Aiwanger, Trump und die Demokratie

Die Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus der Schultasche Hubert Aiwangers von vor etwa 36 Jahren zeigt uns, wie verwundbar die Demokratie ist.

Die Affäre

Der Affäre wurde von Radio, Fernsehen und Presse ausgiebig dargestellt. Eine Wiederholung erübrigt sich. Was mich bewegt hat, ist die Frage, warum dieses Flugblatt erst jetzt, nach 36 Jahren, in der Politik eine Rolle spielt. Der Bayerische Rundfunk bringt ein wenig Licht in die Angelegenheit. Was bleibt, ist die Frage: Warum gerade jetzt? Noch wichtiger ist mir jedoch, was wir aus dem Umgang der Verantwortlichen mit den vorliegenden Fakten lernen können.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder stellte seinem Vizepräsidenten Hubert Aiwanger 25 Fragen. Diese Fragen und die Antworten hat die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht. Die Antworten Aiwangers enthalten kaum Neues und viele Erinnerungslücken. Auch spricht er öffentlich von einer Hexenjagd. Im Ergebnis stellt sich Markus Söder auf die Seite seines Stellvertreters und entscheidet sich für die Beibehaltung der Koalition.

Wie reagiert die Öffentlichkeit?

Die öffentliche Reaktion darauf ist für Söder wenig schmeichelhaft und für Aiwanger vernichtend. Ich greife eine Stimme aus meinem Bekanntenkreis heraus:

Aiwangers Antworten auf die 25 Fragen des bayerischen Ministerpräsidenten sind ein Witz. Denn da steht ja eigentlich nur: ich erinnere mich nicht, ich weiß es nicht, ich war es nicht. Zur Aufklärung dieser Flugblatt-Affäre trägt er nichts bei. Aber es reicht für Markus Söder[…] Und ich sehe nur ein Argument, nämlich dieses: ich bin an der Macht und will an der Macht bleiben, koste es, was es wolle.

Dem kann ich gut zustimmen. Aber – hoppla! –, dann kommen mir doch Zweifel. Vor allem Charlotte Knobloch hat mich ins Grübeln gebracht. ZEIT ONLINE berichtet: Charlotte Knobloch

hält an ihrer Kritik an Aiwanger fest – stellt sich aber hinter Markus Söder.

Knobloch bekräftigte, dass Söders Entscheidung politisch zu akzeptieren sei.

Sie äußerte die Befürchtung, dass Aiwanger die Situation im Falle einer Entlassung für sich ausgenutzt und damit Erfolg gehabt hätte. Dies wäre aus ihrer Sicht die größere Katastrophe gewesen.

Demokratie tendiert zur Selbstzerstörung

Demokratie heißt Volksherrschaft (John Locke). Aber das Volk ist manipulierbar (Gustave Le Bon). Werbung und Propaganda sind unverzichtbare Zugaben (Edward Bernays). Es entsteht ein verhängnisvoller Rückwirkungsprozess. Die Demokratie droht, sich selbst zu zerstören.

Das Rezept, dem die Aiwangers und Trumps dieser Welt folgen, ist einfach: Wähle eine emotional aufgeladene Geschichte in deinem Sinne. Stelle sie als Behauptung in den Raum und wiederhole sie unablässig. Das ist die Holzhammer-Methode, die vor allem von Werbeleuten immer wieder gern genommen wird (Beispiel: Pflaster für den Darm).

Sowohl Trump als auch Aiwanger erzählen die Geschichte einer Hexenjagd, deren Opfer sie seien. Belege dafür bleiben sie schuldig. Solche Erzählungen können die Demokratie zerstören, denn offenbar finden sie viele Anhänger unter den Bürgern, die mit dem Staat nicht zufrieden sind. Diese zerstörerische Gewalt wurde sichtbar bei der Erstürmung des Capitols am 6.1.2021 und bei der versuchten Stürmung des Bundestags am 29.8.2020.

Was folgt daraus?

Wir können schlecht den Machthabern ihr Machtstreben ankreiden, sollten aber dafür sorgen, dass die richtigen an die Macht kommen.

Söder ging es möglicherweise auch darum, einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden. Er hat wohl verstanden, dass Trumps Methode funktioniert: Hexenjagd-Erzählungen haben mit den Verschwörungstheorien gemeinsam, dass sie selbstimmunisierend sind: Vom Hexenjäger wie vom Verschwörer wird erwartet, dass er der Erzählung widerspricht. Widerstand, Widerspruch und gar Ausgrenzung sprechen für die Erzählung. Das könnte es sein, was Markus Söder vermeiden will. Und um Machterhalt geht es selbstverständlich auch. (Absatz korrigiert am 7.9.23)

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Wer ist Barbie?

Barbie habe ich kennengelernt, da war ich 11 Jahre alt. Damals hieß sie noch Lilli. Mein täglicher Schulweg führte an ihrem Geburtsort vorbei, der Puppenfabrik Hausser. Sie wanderte ein paar Jahre später in die USA aus und änderte ihren Namen. Durch den Umzug nach Amerika wurde sie leider nicht schöner.

Diese Puppe ist unzweifelhaft eine deutsche Erfindung. Ihre wesentlichen Merkmale sind der schräg angeschnittene Hals, so dass die Puppe bei Drehung des Kopfes ihn kokett neigt, und die exakt nach vorne abknickenden Beine. Da wir in den prüden 50er Jahren sind, darf diese junge Dame beim Hinsetzen natürlich nicht die Beine spreizen, wie jede Babypuppe damals. Sie bleiben züchtig geschlossen.

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Wachstum: r- und K-Strategen

Wachstum ist eine sehr erfreuliche Angelegenheit. Es ist erhebend, wenn es im Frühjahr grünt und blüht. Der Wirtschaftsliberale übernimmt dieses Bild gern: Fortschritt und Wachstum sind unabdingbar für das Streben des Menschen nach Glückseligkeit. Letzteres wird ihm von der Verfassung als unveräußerliches Recht zugestanden, unter anderem in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776:

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Bevor wir uns die Konsequenzen dieser Verheißung anschauen, werfen wir einen Blick auf Wachstumsprozesse.

Populationsdynamik

Im Frühstadium von Lebewesen oder Güterproduktion haben wir es oft mit exponentiellem Wachstum zu tun. Ein gern genommenes Lehrbeispiel ist die Kaninchenaufgabe des Leonardo von Pisa (1170-1240), genannt Fibonacci: Ausgehend von einem Kaninchenpaar kommt nach je zwei Monaten für jedes Paar ein weiteres Paar hinzu. Monat für Monat ergibt sich so eine Population von 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55 usw. Kaninchenpaaren. Jede Zahl ergibt sich aus der vorhergehenden durch Multiplikation mit einem Faktor. Dieser Faktor strebt mit der Zeit gegen den Grenzwert Φ = 1,61803398874989… Auf lange Sicht gesehen wächst die Population also Monat für Monat um eine Zuwachsrate von r ≈ 61,8%. Die Zuwachsrate steht für exponentielles Wachstum.

Aber egal, ob es eine Bakterienkultur in einer Petrischale, eine Tierart in freier Wildbahn oder ein krankmachendes Virus ist: Es gibt für das Wachstum einer jeden Population Grenzen, die jeweilige Kapazität K des Lebensraums. Je näher die Grenze rückt, umso kleiner wird die Zuwachsrate aufgrund knapper werdender Nahrungsmittel.

Nur das Geld auf der Bank scheint sich diesem Gesetz zu entziehen. Bei einer Geldanlage mit reinvestiertem Zins scheint das Kapital über jede Grenze hinaus wachsen zu können. Dafür gibt es aber Inflation und Finanzkrisen (zuletzt 2008 in dem USA und 2010 in Europa).

Interessant wird die Sache, wenn mehrere Populationen um einen Lebensraum konkurrieren (Wilson 2000). Als Beispiel wähle ich Birke und Buche.

Die Birke ist ein typischer r-Stratege, der hauptsächlich in die Fortpflanzung, also in ein möglichst großes r investiert, um einen neuen Lebensraum schnell erobern zu können. Arten mit kleinerem r werden verdrängt.

K-Strategen erzeugen demgegenüber nur wenige Nachkommen, die dafür besser versorgt und behütet werden können. Die Ressourcen werden also in die Überlebensfähigkeit einiger weniger Individuen investiert. Das zahlt sich aus, wenn die Population sich der Kapazitätsgrenze K nähert. Als Beispiel nehmen wir die Buche. Sie hat einen starken hohen Stamm und ein dichtes Blätterdach. Das nimmt unter anderem der Birke das für Wachstum nötige Licht.

So in etwa könnte die Entwicklung der Populationen eines r-Strategen (N1) und eines N-Strategen (N2) aussehen, die sich einen gemeinsamen Lebensraum teilen müssen:

Konkurrenz der Arten

Quelle: Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation. Konkurrenz der Arten (Excel-Blatt).

Recht auf Wohlstand und Wachstum

Ab nun folge ich den Linien des Büchleins Wachstum von 2022 und beginne mit dem Plädoyer pro Wachstum von Katja Gentinetta. Ihr Anliegen ist die stete Steigerung des Lebensstandards, und das sei ohne wirtschaftliches Wachstum nicht denkbar. Ihr Leitbild ist der r-Stratege.

Sie verschweigt nicht, dass das Wirtschaftswachstum problematische Nebenwirkungen zeitigt. Aber gerade der Kapitalismus sei lernfähig und schaffe die Voraussetzung, die entstandenen Schäden zu beheben. Den vom Club of Rome postulierten „Grenzen des Wachstums“ setzt sie entgegen: „Der Kuchen wird größer“ (S. 25).

Für sie hat der Mensch „ein Recht auf Wachstum“. Wie er zu seinem Recht kommt, erklärt sie so: Wirtschaftliche Entwicklung sei nichts anderes als der Versuch, vorhandene Dinge und Kräfte neu zu kombinieren. Grenzen des Wachstums könne es aus Prinzip nicht geben, vielmehr entstünden aus neuen Kombinationen neue Produkte, bestehende Produkte in neuer Qualität, neue, effizientere Produktionsmethoden, vielleicht unter Einbeziehung neuer Rohstoffe, Industriezweige. Ihre Leitidee ist, dass die Unternehmen produzieren, was der Konsument will.

Sie blendet aus, dass es diesen souveränen Konsumenten gar nicht gibt. Die Bedürfnisse der Konsumenten sind heutzutage vor allem Ergebnis der Propaganda. Die Werbung ist Basis alles modernen Wirtschaftens, wie man mit Facebook, Twitter, Amazon leicht selbst in Erfahrung bringen kann.

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Apropos Menschenrechte

Es drängt mich, zu meinem letzten Artikel diese recht persönliche Bemerkung nachzutragen.

Es ist in Ordnung, wenn wir uns innerstaatlich für die Menschenrechte einsetzen, so wie wir sie kennen. Das Problem entsteht erst, wenn wir diese Auffassung missionierend nach außen tragen. Unsere Außenministerin, Anna-Lena Baerbock sollte feinfühliger an die Sache herangehen.

Die Rede von der Universalität der Menschenrechte ist Metaphysik und in diesem Sinne vergleichbar mit Christi Himmelfahrt – Glaubenssachen eben. Es gibt Humanisten, die singen sogar Gospelsongs für die Menschenrechte. Auf mich wirkt das wie europäischer Imperialismus, den wir eigentlich hinter uns haben sollten.

Zwei Wissenschaftlerinnen haben sich gefragt, wie die Annahmen der europäischen Aufklärung über die Grenzen Europas hinaus befördert werden können.

Die Autorinnen stehen offenbar in der Tradition der Frankfurter Schule mit ihrer kritischen Theorie (Horkheimer, Adorno). In neuer Ausprägung hat die Critical Theory zum Putsch in der GWUP geführt.

Es hat übrigens ziemlich lange gebraucht, bis die Relevanz dieser Theorie bis zu mir durchgedrungen ist. Da die wissenschaftlichen Standards im Sinne von Karl Raimund Popper in dieser Theorie nicht so recht wirksam sind, läuft unter kritischer Theorie auch so manch Abseitiges.

Ich war lange Zeit Wahrheitssucher. Für mich gab es eine Zeitenwende, weg vom (mir kaum bewussten) Universalismus, hin zum (seither offen bekannten) Relativismus. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mich, Kant und Popper folgend, über die Unhaltbarkeit der Realitätsvorstellung als Basis des Wissens hinweggetäuscht, indem ich sie zum regulativen Prinzip erklärte. Ein unnötiger Handstand.

Der Relativismus ist nicht gefeit vor Übertreibungen. Deshalb sind hier Skeptiker besonders gefragt.

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Die offene Gesellschaft: Trump, Netanjahu, Orban, Weidel kommen nicht überraschend

Im Jahr 1955 wars. Die Mutter stand mit den Kindern auf dem Bahnhof einer oberfränkischen Kleinstadt. „Wir bleiben jetzt im Westen“, sagte sie. Eine gute Nachricht für den Jungen, der die Gängeleien in der Schule und die DDR-Propaganda ziemlich satt hatte.

Die Wertschätzung der Freiheit zieht sich seither durch sein Leben und er kann Joachim Gauck gut verstehen, wenn dieser sich leidenschaftlich zu seinem großen Lebensthema Freiheit äußert.

Etwas Grundsätzliches macht sich bemerkbar

Einen Knacks bekam die Begeisterung für die Freiheit, als der Junge merkte, dass es beim Metzger zwar viele Wurstsorten gab, sogar Aufschnitt mit Gesichtern, dass alles aber so ziemlich gleich fad schmeckte – anders als die ihm von früher bekannte Knackwurst.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Das ist die Losung der französischen Revolution von 1789. Sie grundiert die westlichen Verfassungen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) steht unter Artikel 1 Freiheit, Gleichheit, Solidarität:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 der USA bezieht sich noch deutlicher auf das individuelle Wohl:

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Die ökonomische Freiheit sorgt in Demokratien für wirtschaftliche Ungleichheit und die scharfe Trennung zwischen Arm und Reich. Geld regiert die Welt. Ein Großteil der Macht geht an die Superreichen wie Elon Musk, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg. Anders als beabsichtigt, entzieht so die Demokratie dem Volk die Macht.

Knackpunkt Gewaltenteilung

Wir Europäer sehen das Vertrauen in die Demokratie schwinden. Und jetzt zeigen uns auch noch die Vereinigten Staaten von Amerika, wie verletzlich die westliche Leitkultur ist.

Dort ist man ja besonders stolz auf die Gewaltenteilung, die Checks and Balances, und gerade darin schwächelt das System. Eigentlich sollten ja die Richter unabhängig von der gesetzgebenden und von der ausführenden Gewalt sein. Und da stellt sich ein ganz grundsätzliches Problem: Wer ernennt die Richter? Und wer definiert ihre Befugnisse? Die Ernennung der Richter des Supreme Courts der USA war schon immer eine Sache der gerade im Senat herrschenden Partei und ihres Präsidenten und folglich grundsätzlich konfliktträchtig.

Freie geheime allgemeine Wahlen

Ein weiteres vielleicht noch gravierenderes Problem ist die Infragestellung des gewaltlosen Machtwechsels, die ihr Symbol in der Erstürmung des Capitols am 6. Januar 2021 gefunden hat. Für Adam Przeworski ist die Möglichkeit des gewaltfreien Machtwechsels das einzige unverzichtbare Merkmal einer Demokratie.

Der Aufruhr wird von vielen Kennern der wirtschaftlichen Ungleichheit in den USA zugeschrieben. Der Gini-Index in den USA liegt dauerhaft bei etwa 40%. In Deutschland und in weiteren europäischen Ländern sind es 30%. Von der Machtballung bei den Superreichen hatten wir es schon.

Ich frage mich, ob diese Ereignisse wirklich außerordentlich oder ob sie dementgegen sogar in der Demokratie selbst angelegt sind. Eine „offene Gesellschaft“ (Karl Raimund Popper) ist eben verletzlich.

Kritische Punkte

Schauen wir in den freiheitlich-demokratischen Verfassungen einmal nach, inwiefern ihre Stärken zugleich ihre Schwachpunkte sind, an denen sie ausgehebelt werden können.

In der Constitution of the United States in Artikel II Section 3 finden wir den Pferdefuß: Der Präsident

shall have Power, by and with the Advice and Consent of the Senate, to make Treaties, provided two thirds of the Senators present concur; and he shall nominate, and by and with the Advice and Consent of the Senate, shall appoint Ambassadors, other public Ministers and Consuls, Judges of the supreme Court …

Ich finde es bedenklich, dass ein solches Präsidialsystem auf die deutschen Hochschulen übertragen worden ist. Die wechselseitige Kontrolle der Institutionen wird so außer Kraft gesetzt.

Ein Blick nach Israel zeigt, dass dort die Erosion der Demokratie durch eine sogenannte Justizreform vorangebracht werden soll.

In der Bundesrepublik ist die Gefahr des Missbrauchs von Richterernennungen geringer: Art. 94 des Grundgesetzes sieht vor, dass die Bundesver­fassungsrichter je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Eine echte Gewaltenteilung ist das aber auch nicht.

Übrigens: Der Föderalismus ist ein Element der Gewaltenteilung und in diesem Sinne von den Alliierten dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (1948) vorgegeben worden. Das sollten die heutzutage erstarkenden Föderalismuskritiker bedenken.

Fazit

Die Demokratie kann nur bestehen, wenn es gelingt, genau die Leute mit Macht auszustatten, deren Herz für die offene Gesellschaft schlägt. Dafür müssen wir aber selber sorgen.

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Wo steckt der Fehler?

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.
1.Kor 13, 1

Im Forum Mathematik & Physik stellte ich das Spaghetti-Problem zur Debatte und erhielt als ersten Kommentar: „Ist halt nen Klassiker und deshalb eher langweilig.“ Nun ja, nicht jeder kennt alle Klassiker. Und die Sache wird interessant, wenn man sich nicht für irgendeine Lösung, sondern für eine möglichst elegante interessiert. Dann kann man auch über Klassiker diskutieren.

Lernen aus den Fehlern

Noch ein Klassiker, von dem man viel lernen kann: das Buch „Wo steckt der Fehler?“ von Walther Lietzmann (1953). In der Einleitung schreibt Lietzmann:

Das Landläufige ist doch wohl, der Lehrer berichtigt im mündlichen Unterricht die Fehler seiner Schüler, streicht sie in den schriftlichen Arbeiten an und lässt sie verbessern, zumeist aber, ohne die günstige Gelegenheit zu Vertiefung in die Einsicht, warum nun das richtig und dies falsch ist, auszunutzen. Mir will scheinen, eine Theorie und Praxis der Fehlerauswertung verdiente einmal eine gründliche Untersuchung.

Diese Einsicht liegt auch meinem System der Denkfallen zugrunde.

Wer nun meint, er haben nicht genügend viele Anfängerfehler greifbar, dem kann neuerdings geholfen werden. ChatGPT komponiert seine Texte aus Bausteinen, die er einem riesigen Textfundus entnimmt. Darin ist einiges Richtiges und viel Falsches. Soweit ich erkennen konnte, lässt ChatGPT kaum einen Anfängerfehler aus.

Für das Lernen aus den Fehlern schlage ich vor, eine Rätselaufgabe, ob altbekannt oder neu, dem System ChatGPT zur Lösung aufzugeben. Diese Lösungsvorschläge kann man dann nach Fehlern durchforsten und gegebenenfalls berichtigen. Wie das geht, zeige ich an dem einfachen Problem „Das erste Ass“.

Das erste Ass

Ein gut durchmischter Kartenstapel mit 52 Karten und vier Assen wird nacheinander Karte für Karte aufgedeckt. Wie viele Karten muss man im Mittel aufdecken, bis das erste Ass kommt?

Erster Lösungsversuch ChatGPT (GPT-3.5)

Um die durchschnittliche Anzahl von Karten zu berechnen, die aufgedeckt werden müssen, bis das erste Ass erscheint, verwenden wir das Konzept der sogenannten „geometrischen Verteilung“. Die geometrische Verteilung beschreibt die Anzahl der unabhängigen Versuche (hier das Aufdecken einer Karte), die benötigt werden, bis zum ersten Erfolg (hier das Erscheinen des ersten Asses). Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Karte ein Ass ist, beträgt 4/52, da es 4 Asse in einem Stapel von 52 Karten gibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die erste Asskarte bei der ersten Karte erscheint, ist daher 4/52. Die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Ass bei der zweiten Karte erscheint, ist (48/52) * (4/52) (d.h., die Wahrscheinlichkeit, dass die erste Karte keine Asskarte ist, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, dass die zweite Karte eine Asskarte ist). Allgemein beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Ass bei der k-ten Karte erscheint: P(ass bei der k-ten Karte) = (48/52)^(k-1) * (4/52)

Fehler: Die Wahrscheinlichkeit, dass die k-te Karte ein Ass ist, unter der Vorbedingung, dass bis dahin kein Ass vorkam, lässt sich nicht durch ein einfaches Potenzgesetz darstellen.

Die erwartete Anzahl von Karten, die aufgedeckt werden müssen, bis das erste Ass erscheint, ist das sogenannte „Erwartungswert“ und wird wie folgt berechnet: E(X) = Σ [k * P(ass bei der k-ten Karte)], wobei die Summe über alle möglichen Werte von k (1 bis unendlich) läuft.

Fehler: Es sind nicht unendlich viele Positionen für das erste Ass möglich, sondern nur 1, 2, 3, … ,49. Die Summenformel für endlose geometrische Progression ist nicht anwendbar.

E(X) = Σ [k * (48/52)^(k-1) * (4/52)] Glücklicherweise existiert eine Formel, um den Erwartungswert der geometrischen Verteilung zu berechnen: E(X) = 1 / P(ass bei der 1. Karte) E(X) = 1 / (4/52) = 13 Also muss man im Mittel 13 Karten aufdecken, bis das erste Ass erscheint.

Nach Korrektur der Vorbedingung und bei Berücksichtigung der Endlichkeit der Summe kommt man mit einem Tabellenkalkulationsprogramm auf den richtigen Wert: 10,6.

Zweiter Lösungsversuch ChatGPT (GPT-3.5)

Um die durchschnittliche Anzahl der aufgedeckten Karten zu berechnen, bis das erste Ass erscheint, müssen wir den Erwartungswert verwenden. Bevor wir fortfahren, lassen Sie mich Ihnen eine wichtige Eigenschaft erklären: Die Wahrscheinlichkeit, dass die erste Karte ein Ass ist, beträgt 4/52, da es insgesamt 4 Asse und 52 Karten im Stapel gibt. Nun, wenn die erste Karte kein Ass ist (was mit einer Wahrscheinlichkeit von 48/52 passiert, da es 48 Karten gibt, die keine Asse sind), dann wiederholen wir den gleichen Prozess mit den restlichen Karten, jedoch mit einer Karte weniger im Stapel (nur noch 51 Karten, da die erste Karte aus dem Spiel ist). Der Erwartungswert dafür ist jedoch um 1 erhöht, da wir bereits eine Karte aufgedeckt haben. Lassen Sie uns das oben Gesagte mathematisch darstellen: E(X) = (48/52) * (E(X) + 1) + (4/52) * 1

Das E(X) auf der linken Seite der Gleichung ist ein anderes als das in der runden Klammer. Ich habe keine Idee, wie man diesen Ansatz zum Funktionieren bringen könnte.

Jetzt lösen wir nach E(X) (dem erwarteten Wert) auf: E(X) = (48/52) * E(X) + 48/52 + 4/52 E(X) – (48/52) * E(X) = 52/52 (1 – 48/52) * E(X) = 1 (4/52) * E(X) = 1 E(X) = 1 / (4/52) E(X) = 13 Also muss man im Durchschnitt 13 Karten aufdecken, bis das erste Ass erscheint.

Ein falsches Ergebnis, wie zu erwarten war.

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Wo liegen die Grenzen der künstlichen Intelligenz?

Wenn wir die künstliche Intelligenz messen wollen, dann sind wir zurückgeworfen auf die menschliche Intelligenz. Diese wird durch den Intelligenzquotienten nur unzureichend abgebildet.

Der Maßstab

Ich wähle einen anderen Maßstab. Ich frage danach, wie es mit dem Aufgabenlösen, dem Problemenlösen und dem Erfinden steht. Das ist eine grobe Skala, geordnet nach steigendem Anspruch.

Bei einer Aufgabe sind das Ziel und auch die Mittel zur Erreichung dieses Ziels bekannt. Beispiel: Aus einem 8-Liter-Krug voller Wein sind 4 Liter abzufüllen. Verfügbar sind aber zusätzlich nur ein 3-Liter-Krug und ein 5-Liter-Krug.

Auch bei einem Problem kennen wir das Ziel. Aber es gibt Hindernisse auf dem Weg zum Ziel. Beispiel: Ein gut durchmischter Kartenstapel mit 52 Karten und vier Assen wird nacheinander Karte für Karte aufgedeckt. Wie viele Karten muss man im Mittel aufdecken, bis das erste Ass kommt?

Eine Erfindung tritt schlagartig ins Bewusstsein, gefolgt von der Entdeckung, welches Problem dadurch gelöst wird. Beispiel: Telefon. Gray und Bell haben rein zufällig die Lösung für ein Problem gefunden, das sie eigentlich gar nicht hatten.

Das Belohnungssystem

Aufgaben und Probleme erzeugen Spannung. Der Lösungsprozess ist mühsam und anstrengend. Was bewegt uns dazu diese Mühsal auf uns zu nehmen? Dahinter steckt unser körpereigenes Belohnungssystem. Je größer die Anstrengungen waren, umso größer ist die Belohnung: Der Heureka-Moment geht mit der Ausschüttung von Glückshormonen einher. Und je größer die Mühsal war, desto größer ist schließlich das Glücksgefühl.

Beim Erfinden scheint dieses Belohnungssystem zu versagen. Als Elisha Gray erkannte, dass er mit seinen Apparaturen telefonieren kann, hat das den Profi zunächst nicht weiter interessiert. Er war ja auf der Suche nach dem Mehrfachtelegrafen, genauso wie Alexander Graham Bell. Dieselbe Beobachtung veranlasste den Spracherlehrer und Hobbyerfinder Bell, die Sache intensiv weiter zu verfolgen. So gewann er das Wettrennen um das Telefonpatent.

Viele Erfindungen haben eine Vorgeschichte, in der irgendetwas schief gelaufen ist. Gern zitiertes Beispiel ist die Entdeckung des Penicillins. Das nenne ich die schöpferische Kraft des Fehlers.

Was versprechen die Vorreiter der künstlichen Intelligenz?

Ich beginne mit einer Selbstauskunft von ChatGPT, dem neuesten Schrei auf dem Gebiet der KI:

Als künstliche Intelligenz hat ChatGPT mehrere bemerkenswerte schöpferische Leistungen erbracht…
Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass ChatGPT eine künstliche Intelligenz ist und seine kreativen Leistungen auf der Verarbeitung großer Datenmengen und statistischer Muster basieren. Obwohl seine Texte oft beeindruckend kreativ erscheinen können, fehlt ihm das eigentliche Verständnis oder Bewusstsein, das bei menschlicher Kreativität vorhanden ist. Die Ergebnisse können daher manchmal unvorhersehbar oder inkonsistent sein.

Vor etwa 20 Jahren war noch mehr Zuversicht zu spüren. Der große Moment, in dem die Maschinen den Menschen an Intelligenz überflügeln und die kulturelle Evolution übernehmen, Singularität genannt, wurde für 2023, also für heute vorhergesagt. Zu merken ist davon nichts. Die Erwartungen sind erneut in die Zukunft verschoben.

Werden die lernenden Maschinen den Durchbruch bringen? Was den Stand der Dinge angeht, orientiere ich mich am Buch The Master Algorithm von Pedro Domingos.

Maschinelles Lernen

Beim maschinellen Lernen unterscheidet Domingos fünf Schulen:

1. Die Symbolisten testen viele Lösungsansätze mit rein logischen Mitteln auf Tauglichkeit. Typische Anwendung: Toxische Molekülstrukturen lassen auf unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten schließen.

2. Die Konnektionisten arbeiten mit neuronalen Netzen. In der Trainingsphase werden deren Verknüpfungsparameter mittels Versuch-und-Irrtum oder Backpropagation solange variiert, bis das Netz das gewünschte Verhalten zeigt. Typische Anwendung: Mustererkennung.

3. Die Evolutionisten lassen verschiedene Lösungsvorschläge miteinander konkurrieren. Wer dem vorgegebenen Ziel näher kommt als andere, der überlebt im Selektionsprozesss. Durch Mutationen und Crossing-Over werden immer neue Lösungsvarianten erzeugt. Typische Anwendung: Spamfilter.

4. Die Bayesianer reduzieren die Ungewissheit über einen Sachverhalt, indem sie Schritt für Schritt weitere Erkenntnisse einbeziehen. Das gelingt mit der Formel von Bayes. Typische Anwendung: medizinische Diagnosen.

5. Die Analogisierer suchen nach Ähnlichkeiten zwischen Situationen. Daraus schließen Sie, dass ihnen dieselbe Ursache zugrunde liegen könne.

6 ChatGPT lässt sich, soweit ich sehen kann, keiner der fünf Schulen zuordnen. Der Name sagt, womit wir es zu tun haben: Generative vortrainierte Transformatoren. Auf der Basis eines riesigen Textkorpus werden in der Trainingsphase statistische Zusammenhänge für Satzbestandteile ermittelt. Auf Basis dieser Statistik erstellt das Programm themenbezogene Texte, die wie von Menschen gemacht und urheberrechtlich relevant erscheinen.

Was der KI (noch) fehlt

Die Systeme der Schulen 1 bis 5 lernen alle unter der Bedingung strikter Zielvorgaben. Vielleicht befähigt sie das dazu, Aufgaben und Probleme zu lösen. Der Mensch kann mehr: Entdecken und Erfinden des vollständig Neuen.

Die Texte von ChatGPT mögen neu sein, aber sie bewegen sich vollständig im Rahmen des vorab erfassten Textkorpus. Auf diese Weise können völlig neue Ideen nicht entstehen.

Fazit: Die KI ist zu bewunderungswürdigen Intelligenzleistungen fähig. Aber letztlich bleibt das maschinelle Denken in der vom Programmierer vorgegebenen Box. Erfindungen bringt es nicht zustande. Genau dort liegt derzeit die Grenze der KI. Was die Zukunft bringt: Wer weiß das schon?

Wie weiter?

Die großartigen Leistungen heutiger KI-Systeme und das hohe Entwicklungstempo lassen zukünftig wohl noch mehr übermenschliche Intelligenzleistungen erwarten. (Bereits Zuses Computer konnte 1941 schneller addieren und multiplizieren als jeder Mensch.) Jedoch: Die Singularität, also der Zeitpunkt, an dem die Maschine den Menschen an Intelligenz überflügeln und die kulturelle Evolution übernehmen, ist vermutlich noch eine Weile hin.

Mathematik, Physik und Chemie vom Lehrplan zu streichen, ist jedenfalls keine gute Idee, auch wenn Computer viele Arbeiten auf diesen Gebieten viel effizienter erledigen als der Mensch. Das Erfinden scheint auch in naher Zukunft nicht in den Kompetenzbereich der KI zu fallen. Für die richtige Einordnung einer Entdeckung benötigt der Mensch viel Wissen und die Fähigkeit, auch verdeckte
Analogien zu erkennen.

Übrigens: Man muss im Mittel 10,6 (53/5) Karten aufdecken, bis das erste Ass erscheint und nicht etwa 13 (52/4), wie Chat GPT am 26.7.23 behauptet hat. Die Antwort auf das Weinabfüllrätsel beginnt die Quasselstrippe so:

Schritt 1: Den 8-Liter-Krug mit Wein füllen. Schritt 2: Den Wein aus dem 8-Liter-Krug in den 5-Liter-Krug umfüllen (5 Liter verbleiben im 8-Liter-Krug)…

Als Spaß kann das gerade noch durchgehen.

Literaturhinweise

Pedro Domingos: The Master Algorithm. 2015

Timm Grams: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. 2016/2020

Zbigniew & Matthew Michalewicz: Puzzle-Based Learning. An introduction to critical thinking, mathematics, and problem solving. 2008

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Zufrieden leben im dummen Schwarm

Sie will einen Rock kaufen, in einem der großen Kaufhäuser Mannheims. Da hängt ein Rock, und noch ein Rock, und noch einer, und noch einer; es scheint nicht aufzuhören. Die Auswahl ist riesengroß. Wer Fulda und Schlitz gewöhnt ist, den kann hier schon der Mut verlassen. Der durch den Großstadtbetrieb konditionierte Mensch kann es vielleicht nicht verstehen: sie kapituliert und verzichtet auf den Rock.

Denken tut weh

Entscheiden in einer vielfältigen Welt ist anstrengend. Dem großstädtischen Wohlstandsbürger fällt es vielleicht nicht mehr auf, denn er ist ja trainiert und die Anforderungen gewohnt. Das Erlebnis in Mannheim führt mir aber schlagartig vor Augen, was wir uns eigentlich antun, um eine hochdrehende konkurrenzgetriebene Wirtschaft am Laufen zu halten.

Wir haben uns in der Demokratie eingerichtet und fühlen uns wohl dabei. Es erscheint unvorstellbar, dass es sich in Gesellschaften mit weniger individuellen Freiheiten glücklich leben lässt. Das üppige Konsumangebot und das ständige Wachstum haben ihren Preis, wie am verhinderten Rockkauf zu sehen ist.

Ratlosigkeit im Supermarkt: ca 10 Sorten Butter, eine eher noch größere Vielfalt beim Joghurt, von den Obstsäfte und Biersorten gar nicht erst zu reden. Wir sind auf diese scheinbare Fülle konditioniert und kommen im Alltag ganz gut damit zurecht. Aber wehe, wir weichen von der Alltagsroutine ab, dann wird es anstrengend. Will man ausnahmsweise einmal keinen Hartkäse sondern Camembert, wird die Vielfalt zur Belastung.

Wir, die wir uns in demokratischen Gesellschaften behaglich eingerichtet haben, können uns nicht vorstellen, dass es Leute gibt, die totalitäre oder autokratische Systeme bevorzugen. Die aber gibt es augenscheinlich. Ist es etwa nicht gut, wenn einem jemand Entscheidungen und die Verantwortung dafür abnimmt?

Die Rolle der Erziehung

Ich habe meine Kindheit in der DDR erlebt. Gelernt haben wir, das Gemeinschaftseigentum hoch zu schätzen. Ich fühlte mich als Miteigentümer der Straßen und Häuser und auch des Landheims. Das war ein gutes Gefühl. Ich fand es schön, in der Gemeinschaft aufgehoben zu sein.

Dann erwachte mein Eigensinn. Durch die Verwandtschaft im Westen kam der Blick auf die dort verfügbaren Güter. Das Ideal der Gemeinschaft wurde in meinem Kopf durch die mangelhafte sozialistische Praxis verdrängt. Aber in Erinnerung bleibt dennoch, dass das Gemeinschaftsdenken gegenüber dem Individualismus sehr attraktiv sein kann.

Dumme Schwärme

Denkfaulheit, Entscheidungs- und Verantwortungsscheu sind gut für Autokratien.

Im Artikel über über den Schwarm habe ich den kühnen und unbelegten Verdacht geäußert, dass auch die Schwarmbildung im Tierreich unter anderem an der „Denkfaulheit“ liegen könnte.

Wir bleiben bei den menschlichen Gesellschaften.

Buch und Film Fahrenheit 451
handeln von einer mit Hilfe von Reality Shows und Mitmachfernsehen paralysierten Gesellschaft. Die Leute hocken dämlich aber glücklich vor ihren Bildschirmen – eine Dystopie, die ich nach einigem Überlegen gar nicht mehr so schwarzseherisch fand. Ich fragte mich: Was ist denn an einer bücherlosen Welt so schlimm, wenn die Menschen vor ihren Bildschirmen glücklich sind? Nach weiterem Überlegen fand ich dann heraus, dass es doch schlimm ist. Zwischenzeitlich habe ich etwas von der Verführungskraft der Autokratie erfahren. Populismus und die identitären Bewegungen in den USA, in Frankreich bei uns in Deutschland, in der Türkei, in Polen, in Ungarn lassen sich nicht leicht abtun. Es ist eben bequem, das Denken, die Entscheidungen und die Verantwortung anderen zu überlassen.

Die Russen und die Freiheit

Ob wir wollen oder nicht: jeder von uns sieht sich gezwungen, die ungeheuerlichen Ereignisse in der Ukraine irgendwie einzuordnen. Vielleicht hat die Zustimmung des russischen Volkes zum Putinregime und zum Krieg in der Ukraine tatsächlich etwas mit Schwarmverhalten zu tun. Der Spiegel schreibt: Den Russen hat Freiheit immer Angst gemacht (Der Spiegel, 28/8.7.2023).

Im Interview sagt der Philosoph Alexander Zipko:

Die Russen haben die niedrigste Form der Selbstorganisation in Europa. Freiheit mag anziehend sein, macht aber auch Angst. Dem russischen Menschen hat sie immer Angst gemacht. In der Demokratie geht es um Wahlmöglichkeiten, um Alternativen, um den Wettbewerb von Ideen. Das Schrecklichste für einen Russen ist, nach Alternativen zu suchen.

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Wertegeleitete Außenpolitik

Die UN-Menschenrechtserklärung ist ein Produkt der westlichen Aufklärung. Im ersten Artikel heißt es:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

Die Individualität ist das erste Element unserer Gesellschaft. Das ist das Fundament der abendländischen Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert.

Um das Zusammenleben mit anderen Menschen und den Interessenausgleich zu organisieren, ist die Demokratie die beste politische Lebensform. Diese Auffassung vertritt Volker Gerhardt im DLF-Gespräch. Dabei bezieht er sich nicht nur auf die Bürger der westlichen Welt, die diese Organisationsform mehrheitlich akzeptieren, wie die Wahlbeteiligungen zeigen. Er greift weit darüber hinaus und meint, dass die Demokratie die einzige angemessene politische Organisation der Menschheit sei, also auch für die Menschen, die diese politische Lebensform noch nicht übernommen haben.

Der Ausbreitungsprozess der Demokratie geht von der individuellen Existenz aus und wird, so Gerhardt, bei der gesamten Menschheit enden, das sei die „Entgrenzung der Demokratie“. Ich habe da so meine Zweifel: Dieser Ausbreitungsprozess hat noch nicht einmal die Hälfte der Menschheit erfasst, er ist ins Stocken geraten und zur Zeit sogar rückläufig.

Die aktuelle Lage in Mali zeigt, wie weit Wollen und Vermögen auseinanderklaffen. Es ist wieder einmal eine UN-Mission im Namen der Menschenrechte gescheitert. Wenn man sich fragt, warum der Westen sich hier so ins Zeug gelegt hat, fallen die großen Rohstoffvorkommen und die im Gegensatz dazu bettelarme Bevölkerung auf.

Was den Skeptiker stört, ist die Auffassung, dass wir im Westen das allein richtige Wertesystem haben. Ich kann mir denken, dass einige der Kriege auf dieser Erde auf diese Überleblichkeit zurückzuführen sind und dass diese Anmaßung dazu dient, wirtschaftliche Interessen zu kaschieren.

Annalena Baerbock vertritt eine wertegeleitete Außenpolitik. Ich halte das für verhängnisvoll. Das heißt nichts anderes, als dass das Programm, von dem Volker Gerhardt nur spricht und schreibt, in praktische Politik umgesetzt wird: Missionierung oder gar Bekämpfung der Andersdenkenden. Die europäische Aufklärung wird zum Maß des Guten für alle Menschen.

Das Miteinander der Nationen wird dadurch nicht leichter. Über nationale Interessen kann man verhandeln, über Werte nicht. Es ist kein Wunder, dass sich unsere Außenministerin in China einen Rüffel abholte. Ihr Amtskollege Qin Gang entgegnete ihren offenen Worten zum Thema Menschenrechte so: „Was China am wenigsten braucht, sind Lehrmeister aus dem Westen.“

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Rassismus und Gendersprech

Denkfallen aufspüren, das ist mein Ding. Besonders aufregend finde ich Paradoxien. Schön, wenn sie mir selbst auffallen und ich nicht durch andere draufgestupst werden muss.

Es ist paradox: Der Antirassismus fördert den Rassismus.

Erstes Erlebnis:
Heute beim türkischen Italiener mit dem vielleicht besten Eis der Stadt. Ein dunkelhäutiges Paar mit zwei sehr lauten Kindern kauft Eis für die Straße und nimmt Platz. Ich will einen von einem Freund empfohlenen Vortrag mit dem Handy hören, über Kopfhörer. Es ist unmöglich, wegen der lärmenden Kinder. Die Wirtin wird ungedudig. Jede weiße Familie wäre längst rausgeflogen. Schließlich wagt sie es doch, darauf hinzuweisen, dass die Sitzgelegenheiten für Gäste sind, die bedient werden wollen. Der Dunkelhäutige begehrt auf. Abgesehen davon, dass es nicht meine Aufgabe ist, hätte ein Einschreiten meinerseits locker als Rassismus durchgehen können. So wird der Kampf gegen den Rassismus zu Rassismus.

Zweites Erlebnis:
Im Blog Menschenbilder von Stefan Schleim werde ich als Rassist beschimpft, nur weil ich den Buddhismus im Zusammenhang mit dem Thema Das fünfte Welträtsel: Bewusstsein nicht erwähnt habe. Das ist eine für den Rassismus typische Stereotypisierung.

Herr Prof Grams macht mit seiner Esoterik-/Querdenker-Zielsetzung nicht nur das wissenschaftliche Denken lächerlich. Man muss ihm zusätzlich auch noch kulturellen ´Rassismus´ vorwerfen (mir fällt kein besserer Begriff ein). […] Weil Herr Prof. Grams mit keinem einzigen Wort auf diese gut bekannte Sichtweise des Buddhismus eingeht – wird das kulturelle Wissen der Buddhisten vorsätzlich ignoriert. Denn es sollte sich mittlerweile sogar bis Fulda herumgesprochen haben, dass es die buddhistische Philosophie gibt – und was da gelehrt wird.

Drittes Erlebnis:
Eine neue Form des Rassismus kommt gerade aus jener Ecke, in der man den Rassismus klassischer Prägung vehement ablehnt. Gendern ist dort angesagt. Nehmen wir als Beispiel die Doppelnennungen wie Besucher und Besucherinnen. Sie rücken das biologische Geschlecht in den Vordergrund. Der Nebeneffekt ist Ausgrenzung. Ein Freund schreibt mir:

Binär und non-binär existieren wohl annäherungsweise in einem Verhältnis von 90 zu 10. In der Ethnologie eigentlich längst bekannt. Transmenschen als Angehörige der Gruppe der: Hijra u.a. Drittes Geschlecht in Indien seit 2014 anerkannt. Was ist daran so schwer, dies auch in der Sprache zu respektieren?

Beim eigentlich verpönten generischen Maskulinum (Besucher) und beim geschlechterübergreifenden Femininum (Koryphäe) spielt das biologische Geschlecht keine Rolle. Wer beim generischen Maskulinum und beim geschlechterübergreifenden Femininum bleibt, der hat diese Probleme der Ausgrenzung nicht.

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