Maßstäbe

Wir bemerken immer bloß wenige Anzeichen einer Situation, sehen nur das, was der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit beleuchtet. Daraus formen wir ein Bild der Lage; und wir fahren meist gut damit – manchmal aber auch nicht.

Statistikzauber

Lesen wir, dass fast alle Absolventen eines Studiengangs den Abschluss in der Regelstudienzeit geschafft haben, meinen wir, dass jeder Studienanfänger nahezu sicher zu einem erfolgreichen Abschluss kommen wird. Es könnte aber auch sein, dass der Studiengang erst seit kurzer Zeit besteht und die ersten Absolventen in Regelstudienzeit abschließen mussten. Die verbliebenen Studenten sind Studienabbrecher oder sie vermiesen die Statistiken der folgenden Jahre. Die Erfolgsmeldung lässt mehrere Deutungen zu, und die nächstliegende ist möglicherweise falsch. So funktionieren Denkfallen.

Irrtümer wie dieser lassen sich lokal und zeitnah aufklären: Die Absolventen sind der falsche Maßstab, wenn man sich für die Erfolgsquote interessiert. Nun wende ich mich den irreführenden Argumentationen zu, die auf falsch skalierten zeitlichen oder räumlichen Maßstäben beruhen. Bereits die Frage nach dem Überleben der Menschheit überschreitet alle dem Menschen gesetzten Schranken einer vernünftigen Analyse.

Raum

Zwischen Freunden kommt es öfter mal zum Streit. Ich lasse meinem Pessimismus freien Lauf und spreche von den Grenzen des Wachstums. Mein Gegenüber kontert mit Zukunftsoptimismus. Wenn es auf der Erde zu unwirtlich wird, dann wird halt ausgewandert, meint er. Die Kolonisierung des Weltraums ist für ihn eine mögliche Lösung.

Milliardäre wie Elon Musk und Jeff Bezos treiben Pläne für die Kolonisierung des Weltalls voran. Da unserem Planeten eine unsichere Zukunft bevorsteht, sind sie auf der Suche nach einer zweiten Erde.

Über die Machbarkeit dieses Vorhabens sollen sich andere den Kopf zerbrechen. Ich frage mich, was ich und meinesgleichen davon haben könnten: Überleben der Menschheit durch Auswanderung auf andere Planeten, welche Hoffnung gibt uns das? Welche Lebenszuversicht können wir aus der Annahme ziehen, dass Nachkommen von Elon Musk irgendwo in den Weiten des Weltalls überleben? Ist dort etwas, das ich meinen Nachkommen und meinen Studenten weitergeben kann, von irgendeinem Wert? Wohl nicht.

Zeit

Die Erde wird im nächsten Jahrhundert in einigen jetzt bewohnten Regionen unerträglich warm, so ist zu befürchten. Schuld daran ist vor allem der wachsende CO2-Anteil in der Atmosphäre, so das fast einhellige Urteil der Klimaforscher.

Am 27. März 2019 schrieb der seinerzeitige AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann in der Fuldaer Zeitung: „Am Klima ist der Wandel das einzig Beständige.“ Unter Hinweis darauf, dass unsere Gegend vor etwa 250 Millionen Jahren ein salzhaltiges Randmeer war, das durch Trockenheit und Hitze zweimal vollständig austrocknete, meint er, dass es keinen Anspruch auf klimatische Besitzstandswahrung gebe.
Klimaveränderungen gab es schon immer. Alles ist also gar nicht so schlimm.

Meine Antwort: Die Warmzeit, in der wir leben, hält seit etwa 10.000 Jahren an. Die letzte Warmzeit davor ist etwa 100.000 Jahre her. Nach Berechnungen des Weltklimarats der UN (IPCC) wird die mittlere Erdtemperatur gegen Ende dieses Jahrhunderts auf Werte ansteigen, die in Millionen von Jahren davor nicht erreicht wurden. Der jüngste krasse Anstieg fällt in das fossile Zeitalter, findet also in nur zwei Jahrhunderten statt.

Bildquelle: Wikipedia, Klimageschichte (abgerufen am 14. November 2022)

Das gibt einen Begriff davon, wie wir den Zeitmaßstab, die Erderwärmung betreffend, skalieren müssen. Jahrzehnte müssen sichtbar werden und nicht nur die Jahrmillionen.

Hier und jetzt

Lassen wir die Kirche im Dorf. Beschränken wir uns zeitlich auf wenige Generationen und räumlich auf unseren Planeten. Besonderes Augenmerk sollte der Einkommensungleichheit und den Migrationsströmen gelten. Uns im Westen dürfte auch interessieren, inwieweit die Demokratie im zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen haltbar ist. Denn: Auf lange Sicht gesehen gibt es sowieso keine Menschen mehr. „In the long run we are all dead.“ Das sind die Worte von John Maynard Keynes.

Notiz: Angeregt zu diesem Artikel hat mich ein Schriftstück von Jörg Udo Steinkamp, von dem ich über Frank Stößel erfuhr.

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Kritische Masse

Nach Berechnungen der Vereinten Nationen könnte jetzt, im November 2022, irgendwo auf der Welt der 8.000.000.000. Mensch geboren werden.

Es ist dies ein rein statistisches Ereignis, und anders als beispielsweise beim 1000. Verkehrstoten, der nach dem Festlegen eines Startdatums gewissermaßen per Strichliste exakt ermittelt werden kann, sind die Unsicherheiten bei der Ermittlung der Weltbevölkerung erheblich. Verwendet werden erdgeschichtliche Entwicklungszahlen (abhängig u.a. von einem mehr oder weniger willkürlich definierten Anfangswert), Tabellen mit Geburts- und Sterberaten, registrierte oder auch nur angenommene Migrationsbewegungen, Naturkatastrophen u.a.m. Statistik eben.

Dieses – wie jedes andere – statistische Ereignis lässt drei sehr verschiedene Blickwinkel zu. Einerseits ist es ein winziges Detail eines Massenphänomens, das für die statistische Aussage so gut wie nichts bedeutet. Andererseits ist es für den betroffenen Menschen von wahrhaftig existenzieller Bedeutung, denn es gäbe ihn nicht, wenn es nicht stattgefunden hätte. Drittens aber kann jedes statistische Ereignis ein dramatischer Wendepunkt sein. Der Volksmund spricht vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Diese Diskrepanz zwischen den Bedeutungen desselben Ereignisses ist im intuitiven menschlichen Weltverstehen nur schwer unterzubringen. Und wir begegnen dieser Diskrepanz immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten, je nachdem, was von einer Statistik abgebildet werden soll. Im Hoppla!-Blog ist dies ein vielbeleuchtetes Dauerthema.

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Meinungsmache

Wer bemerkt, dass er ein Opfer von Meinungsmache, von Propaganda oder Manipulation ist, der wird diese Techniken äußerst verwerflich finden. Wenn er dann ein wenig darüber nachdenkt, wird es ihm vermutlich so gehen wie mir.

Mein Erwachen fand bereits in der Grundschulzeit statt. Angesichts der Schwierigkeiten, meine Verwandten im Westen zu besuchen, erschien mir der Spruch „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ ziemlich daneben. Später, beim sehr realen Mauerbau, ich war von meinen Eltern bereits in den Westen  „verschleppt“  worden (so der DDR-Jargon), tat mir diese Propaganda nur noch weh.

Nun kommt der Moment der Blickweitung. Die andere Seite, die ich nun kennenlernen durfte, besteht nicht aus lauter Unschuldslämmern. Vielleicht ist es sogar so, dass sie die Propaganda perfektioniert hat, so dass wir sie gar nicht mehr so richtig als Propaganda wahrnehmen können. Ich gehe sogar soweit, zu sagen, dass wir hier im Westen die Propaganda gezielt diskreditieren. Die bösen Meinungskneter werden gut sichtbar gemacht, so dass die „guten“ Meinungskneter ungestört ihre Arbeit machen können.

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Moralisieren ist unmoralisch!

Propaganda, Manipulation, Verschwörungstheorien, das sind alles Denkabkürzungen, die machen, dass wir uns in der unübersichtlichen Welt sicherer fühlen. (Das hier schließt an die Diskussion zum letzten Artikel an.)

Wissenschaft und Moral
Tarnen und Täuschen sind in der Natur allgegenwärtig. Man denke nur an die Mimikry der Schmetterlinge und an die Protzgeweihe der Hirsche. Der Mensch hat das Repertoire um die bewusste Manipulation erweitert, weiter nichts.
Ich vermeide es, in eine moralische Bewertung von Täuschung, Manipulation und Propaganda einzutreten und sage nur: Jedermann sollte grundsätzlich die Möglichkeit erhalten, manipulationstechnisch nachzurüsten, so dass er in der durch Manipulation, Manipulationsabwehr und Gegenmanipulation bestimmten Kommunikation seine Chancen wahren kann.

Das provoziert folgenden Kommentar:

Grade mündet es aber in ein ganz „greisligs“ Szenario, in dem wir uns in der Gesellschaft nicht mehr auf eine Wirklichkeit und Realität einigen können… Jeder baut sich grade seine Welt wie sie im gefällt, frei nach Pippi Langstrumpf. Das ist halt Mist…

Der Kommentator hat tatsächlich den zentralen Punkt getroffen. Um „Wirklichkeit und Realität“ im Sinne der Wissenschaft geht es aber gar nicht, sondern um Moral. Ich unterscheide, und darin folge ich David Hume und Immanuel Kant, zwischen zwei Reichen: Sein und Sollen. Im ersten Reich herrscht die Wissenschaft und auch der Zwang zur Einigung. Im zweiten Reich haben wir es mit absoluten Setzungen zu tun. Da geht es um Wahrheitsansprüche, die sich nicht beweisen lassen – ein weites Feld für Propaganda und Manipulation.

Erziehung manipuliert
In Erziehung und Bildung lassen sich solche Setzungen kaum umgehen: Du sollst nicht stehlen, du sollst das Eigentum anderer achten, du sollst zu deinen Untaten stehen, du sollst nicht lügen. Dafür gibt es keine Begründungen, nur die Erfahrung, dass sich die anderen meist an diese Regeln halten und dass das dem eigenen Wohl dient.

Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung schreibt:

Der fragend-entwickelnde Unterricht ist in Deutschland die verbreitetste Form, um Wissen zu vermitteln. Man nennt das übrigens auch Osterhasenpädagogik, weil der Lehrer die Eier, das Wissen, versteckt, das von den Schülern gefunden werden soll.

Das ist eine perfide Art der Manipulation, könnte sich ein aufgeweckter Schüler sagen.

Von den Hindernissen zu einer völlig liberalen und manipulationsfreien Erziehung zeugt auch der folgende Dialog zwischen zwei Freundinnen:
– Stell dir mal vor, der Aaron will sich konfirmieren lassen!
– Na und?
– Ja, aber wir haben ihn extra nicht so religiös erzogen, dass er sich entscheiden kann.
– Ja, jetzt hat er sich doch entschieden!
– Aber Jörg, sein Vater tobt: „Aaron muss vorher sogar noch getauft werden!“

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Kriegsverbrechen

Der Westen will Putin für Kriegsverbrechen belangen. Dazu gibt es eine Stellungnahme der G7-Staaten anlässlich der jüngsten russischen Raketenangriffe auf ukrainische Städte:

We condemn these attacks in the strongest possible terms and recall that indiscriminate attacks on innocent civilian populations constitute a war crime. We will hold President Putin and those responsible to account.

Hoppla! Was bedeutet das? Wie lässt es sich einordnen?

Von der Haager Landkriegsordnung hörte ich erstmals während meiner Bundeswehrzeit Mitte der 60er Jahre. Ich fragte mich: Was soll das? Regeln zum waidgerechten Erlegen des Feindes? Ich wurde ja ausgebildet, um gegebenenfalls auf meinen Cousin, der auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lebte, zu schießen. Mittels Verdrängung vermied ich die weitergehende Beschäftigung mit dem schmerzlichen Thema.

Die Frage, was als Kriegsverbrechen anzusehen sei, ist aktuell: die Raketenangriffe auf die Großstädte der Ukraine, die Anschläge auf die Infrastruktur wie beispielsweise auf die Brücke von Kertsch oder die Nordsee-Gaspipelines. Immer sind auch Zivilpersonen, Nichtkombattanten also, davon betroffen. Kriegsverbrecher sind immer die anderen. Das ist sehr verwirrend. Wie kann der normale Medienkonsument und mittelbar Betroffene mit dieser Sache umgehen?

Das heute in den Wirtschaftswissenschaften etablierte Operations Research ist eine Errungenschaft des Krieges. Es kommt aus dem britischen Militärwesen. Ich hatte einmal einen Artikel in den Fingern, in dem das optimale Muster für Bombenabwürfe ermittelt wurde, mit dem sich das kostengünstigste Inferno in einer Großstadt anrichten lässt. Darüber bin ich sehr erschrocken und habe an der Sinnhaftigkeit meiner Profession gezweifelt, zu der auch Oprations Reseatch gehört. Ich hätte schon damals zum Büchlein Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno greifen sollen.

Die Flächenbombardements und insbesondere die Bombardierung Dresdens sind nach heutiger Rechtsauffassung Kriegsverbrechen. Die damals gültige Haager Landkriegsordnung hat eine so eindeutige Verurteilung noch nicht hergegeben:

Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen (Haager Landkriegsordnung, 18. Oktober 1907, Artikel 25).

Mit dem Zusatzprotokoll von 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 hat sich das geändert. Im Art. 51 Schutz der Zivilbevölkerung heißt es unter Punkt 4: 

Unterschiedslose Angriffe sind verboten. Unterschiedslose Angriffe sind […] Angriffe, die […] militärische Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte unterschiedslos treffen können.

Kommen diese Regeln und Verträge auch in unserem Leben an? Nicht wirklich, fürchte ich. Der Internationale Gerichtshof (IGH) ist das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen und hat seinen Sitz in Den Haag. Das Gericht ist nur dann für die Entscheidung eines Falles zuständig, wenn die beteiligten Parteien Staaten sind, die die Zuständigkeit des Gerichts anerkannt haben. Die folgende Karte zeigt die Staaten, die sich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben. Russland, Belarus, Ukraine und die USA gehören nicht dazu.

Hier ist ein etwas älterer Artikel, der zum Nachdenken und zum Weiterdenken anregt:
Ein Krieg, zwei Gerichte.

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Stellvertreterkrieg in der Ukraine

Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein niedriges finden lässt.

Edward Gibbon

Im Stern-Interview beantwortet der schottische Historiker Niall Ferguson die Frage, ob es möglich gewesen wäre den Ukraine Krieg rasch zu beenden, so: „Ja, und zwar Ende März, Anfang April, nachdem die Ukrainer die Schlacht um Kiew gewonnen hatten. Da war klar, dass Putins ursprünglicher Plan gescheitert war. Da hätten die USA ein Kriegsende erzielen können.“ (stern, 29.9.2022, S. 35) Bemerkenswert daran ist, dass die Ukraine selbst offenbar gar nicht gefragt werden muss. Es geht um die USA und um Russland. Wir, die Europäer einschließlich Ukraine, sind nur die Bauern in einem üblen Spiel. Für jeden ersichtlich handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg.

Der Krieg in der Ukraine kommt den USA wohl nicht gänzlich ungelegen. Die Annäherung Europas, insbesondere Deutschlands, an Russland ist im Nachhinein gesehen vor allem deshalb ein Fehler, weil die Interessen Amerikas dadurch nicht ausreichend berücksichtigt worden sind.

Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden: das sind die hehren Ziele, die in diesem Zusammenhang genannt werden. Vermutlich geht es aber nur um die Ausweitung und Sicherung der Einflusssphäre, Zugang zu Ressourcen, Sicherung der Verkehrswege und Infrastruktur zum eigenen Nutzen.

Zu einem solchen Konflikt gehören immer zwei und die jeweilige Gefolgschaft. Und es ist eine verhängnisvolle Blickverengung zu glauben, dass das Ganze mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine begonnen hat.

Mit meinen Aussagen bewege ich mich außerhalb des Mainstreams. Für einen Skeptiker eigentlich nichts Besonderes. Dennoch wundert es mich. Denn man braucht doch bloß die Landkarte

und die Verteilung der Militärhilfen der Länder für die Ukraine zu betrachten.

Achtung: Aus alldem lässt sich keine Rechtfertigung der Schandtaten Putins und des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine herauslesen.

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Die NATO im Ukraine-Krieg: Hannemann geh du voran

Um diese Frage ging es gestern bei Hart aber fair mit Frank Plasberg (Alles auf eine Karte: Wie hoch pokert Putin noch? 26.9.22): Wer zögert bei den Panzerlieferungen und warum tut er das?

Wir, normale Konsumenten von Nachrichten, werden auf den Arm genommen. Das ist mir gestern bei dieser Sendung wieder einmal vor Augen geführt worden. Was die Eingeladenen so gesagt haben, das kam mir teilweise spanisch vor. Aber auch Widersprüche, die wir entdecken, helfen uns weiter. Der Nebel lichtet sich, das Bild wird klarer.

Nun zur Sendung. Kevin Kühnert verteidigt die Haltung des Bundeskanzlers Olaf Scholz: Waffenlieferungen nur in Absprache mit den Verbündeten und die USA lieferten ja auch keine Panzer.

Der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger widerspricht und gibt eine Begründung für die amerikanische Zurückhaltung: Der amerikanische Abrams-Panzer sei zu schwer, Brücken würden unter ihm zusammenbrechen und außerdem müssten die US-Panzer ja erst über den großen Teich gebracht werden. Gegen deutsche Panzerlieferungen spreche hingegen nichts.

Ein Blick in die Datenblätter zeigt, dass der Leopard 1 gegenüber dem Abrams-Panzer auch kein Leichtgewicht ist. Der Leopard 2 ist sogar noch etwas schwerer als der Abrams. Zum Argument der großen Entfernung fällt mir ein: Mitte der 60er Jahre diente ich in einem Panzerbataillon der Bundeswehr. Wir hatten ausschließlich amerikanische Panzer, und die kamen von sehr weit her, aus dem Korea-Krieg, wenn ich mich recht erinnere.

Gemessen an den wenig glaubwürdigen Auslassungen Ischingers sind die Erläuterungen der Expertin für Sicherheits- und Verteidigungspolitik Claudia Major wirklich erhellend. Sie geht auf die Frage ein, warum die Bundesrepublik Panzerhaubitzen liefert und sich bei den Kampfpanzern zurückhält. Beides seien ja „dicke Fahrzeuge mit Ketten und ein dickes Rohr vorne dran“, wie Plasberg sich ausdrückt (ab Minute 28). Claudia Major erklärt den Unterschied so: Mit der Artillerie, hier Panzerhaubitze 2000, soll die gegnerische Stellung sturmreif geschossen werden. Für die Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete würden Kampfpanzer und Schützenpanzer gebraucht, Bodentruppen also.

Da ist mir ein Licht aufgegangen: Wer die Rückeroberung will, der muss Kampfpanzer liefern. Wer das Risiko des Versuchs einer Rückeroberung als zu hoch einschätzt, wird das bleiben lassen. Daraus schließe ich: Den USA ist momentan der Schritt zu einer Rückeroberung offenbar zu riskant und sie liefern wohl deshalb keine Kampfpanzer. Den Ukrainern will man das so nicht sagen. Das erklärt die scheinbare Bereitschaft zu liefern und die uneingestandene Zurückhaltung. Scholz soll’s machen.

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Fortschrittsapologeten und Warner

Naysayer: das trifft auf mich zu. Das Wort hat leider einen negativen Beiklang: „Neinsager“. Deshalb spreche ich lieber von Warnern und nicht von Naysayern. Jedenfalls handelt es sich um Leute, die gewohnheitsmäßig skeptisch sind und die immer auch den möglichen negativen Ausgang einer Unternehmung zu bedenken geben.

Die Fortschrittsapologeten sollten nicht vergessen, dass sie den Warnern eine ganze Menge zu verdanken haben. Ich erinnere mich an einen Lernvorgang in den frühen 70er Jahren. Damals machte die Erkenntnis die Runde, dass alle menschlichen Anstrengungen und Tätigkeiten die Entropie der Erde unvermeidlich erhöhen, ein unumkehrbarer Prozess, hin zum Chaos. Mich interessierte damals vor allem die mathematische Seite des Satzes von der Entropie, der damals vom engen Geltungsbereich der Wärmelehre auf alle Prozesse dieser Welt erweitert wurde. Der Mensch spielt darin die Rolle des Beschleunigers.

Bei der Nutzung fossiler Rohstoffe leuchtet das unmittelbar ein. Später dämmerte mir, dass die Recyclingmasche kaum mehr als Selbstbetrug ist. Auch das Recycling erhöht die Entropie, wie alle unsere Aktivitäten. Allein manche Engpässe lassen sich auf diese Weise mildern; dafür wird’s an anderer Stelle knapp. Auf lange Sicht gesehen wirkt das Entropiegesetz unerbittlich.

Solange wir die Erde als abgeschlossenes System betrachtet, sieht es für den Menschen sehr, sehr schlecht aus. Die Grenzen des Wachstums sind nah.

Schon in den 70er Jahren wurde klar, dass wir die Systemgrenzen weiter fassen müssen. Auch für das Sonnensystem gilt das Entropiegesetz. Aber mit der Sonne haben wir eine, nach menschlichem Ermessen, unerschöpfliche Energiequelle.

Die Sonne macht Leben möglich, und damit ein Absenken der Entropie auf dieser Erde. Sie schafft Ordnung bei uns. Über diese natürlichen Prozesse hinausgehend wollen die vielen Menschen mehr Komfort. Bisher haben vor allem die fossilen Energieträger dafür gesorgt, bei gleichzeitig gewaltiger Entropieerhöhung. Auf lange Sicht bleibt uns aber nur die intensive Nutzung der Sonnenenergie.

(Was ich hier schreibe, habe ich in den letzten 50 Jahren quasi verinnerlicht. Verlangen Sie bitte keine Quellenangaben von mir. Es würde in eine nervige Sucherei ausarten.)

Fortschrittsapologeten, die auf Sonnenenergie setzen und die im letzten Artikel zur Wort kamen, haben meine Sympathie. Sie sollten nur nicht vergessen, dass ihre Bewegung den Warnern zu verdanken ist. Und sie sollten auch zukünftig auf Warner hören.

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Von welcher Freiheit ist die Rede?

Im Hoppla!-Artikel über Moralisierung und politische Lagerbildung sowie in der darauffolgenden Diskussion war viel von Freiheit die Rede. Jedermann verbindet mit diesem Begriff etwas Positives. Deshalb eignet er sich gut für Propaganda, wie gerade wieder einmal im Ukraine-Krieg. Im aktuellen Spiegel (Nr. 37/10.09.22) gibt sich der ungarische Regierungschef Morawiecki „überzeugt, dass die Ukraine nicht nur ums eigene Überleben kämpft, sondern für die Freiheit Europas“ und dass die Ukraine heute „unsere Werte“ verteidigt.

Aber meinen wir alle mit „Freiheit“ dasselbe? Nein. Es gibt sehr widersprüchliche Auffassungen vom Freiheitsbegriff. Für den Sozialisten beispielsweise ist Freiheit die Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen. Für den Liberalen anglo-amerikanischer Prägung hingegen sind die Zwänge des Marktes das Lebenselixier der Wirtschaft. Freiheit ohne Sicherheit ist schwer denkbar. „Zugleich gilt, dass ein Euro, der in die militärische Sicherheit fließt, nicht zugleich für soziale Sicherheit ausgegeben werden kann.“ (Der Spiegel vom 10.09.2022 auf Seite 80) Bereits die Basis der Freiheit ist wackelig.

Und was bedeutet Freiheit in einer Welt, in der das Bevölkerungsgesetz wirksam wird? Thomas Robert Malthus fomulierte erstmals dieses Gesetz, wonach die Bevölkerung stärker wächst als die Nahrungsmittelproduktion – mit den erwartbaren Folgen (1798). Dieses Gesetz habe ich zu Beginn meines Studium kennengelernt, Jahre bevor die Grenzen des Wachstums ins allgemeine Bewusstsein drangen. Die Prämissen haben sich im Laufe der Jahrhunderte aufgrund des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts geändert. Das Grundproblem des Bevölkerungsgesetzes ist geblieben. Das wird uns gerade mit dem Klimawandel drastisch vor Augen geführt: Die Spielräume werden kleiner.

In unseren Kaufentscheidungen sind wir immerhin frei, oder etwa nicht? Aber was bedeutet diese Freiheit in einer Gesellschaft, in der der Wert der Dinge durch ihren Preis bestimmt wird und nicht etwa der Preis durch den Wert? (Mariana Mazzucato: The Value of Everything. 2018) Bei den Luxusgütern ist der hohe Preis sogar das eigentliche Distinktionsmerkmal. Dass die Freiheit, solange man sie nicht auf Fragen reduziert wie die, ob die Fingernägel grün, rot oder blau lackiert sein dürfen, auch ein Opfer der Werbung ist, darauf hat uns vor vielen Jahren Vance Packard mit The Hidden Persuaders aufmerksam gemacht (1957).

Ein gut gemeinter Rat, auch an mich selbst: Wenn dir jemand mit „Freiheit“ kommt, frag nach, was er damit meint. Für mich sind die Grundrechte, wie sie im Grundgesetz verankert sind und durch die Justiz mitgestaltet werden, ein hohes Gut. Wir haben genug damit zu tun, dieses Gut nicht verkommen zu lassen. Nehmen wir die informationelle Selbstbestimmung. Die Wachsamkeit in diesem Punkt hat seit den 80er Jahren ziemlich nachgelassen. Die Gepflogenheiten im Internet zeigen das.

Die Bedrohung kommt zunächst einmal von innen. Die müssen wir zuallererst abwehren. Wenn uns das zufriedenstellend gelingt, dann haben wir etwas, das eine Verteidigung gegen Bedrohung von außen lohnt. Ich halte es für fraglich, dass wir dafür Unterstützung seitens der USA bekommen, der Heimat der Datenkraken. Die Vorgänge um das Spionagesystem Prism und seine Brüder haben nichts Beruhigendes.

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Gute Ideen gefragt

Die staatliche Großforschung hat mit einem Anerkennungsproblem zu kämpfen: die Apparate werden immer größer und die Resultate immer kleiner. Die Physikerin Sabine Hossenfelder beklagt, soweit ich sie verstanden habe, dass wir zwar viele schöne Theorien haben, aber trotz aller Großforschungsanstrengungen zu wenige Daten, um sie prüfen zu können (Das hässliche Universum, 2018).

Innovationstreiber Staat

Das führt dazu, dass die Beteiligten an Großforschungsprojekten in einer Art Rechtfertigungszwang möglichst viele innovative Entwicklungen mit gesellschaftlicher Breitenwirkung den Großforschungsprojekten zuschreiben. Sie haben nun in Mariana Mazzucato eine prominente Fürsprecherin. Im Buch „The Entrepreneurial State: debunking public vs. private sector myths“  (2013) behauptet sie unter anderem, dass der Staat die führende Antriebskraft für das Entstehen innovativer Technologien sei und nennt uns Beispiele: Massenproduktion, Luftfahrt, Raumfahrt, Informationstechnologien, Internettechnologien und Kernkraft (S. 68 f.).

Das widerspricht einem von mir seit Jahrzehnten gepflegten Vorurteil (gemeinhin Hypothese genannt): Natürlich sorgt der Staat mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen für die wissenschaftlichen Grundlagen, dass überhaupt Neues entstehen kann, aber der Zündfunke einer neuen Technologie oder breitenwirksamen innovativen Entwicklung entsteht in einem einziger Kopf, meist unabhängig von Großprojekten und auch ungeplant, wie das Beispiel Alexander Fleming eindrucksvoll zeigt. Er bemerkte nach einem Urlaub, dass einige seiner versehentlich stehen gebliebenen Bakterienkulturen verdorben waren. Dadurch entdeckte er das Penicillin.

Serendipity

Von der Rolle des glücklichen Zufalls (Serendipity) handeln viele Bücher über das Erfinden. Auch ich habe in „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“ (2016, 2020) darüber geschrieben.

Ich fürchte, dass Mariana Mazzucato Wesentliches übersieht. Hier nur zwei Beispiele: Otto Lilienthal und Konrad Zuse gelten zurecht als der Erfinder des Flugzeugs der eine bzw des Computers der andere. Die Erfindungen waren nicht das Ergebnis groß geplanter staatlicher Forschungsanstrengungen, also anders als von Mariana Mezzucato dargestellt.
Auch dieses Beispiel finden wir bei ihr (S. 111): Leute des CERN – eine internationale Großforschungseinrichtung in Genf – haben das World Wide Web erfunden, und das hat die Welt revolutioniert. Das stimmt. Aber das Internet stand nicht auf der Agenda. Im CERN sitzen eben viele hoch qualifizierte Leute. Und man kann mit keinem Projekt verhindern, dass in klugen Köpfen Kluges passiert.
Mein Freund, selbst in der staatlich geförderten Elementarteilchenforschung tätig, widerspricht mir vehement. Beim CERN geschehe nichts außerhalb von Projekten. Alles gehe nach Plan. Ich bin beeindruckt, aber lasse nicht locker. Am besten kommt der Erfinder selbst zu Wort. „Eigentlich gab es da niemanden, dem ich das geben konnte. Im CERN gibt es eine Menge Kommissionen, bei denen Sie Vorschläge für Physikexperimente machen können. Aber es war ja kein Vorschlag für ein Physikexperiment“, erinnert sich Tim Berners-Lee auf der Geburtstagsfeier für das World Wide Web 2019.

Anders lief es beim Touchscreen. Er war offenbar tatsächlich eine Entwicklung innerhalb eines CERN-Projekts (Mazzucato, S. 107). Jedoch gab es Vorarbeiten in anderen Institutionen und von anderen Entwicklern.
Ich warte immer noch auf ein konkretes und ausgearbeitetes Gegenbeispiel zu meiner Hypothese, dass das Neue sich nicht herbeiplanen lässt und dass der Geistesblitz sich notgedrungen in einem einzigen Kopf ereignet.

Forschung und Entwicklung an Hochschulen

Welche Folgerungen erlaubt diese Erkenntnis? Ich sehe die Aufgabe des Staates darin, in der Großforschung Freiräume zu schaffen, in denen eben nicht alles nach Plan laufen muss und in denen auch Verrücktes passieren darf, Scheitern inbegriffen. Solche Freiräume kosten viel Geld und sie zahlen sich erst auf sehr lange Sicht aus und der Gewinn daraus lässt sich nicht direkt zuordnen.  Man wird diese Anstrengungen auf die Großforschungsinstitute und auf einige Hochschulen konzentrieren müssen. Ich frage mich, ob die Angleichung von Universitäten und Fachhochschulen im Zuge des Bologna-Prozesses wirklich eine so gute Idee war. Ich bin dafür, die Grundlagenforschung und das Promotionsrecht schwerpunktmäßig bei den Universitäten zu belassen und die anwendungsnahe Forschung sowie die Entwicklung bei den Fachhochschulen, den Universities of Applied Sciences. Jedenfalls sollte begabten Fachhochschulabsolventen der Übergang zur Universität, hin zur Grundlagenforschung und zur Promotion weit offen stehen. Dass Fachhochschulprofessoren an Großprojekten teilhaben können, ist ebenfalls eine gute Idee. Dass das heute reibungslos geschehen kann, dazu haben mein Freund und ich Beiträge geleistet.

Die Ideen für ein gegliedertes Bildungssystem sind nicht neu. Im politischen Prozess der internationalen Angleichung sind sie etwas verschüttet worden. Sich daran zu erinnern, könnte helfen.

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