Für mich ist der Begründer der Soziobiologie Edward Osborne Wilson einer der Größten des Fachs. Auch solche Leute dürfen sich irren. Aber der Reihe nach.
Simulation der Realität
Wer macht sich schon Gedanken darüber, was es heißt, eine 7-Tage- Prognose des Wetters zu erstellen? Abermilliarden von Datenpunkten für Temperatur, Druck, Feuchte, Luftbewegung sind miteinander in Beziehung zu setzen und über einen längeren Zeitraum Schritt für Schritt zu verfolgen. Je genauer, desto mehr ist zu rechnen. Und das dauert – auch bei den heutigen schnellen Rechnern mit ihren riesigen Datenspeichern. Beliebig viel Zeit steht nicht zur Verfügung, denn das Wetter darf nicht eher da sein als die Prognose.
Niemand erwartet, dass die Prognosen hundertprozentig stimmen. Das gilt ja für alle unsere Erkenntnisse: Die Realität ist nicht greifbar. (Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Weblogbuch.)
Wenn José Encarnaçao von der Technischen Universität Darmstadt, die Virtualisierung als Abfolge „Reale Umgebung → Abstraktes Modell → Digitale Repräsentation“ darstellt, dann übersieht er, dass wir gar nicht wissen, was real ist und dass es die Hauptaufgabe der Wissenschaft ist, auf die Frage nach der Realität brauchbare Antworten zu liefern.
(Davon berichte ich in meinem Artikel über Oberflächenkompetenz, 2006.)
José Encarnaçao spricht aus, was Realisten denken.
Wir bilden Modelle der Realität und gleichen sie mit den vorhandenen Daten ab. Wenn es nur um Prognosen geht, dann erkennen wir die Güte der Modelle an der Qualität der Vorhersagen.
Was aber, wenn wir mit Modellen die Wirkmechanismen unserer Welt erkunden, wenn es um das Formulieren und Prüfen von Theorien für nur vermutete Sachverhalte geht und wenn Beobachtungsdaten nur in geringem Maße zur Verfügung stehen und die Kategorien für das, was man beobachten will, noch nicht festgefügt sind? Dann besteht die Gefahr, dass die Modelle ein Eigenleben entwickeln und wir das, was sie zeigen, für die Realität halten. Ich meine, einem solchen Fall, in dem sich sogar ein von mir hoch geschätzter und prominenter Forscher hat täuschen lassen, auf die Spur gekommen zu sein. (Ich greife die Diskussion zum Artikel Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich auf.)
Die Kontroverse Dawkins–Wilson
Für mich ist Richard Dawkins ein orthodoxer Darwinist. Für ihn ist einzig das Gen die Einheit, an der die Selektion angreift, und alle Lebensformen sind nur Überlebensmaschinen für diese Gene (Dawkins, 1976/1978). In seinem Buch Das egoistische Gen beklagt er, dass der von ihm verehrte Wilson von dieser Linie abweicht, mit diesen Worten (S. 112):
Die Familienselektion erklärt den innerfamiliären Altruismus; je näher die Verwandtschaft, desto stärker die Auslese. […] E. O. Wilson definiert in seinem ansonsten bewundernswerten Buch Sociobiology. The New Synthesis die Familienselektion als einen Sonderfall der Gruppenselektion […] Nun bedeutet Gruppenselektion – sogar nach Wilsons eigener Definition – das unterschiedliche Überleben von Gruppen von Individuen.
Für Wilson ist die Gruppe zentral. Wird die Gruppe durch Familienbande erzeugt, wirkt die Verwandtschaftsselektion: ein Altruisten-Gen stärkt die Gruppe und breitet sich in ihr aus. Damit sind die Eckpunkte der Debatte definiert: Genselektion kontra Gruppenselektion – Dawkins kontra Wilson. In seinem Nachruf auf Wilson erzählt Dawkins von diesem Streit.
Und so stellt sich mir die Sache dar: In seinem Buch Sociobiology präsentiert Wilson zwei Modelle, die zeigen sollen, wie Gruppenselektion funktioniert. Eins davon habe ich in meinen Kurs Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation in einfacher Form aufgenommen: Metapopulation – ein Modell für die Evolution altruistischen Verhaltens.
Diese Modelle haben Wilson nicht überzeugt und er neigte dazu, die allgemeine, nicht familiengebundene, Gruppenselektion zu verwerfen. Die zwei von ihm untersuchten Modelle zeigten, dass die Evolution altruistischer Gene mittels reiner Gruppenselektion ein unwahrscheinliches Ereignis sei und dass die alternativen Hypothesen der Verwandtschaftsselektion und der individuellen Selektion (Genselektion) zu bevorzugende Alternativen seien (S. 113). Ich habe den Verdacht, dass er die Unzulänglichkeit der von ihm benutzten mathematischen Modelle zunächst dem Untersuchungsgegenstand Gruppenselektion angelastet hat. Später hat er seinen Irrtum wohl bemerkt.
So gesehen hätte Dawkins damals wenig Grund gehabt, Wilson frontal anzugehen. Ihn scheint aber zu stören, dass Wilson die Erklärungsmöglichkeit Gruppenselektion grundsätzlich ins Auge fasst. Richtig in Rage geriet Dawkins aber, als sich Wilson mit seinem Buch The Social Conquest of Earth von 2012 dann doch zur Theorie der allgemein gefassten und nicht notwendig auf die Familie bezogenen Gruppenselektion bekannte. Die daraus folgende Auseinandersetzung ist im Prospect-Magazin nachzulesen. Dort finden Sie Dawkins‘ Buchbesprechung The descent of Edward Wilson sowie einige Antworten darauf, unter anderem die von Wilson selbst. Das ist Wissenschaft mit Schmackes.
Literaturhinweise
Wilson, Edward Osborne: Sociobiology. The New Synthesis. 1975/2000
Wilson, Edward Osborne: The Social Conquest of Earth. 2012
Dawkins, Richard: The Selfish Gene/Das egoistische Gen. 1976/1978
Grams,Timm: Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation. 1999
Grams,Timm: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung. THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6