Die negative Methode

Infolge des letzten Hoppla!-Artikels entspannen sich auch privat ganz heftige Diskussionen. Sie gipfelten in zwei Vorwürfen, die an mich gerichtet wurden:

  1. Du kritisierst nur herum; selten bist du konstruktiv und sagst mal etwas Positives.
  2. Du hast immer recht.

Der erste Vorwurf ist ernst gemeint, der zweite ironisch.

Sogar in der Skeptikerbewegung gibt es Leute, die das Positive vermissen. In dem Artikel Skeptiker trifft auf Skeptikerbewegung drücke ich das so aus: „Das gegenüber den Pseudowissenschaften gepflegte negative Denken und das doch sehr eingegrenzte Tätigkeitsfeld werden als unbefriedigend empfunden. Für das eigene Wohlbefinden muss etwas Positives her. Fortschrittsapologeten wie Michael Shermer, Steven Pinker und Hans Rosling finden in der Skeptikerbewegung viel Beifall. Da man dem Erkenntnisfortschritt verpflichtet ist und da diese Leute die Gesellschaft auf einem guten Weg sehen, der dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt geschuldet sei, übernimmt man gern deren Sichtweise“.

Ich wende mich nicht gegen die zwei Vorwürfe: 1. Neigung zu Kritik und 2. gelegentliche Rechthaberei. Denn es stimmt ja: Vorzugsweise verwende ich die negative Methode und liege damit oft richtig. Das will ich erklären.

Grundsätzlich ist es kaum möglich, eine generalisierende Aussage vollumfänglich zu beweisen. Dagegen ist die Widerlegung einer solchen Aussage, falls überhaupt möglich, leicht einzusehen. Diese Asymmetrie von Behauptung und Kritik macht man sich in der Wissenschaft zunutze. Die kritische Methode ist der Kern des kritischen Rationalismus, wie wir ihn von Karl Raimund Popper kennen.

Der positiv Denkende formuliert weitreichende allgemeine Geltungsansprüche, zum Beispiel: Die USA sind Garant der Menschenrechte. Er kann noch so viele Belege für diese Aussage sammeln und sich sogar auf die amerikanische Verfassung berufen, er wird sie nie befriedigend bestätigen können. Dagegen genügt schon der Hinweis auf die Exekution Osama bin Ladens, um sie in sich zusammenfallen zu lassen. Der Kritiker muss noch nicht mal die vielen anderen falsifizierenden Vorkommnisse zitieren: den Drohnenkrieg des Barack Obama, das Gefangenenlager von Guantanamo, den Angriffskrieg gegen den Irak, die Watergate-Affäre, die Iran-Contra-Affäre und was sonst noch.

Der Skeptiker hat mit seiner negativen Methode leichtes Spiel und erreicht damit sogar ein positives Ergebnis: Anstatt zu Tagesereignissen seine politische Meinung kund zu tun, bevorzugt er es, die kursierenden Meinungen zu demontieren. Er behauptet also keine Wahrheiten, sondern er stellt sie infrage. Er sortiert aus und hofft, dass schließlich die plausibelste Meinung übrig bleibt. Und das ist dann doch etwas Positives.

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Selenskyj: ein Lehrstück in Propaganda

Person of the year des TIME Magazins für 2022 ist Wolodymyr Selenskyj (26.12.2022, S. 34-51). Da Selenskyj vor seiner politischen Karriere Schauspieler, Komödiant und Filmproduzent war, liegt die Frage nahe, welchen Anteil die Propaganda an seinen Auftritten hat. Vorweg: Ich schreibe über Propaganda und verbinde damit keine moralische Wertung. Im Artikel Moralisieren ist unmoralisch! steht, warum.

1. Das Narrativ. Ohne zentrale Message geht es nicht. Diese wird gleichlautend wiederholt bis zur geistigen Ermattung des Adressaten oder fortwährend in unterschiedlichen Varianten vorgebracht. Bei Selenskyj sind es Variationen der Grundmelodie To save Ukraine means to save Democracy. Selenskyj in einem Interview bei Bild TV: Wir sterben auch für Sie und Ihre Freiheit (RND, 09.03.2022, 22:32). Unklar bleibt unterdes, was unter Freiheit zu verstehen ist. Ist es die Freiheit von willkürlicher Gewalt (Rechtsstaatlichkeit), die Freiheit von einschränkenden Gesetzen und Vorschriften (Neoliberalismus), die Freiheit der Begüterten (Plutokratie) oder die Freiheit aller von wirtschaftlichen Zwängen (Sozialismus). Jeder macht sich seinen eigenen Reim daraus und findet es gut. Das ist ein Barnum-Effekt. Freiheit ist ein ideales Wort im Dienst der Propaganda.

2. Zuspitzung. Von zentraler Bedeutung in einer Kampagne wie auch im Kino sind die ikonischen Momente: John Wayne, der ein Gewehr lässig hält (Stagecoach), Humphrey Bogart mit „Here’s looking at you kid“ (Casablanca), Wolodimir Selenskyj im olivgrünen T-Shirt, das seine kräftigen Oberarme betont und Kampfbereitschaft signalisiert.


3. Prägnanz. Selenskyj richtet den Blick fest in die Kamera, er adressiert den Menschen. Seine vielen Reden sind kurz, prägnant und jedermann verständlich: Subjekt, Prädikat, Objekt, keine Schnörkel, nur Nachdruck. Aus der UN-Rede des ukrainischen Präsidenten vom 21. Sep. 2022:

Nations of the world!
Ukraine wants peace. Europe wants peace. The world wants peace. And we have seen who is the only one who wants war.

4. Hebelwirkung. Das Gelingen braucht ein zugeneigtes Umfeld. Wer hochmotorisierte Auto verkaufen will, tut gut daran, den Ausbau von Schnellstraßen zu fördern. Aus dem TIME-Artikel:

Zelensky has dialed into the World Economic Forum in Davos and the NATO summit in Madrid. He has granted interviews to talk-show hosts and journalists and held life chats with students at Stanford, Harvard, and Yale. He has leveraged the fame of entertainment superstars to amplify his calls for international support… The attention of the world serves as a shield.

5. Handle im Einklang mit deinen Zielen (Conform to the Objektives ist eine Regel aus dem Buch Propaganda von Edward Bernays, 1928). Das ist wohl die überzeugendste Leistung des Wolodymyr Selenskyj: seine Bereitschaft in Kiew zu bleiben und sich großen Gefahren für sein Leben auszusetzen.

Mein Urteil: Wolodimir Selenskyj nutzt Techniken der Propaganda beispielhaft und vorbildlich.

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Werteorientierung kaschiert nationale Interessen

Werte spielen in der internationalen Politik nur dann eine Rolle, wenn’s den eigenen Interessen dient. Das führen uns die USA gerade vor Augen: im Ukraine-Konflikt und mit dem Inflation Reduction Act. Im ersten Fall werden die gemeinsamen Werte beschworen, im zweiten geht’s auch mal ohne diese. Diese Instrumentalisierung der Werte in der Außenpolitik hat Tradition. Ich will nicht missverstanden werden: den Wert der Freiheit schätze ich sehr hoch ein, nicht aber dessen Missbrauch für eine missionierende Außenpolitik. Darum geht es in dieser Streitschrift.

Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber ein paar Beispiele fallen mir ein. Meinen Hintergrund habe ich in Moralisierung und politische Lagerbildung dargelegt. Noch einmal ganz kurz: Werte werden durch Narrative, durch Erzählungen, präzisiert. Hauptsache ist, dass ein jeder der Gemeinschaft sich zu ihren Narrativen bekennt, so fadenscheinig sie auch sein mögen. Die Wirkung solcher Narrative habe ich während meiner Mitgliedschaft in der Skeptikerbewegung studieren können. Ein inzwischen klassisches Beispiel ist The American Dream: Vom Tellerwäscher zum Millionär. Wie wenig dieses Versprechen eingelöst wird, sieht man an der gewaltigen Einkommensungleichheit in den USA. Es ist wie beim Lotto: Jeder hofft auf den Hauptgewinn, der glücklich macht. Fast immer wird diese Hoffnung enttäuscht. Die Einkommensungleichheit ist es, die die Demokratie bedroht, nicht etwa irgendeine zufälligerweise in Spitzenpositionen agierende Person.

Bei Freiheit denke ich in erster Linie an den schöpferischen Prozess. Die Freiheit hat in ihm zentrale Bedeutung. Ihr entgegen wirkt die Planung. Bei uns im Westen ist das Wort Freiheit zur Kampfvokabel im politischen Prozess geworden. Beim genaueren Hinsehen ist es die Freiheit der Oligarchen, der Geldaristokratie (Patrick Deneen, Why Liberalismus Failed, 2018, S. 135-141).

Wie biegsam der moderne Freiheitsbegriff ist, dafür steht schon einer seiner Erfinder: John Locke. Seine Begründung für die Vertreibung der Indianer von ihrem Grund und Boden ist, dass sie ihn nicht landwirtschaftlich nutzen. Wer seinen Boden nicht ausbeutet, dem gehört er auch nicht. So gesehen war die „Eroberung des Paradieses“ eine werteorientierte Außenpolitik (mehr darüber im Kapitel Eigentumstheorien der Wikipedia).

Den Aufruf unserer Außenministerin Annalena Baerbock zu einer werteorientierten Außenpolitik empfinde ich als Schaufensterdekoration. Eigentlich geht es für uns Bürger darum, die Russen an Landnahme zu hindern, die auch uns bedroht. Aber auch darüber hinausgehende Aggressionen werden durch diesen Aufruf vorgeblich gerechtfertigt. Ich erinnere an Lloyd Austin, der in Ramstein sagte: „Wir wollen Russland in dem Ausmaß geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann.“

Für uns Deutsche wäre es sicher von Vorteil, wenn wir uns nicht länger den Blick auf die Realpolitik durch Wertegesülze verstellen ließen.

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Klimakonferenz: kein Grund für Fortschrittsoptimismus

Frau stellt fest, dass sich im Supermarkt der Packungsinhalt der Sahne von bislang 200 g auf 150 g verringert hat, bei gleichem Preis. Sie ist verärgert über die verschleierte Preiserhöhung um immerhin 33%. Nach einer kleinen Rechnung fügt Mann hinzu: Der Anteil der Verpackung am Gesamtprodukt, hauptsächlich Kunststoff, hat sich um 10% vergrößert.

Ebenfalls ernüchternd angesichts der prekären Situation ist, dass sich ein Tempolimit von 130 km/h nicht durchsetzen lässt.

Das mögen Peanuts sein. Aber es sind Zeichen dafür, dass wir unverdrossen an der Plünderung des Planeten arbeiten.

Auf der anderen Seite gibt es Ideen zur Rettung des Planeten haufenweise. Die Diskussion zum Hoppla!-Artikel Gute Ideen gefragt leitet über zu der Frage, inwieweit gute Ideen auch tatsächlich umgesetzt werden.

Die Begeisterung für die Umstellung der Wirtschaft von fossil auf solar beruht auf einer theoretischen Abschätzung der Potenziale von Solar- und Windenergie. In der Praxis ist die Erreichung der Ausbauziele offensichtlich nur gegen große Widerstände möglich. Es wird zu mehr Dirigismus kommen: „Erreichen [die Bundesländer] ihr Flächenziel nicht, treten die landesspezifischen Abstandsregeln außer Kraft.“ Die Zwangswirtschaft ist dann nicht mehr fern. Der Liberalismus hebt sich selber auf. Das sind keine guten Aussichten für die Demokratie.

Solange wir aus dem Vollen schöpfen können, macht sich der Liberalismus sehr gut. Jetzt, wo die Grenzen des Wachstums in Sichtweite sind, gerät auch der Liberalismus in die Krise. Nicht nur innerhalb der Staaten sorgt er für wachsende Ungleichheit, sondern auch zwischen den Staaten. Die Debatten auf der 27. UN-Klimakonferenz sind entmutigend.

Die 27. UN-Klimakonferenz 2022 in Ägypten ist gestern, am 20.11.22, nach langem Gezerre, quasi ergebnislos zu Ende gegangen.

Als Ausweg aus der Verklemmung bietet Mojib Latif (Präsident der Deutschen Gesellschaft Club of Rome) die Idee einer „Koalition der Willigen“ an, verbunden mit Strafzöllen gegenüber den Unwilligen. Das widerspricht natürlich dem Freihandelsgedanken.

In den vergangenen Jahrzehnten war alles gut, was der Globalisierung dient – grenzenloser Liberalismus eben. Zur Zeit ist Abschottung angesagt. Manchem Liberalen können die Grenzen jetzt gar nicht hoch genug sein, die Sanktionen nicht weitgehend genug gehen. Das ist mit dem Liberalismus unvereinbar, es ist die Zeitenwende.

Hintergrund: Wenn wir ein Gefühl dafür bekommen wollen, um welche Größenordnung es bei der Energiewende geht, kommen wir um ein paar Zahlen nicht herum.

Der Endenergieverbrauch in der BRD liegt bei 2.500 TWh/a. Nahezu je 30% entfallen auf die Sparten Industrie, Haushalte und Verkehr. Etwa 15% gehen an Gewerbe, Handel und Dienstleistungen.

Unter bestimmter Annahmen ergibt sich in der BRD ein theoretisches Potential für die Windenergie-Nutzung an Land von 2.900 TWh/a. Das technisch-ökologische Potenzial, bei dem u. a. auch der besondere Artenschutz zu berücksichtigen ist, fällt erheblich kleiner aus.

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Maßstäbe

Wir bemerken immer bloß wenige Anzeichen einer Situation, sehen nur das, was der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit beleuchtet. Daraus formen wir ein Bild der Lage; und wir fahren meist gut damit – manchmal aber auch nicht.

Statistikzauber

Lesen wir, dass fast alle Absolventen eines Studiengangs den Abschluss in der Regelstudienzeit geschafft haben, meinen wir, dass jeder Studienanfänger nahezu sicher zu einem erfolgreichen Abschluss kommen wird. Es könnte aber auch sein, dass der Studiengang erst seit kurzer Zeit besteht und die ersten Absolventen in Regelstudienzeit abschließen mussten. Die verbliebenen Studenten sind Studienabbrecher oder sie vermiesen die Statistiken der folgenden Jahre. Die Erfolgsmeldung lässt mehrere Deutungen zu, und die nächstliegende ist möglicherweise falsch. So funktionieren Denkfallen.

Irrtümer wie dieser lassen sich lokal und zeitnah aufklären: Die Absolventen sind der falsche Maßstab, wenn man sich für die Erfolgsquote interessiert. Nun wende ich mich den irreführenden Argumentationen zu, die auf falsch skalierten zeitlichen oder räumlichen Maßstäben beruhen. Bereits die Frage nach dem Überleben der Menschheit überschreitet alle dem Menschen gesetzten Schranken einer vernünftigen Analyse.

Raum

Zwischen Freunden kommt es öfter mal zum Streit. Ich lasse meinem Pessimismus freien Lauf und spreche von den Grenzen des Wachstums. Mein Gegenüber kontert mit Zukunftsoptimismus. Wenn es auf der Erde zu unwirtlich wird, dann wird halt ausgewandert, meint er. Die Kolonisierung des Weltraums ist für ihn eine mögliche Lösung.

Milliardäre wie Elon Musk und Jeff Bezos treiben Pläne für die Kolonisierung des Weltalls voran. Da unserem Planeten eine unsichere Zukunft bevorsteht, sind sie auf der Suche nach einer zweiten Erde.

Über die Machbarkeit dieses Vorhabens sollen sich andere den Kopf zerbrechen. Ich frage mich, was ich und meinesgleichen davon haben könnten: Überleben der Menschheit durch Auswanderung auf andere Planeten, welche Hoffnung gibt uns das? Welche Lebenszuversicht können wir aus der Annahme ziehen, dass Nachkommen von Elon Musk irgendwo in den Weiten des Weltalls überleben? Ist dort etwas, das ich meinen Nachkommen und meinen Studenten weitergeben kann, von irgendeinem Wert? Wohl nicht.

Zeit

Die Erde wird im nächsten Jahrhundert in einigen jetzt bewohnten Regionen unerträglich warm, so ist zu befürchten. Schuld daran ist vor allem der wachsende CO2-Anteil in der Atmosphäre, so das fast einhellige Urteil der Klimaforscher.

Am 27. März 2019 schrieb der seinerzeitige AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann in der Fuldaer Zeitung: „Am Klima ist der Wandel das einzig Beständige.“ Unter Hinweis darauf, dass unsere Gegend vor etwa 250 Millionen Jahren ein salzhaltiges Randmeer war, das durch Trockenheit und Hitze zweimal vollständig austrocknete, meint er, dass es keinen Anspruch auf klimatische Besitzstandswahrung gebe.
Klimaveränderungen gab es schon immer. Alles ist also gar nicht so schlimm.

Meine Antwort: Die Warmzeit, in der wir leben, hält seit etwa 10.000 Jahren an. Die letzte Warmzeit davor ist etwa 100.000 Jahre her. Nach Berechnungen des Weltklimarats der UN (IPCC) wird die mittlere Erdtemperatur gegen Ende dieses Jahrhunderts auf Werte ansteigen, die in Millionen von Jahren davor nicht erreicht wurden. Der jüngste krasse Anstieg fällt in das fossile Zeitalter, findet also in nur zwei Jahrhunderten statt.

Bildquelle: Wikipedia, Klimageschichte (abgerufen am 14. November 2022)

Das gibt einen Begriff davon, wie wir den Zeitmaßstab, die Erderwärmung betreffend, skalieren müssen. Jahrzehnte müssen sichtbar werden und nicht nur die Jahrmillionen.

Hier und jetzt

Lassen wir die Kirche im Dorf. Beschränken wir uns zeitlich auf wenige Generationen und räumlich auf unseren Planeten. Besonderes Augenmerk sollte der Einkommensungleichheit und den Migrationsströmen gelten. Uns im Westen dürfte auch interessieren, inwieweit die Demokratie im zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen haltbar ist. Denn: Auf lange Sicht gesehen gibt es sowieso keine Menschen mehr. „In the long run we are all dead.“ Das sind die Worte von John Maynard Keynes.

Notiz: Angeregt zu diesem Artikel hat mich ein Schriftstück von Jörg Udo Steinkamp, von dem ich über Frank Stößel erfuhr.

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Kritische Masse

Nach Berechnungen der Vereinten Nationen könnte jetzt, im November 2022, irgendwo auf der Welt der 8.000.000.000. Mensch geboren werden.

Es ist dies ein rein statistisches Ereignis, und anders als beispielsweise beim 1000. Verkehrstoten, der nach dem Festlegen eines Startdatums gewissermaßen per Strichliste exakt ermittelt werden kann, sind die Unsicherheiten bei der Ermittlung der Weltbevölkerung erheblich. Verwendet werden erdgeschichtliche Entwicklungszahlen (abhängig u.a. von einem mehr oder weniger willkürlich definierten Anfangswert), Tabellen mit Geburts- und Sterberaten, registrierte oder auch nur angenommene Migrationsbewegungen, Naturkatastrophen u.a.m. Statistik eben.

Dieses – wie jedes andere – statistische Ereignis lässt drei sehr verschiedene Blickwinkel zu. Einerseits ist es ein winziges Detail eines Massenphänomens, das für die statistische Aussage so gut wie nichts bedeutet. Andererseits ist es für den betroffenen Menschen von wahrhaftig existenzieller Bedeutung, denn es gäbe ihn nicht, wenn es nicht stattgefunden hätte. Drittens aber kann jedes statistische Ereignis ein dramatischer Wendepunkt sein. Der Volksmund spricht vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Diese Diskrepanz zwischen den Bedeutungen desselben Ereignisses ist im intuitiven menschlichen Weltverstehen nur schwer unterzubringen. Und wir begegnen dieser Diskrepanz immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten, je nachdem, was von einer Statistik abgebildet werden soll. Im Hoppla!-Blog ist dies ein vielbeleuchtetes Dauerthema.

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Meinungsmache

Wer bemerkt, dass er ein Opfer von Meinungsmache, von Propaganda oder Manipulation ist, der wird diese Techniken äußerst verwerflich finden. Wenn er dann ein wenig darüber nachdenkt, wird es ihm vermutlich so gehen wie mir.

Mein Erwachen fand bereits in der Grundschulzeit statt. Angesichts der Schwierigkeiten, meine Verwandten im Westen zu besuchen, erschien mir der Spruch „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ ziemlich daneben. Später, beim sehr realen Mauerbau, ich war von meinen Eltern bereits in den Westen  „verschleppt“  worden (so der DDR-Jargon), tat mir diese Propaganda nur noch weh.

Nun kommt der Moment der Blickweitung. Die andere Seite, die ich nun kennenlernen durfte, besteht nicht aus lauter Unschuldslämmern. Vielleicht ist es sogar so, dass sie die Propaganda perfektioniert hat, so dass wir sie gar nicht mehr so richtig als Propaganda wahrnehmen können. Ich gehe sogar soweit, zu sagen, dass wir hier im Westen die Propaganda gezielt diskreditieren. Die bösen Meinungskneter werden gut sichtbar gemacht, so dass die „guten“ Meinungskneter ungestört ihre Arbeit machen können.

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Moralisieren ist unmoralisch!

Propaganda, Manipulation, Verschwörungstheorien, das sind alles Denkabkürzungen, die machen, dass wir uns in der unübersichtlichen Welt sicherer fühlen. (Das hier schließt an die Diskussion zum letzten Artikel an.)

Wissenschaft und Moral
Tarnen und Täuschen sind in der Natur allgegenwärtig. Man denke nur an die Mimikry der Schmetterlinge und an die Protzgeweihe der Hirsche. Der Mensch hat das Repertoire um die bewusste Manipulation erweitert, weiter nichts.
Ich vermeide es, in eine moralische Bewertung von Täuschung, Manipulation und Propaganda einzutreten und sage nur: Jedermann sollte grundsätzlich die Möglichkeit erhalten, manipulationstechnisch nachzurüsten, so dass er in der durch Manipulation, Manipulationsabwehr und Gegenmanipulation bestimmten Kommunikation seine Chancen wahren kann.

Das provoziert folgenden Kommentar:

Grade mündet es aber in ein ganz „greisligs“ Szenario, in dem wir uns in der Gesellschaft nicht mehr auf eine Wirklichkeit und Realität einigen können… Jeder baut sich grade seine Welt wie sie im gefällt, frei nach Pippi Langstrumpf. Das ist halt Mist…

Der Kommentator hat tatsächlich den zentralen Punkt getroffen. Um „Wirklichkeit und Realität“ im Sinne der Wissenschaft geht es aber gar nicht, sondern um Moral. Ich unterscheide, und darin folge ich David Hume und Immanuel Kant, zwischen zwei Reichen: Sein und Sollen. Im ersten Reich herrscht die Wissenschaft und auch der Zwang zur Einigung. Im zweiten Reich haben wir es mit absoluten Setzungen zu tun. Da geht es um Wahrheitsansprüche, die sich nicht beweisen lassen – ein weites Feld für Propaganda und Manipulation.

Erziehung manipuliert
In Erziehung und Bildung lassen sich solche Setzungen kaum umgehen: Du sollst nicht stehlen, du sollst das Eigentum anderer achten, du sollst zu deinen Untaten stehen, du sollst nicht lügen. Dafür gibt es keine Begründungen, nur die Erfahrung, dass sich die anderen meist an diese Regeln halten und dass das dem eigenen Wohl dient.

Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung schreibt:

Der fragend-entwickelnde Unterricht ist in Deutschland die verbreitetste Form, um Wissen zu vermitteln. Man nennt das übrigens auch Osterhasenpädagogik, weil der Lehrer die Eier, das Wissen, versteckt, das von den Schülern gefunden werden soll.

Das ist eine perfide Art der Manipulation, könnte sich ein aufgeweckter Schüler sagen.

Von den Hindernissen zu einer völlig liberalen und manipulationsfreien Erziehung zeugt auch der folgende Dialog zwischen zwei Freundinnen:
– Stell dir mal vor, der Aaron will sich konfirmieren lassen!
– Na und?
– Ja, aber wir haben ihn extra nicht so religiös erzogen, dass er sich entscheiden kann.
– Ja, jetzt hat er sich doch entschieden!
– Aber Jörg, sein Vater tobt: „Aaron muss vorher sogar noch getauft werden!“

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Kriegsverbrechen

Der Westen will Putin für Kriegsverbrechen belangen. Dazu gibt es eine Stellungnahme der G7-Staaten anlässlich der jüngsten russischen Raketenangriffe auf ukrainische Städte:

We condemn these attacks in the strongest possible terms and recall that indiscriminate attacks on innocent civilian populations constitute a war crime. We will hold President Putin and those responsible to account.

Hoppla! Was bedeutet das? Wie lässt es sich einordnen?

Von der Haager Landkriegsordnung hörte ich erstmals während meiner Bundeswehrzeit Mitte der 60er Jahre. Ich fragte mich: Was soll das? Regeln zum waidgerechten Erlegen des Feindes? Ich wurde ja ausgebildet, um gegebenenfalls auf meinen Cousin, der auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lebte, zu schießen. Mittels Verdrängung vermied ich die weitergehende Beschäftigung mit dem schmerzlichen Thema.

Die Frage, was als Kriegsverbrechen anzusehen sei, ist aktuell: die Raketenangriffe auf die Großstädte der Ukraine, die Anschläge auf die Infrastruktur wie beispielsweise auf die Brücke von Kertsch oder die Nordsee-Gaspipelines. Immer sind auch Zivilpersonen, Nichtkombattanten also, davon betroffen. Kriegsverbrecher sind immer die anderen. Das ist sehr verwirrend. Wie kann der normale Medienkonsument und mittelbar Betroffene mit dieser Sache umgehen?

Das heute in den Wirtschaftswissenschaften etablierte Operations Research ist eine Errungenschaft des Krieges. Es kommt aus dem britischen Militärwesen. Ich hatte einmal einen Artikel in den Fingern, in dem das optimale Muster für Bombenabwürfe ermittelt wurde, mit dem sich das kostengünstigste Inferno in einer Großstadt anrichten lässt. Darüber bin ich sehr erschrocken und habe an der Sinnhaftigkeit meiner Profession gezweifelt, zu der auch Oprations Reseatch gehört. Ich hätte schon damals zum Büchlein Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno greifen sollen.

Die Flächenbombardements und insbesondere die Bombardierung Dresdens sind nach heutiger Rechtsauffassung Kriegsverbrechen. Die damals gültige Haager Landkriegsordnung hat eine so eindeutige Verurteilung noch nicht hergegeben:

Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen (Haager Landkriegsordnung, 18. Oktober 1907, Artikel 25).

Mit dem Zusatzprotokoll von 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 hat sich das geändert. Im Art. 51 Schutz der Zivilbevölkerung heißt es unter Punkt 4: 

Unterschiedslose Angriffe sind verboten. Unterschiedslose Angriffe sind […] Angriffe, die […] militärische Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte unterschiedslos treffen können.

Kommen diese Regeln und Verträge auch in unserem Leben an? Nicht wirklich, fürchte ich. Der Internationale Gerichtshof (IGH) ist das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen und hat seinen Sitz in Den Haag. Das Gericht ist nur dann für die Entscheidung eines Falles zuständig, wenn die beteiligten Parteien Staaten sind, die die Zuständigkeit des Gerichts anerkannt haben. Die folgende Karte zeigt die Staaten, die sich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben. Russland, Belarus, Ukraine und die USA gehören nicht dazu.

Hier ist ein etwas älterer Artikel, der zum Nachdenken und zum Weiterdenken anregt:
Ein Krieg, zwei Gerichte.

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Stellvertreterkrieg in der Ukraine

Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein niedriges finden lässt.

Edward Gibbon

Im Stern-Interview beantwortet der schottische Historiker Niall Ferguson die Frage, ob es möglich gewesen wäre den Ukraine Krieg rasch zu beenden, so: „Ja, und zwar Ende März, Anfang April, nachdem die Ukrainer die Schlacht um Kiew gewonnen hatten. Da war klar, dass Putins ursprünglicher Plan gescheitert war. Da hätten die USA ein Kriegsende erzielen können.“ (stern, 29.9.2022, S. 35) Bemerkenswert daran ist, dass die Ukraine selbst offenbar gar nicht gefragt werden muss. Es geht um die USA und um Russland. Wir, die Europäer einschließlich Ukraine, sind nur die Bauern in einem üblen Spiel. Für jeden ersichtlich handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg.

Der Krieg in der Ukraine kommt den USA wohl nicht gänzlich ungelegen. Die Annäherung Europas, insbesondere Deutschlands, an Russland ist im Nachhinein gesehen vor allem deshalb ein Fehler, weil die Interessen Amerikas dadurch nicht ausreichend berücksichtigt worden sind.

Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden: das sind die hehren Ziele, die in diesem Zusammenhang genannt werden. Vermutlich geht es aber nur um die Ausweitung und Sicherung der Einflusssphäre, Zugang zu Ressourcen, Sicherung der Verkehrswege und Infrastruktur zum eigenen Nutzen.

Zu einem solchen Konflikt gehören immer zwei und die jeweilige Gefolgschaft. Und es ist eine verhängnisvolle Blickverengung zu glauben, dass das Ganze mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine begonnen hat.

Mit meinen Aussagen bewege ich mich außerhalb des Mainstreams. Für einen Skeptiker eigentlich nichts Besonderes. Dennoch wundert es mich. Denn man braucht doch bloß die Landkarte

und die Verteilung der Militärhilfen der Länder für die Ukraine zu betrachten.

Achtung: Aus alldem lässt sich keine Rechtfertigung der Schandtaten Putins und des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine herauslesen.

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