechserwurf müssen Sie 3 € zahlen, ansonsten bekommen Sie 1 € ausgezahlt. Aufgrund der Gewinnerwartung von 33 Cent gehen Sie die Wette ein. Der Sechser kommt und Ihre im Grunde richtige Entscheidung war im Nachhinein gesehen falsch.

Mancher Verkehrsunfall beruht auf einer Entscheidung, die erst im Nachhinein gesehen falsch war.

Angesichts der Ereignisse von Butscha ist dieser nüchterne Ton kaum auszuhalten. Tatsächlich fällt mir schwer, das zu schreiben. Aber falsche Schuldzuweisungen und Schuldbekenntnisse bringen uns nicht weiter.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in der Tagesschau vom 4.4.2022: „Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.“

Für den Fehler sind die Politiker nicht zu tadeln. Die Schuldfrage stellt sich aber schon, wenn Warnzeichen übersehen oder gar geleugnet worden sind.

Was wir tun müssen ist, aus den Fehlern der Vergangenheit möglichst viel zu lernen. Wenn ich nach Katar blicke, habe ich Zweifel, dass uns das gelingt. Noch mehr Sorge bereitet China. Das Exportvolumen mit China ist viermal so groß wie das mit Russland. Weiterlesen

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Möglichkeitswissenschaft

Verschwörungstheoretiker formulieren ihre Behauptungen oft sehr vage und im Konjunktiv. So kann sich jeder seine eigene Verschwörungstheorie zusammenbasteln und sich im Glauben daran bestärkt fühlen. Ich nenne so etwas Möglichkeitswissenschaft und meine damit nichts Gutes.

Die Verführungskraft der Möglichkeitswissenschaft wird darüber hinaus von den Quantenmystikern genutzt, von den Psi- Forschern und von Pseudowissenschaftlern.

Ich finde es verwerflich, wenn die Möglichkeitswissenschaft auch in den sogenannten seriösen Nachrichtenquellen um sich greift, beispielsweise im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, wo das im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg zurzeit geschieht. Es werden vermeintlich aktuelle Bilder von Kriegshandlungen gezeigt mit Verweis auf deren ungeklärte Herkunft.  So werden Feindseligkeit und Hass einerseits und unziemliche Heldenverehrung andererseits verstärkt. Die Emotionen regieren ungebremst.

In dieser Zeit ist es gut, wenn uns jemand zeigt, wo die Bremsen sind. Frederik von Castell tut das. Er sagt uns: Nachrichten, die sich nicht überprüfen lassen, sind keine. Weiterlesen

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Die Wahrheiten des Krieges

Im Alter von gerade einmal acht Jahren machte ich erstmals Bekanntschaft mit den Wahrheiten des Krieges – des Kalten Krieges. Die Lehrerin fragte uns, wie wir uns die innerdeutsche Grenze erklären. Ich antwortete ganz naiv, vom „antifaschistischen Schutzwall“ wusste ich ja nichts: Die Amerikaner und die Russen waren mit uns im Krieg. Sie haben gesiegt und das Land unter sich aufgeteilt. Darauf antwortete die Lehrerin: Wenn du erwachsen wärst, würdest du dafür ins Gefängnis kommen. Diese Episode hat sich dem kleinen Timm unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Das war anfangs der 50er Jahr in der DDR.

Seit 1955 lebe ich nun im Westen. Meine Eltern hatten mich „verschleppt“, so hieß das im DDR-Jargon, für mich war es eine Freude. Die Ereignisse von 1989 und 1990 haben mich sehr bewegt. Für die Wiedervereinigung bin ich dankbar. Heute besonders interessant sind die Gründe der damals Handelnden, gerade im Hinblick auf die immerfort anstehende NATO-Osterweiterung. Ich zitiere aus dem Artikel „Eiserne Garantien“ (DER SPIEGEL 7/2022, S. 28f.): „Clinton beschloss, das Bündnis zu erweitern. Der Westen brach damit keinen Vertrag, doch unwohl war manchem Beteiligten schon. Jahre später sagte Genscher, formal sei das alles in Ordnung, aber man solle sich nichts vormachen. Gegen den Geist der Absprachen von 1990 verstoße man sehr wohl.“ Immerhin hatte die Bundesregierung damals sogar einen Sonderstatus der neuen Länder hingenommen: „Streitkräfte der NATO-Partner oder anderer Staaten dürfen dort grundsätzlich nicht stationiert werden.“

Wir sind die Adressaten von wahren Verschwörungen und von falschen Verschwörungstheorien. Nicht immer fällt es ist leicht, die einen vom den anderen richtig zu trennen. Angesichts der Bilder und Erzählungen zum Ukraine-Krieg ist es praktisch zwingend, sich für eine Seite zu entscheiden. Zwischen den Stühlen sitzt es sich nicht gut. Ist die Entscheidung getroffen, droht die Gefahr, blind für die andere Seite zu werden. Beide Seiten wähnen sich im Besitz der Wahrheit. Eine objektive Entscheidung erscheint momentan unmöglich. Ein sachliche Bewertung der Beweggründe des Gegners ist jedoch überlebensnotwendig.

In unseren Hauptmedien wird Putins Anspruch der Entnazifizierung der Ukraine als absurd hingestellt. Verwiesen wird auf die Shoa-Opfer in Selenskyjs jüdischer Familie. Bei diesem starken Argument verbietet sich eigentlich jeglicher Widerspruch. Dennoch: Es gibt rechtsextremistische Freiwilligenbataillone, beispielsweise eins mit dem Namen „Asow“, das im Ukraine-Konflikt gegen prorussische Separatisten kämpft. „Das ukrainische Regiment Asow wirbt mit Flyern auf Neonazi-Veranstaltungen um neue Mitglieder – offenbar erfolgreich: Immer mehr Söldner schließen sich an, um ‚Europa vor dem Aussterben‘ zu bewahren.“ (SPIEGEL Panorama, 11.11.2017)  Putin übertreibt maßlos, aber ganz grundlos ist sein Ansinnen der Entnazifizierung der Ukraine nicht.

Dass es der NATO und der EU weniger um die edle freiheitliche Gesinnung geht, sondern eher um die Ausweitung des Einflussbereichs, sieht man am Beispiel Bulgarien. Dieses EU- und NATO-Mitglied liegt in puncto Pressefreiheit auf einem der hinteren Plätze, nämlich auf Platz 112 von insgesamt 180 Ländern. Auch das Ausmaß der Korruption in diesem Land macht das Land nicht gerade zu einem Vorzeigestaat der Union. Da ist Russland hinsichtlich Pressefreiheit auf Platz 150 etwa gleichauf mit dem NATO-Staat Türkei (Platz 153) nicht abgrundtief schlechter und die Ukraine auf Rang 97 auch nicht deutlich besser  (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/nahaufnahme/2021).

Aber auch das ist falsch: In einem Buch über Denkfallen, überwiegend verfasst von Autoren der Querdenker-Szene, ist zu lesen, dass sich Russland, im Gegensatz zu den USA, „durchgängig an alle internationalen Verträge und Vereinbarungen hält“. Acht Jahre nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Putins Russland ist das eine Ungeheuerlichkeit. (Bedauerlicherweise tauche auch ich in der Liste der Autoren dieses Werkes auf. Aber es ist eine bewährte Taktik der Manipulanten: Greife die Argumente deines Kritikers auf und wende sie gegen ihn.)

„Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Jan Rathje ist es durchaus erklärbar, dass ausgerechnet einige Impfgegner und Querdenker den Krieg Russlands gegen die Ukraine rechtfertigen. Verschwörungsideologische Gruppierungen würden sich in ihren Bestrebungen gegen die ‚offizielle Darstellung‘ richten, so der Experte für Verschwörungstheorien. Da sich der Westen nun global gesehen eher auf die Seite der Ukraine schlage, würden nun auf einmal russische Informationen als diejenigen erscheinen, die gegen diese offizielle Darstellung stehen.“ (Deutschlandfunk, 05.03.2022) Weiterlesen

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Denkfallen, anders gesehen

Im soeben erschienenen Buch „Denkfallen“, herausgegeben von Antonio Messina und Hamid Reza Yousefi wurde mein Denkfallen-Text von 2006 nachgedruckt. Inwieweit das unrechtmäßig geschehen ist, wäre noch zu klären. Jedenfalls fehlt ein Hinweis darauf, dass der Artikel erstmals im Jahr 2007 im Hirzel Verlag erschienen ist, und zwar im Buch „Jenseits des Verstandes“, herausgegeben von Martin Dresler und Tanja Gabriele Klein.

Aus diesem Hoppla!-Blog ist bekannt, dass ich gegen Glaubensathleten jeder Couleur antrete. Dazu gehören Kreationisten und auch Verschwörungstheoretiker. Dass sich mein Aufsatz im Umfeld von Autoren des Kopp Verlags wie Armin Risi, Peter Orzechowski, Jan van Helsing und Gabriele Schuster-Haslinger wiederfindet, ist für mich nur schwer zu ertragen.

Nicht ganz so schlimm wie die Gesellschaft der Anhänger falscher Verschwörungstheorien, aber immer noch unpassend, ist die Mitwirkung von Mitgliedern des Professorenforums. Mit den in diesem Forum versammelten Vertretern der Intelligent-Design-Bewegung hatte ich vor vielen Jahren eine sehr unangenehme Auseinandersetzung. Von christlicher Nächstenliebe haben diese Leute so gar nichts spüren lassen.ĺ

Tatsächlich hatte ich einem der Herausgeber die Zustimmung zum Abdruck meines Textes gegeben und leider versäumt, nach der Zielsetzung des geplanten Projekts zu fragen. Sein freundlich kollegialer Ton hatte mir genügt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass meine Arbeit in einen Sinnzusammenhang gestellt wird, der ihrem Inhalt zuwiderläuft. Auch Skeptiker sind vor Denkfallen nicht sicher, wie wir sehen.

Da ich auch mit Meinungsgegnern einen Dialog auf Augenhöhe führen will, solange es irgendwie geht, kann ich diese Fehlplatzierung meines Artikels ertragen. Das Büchlein enthält ja auch einige interessante und bedenkenswerte Passagen.

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Unendliche Kettenbrüche und Kettenwurzeln: Interpretationsakrobatik in der Mathematik

Kettenbrüche oder Kettenwurzeln sind für den Mathematiker kein Problem, solange sie endlich sind. Zur Berechnung beginnt man hinten bzw. rechts unten und arbeitet sich Schritt für Schritt bis zum Anfang vor. Die unendlichen Kettenausdrücke machen es einem nicht so einfach. Wo beginnen?

Wenn der unendliche Kettenausdruck sukzessive durch eine Folge endlicher Kettenausdrücke gewonnen worden ist, haben wir ein Rezept: Wir können die Folgenglieder dem Kettenausdruck entnehmen und ihren Grenzwert berechnen. Das einzig Bemerkenswerte an unendlichen Kettenbrüchen ist, soweit ich sehen kann, ihre Unhandlichkeit. Meistens gibt es elegante Lösungswege, die an ihnen vorbeiführen.

Schauen wir uns den unendlichen Kettenbruch des folgenden Bildes an: 1+1/(2+1/(2+1/(2+…))). Den gesamten Ausdruck setzen wir gleich x und den Bruch gleich u. Es ist x=1+u und u = 1/(2+u). Dabei nutzen wir aus, dass auf der ersten (tiefgestellten) Schachtelungsebene genau derselbe Bruch steht, wie ganz oben. Daraus folgt 1=(x-1)(x+1) = x2-1. Also: x = √(2). Für die Berechnung der Wurzel aus 2 haben wir nun wirklich effizientere Verfahren als dieses Ungetüm von Kettenbruch, beispielsweise das Newton-Verfahren (babylonisches Wurzelziehen).

Schlimmer noch scheinen mir die Kettenwurzeln zu sein. Aber es gibt Liebhaber dieser Konstruktionen. Nehmen wir die im Bild dargestellte unendliche Kettenwurzel √(1+√(1+√(1+…))).

Ich will mich nicht damit aufhalten, diese zur Folge aufzudröseln. Ich setze voraus, dass die Folge gegen einen Grenzwert x konvergiert. Dann kann man schreiben: x = √(1 + x). Quadrieren und alles auf die linke Seite bringen ergibt: x2x-1=0. Die Lösung x dieser Gleichung ist gleich dem Streckenverhältnis des goldenen Schnitts. Dank dieser Entdeckung hüpft das Herz des Zahlenmystikers vor Freude! Weiterlesen

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Der Unfug der TED-Umfragen

Statistiken sind eine außerordentlich ergiebige Quelle für Reinfälle und Irrtümer. Nicht zufällig heißt ein Best- und Longseller auf diesem Gebiet „How to Lie with Statistics“ (Darrell Huff, 1954). Einige der notorischen Denkfallen habe ich in diesem Hoppla!-Blog bereits aufgespießt:

Zu den „Proben mit Stich“ zählen für mich die TED-Umfragen. Bisher habe ich diese als sinnleere und harmlose Spielereien abgetan. Erst ein Leserbrief in der Fuldaer Zeitung hat mich aufgeschreckt: TED-Umfragen sind ein Übel der Kommunikationskultur.

Leserbrief zu einer TED-Umfrage

Unter der Überschrift Einladung zur Meinungsmache (Fuldaer Zeitung, 18.1.2022, S. 6) schreiben Kornelia und Iris Eibeck aus Gersfeld zur Frage des Tages „Haben Sie Verständnis für die wachsende Zahl an Demonstranten“ (FZ, 11.1,2022, S. 4):

Auf den ersten Blick gibt das Ergebnis vor, dass 67 Prozent der Teilnehmer Verständnis für die wachsende Zahl an Demonstranten haben. Erst unterhalb der prozentualen Auswertung wird im Kleingedruckten ausgewiesen, dass nur 2944 Personen überhaupt teilgenommen haben und dass es sich um eine nicht repräsentative Umfrage handelt. Uns graust davor, dass Menschen dieses Umfrageergebnis kritiklos übernehmen – und weitergeben. In einer Zeit von Verschwörungstheorien und Fake News sollten ernste Themen nicht in Umfragen mit unklarer Datenerhebung münden.

Der Fuldaer Zeitung gegenüber unterstütze ich diesen Leserbrief nachdrücklich: Diese TED-Umfragen verfestigen Irrationalismen und Spaltungstendenzen. Sie verstoßen gegen grundlegende Regeln des statistischen Schließens. Die erste Voraussetzung besagt, dass die Grundgesamtheit – also die Population, über die etwas ausgesagt werden soll – klar definiert sein muss. Und die zweite Forderung ist, dass das Ziehen einer Stichprobe aus dieser Grundgesamtheit nach dem Zufallsprinzip zu erfolgen hat. Selbstrekrutierte Stichproben wie bei TED erfüllen diese Forderungen ganz gewiss nicht.

Der Ressortleiter Politik/Nachrichten der Fuldaer Zeitung gibt mir im Grunde recht: Die „Frage des Tages“ sei nicht repräsentativ und folge nicht den Regeln der wissenschaftlichen Statistik. Das sei aber auch gar nicht das Ziel dieser Aktion.  Man wolle mit der „Frage des Tages“ nur ein Stimmungsbild der Leserschaft zu aktuellen Themen erzeugen. Die Leser bestätigten immer wieder, dass sie sehr wohl wüssten, wie sie die Ergebnisse zu lesen haben; und es gebe sicher auch weniger aufgeklärte Leser, die aus den Ergebnissen unerwünschte Schlüsse zögen. Die „Frage des Tages“ sei bei der Mehrheit der Leser beliebt – und aus Sicht der Redaktion auch ein Instrument zur Leserbindung. Weiterlesen

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Aus der Zeit gefallen: Bernhard Pörksen setzt auf die Wahrheit

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners

Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen haben 1998 ein Buch geschrieben, dessen Grundgedanken ich im Artikel Skeptiker über Religion aufgegriffen habe: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker.

Auf Seite 30 kommt Heinz von Foerster zu Wort: „Meine Auffassung ist in der Tat, dass die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet – man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition – Krieg. […] Ja – und auf einmal stehen die großen Armeen der Gläubigen einander gegenüber, sie knien nieder und beten beide zu ihrem Gott, dass die Wahrheit, dass ihre Wahrheit siegen möge. – Wer hat recht? […] Um diese Frage zu entscheiden wird geschlachtet und geschlachtet.“

In seinem Buch Die große Gereiztheit von 2018 geht Bernhard Pörksen gnädiger mit dem Wahrheitsbegriff um. Er meint wohl, ihn als Waffe gegen die internetinduzierte „Wahrheitskrise“ und das entfesselte Bestätigungsdenken zu benötigen. Für ihn ist die „prinzipielle Fraglichkeit von Wissen und Wahrheit unvermeidlich. […] Sie kann das Weltbild des Dogmatikers produktiv erschütterten; sie kann von der Diktatur der Monoperspektive befreien und als Bereicherung und als Stimulus eines Aufbruchs in Richtung der autonom fabrizierten Erkenntnis verstanden werden. Aber die Konfrontation mit Kontingenz vermag eben auch, dies ist die menschlich wahrscheinlichere Reaktion, zu verstören und zu schockieren, wird doch die Ruhebank fester Wahrheiten vor aller Augen demoliert.“ (S.  44) Weiterlesen

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