Wir bemerken immer bloß wenige Anzeichen einer Situation, sehen nur das, was der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit beleuchtet. Daraus formen wir ein Bild der Lage; und wir fahren meist gut damit – manchmal aber auch nicht.
Statistikzauber
Lesen wir, dass fast alle Absolventen eines Studiengangs den Abschluss in der Regelstudienzeit geschafft haben, meinen wir, dass jeder Studienanfänger nahezu sicher zu einem erfolgreichen Abschluss kommen wird. Es könnte aber auch sein, dass der Studiengang erst seit kurzer Zeit besteht und die ersten Absolventen in Regelstudienzeit abschließen mussten. Die verbliebenen Studenten sind Studienabbrecher oder sie vermiesen die Statistiken der folgenden Jahre. Die Erfolgsmeldung lässt mehrere Deutungen zu, und die nächstliegende ist möglicherweise falsch. So funktionieren Denkfallen.
Irrtümer wie dieser lassen sich lokal und zeitnah aufklären: Die Absolventen sind der falsche Maßstab, wenn man sich für die Erfolgsquote interessiert. Nun wende ich mich den irreführenden Argumentationen zu, die auf falsch skalierten zeitlichen oder räumlichen Maßstäben beruhen. Bereits die Frage nach dem Überleben der Menschheit überschreitet alle dem Menschen gesetzten Schranken einer vernünftigen Analyse.
Raum
Zwischen Freunden kommt es öfter mal zum Streit. Ich lasse meinem Pessimismus freien Lauf und spreche von den Grenzen des Wachstums. Mein Gegenüber kontert mit Zukunftsoptimismus. Wenn es auf der Erde zu unwirtlich wird, dann wird halt ausgewandert, meint er. Die Kolonisierung des Weltraums ist für ihn eine mögliche Lösung.
Milliardäre wie Elon Musk und Jeff Bezos treiben Pläne für die Kolonisierung des Weltalls voran. Da unserem Planeten eine unsichere Zukunft bevorsteht, sind sie auf der Suche nach einer zweiten Erde.
Über die Machbarkeit dieses Vorhabens sollen sich andere den Kopf zerbrechen. Ich frage mich, was ich und meinesgleichen davon haben könnten: Überleben der Menschheit durch Auswanderung auf andere Planeten, welche Hoffnung gibt uns das? Welche Lebenszuversicht können wir aus der Annahme ziehen, dass Nachkommen von Elon Musk irgendwo in den Weiten des Weltalls überleben? Ist dort etwas, das ich meinen Nachkommen und meinen Studenten weitergeben kann, von irgendeinem Wert? Wohl nicht.
Zeit
Die Erde wird im nächsten Jahrhundert in einigen jetzt bewohnten Regionen unerträglich warm, so ist zu befürchten. Schuld daran ist vor allem der wachsende CO2-Anteil in der Atmosphäre, so das fast einhellige Urteil der Klimaforscher.
Am 27. März 2019 schrieb der seinerzeitige AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann in der Fuldaer Zeitung: „Am Klima ist der Wandel das einzig Beständige.“ Unter Hinweis darauf, dass unsere Gegend vor etwa 250 Millionen Jahren ein salzhaltiges Randmeer war, das durch Trockenheit und Hitze zweimal vollständig austrocknete, meint er, dass es keinen Anspruch auf klimatische Besitzstandswahrung gebe.
Klimaveränderungen gab es schon immer. Alles ist also gar nicht so schlimm.
Meine Antwort: Die Warmzeit, in der wir leben, hält seit etwa 10.000 Jahren an. Die letzte Warmzeit davor ist etwa 100.000 Jahre her. Nach Berechnungen des Weltklimarats der UN (IPCC) wird die mittlere Erdtemperatur gegen Ende dieses Jahrhunderts auf Werte ansteigen, die in Millionen von Jahren davor nicht erreicht wurden. Der jüngste krasse Anstieg fällt in das fossile Zeitalter, findet also in nur zwei Jahrhunderten statt.
Das gibt einen Begriff davon, wie wir den Zeitmaßstab, die Erderwärmung betreffend, skalieren müssen. Jahrzehnte müssen sichtbar werden und nicht nur die Jahrmillionen.
Hier und jetzt
Lassen wir die Kirche im Dorf. Beschränken wir uns zeitlich auf wenige Generationen und räumlich auf unseren Planeten. Besonderes Augenmerk sollte der Einkommensungleichheit und den Migrationsströmen gelten. Uns im Westen dürfte auch interessieren, inwieweit die Demokratie im zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen haltbar ist. Denn: Auf lange Sicht gesehen gibt es sowieso keine Menschen mehr. „In the long run we are all dead.“ Das sind die Worte von John Maynard Keynes.
Notiz: Angeregt zu diesem Artikel hat mich ein Schriftstück von Jörg Udo Steinkamp, von dem ich über Frank Stößel erfuhr.
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