Zeitenwende
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vom 24.2.22 zerstörte die Hoffnungen auf ein friedliches Miteinander aller Völker. Unsere Empörung war groß, so groß, dass keine Beschreibung groß genug schien; Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte das Ereignis zur Zeitenwende – angesichts der ihm eigenen Zurückhaltung geradezu eine Explosion der Gefühle.
Als Laie, als Nichtfachmann sowohl in Biologie als auch in Völkerrecht, kann man sich die Freiheit herausnehmen, zwischen beiden Gebieten kühne Verbindungen herzustellen. Ich mache das jetzt.
Sowohl die Universalisierung der Menschenrechte als auch die Konstitutionalisierung des Völkerrechts scheinen auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen: Vietnam, Afghanistan, Irak, Mali, Libyen, Syrien, Ukraine, Gaza, …
In der Gesellschaft wie in der Biologie ist die Entstehung des Neuen unvermeidlich. Es ist ein Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit. Schon in meiner Schulzeit war mir klar, dass die Heranzüchtung von Supermenschen keine gute Idee ist. Warnende Beispiele sind die Qualzüchtungen bei Haustieren.
Optimierung auf ein Ziel hin heißt immer: Reduktion der Vielfalt. Die Anpassungsfähigkeit eines Volkes an sich ändernde Lebensbedingungen geht verloren. Mit dem Klimawandel stehen wir gerade vor einer existenzbedrohenden Veränderung.
Kreativität
Das Ideal einer gleichgerichteten Gesellschaft ist von vornherein unerreichbar: Die Natur sorgt für Abweichler. In meinem Buch Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System (2016, 2020, S. 238) schreibe ich:
Neue Lösungen und Entdeckungen werden keinesfalls in Teamarbeit und zielgerichtet angegangen. Der Geistesblitz ereignet sich stets in einem einzigen Kopf! Meist entdecken die Genies rein zufällig Lösungen für Probleme, die sie eigentlich gar nicht hatten. Und das ist wunderbar.
Die Entdeckung oder Erfindung macht derjenige, der das Problem als erster sieht. Dazu braucht es dann eine gehörige Portion Fachwissen und Kombinationsgabe – das Rüstzeug der Genies.
Es scheint ein allgemeines Prinzip der Natur zu sein: Neues entsteht unplanmäßig und einiges davon hat Gelegenheit und Kraft, in Konkurrenz zum Alten zu treten. Der sich anschließende Selektionsprozess ist alles andere als friedvoll. Zum Beispiel: Mit dem Auftreten des Internets verschwand die Telegrafie weitgehend und im Büro wurde das aufkommende Teletex im Keim erstickt und durch Telefax ersetzt. Das WWW bringt auch diese Technik in Bedrängnis.
Das verteidigbare Nest
Zurück zur Biologie. Das Neue, die Abweichung, wird vom Volk abgelehnt und ausgemerzt. Es sei denn, die Neuen können für Abstand oder Isolation und eine anfangs ungestörte Entwicklung des entstehenden Volkes sorgen.
Für den Insektenforscher Edward Osborne Wilson fördert die Existenz eines verteidigbaren Nestes die Entstehung von Sozialbeziehungen eines neuen Volkes. Mit meinem Programm KoopEgo habe ich die Unverzichtbarkeit von Isolation und Lokalität für die Entwicklung neuer Arten studiert.
Der Überlebenskampf
Der natürliche Drang der Verbreiterung der Lebensbasis führt zum Zusammenstoß von Völkern mit gegenläufigen Interessen.
Es sind wohl prinzipielle Gründe, die gegen eine Erzwingung des Völkerrechts sprechen. Die dafür notwendige Konstitution ist zwar wünschenswert, sie wird aber nicht kommen, es sei denn man akzeptiert doppelte Standards. Es ist beispielsweise unvorstellbar, dass sich ein US-Amerikaner vor einem internationalen Strafgericht verantworten muss.
Dennoch: Die Regelungen des Völkerrechts brauchen wir, auch wenn ihre Durchsetzung mithilfe der internationalen Gerichtshöfe (IGH, IStGH) und des Weltrechtsprinzips offensichtlich nicht gut funktioniert. Jeder unserer Soldaten weiß von der roten Linie und dass deren Überschreitung dem Feind das Recht gibt, das ebenfalls zu tun.
Wenn es so etwas wie Humanismus im Krieg gibt, dann drückt er sich wohl darin aus, dass man im anderen einen Feind, nicht aber einen Verbrecher sieht. Im Nahen Osten und in der Ukraine sehen wir Grenzüberschreitungen; aber es gibt dank des Völkerrechts auch eine Debatte darüber.
Beängstigend finde ich, was im Internet passiert. Der jeweils andere wird oftmals nicht als Feind wahrgenommen, sondern als verkommenes Geschöpf, das keinerlei Gnade verdient. Wut und Hass übernehmen. Das zeigt sich beim Aufmarsch der Internet-Trolle hier und da.
Geotheologie
Zwischen den Staaten, also organisierten Völkern in ihren Territorien, gibt es Kriege. Für diese gilt das Völkerrecht. Was aber, wenn sich einer nicht an die Regeln hält? Herfried Münkler bezieht sich auf Michael Silnizki, wenn er schreibt (Welt in Aufruhr 2023, S. 175):
Um das Völkerrechtsprinzip der Souveränität auszuhebeln, verstecke sich der westliche Anspruch auf globale Hegemonie hinter einer Fassade der Humanität, die immer dann ins Spiel gebracht werde, wenn es darum gehe, in wertfremde Räume einzudringen.
Die folgende Aussage Silnizkis deckt sich mit den Informationen, die mich aus der Mainstream-Presse erreichen (Geopolitik, 2015, S. 23):
Hinter der Humanität verbirgt sich ein ökonomischer und monetärer Hegemonialanspruch, legitimiert durch die raumübergreifende, geologische Permeabilität. Dieser strukturelle Zusammenhang von geotheologisch legitimierter und geoökonomisch expandierender Geopolitik ist der integrale Bestandteil des raumaufhebenden und das innere Gefüge der wertfremden Machträume sprengenden, westlichen Universalismus.
(Davon hatte ich es bereits in einer Diskussion mit Eike – nur etwas einfacher ausgedrückt.) Selbst ein Ingenieur wie ich kann verstehen, dass in der derzeitigen Situation das geltende Völkerrecht nicht greift. Weiterlesen
 
			
