Aufklärung paradox

Paradoxien sind für Paul Watzlawick Quellen der Erkenntnis. Ein prägnantes Beispiel ist die Aufforderung „Sei spontan“. Paradoxien sind alltäglich.

Wohlwollende Menschen mit guter Erziehung und Mitgefühl hat man gerne zum Freund. Sie beeindrucken mit ihrem Einsatz für die Menschenrechte und gegen den Rassismus. Alle Menschen sollen frei und glücklich leben können. Das wird zumindest den US-Bürgern durch die Verfassung versprochen. Gemeint ist jeder Einzelne, das Individuum also.

Dieser westliche Individualismus war ein Erfolgsrezept. Es hat für Wohlstand gesorgt – für üppigen bei wenigen und für bescheidenen bei vielen. Die Wohlmeinenden sind von dem Wunsch getrieben, diese Wohltaten der ganzen Welt zukommen zu lassen, indem sie den Menschenrechten universale Geltung zumessen. Ziemlich unerwartet verkehren sich die hehren Absichten ins genaue Gegenteil. Wie das?

Zwei Beweggründe kann ich ausmachen. Der erste ist vernünftig, der zweite gefühlsbedingt. Im ersten Fall liegt es an einer scheiternden Universalisierung der Regeln des Zuammenlebens und im zweiten an den Eigenheiten eines jeden. Das werde ich noch erläutern. Eine Vorbereitung brauche ich noch.

Sein und Denken

Wir leben in einer Zeit, in der der Glaube verbreitet ist, dass man nur das Denken und die Sprachen ändern müsse, um zu einer besseren Gesellschaft zu kommen. Sicht- und hörbaren Ausdruck findet dieser Trend im Gendern. Die Bedeutung des wohlmeinenden Denkens wollte mir ein Freund mit dem folgenden Zitat vor Augen führen (Tschingis Aitmatow):

Das Niveau der geistigen und sittlichen Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft sollte stets ein wenig höher sein als das Niveau des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.

Ich versuche, dem Satz Sinn abzuringen. Vielleicht meint der Autor, dass die geistige Entwicklung der technischen immer ein wenig voraus sein sollte, so dass erstere die letztere kontrolliert. Karl Marx sieht das wohl eher andersherum: Auf der realen Basis der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung erhebt sich der geistige und administrative Überbau.

Da habe ich Anschauungsmaterial zu bieten. Acht Jahre lang war ich Angestellter eines KKW-Herstellers und habe nachgedacht: Nach dem Krieg und nach dem Atombombenabwurf gab es den Ruf nach einer friedlichen Nutzung der Kernenergie. Diese versprach eine lange dauernde und saubere Energieversorgung. Es war moralisch geboten, auf diese Karte zu setzen. Die politischen Parteien stimmten zu. Mit der Zeit wurden die Probleme sichtbar: Die Sicherheit (mein Arbeitsgebiet) erschien zunehmend fraglich. Die Frage, wohin mit den Abfällen, wurde immer dringlicher; sie ist noch heute unbeantwortet. Dass Frankreich seinen Atomstoff aus Niger und prospektiv aus Mali bezieht, dürfte inzwischen jedem als eine der Ursachen der Misere in der Sahelzone aufgefallen sein. Fazit: Die moralische Aufbereitung folgt den Geschehnissen – bestenfalls und eher zögerlich.

Kommunistische Führer maßen den Intellektuellen eine Avantgardefunktion zu und die Neue Rechte glaubt an die Gestaltungskraft einer großen umfassenden Idee. Vom Leninismus und Stalinismus wissen wir, dass das nicht klappt.

Also Vorsicht mit den großen und universalen Ideen zur Fortentwicklung der Gesellschaft. Der zitierte Satz von Aitmatow klingt gut, hat aber kaum Substanz.

Alles ist Zahl

Die Aufklärung hat uns die moderne Wissenschaft gebracht und die Illusion, dass alles messbar und berechenbar ist. Die Zahlen haben universelle Gültigkeit und verleihen Herrschaft über Dinge und Menschen. Insofern knüpft die Moderne an die Mythologie der antiken Pythagoräer an, die meinten, alles sei Zahl. Max Horkheimer erklärt den „Begriff der Aufklärung“ so (Dialektik der Aufklärung, 1969/1988, Seite 32):

Die Entfernung des Denkens von dem Geschäft, das Tatsächliche zuzurichten, das Heraustreten aus dem Bannkreis des Daseins, gilt der szientifischen Gesinnung ebenso als Wahnsinn und Selbstvernichtung, wie dem primitiven Zauberer des Heraustreten aus dem magischen Kreis, den er für die Beschwörung gezogen hat

.
Der Anspruch der universellen Gültigkeit erstreckt sich auch auf die Regeln des Zusammenlebens. Die Rede von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte begleitet die Missionstätigkeit des Westens, die den Boden bereitet für die Herrschaft des Kapitals. Dieser Zusammenhang wird derzeit sichtbar, weil sich der globale Süden gegen die Bevormundung durch die westliche Welt wehrt. Paul Kagame, Präsident von Ruanda:

Afrika braucht keine Babysitter. Je weniger sich die Welt um Afrika kümmert, umso besser geht es Afrika.

Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen gibt es Rassismus. Das ist die rationale Seite des Paradoxons.

Überempfindlichkeit

Beim Auswringen von Wäsche kriege ich eine Gänsehaut. Von anderen höre ich, dass sie das Kratzen von Messern auf einem Topfboden kaum aushalten können. Viele Leute, die ich kenne, haben ein Geräusch, das sie nervt. Das sind Beispiele für Überempfindlichkeit (Idiosynkrasie). Ich erkläre mir diese Eigenheiten so: Diese Geräusche erfährt das Baby immer genau dann, wenn es die Mutter vermisst. Die hat ja offenbar gerade etwas anderes zu tun. Möglicherweise ist das Erlebnis so intensiv, dass es im Gefühlsleben hängen bleibt. In der fünften These der „Elemente des Antisemitismus“ aus dem Buch „Dialektik der Aufklärung“, geschrieben vermutlich von Leo Löwenthal, finde ich Folgendes:

»Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiss das nicht so leicht« sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkasie.

Wenn ein wohlmeinender Verfechter der Menschenrechte die Regeln und Gepflogenheiten des Islam abscheulich, zum Kotzen oder widerlich findet, dann ähnelt das den Idiosynkrasien von Rassisten und Antisemiten. Das ist die emotionale Seite des Aufklärungsparadoxons. Weiterlesen

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Ein Skeptikerverein – geht das?

Wenn man die Geschichte des Skeptizismus betrachtet, fragt man sich, ob es so etwas wie einen Skeptikerverein wirklich braucht. Der Skeptiker ist eigentlich kein Rudeltier. Auf der anderen Seite ist es sicherlich eine feine Sache, sich unter Skeptikern auszutauschen und das kritische Denken zu popularisieren. Die diesbezüglichen Formate der GWUP habe ich immer geschätzt. Schade, dass das aufgrund des aktuellen Zoffs in Gefahr ist. Das Problem sind die ideologischen Kämpfe im Hintergrund, die für das Publikum im Grunde keine Rolle spielen.

Wurzel des Übels

Der momentane Zoff ist bereits in der alten GWUP angelegt und hat seine Wurzeln im „angelsächsischen Denken“: Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit des Individuums sind universelle Werte, denen alle Menschen folgen sollen – dann ist das „Ende der Geschichte“ da und Frieden überall.

In der Wissenschaft hat dieser Universalitätsanspruch Ausdruck gefunden im kritischen Rationalismus des Karl Raimund Popper, der Ideen von John Locke und David Hume aufgreift. Das war ein sehr erfolgreiches Programm infolge der Aufklärung, die der Naturwissenschaft einen atemberaubenden Triumphzug beschert hat.

Das, was ich die „alte GWUP“ nenne, hat den Fortschrittsglauben der Aufklärung verinnerlicht und ideologisch vertieft.

Der Frieden der Welt ist fern wie eh und je und gesellschaftliche Probleme verweigern sich dem kritisch-rationalen Zugriff. So kam, was kommen musste: Alternative Denkrichtungen verschafften sich Gehör, insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Im letzten Artikel habe ich eine der kritischen Studien besprochen: White Fragility von Robin DiAngelo.

Positionen

Die aktuellen Spannungen in dem Verein finden Ausdruck in zwei Briefen: Erstens im Austrittsschreiben von Florian Aigner und zweitens in der darauffolgenden Replik von Ulrich Berger.

Aigner beklagt die

Auseinandersetzung zwischen den gesellschaftspolitischen Strömungen „woke“ und „anti-woke“. Plötzlich wurde nicht mehr über naturwissenschaftliche Fakten diskutiert, sondern über Identitätspolitik, über postmoderne Philosophie, über Gendersprache und Cancel Culture.

Er findet es unpassend, dass sich der Verein in solchen Fragen positioniert.

Innerhalb der GWUP gab es die Forderung, den gesamten Bereich der „Critical Studies“ (ein weites Feld, von Gender-Studies bis hin zu Critical Race Theory) als Pseudowissenschaft zu deklarieren und den Einsatz dagegen als Teil der Vereinsarbeit zu sehen

Aigner findet es zwar wichtig, solche Fragen im Spannungsfeld von „Wokeness“ und „Anti-Wokeness“ zu diskutieren, jedoch nicht in der GWUP. Er schreibt:

In der Skeptikerbewegung geht es um Rationalität und Aufklärung, um Fragen, die man mit naturwissenschaftlichen Methoden klar beantworten kann.

Das ist ein Plädoyer für die fortgesetzte Engführung des Vereins, eine ideologische Fixierung, wie ich meine. Berger hält dagegen:

Nein, es ging niemals nur um solche Fragen. Das wäre eine radikale, willkürliche und unnötige Einschränkung. Vor 15 Jahren schon gab es z.B. im Skeptiker eine Diskussion darüber, ob die Volkswirtschaftslehre eine Pseudowissenschaft sei

Den hier angesprochenen Disput zwischen Mario Bunge (kontra VWL) und Ulrich Berger (pro) fand ich sehr interessant. Er erschien im skeptiker-Heft übrigens unmittelbar hinter meinem ersten Auftritt in dieser Zeitung: Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution (skeptiker 2/2009).

Besinnung auf den klassischen Skeptizismus

Den Skeptiker zeichnet ja aus, dass er keine Begründung braucht, anders als der Ideologe und der Philosoph. Dass bereits die alten Griechen eine Philosophie aus dem Skeptizismus gemacht haben, interessiert hier nicht weiter. Ich halte mich an die Basics für Skeptiker. Diese reichen für das Programm eines Skeptikervereins aus. Mit diesem Instrumentarium kann man sich kritisch alle möglichen Aussagesysteme vornehmen, sogar deren Überbau wie den Kritischen Rationalismus und die Kritische Theorie.

Ulrich Bergers Standpunkt halte ich für zukunftsweisend. Wenn der vereinsorganisierte Skeptizismus in Deutschland überhaupt eine Chance haben soll, dann so: Ohne Ideologie, ohne ontologische Festlegungen, offen für den gepflegten Streit über alles, was die Menschen interessiert, der Kritik zugänglich ist und nicht schon anderweitig gründlich beackert wird. (Damit sind Religionen, einige Weltanschauungen und die Politik schon draußen.)

So könnte es gehen.

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Rasse, Wissenschaft, Rassismus

Am 30. Juni 2021 schrieb ich:

Mit Abschaffung des Begriffs der Rasse verschwindet der Rassismus leider nicht.

Das kann ich jetzt präzisieren, und zwar mit Hilfe eines Buches von Robin DiAngelo: White Fragility (2018). Über dieses Buch meint Martin Mahner, es sei Antiwissenschaft. Für mich ist das Buch zwar keine Wissenschaft im Sinne des kritischen Rationalismus, aber es enthält einige bemerkenswerte Aussagen und Denkansätze. Der Denkrahmen ist hier eben nicht gegeben durch die Naturwissenschaften, die Biologie und ihre Taxonomien, sondern durch die »Totalität« (Adorno) der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Robin DiAngelo schreibt (S. 41 f.):

One line of [Martin Luther] King’s speech in particular – that one day he might be judged by the content of his character and not the color of his skin – was seized upon by the white public because the words were seen to provide a simple and immediate solution to racial tensions: pretend that we don’t see race, and racism will end. Color blindness was now promoted as the remedy for racism, with white people insisting that they didn’t see race or, if they did, that it had no meaning to them. […] While the idea of color blindness may have started out as well-intentioned strategy for interrupting racism, in practice it has served to deny the reality of racism and thus hold it in place.

(Eine Zeile von [Martin Luther] Kings Rede – dass er eines Tages nach dem Inhalt seines Charakters und nicht nach seiner Hautfarbe beurteilt werde möge – wurde von der weißen Öffentlichkeit aufgegriffen, weil sie eine einfache und unmittelbare Lösung für die rassischen Spannungen bieten würde: Tun wir so, als ob wir die Rasse nicht sehen, und der Rassismus wird aufhören. Farbenblindheit wurde nun als Heilmittel gegen Rassismus propagiert, wobei die Weißen darauf bestanden, dass sie die Rasse nicht sahen oder, wenn sie sie doch sahen, dass sie keine Bedeutung für sie hatte. […] Während die Idee der Farbenblindheit vielleicht als gut gemeinte Strategie zur Überwindung des Rassismus begann, hat sie in der Praxis dazu gedient, die Realität des Rassismus zu leugnen und ihn somit aufrechtzuerhalten.)

Wenn Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, sagt, der im Grundgesetz genutzte Begriff »Rasse« solle unbedingt darin erhalten bleiben, der Begriff erinnere an die deutsche Geschichte, vor allem

an die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen, in erster Linie Jüdinnen und Juden; an die Schrecken der Schoa,

dann verstehe ich ihn so, dass er Rasse als Konstruktion im Rahmen sozialer und struktureller Gegebenheiten sieht und weniger als Gegenstand biologischer Klassifizierung.

Robin DiAngelo bezieht ihre Motivation aus den US-amerikanischen Verhältnissen. Sie benennt aber auch die Ursachen, und da kommt sie auf das westliche Wertesystem zu sprechen, auf das sich die Politiker angesichts der Krisen in der Ukraine und Gaza gerne berufen. Die Wurzel des Übels Rassismus liegt für sie im fraglos akzeptierten Denkrahmen (S. 9):

We make sense of perceptions and experiences through our particular cultural lens. This lens is neither universal nor objective, and without it, a person could not function in any human society. But exploring these cultural frameworks can be particularly challenging in Western culture precisely because of two key Western ideologies: individualism and objectivity.

(Wahrnehmungen und Erfahrungen gehen durch unsere besondere kulturelle Brille. Dieser Blick ist weder universell noch objektiv, und ohne ihn könnte der Mensch in der menschlichen Gesellschaft nicht funktionieren. Die Erforschung dieses kulturellen Rahmens kann jedoch in der westlichen Kultur eine besondere Herausforderung darstellen, und zwar gerade wegen der beiden wichtigsten westlichen Ideologien: Individualismus und Objektivität.)

Über Kulturen und Wertesystemen wurde in diesem Hoppla!-Blog bereits mehrfach diskutiert, unter anderem unter dem Titel Zeitenwende.

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Gendern hilft, weil Gendern hilft

Jetzt ist es wissenschaftlich erwiesen: Durch das generische Maskulinum wird ein männerlastiges Bild ausgelöst. Das ist das Ergebnis einer Studie des Würzburger Psychologieprofessors Fritz Strack. Ihn haben wir schon kennengelernt als Träger des Ig-Nobelpreises.

Diese Studie überzeugt mich nicht. Warum? Zwar wird von den meisten Deutschen das Gendern abgelehnt. Wir können aber von etwa zwanzig Prozent ausgehen, die dem Gendern positiv gegenüberstehen. Ich nehme an, dass dieser Prozentsatz auch für die Studienteilnehmer gilt.

Die Genderanhänger kann man zu den aufgeweckten Leuten rechnen (woke). Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Fragen der Studie bei ihnen ein Filter durchlaufen, das für eine Schieflage (Bias) des Studienergebnisse sorgt: Ist kein Hinweis zu finden, dass Nichtmänner mitgemeint sind, dann sind sie für den aufgeweckten Studienteilnehmer eben nicht mitgemeint.

Ich bringe dieses Beispiel, weil es sehr gut zu meinem vorhergehenden Artikel passt: Das Instrumentarium des Naturwissenschaftlers – messen und statistisch auswerten – ist ungeeignet, wenn sich das untersuchte Objekt nicht klar vom Beobachter trennen lässt.

Diese Studie fällt für mich in die Kategorie Statistikplunder, ein zentrales Thema dieses Hoppla-Blogs.

Um mich vor Angriffen der Wokies zu schützen, könnte ich jetzt behaupten, dass der Artikel ironisch gemeint sei. Das hilft leider nichts. Diese Behauptung könnte ja Ironie sein.

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GWUP: Am Ende des Wegs?

Die Skeptikerbewegung in Deutschland, namentlich die GWUP, befindet sich in einer Zerreißprobe, deren öffentlicher Widerhall unüberhörbar ist.

Bisher hat sich die Skeptikerbewegung in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit platten praktischen Dingen wie Homöopathie und Astrologie zur Schulung des kritischen Denkens und mit Verbraucheraufklärung befasst – weniger mit theoretischen Tiefenbohrungen.

Intern aber gab es eine Tiefenbohrung. Diese trat unter der Namen Ontologischer Naturalismus auf. Das führte nach 15 Jahren Mitgliedschaft und siebenjähriger Auseinandersetzung damit zu meinem Austritt aus der GWUP. Dieser Satz von Oscar Wilde fällt mir dazu ein: Those who go beneath the surface, do so at their peril. (Wer sich die Details antun will, der wird im Hoppla!-Blog unter dem Stichwort »Skeptikerbewegung« fündig.)

Der intern spürbare Fanatismus hat mich abgestoßen. Es ist kein Wunder, dass Fanatiker der einen Sorte die einer anderen anziehen. Wer den aktuellen Zwist verstehen will, der muss mehr als ein halbes Jahrhundert zurückgehen, in eine Zeit also, in der es die GWUP noch nicht gab.

Kritisches irgendwas

Gegenpole sind auf der einen Seite die Kritische Theorie, die ein Denksystem oder eine Gesellschaft von innen heraus analysiert und kritisiert und andererseits der Kritische Rationalismus, der versucht, einer vom Denken unabhängigen Realität mit Hilfe von Mathematik und Logik beizukommen. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Denkrichtungen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ist als Positivismusstreit in die Annalen eingegangen. Exponenten und prägende Figuren in diesem Streit waren auf Seite der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno und auf Seite des Kritischen Rationalismus Karl R. Popper.

Kurz gesagt: Für den einen ist der Denkrahmen vorgegeben durch den zu untersuchenden Bereich und für den anderen ist er unabhängig davon. Das sind die jeweiligen Prämissen.

Als Beleg für diese Differenzierung zitiere ich aus Adornos Einleitung zu Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969, 1989, S. 10):

Zu fragen wäre, ob eine bündige Disjunktion gilt zwischen der Erkenntnis und dem realen Lebensprozeß; ob nicht vielmehr die Erkenntnis zu jenem vermittelt sei, ja ob nicht ihre eigene Autonomie, durch welche sie gegenüber ihrer Genese sich produktiv verselbstständigt und objektiviert hat, ihrerseits aus ihrer gesellschaftlichen Funktion sich herleite; ob sie nicht einen Immanenzusammenhang bildet und gleichwohl ihrer Konstitution als solcher nach in einem sie umgreifenden Feld angesiedelt ist, das auch in ihr immanentes Gefüge hineinwirkt.

Gewitterwolken ziehen auf

Aufmerksam geworden bin ich auf den sich entwickelnden Konflikt durch einen Aufsatz von Martin Mahner im skeptiker, dem Vereinsblatt der GWUP, erschienen auch als Gastbeitrag im GWUP-Blog.

Dass der Aufsatz einen GWUP-internen Krach anzeigte, dessen wurde ich erst später über Internet-Medien gewahr, nämlich als bei der Neuwahl des Vorstands auf der letzten Mitgliederversammlung am 20. Mai 2023 nicht der vom scheidenden Vorsitzenden Amardeo Sarma vorgeschlagene Rouven Schäfer gewählt wurde, sondern Holm Hümmler. Von einem Handstreich ist die Rede.

Die beiden werden offenbar verschiedenen Fraktionen zugeordnet:

  • Schäfer der „alten GWUP“ (kritisch rational bis szientistisch, universell orientiert und Objektivität beanspruchend, anti-woke).
  • Hümmler der „neuen GWUP“ (der Critical Theory zugeneigt, partikularistisch und relativistisch, pro-woke).

Diese Sortierung ist in einer Reihe von Videos und Podcasts klar gemacht worden:

Austritte

Es häufen sich die Austritte, darunter Prominente wie Edzard Ernst (2.2.2024) und Florian Aigner (April 2024).

Ergänzung am 11.4.2024: Wie unversöhnliche es inzwischen zugeht, das zeigt ein offener Brief von Ulrich Berger, in dem er den Austritt Aigners kommentiert.

Rücktrittsforderung und Rücktritt

Offenbar können sich einige Leute, deren Herzensangelegenheit die GWUP ist, das nicht länger mit ansehen. Ulrich Berger, dem wir im Hoppla!-Blog schon begegnet sind, kündigte im Gespräch mit André Sebastiani an, Holm Hümmler auf der Mitgliederversammlung am 11. Mai 2024 zum Rücktritt aufzufordern. Dem kam Holm Hümmler zuvor, was Andreas Edmüller ziemlich gnadenlos kommentierte.

Schlussbemerkung

Die Skeptikerbewegung hatte nie etwas mit Skeptizismus zu tun. Skeptikerbewegung ist ein Widerspruch in sich. Der Skeptiker ist kein Rudeltier. Die Kontroverse pro und kontra woke ergibt sich auch aus diesem Selbstwiderspruch. Dennoch: Sollte der Verein untergehen, täte es mir leid. Ich habe durch die Auseinandersetzungen viel gelernt.

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Die Neue Rechte wird grundsätzlich – und irrt herum

Eine Angst geht um in Europa: Die Neue Rechte setzt auf intellektuelle Aufrüstung und auf Erkenntnisse der Wissenschaft. Die Angst ist unbegründet, denn entweder die Argumente überzeugen, oder eben nicht.

Es führt kein Weg daran vorbei: Ich werde in die Ideenwelt der Neuen Rechten eintauchen müssen. Geeignet erscheint mir das Werk Regime Change von rechts – eine strategische Skizze (2023). Der Autor Martin Sellner ist erst kürzlich mit seiner Rede von der Remigration ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Das war Ende November in einem Landhotel bei Potsdam.

Das Buch polarisiert. Die Amazon-Kritiken sind, mit einer Ausnahme, extrem: 46-mal ein Stern und 33-mal alle fünf Sterne. Ich bezweifle, dass viele der Rezensenten des Buch gelesen haben; sie zeigen eine in der Gesellschaft bereits vorhandene Polarisierung.

Begriffsarbeit

Es geht den Neurechten um das durch massenhafte Zuwanderung bedrohte »Volk«. Was genau ist es, was da bedroht wird?

Begriffsbestimmungen haftet etwas Willkürliches an. Das haben wir schon beim Streit um den Begriff der Rasse gesehen. Vorsichtshalber wird von Sellner die genaue Definition auf später verschoben:

Diese weltanschauliche Aufgabe besteht vor allem in einer Arbeit am Begriff (insbesondere an Worten wie »Volk«, »Bevölkerung«, »Staatsbürger«, »Nation«, »Kultur«, »Assimilation«, »Demokratie«, »Staat« etc.).

Viel Glück dabei!

Auch wenn man die Begriffe noch nicht hat, kann man mit der Theoriebildung schon einmal loslegen. Es hebt die Stimmung, wenn einem dazu die passenden Reizwörter oder Trigger einfallen.

Remigration und Reconquista

Der neue Leitbegriff heißt »Remigration«. Als Vorbild für die Rückeroberung des deutschen Lebensraumes dient die spanische Reconquista, eine wechselvolle Geschichte, in deren Verlauf die Moslems weite Teile der iberischen Halbinsel beherrschten aber letztendlich zurückgedrängt wurden. Das ging von 722 bis 1492, nahezu acht Jahrhunderte lang. Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb sich die Reconquista nicht als Schnittmuster für neurechtes Gedankengut eignet.

Der spanische Nationalheld El Cid war mal auf der christlichen Seite und auch mal auf der maurischen Seite tätig. In den 770 Jahren dieser Epoche war allerlei Gelegenheit für die Übernahme der jeweils anderen Kultur.

Der bedeutende jüdische Philosoph Moses Maimonides (1138-1204) verweist auf die muslimischen Mutakallimūn, denen das Abendland die Überlieferung griechischen, also heidnischen Wissens verdankt. Von Aristoteles hätten wir ohne sie möglicherweise nie erfahren.

Die Mauren, die Mohren also, brachten aus ihrer Heimat ein bereits voll ausgereiftes Instrument mit, eine arabische Laute. Daraus entwickelte sich die Gitarre und das Genre der arabisch-andalusischen Musik.

Dann lese ich von großartigen Bauten, beispielsweise von der Kathedralmoschee in Cordoba und der Alhambra. (Das Tárrega-Stück Recuerdos de la Alhambra habe ich in meiner Schulzeit in einem kleinen Gitarre-Konzert als Zugabe gespielt.)

Migration

Das Ende der Reconquista ist nicht das Ende der Geschichte. Danach ging es erst richtig los: Es folgten die „Eroberung des Paradieses“, die Vernichtung zweier Großkulturen im Süden und die Entwürdigung der Eingeborenen im Norden Amerikas. Danach kamen der Sklavenhandel und die Aneignung der Bodenschätze Afrikas.

Die Rechnung für den Imperialismus wird uns Europäern heute präsentiert: die Migration. Der Kreis schließt sich.

Die Neue Rechte gibt eine Antwort auf die befürchtete Überfremdung durch Einwanderung. Die Rede ist von einem Bevölkerungsaustausch.. Anlass ist die sogenannte Flüchtlingskrise mit ihrem Höhepunkt im Herbst 2015. Im Gesamtjahr wurden nahezu eine Million Schutzsuchende registriert.

Man kann keiner Nationen verwehren, seine Einwanderungspolitik zu bestimmen, und zwar nach Interessenlage. Reizwörter (Trigger) wie »Remigration« und »Reconquista« schüren Emotionen und behindern die sachgerechte Entscheidungsfindung. Ideologisierung ist keine passende Antwort auf solch praktische Fragen. Das gilt auch für eine ideologisch oder religiös aufgeladene Willkommenskultur („Wir schaffen das“).

Basis und Überbau

Ganz irre wird es bei dem Versuch, die Strategie der Linken zu kopieren. Martin Sellner fordert ein Primat der Ideologie. Er kennt die Analyse von Karl Marx, in der die Ökonomie als Basis benannt wird. Darüber erhebt sich der Überbau, die Ideologie. Sellner folgt lieber Lenin, der es andersherum sieht: Die ökonomischen Bedingungen eines Landes werden revolutioniert durch eine Idee:

Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.

Die Idee hat nichts getaugt und unter Stalin Millionen von Todesopfern in den Sowjetrepubliken zur Folge gehabt. Noch während meiner Kindheit in der DDR verschwand dann Stalin aus den offiziellen Bildern. Das Ende der Geschichte haben wir 1991 erlebt. Es ist nicht zu erwarten, dass die Neue Rechte mit dem Vorschlag, Marx von den Füßen auf den Kopf zu stellen, erfolgreicher sein wird.

Schlussbemerkung

Der Verlag für neurechte Literatur nennt sich Antaios. Namensgeber ist der Riese Antaios; dieser lebte in einer Höhle und jagte Fremde, Löwen und Einwohner seines Landes. Keiner war ihm gewachsen. Soweit kann man die Namensgebung ja noch verstehen. Die Geschichte nimmt ihre Wendung, als Herakles dem Riesen begegnet. Dieser erkennt, dass der Riese seine Kraft von der Erde, seiner Mutter Gaia bezieht. Herkules macht kurzen Prozess, hebt den Riesen hoch, beraubt ihn so seiner Kräfte und erwürgt ihn.

Vor der intellektuellen Schärfe der Neuen Rechten und der identitären Bewegung müssen wir keine Angst haben.

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Wir diskutieren nicht, wir eskalieren

Wir leben in einer Gesellschaft der gemäßigten Gegensätze, auch wenn Talkshows, Zeitungskommentare und die sozialen Medien einen anderen Eindruck erwecken. „This is not America“, schreiben Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Werk Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, 2023.

Ausgangslage

Um sich ein Bild von der gesellschaftlichen Spannungslage zu machen, gruppieren die Autoren die Befragten nach ihren Einstellungen zu den folgenden Ungleichheitsarenen
• Oben-Unten (Reiche und Arme),
• Innen-Außen (Migration),
• Wir-Sie (Gleichstellung und Normenwandel)
• Heute-Morgen (Klimakrise)
in drei Gruppen: konservativ, mittig und progressiv (S. 328).

Mit der Aufgliederung der Gesellschaft in solch eigenständige Arenen der Auseinandersetzung verblasst das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. „Konflikte sind zwar nicht strukturlos, aber eben auch nicht durch ein klares Gegeneinander unterschiedlicher Sozialstrukturgruppen geprägt“ (S. 25).

Dennoch haben wir den Eindruck einer „großen Gereiztheit“ (Bernhard Poerksen) unserer Gesellschaft. Warum? Ich will hier die Aufmerksamkeitsökonomie der öffentlichen und der sozialen Medien einmal außer Acht lassen. Eskalationen brauchen nicht die große Bühne; sie passieren im kleinen Kreis der Familie und auch hier im Hoppla!-Blog.

Triggerpunkte – Aus Streit wird Feindschaft

Mancher Streit eskaliert; es kommt zum Kontrollverlust, wie beim Besäufnis nach dem Abitur („Wir feiern nicht, wir eskalieren“) – so meine Anspielung im Titel.

Wer den wunden Punkt des anderen kennt, ist versucht, diesen zu berühren. Es sind die Triggerpunkte, die wütend machen. Die besten Methoden, eine Diskussion entgleisen zu lassen, sind

1. Grundsätzlich werden,
2. Ideologisieren und
3. Emotionalisieren.

Werden Triggerpunkte berührt, dann überwiege die affektive gegenüber der kognitiven Komponente von Einstellungen, so Mau, Lux und Westheuser. In der bundesrepublikanischen Diskussion genügen einzelne Wörter für das Triggern: SUV, Gendersternchen, Messerstecher, Transquoten, Sozialbetrug, Political Correctness, Clan-Bosse, …

Trigger Rasse

Wie Diskussionen eskalieren können, haben wir in diesem Hoppla!-Blog vorgeführt, beispielhaft beim Thema Rassismus. Offenbar waren sich die Diskussionsteilnehmer darin einig, dass Rassismus zu verurteilen ist. Die Sache kochte hoch, als es darum ging, das Wort Rasse im Grundgesetz zu tilgen. Ob das nötig oder hilfreich ist, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Praktische Auswirkungen hätte die Tilgung nicht.

Aber dann wurde es grundsätzlich. Die Wissenschaft wurde ins Spiel gebracht und die Diskussion ideologisch und emotional aufgeladen:

Der Begriff der Rasse ist offensichtlich wissenschaftlich veraltet.

Mein Versuch, der Debatte die Spitze zu nehmen, wurde elegant umgangen. Über den Streit Verwandtschafts- kontra Gruppenselektion, im Jahre 2012 ausgelöst durch Richard Dawkins, gewann sie wieder an Schärfe:

Vorwürfe des Rassismus werden strikt bestritten, und wenn Wilson die Soziobiologie aus anderen Gründen falsifiziert, wird das nicht diskutiert und aufgearbeitet, sondern diese Kritik wird praktisch wie in der Kirche einfach auf den Index gesetzt, obwohl Wilson es war, der die Soziobiologie als neues Paradigma einst begründete. So etwas nenne ich Dogmatik.

Mit dem Vorwurf der Dogmatik auf beiden Seiten ist die höchste Eskalationsstufe erklommen, denn die Falsifikation wird ja nur dann erreicht, wenn man den Aussagen eine wahre Theorie entgegensetzt.

Und das ist der grundsätzliche Jammer des popperschen Systems: Von wissenschaftlichen Aussagen wird die grundsätzliche Falsifizierbarkeit verlangt, bei der faktischen Falsifizierung tut man sich schwer, denn wahre Theorien gibt es in diesem Denksystem nicht. Nur eine solche hätten die Kraft, ein Denkgebäude zu widerlegen.

Bisher habe ich etwas der Falsifizierung Vergleichbares nur einmal erlebt. Da hat der Verfechter einer Theorie selbst eingesehen, dass diese nicht funktioniert. Es war ein erschütterndes Erlebnis: ein großartiger und vorbildlicher Forscher, den Tränen nah. Ich erwähne es in meinem Buch über Grundlagen des Risikomanagements von 2001.

Das Erlebnis hat in mir die Erkenntnis reifen lassen, dass der Falsifikationismus ein erstrebenswerter individueller Lebensstil ist. Er eignet sich nicht zur Verurteilung des Denkens anderer.

Nachtrag vom 31. März 2024.
Da ist doch noch etwas: Ostern Friedensfest. Mit Zuspitzungen werden wir moralisch aufgerüstet, sozusagen kriegstüchtig gemacht. Das neueste Triggerwort ist »Einfrieren«. In der Zeitung vom Samstag lese ich auf Seite 6 den Kommentar:

Wenigstens der realistische Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich klar von Mützenichs skurrilem Vorschlag distanziert. Und damit liegt er auf der Linie der Wissenschaftler, für die „Einfrieren“ des Krieges eine Beendigung des Konflikts zugunsten des Angreifers bedeutet.

Anlass ist ein Brandbrief des Geschichtswissenschaftlers Heinrich August Winkler.

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Das alte Denken im neuen

Analogy as the Fuel and Fire of Thinking. Douglas Hofstadter & Emmanuel Sander

Eine Theorie der Welt müsse mit dem Trennen anfangen, nicht mit dem Messen und Abwägen, meint die Anthropologin Mary Douglas, und sie bezieht sich dabei auf das Klassifikationssystem für die natürlichen Arten: „The problem of natural kinds surely begins with the elementary classification processes and the principles used for sorting. A theory of the world would need to start with dividing, not with grading“ (1986, S. 62).

Trennen

Um Klarheit und Sicherheit zu gewinnen, teilen wir die Gegenstandsbereiche vorzugsweise auf in Gegensätzliches. Uns drängt es zur Schwarz-Weiß-Malerei.

Diese Art Kontrastbetonung rechne ich den angeborenen Lehrmeistern zu. Sie sind überlebensdienlich, haben aber auch eine dunkle Kehrseite. Manche Denkfalle lässt sich damit erklären (Grams, 2020).

Das Klassifizieren ist charakteristisch für das Denken der klassischen Epoche (Barockzeit); Michel Foucault (1966/2012) grenzt es ab vom Denken der Antike mit ihren Analogien. Hervorstechendes Beispiel ist die Taxonomie der Arten von Carl von Linné (1735).

Analogien

Die Samenkörner des Eisenhuts sehen Augen ähnlich, also sollte die Pflanze gegen Augenkrankheiten helfen. Die Walnuss soll Kopfschmerzen lindern, denn ihr Inneres ähnelt dem Gehirn.

Solcherart magisches Denken ist heute keineswegs überwunden. Die populäre Homöopathie lebt davon, und in Esoterikkreisen wirkt die Lehre des Hermes Trismegistos bis heute: „Wie oben, so unten; wie innen, so außen; wie der Geist, so der Körper“.

Die Uhrmacher-Analogie zieht sich durch die Jahrhunderte und wird in unserer Zeit durch die Intelligent-Design-Bewegung aufgegriffen. Sie vergleicht die planvolle Bewegung der Welt mit einer Uhr: Wie es eines Uhrmachers bedarf, so auch eines Schöpfers der Welt (Lennox, 2007).

Dass sich Reste des alten Denkens bis heute erhalten haben, ist bemerkenswert. Weitaus interessanter finde ich jedoch, dass dieses Denken auch im heutigen Wissenschaftsbetrieb eine tragende Rolle spielt.

Es ist zwar etwas Neues entstanden, aber dieses Neue enthält Einsprengsel vom Alten, so wie es umgekehrt in der Antike wissenschaftliches Denken gab (Eratosthenes). Warum nur kommt mir jetzt ein altes chinesisches Symbol in den Sinn?

Yin und Yang

Unser Schwarz-Weiß ist Metaphysik vs Wissenschaft. Als Abgrenzungskriterium nehmen wir die Falsifizierbarkeit nach Karl Raimund Popper: Falsifizierbare Aussagen konstituieren die Wissenschaft, alles andere ist Metaphysik. Übersetzen wir die Dichotomie in Kants Vokabular: Auf der einen Seite haben wir die Erfahrung und die Dinge des Verstandes; jenseits sind die transzendentalen Ideen.

Verstandesdinge lassen sich überprüfen, transzendentale Ideen fallen in das Herrschaftsgebiet der Vernunft. Dort wird nichts widerlegt oder bewiesen; es geht um Analogien, deren Plausibilität und um den Wettstreit der Argumente.

Im Hoppla!-Blog sind uns schon Beispiele für transzendentale Ideen begegnet: Das Ich (damit verbunden: die erwartungsgetriebene Wahrnehmung) und die Gruppenselektion. Da gibt es immer eine ganze Menge Wissenschaft aber auch tragende Elemente, die der Metaphysik zuzuordnen sind.

Unsere mathematischen Modelle sind dann nicht Abbilder dessen, was ist. Sie sind Analogien; ihr Verhalten ist dem der modellierten Naturprozesse ähnlich.

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Pastell

Dichotomien haben in meinem Leben eine große Rolle gespielt. Ende der 70er Jahre entdeckte ich Karl Raimund Popper für mich. Er erlöste mich von dem Zweifel an meinem Verstand: Mein Versuch in meiner Studienzeit die 68er-Kommilitonen zu verstehen, führte mich seinerzeit zu Hegel. Das Resultat: Ich verstand gar nichts mehr.

Das hat mich jahrelang belastet. Dann kam das „Erweckungserlebnis“: ein großer Artikel von Ralf Dahrendorf in der Wochenzeitung Die Zeit, in dem er das Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von Karl Raimund Popper zum Jahrhundertbuch erklärte. Ich las und meinte, etwas von zeitgenössischer Philosophie zu verstehen. Außerdem gewann ich die Gewissheit, dass ein Ingenieur Hegel gar nicht verstehen kann. Mein Selbstbewusstsein erholte sich.

Mit Lektüre der Logik der Forschung wurde ich Popperianer und die Welt schwarz-weiß: hier Wissenschaft, da Metaphysik. Während meines Berufslebens in der Industrie fand ich das unproblematisch. Unter Ingenieuren gibt es dazu ja keinen großen Widerspruch. Anfangs hatte ich eine fast szientistische Einstellung – etwas gemildert durch Zweifel an der diesbezüglich extremen Einstellung des Karl Steinbuch.

Ich wurde Professor und begann weiter über die Sache nachzudenken. Die Skeptikerbewegung zog mich an. Ich wurde Mitglied in der GWUP und blieb dort 15 Jahre. Ich trug sogar dazu bei, die dort übliche Schwarz-weiß-Malerei noch zu vertiefen, worüber ich im Artikel Pseudowissenschaft – Kampfbegriff oder mehr? berichte.

Anlässlich der Erstellung eines Webauftritts für den Fachbereich ET musste ich mich (als Gründungsdekan) auch mit Farben und deren Komposition beschäftigen. Pastell entsteht, wenn man einer Farbe alle anderen Farben beimischt, kurz: weißer macht. Geht man von Schwarz aus, dann entsteht Grau. Grau ist das Pastellste aller Pastelle, sagte ich mir damals. Ich füge das ein, weil sich allmählich meine Weltsicht zu ändern begann.

Die Schwarz-weiß-Malerei der extremen Skeptiker begann mich zu stören. Man sieht sich auf der Seite der Wissenschaft und weiß was wirklich ist, kennt die Wahrheit.

Ich begann Zwischentöne zu entdecken. Die Welt wurde für mich bunter, mit Beimischungen der Extreme, pastell sozusagen. Und das waren die Stufen meines Lernprozesses:

Was mich zuallererst störte, war der Wahrheitsanspruch der Naturalisten unter den Skeptikern. Mir wurde bewusst, dass auch Poppers Logik der Forschung einen solchen Wahrheitsanspruch nicht hergibt.

Mit der Zeitenwende kam dann auch noch der moralische Relativismus ins Spiel.

In diesem Hoppla!-Blog treten immer mal wieder Vertreter der Extrempositionen auf. Sie haben leider einen Hang zum Missionarischen und machen einem das Leben schwer. Aber ich muss zugeben: Ich brauche sie. Von den Diskussionen mit den Missionaren habe ich viel gelernt – mühsam zwar, aber dennoch.

In der Diskussion über Soziobiologie lernte ich, dass es neben der Dichotomie Wissenschaft vs Metaphysik mit der Unterabteilung Pseudowissenschaft noch eine ganze Menge gibt; nämlich Wissensgebiete, denen man die Wissenschaftlichkeit schwerlich absprechen kann und die in ihrer Gesamtheit das Popperkriterium nicht erfüllen. Es sind Weltbilder oder Weltanschauungen, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse oder zumindest wissenschaftliche Methoden getragen werden, die aber auch metaphysische und transzendentale Bestandteile haben.

Das ist das Feld der Diskurse. Die besseren Argumente gewinnen. Aussicht auf absolute Gewissheit besteht nicht. Hin und wieder muss man konkurrierende Ideen nebeneinander bestehen lassen.

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Jim Knopf und die Walpurgisnacht

Gerade haben wir die neueste Ausgabe unserer Tageszeitung in den Händen. Bei der Überschrift

Kein N-Wort mehr in „Jim Knopf“

gerät meine Partnerin aus dem Häuschen.

Ohne besonderes Interesse an der Angelegenheit erfahre ich, dass ein offenbar beliebtes Kinderbuch eine zeitgeistige Überarbeitung erfahren hat: Das Wort „Neger“ wird nicht mehr verwendet, „Indianerjunge“ wird zu „Junge“ und „Eskimokind“ zu „Inuitkind“.

Meine Freundin: Das ist ja das allerletzte, worüber sich die Leute so aufregen. Das ist ein Raub unserer Kultur.

Ich werde wach und wiegele ab: Man muss bei manchem Exzess der Cancel Culture nicht gleich an die Zensur im Dritten Reich oder in der DDR denken. Zur Beruhigung erzähle von einer Begebenheit aus meiner Schulzeit.

Der Lehrplan verpflichtete uns Schüler, Goethes Faust 1 zu lesen. Der Lehrer organisierte eine Sammelbestellung eines Taschenbuchs. Ich meldete mich und sagte: das Buch haben wir zu Hause. Ich wurde von der Beschaffung befreit und saß dann folglich mit meinem DDR-Buch „Goethes Werke in Auswahl – Sechster Band“ vom Aufbau Verlag Berlin 1949 unter meinen Mitschülern mit ihren neuen Taschenbüchern aus der BRD.

Das lief problemlos, bis wir zum Abschnitt Walpurgisnacht kamen. Bei mir las ich: Es f–t die Hexe, es st–t der Bock. Etwas verwundert stellte ich fest, dass meine Mitschüler lasen: Es furzt die Hexe, es stinkt der Bock.

Später dann spricht Mephisto in meiner Ausgabe:

Einst hatt‘ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt‘ ein ––—;
So – es war, gefiel mir’s doch.

Und die Alte antwortet:

Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt‘ Er einen –– bereit,
Wenn Er ––– nicht scheut.

Bei meinen Schulkameraden stand:

Einst hatt‘ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt‘ ein ungeheures Loch;
So groß es war, gefiel mir’s doch.

Und

Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt‘ Er einen rechten Pfropf bereit,
Wenn Er das große Loch nicht scheut.

Dass auch Klassiker zensiert werden, finde ich nicht wirklich erstaunlich. Aber für die DDR war gerade das eher untypisch. Vor allem ist sie ja nicht durch allzu große Prüderie aufgefallen. Anders die BRD: Zur Zeit unserer Lektüre war gerade die prüde Zeit; 68 lag noch vor uns. Sonderbar.

Das veranlasste mich jetzt zu einer kleinen Recherche mit diesem Ergebnis: Die Auslassungszeichen stehen bereits in der ersten vollständigen Augabe von Der Tragödie erster Teil von 1808. Das Original wurde in späteren Ausgaben offenbar rekonstruiert.

Dass ich nicht falsch verstanden werde: Zensur war schon zu Goethes Zeit keine gute Sache, heute ist sie es erst recht nicht.

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