Orientierungshilfe – in eigener Sache

Von wohlmeinenden Kommentatoren bekomme ich viele Hinweise und Links auf Webseiten von Debunkern und Influencern, die zu meinem Hoppla!-Blog passen könnten. Mein Anspruch ist, dem Leser einen halbwegs verlässlichen Anlegeplatz für Meinungen zu bieten, der von gezielten Fehlinformationen möglichst freigehalten wird, denn ich möchte nicht zur Bildung von Echokammern beitragen.

Damit wird die Flut von Internetlinks tatsächlich zu einem Problem. Eine durchgängige Prüfung auf Angemessenheit ist mir nicht möglich; ich bin ja keine Nachrichtenagentur. Das Blog soll nur einen Teil meine freien Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb verfolge ich von Anfang an diese Strategie:

  1. Ich bringe nur Sachen, die mich interessieren.
  2. Ich identifiziere ein paar Ankerplätze, wo ich mich sicher mit Nachrichten und Meinungen versorgen kann.
  3. Die Zahl der Ankerplätze wird vorsichtig erweitert.
  4. Unerlässlich ist die Zurückführbarkeit aller übernommenen Aussagen auf ihre originalen Quellen.
  5. Der Leser bekommt jede Hilfestellung, so dass er diese Quellen auch tatsächlich auffinden kann.

Ich schau mir erst einmal die Ergüsse der Leute an, zu denen ich bereits Vertrauen gefasst habe. Unter anderem orientiere ich mich an Büchern von Julian Nida-Rümelin und Bernhard Pörksen. Viele Hinweise auf Unverfälschtes kann man auch in den Mainstream-Medien finden. Warum das so ist, hat Noam Chomsky in seinem Buch Manufacturing Consent unter dem Stichwort Propagandamodell erklärt (1988/1994, S. 303):

Ein Propagandamodell hat eine gewisse anfängliche Plausibilität auf der Grundlage von Prämissen der freien Marktwirtschaft, die nicht besonders umstritten sind. Im Wesentlichen sind die privaten Medien große Unternehmen, die ein Produkt (Leser und Zuschauer) an andere Unternehmen (Werbekunden) verkaufen. Die nationalen Medien richten sich in der Regel an eine Meinungselite, die einerseits ein optimales „Profil“ für Werbezwecke liefert und andererseits eine Rolle bei der Entscheidungsfindung im privaten und öffentlichen Bereich spielt. Die nationalen Medien würden den Bedürfnissen ihres elitären Publikums nicht gerecht werden, wenn sie nicht ein einigermaßen realistisches Bild der Welt zeichnen würden. Ihr „gesellschaftlicher Zweck“ erfordert aber auch, dass die Interpretation der Welt durch die Medien die Interessen und Anliegen der Verkäufer, der Käufer und der von diesen Gruppen beherrschten staatlichen und privaten Institutionen widerspiegelt.

(A propaganda model has a certain initial plausibility on guided free-market assumptions that are not particularly controversial… Übersetzt mithilfe von DeepL)

Das Entlarven von Manipulanten, auch von staatstragenden, ist meine Leidenschaft. Dazu genügt ein wenig Logik zur Aufklärung von inneren Widersprüchen und der Zugang zu maßgebenden Dokumenten. Solche Zugänge hat uns das Internet in den letzten Jahrzehnten enorm erleichtert. Ich muss mich nicht auf zufällig entdeckte Influenzer und Debunker verlassen. Zufallsfunde enthalten oft interessante Hinweise; die nehme ich gern zur Prüfung an.

Diese Vorsichtsmaßnahmen sind ein wirksamer Schutz auch gegen
Astrotufing-Kampagnen im Internet.

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Das Relative

Auch wenn ich an den Leitspruch MAGA, Make America Great Again, von Donald Trump anknüpfe, um Trump geht es mir nicht. Die wirklichen Probleme sitzen viel tiefer. Diese werden in jüngerer Zeit auch verkörpert durch Clinton (Bill und Hillary), Bush junior, Obama und Biden, vor allem aber durch Ronald Reagan.

Die Verheißung

Ich werde jetzt persönlich und erzähle, warum ich die amerikanische Lebensweise einmal ganz toll fand, und später dann nicht mehr. Der Denkrahmen änderte sich allmählich und damit auch der Blick auf die Welt. Das Absolute verblasste und machte dem Relativen Platz.

Fangen wir mit meinen ersten zehn Jahren an, die ich in der DDR zugebracht habe: Ich war etwa acht und hatte alte Versicherungsformulare im Keller gefunden. Da waren Hakenkreuze drauf. Ein interessantes Muster, fand ich. Damit habe ich viele Seiten eines Heftes bemalt. Eine Lehrerin hat das entdeckt und gemeldet. Mir war nicht klar, worum es in der daraufhin tätig werdenden Kommission genau ging. Man unterzog mich einer eingehenden Befragung. Ich musste etwas Verabscheuenswürdiges gemacht haben. Bestraft aber hat man mich nicht, sondern mit einer mir unangenehmen Zudringlichkeit ermahnt. Das war die »Entnazifizierung eines Achtjährigen« – ein bedrückendes und unauslöschliches Erlebnis.

Als wir auf dem Bahnhof einer oberfränkischen Kleinstadt standen, es war 1955, sagte Mutter, eine wirklich mutige Frau, zu uns Kindern: Wir bleiben jetzt im Westen. Drei Gedanken durchfuhren mich: Verflixt, dein Akkordeon kannst du vergessen, den neu gewonnenen Freund auch. Aber jetzt bist du frei. Ja: Ein Zehnjähriger kann offenbar so etwas Abgehobe­nes wie die Freiheit fühlen und schätzen.

Ich war glücklich, angekommen zu sein. Hier gab es die freundlichen Amerikaner mit ihren riesigen Straßenkreuzern. Die USA erschienen uns als das verheißene Land.

Ernüchterung

Dem gerade erst zum Teenager gewordenen Jungen fiel Das Beste aus Readers Digest in die Hände. Der DDR entronnen, waren die Geschichten willkommenes Lesefutter. Ich erinnere mich an den Tipp meines Lebens: Unter der kalten Dusche konzentriert ausatmen. Auch die Geschichte von dem Mann, der zweimal den Eiffelturm verkaufte, ist haften geblieben. Aber da war auch diese überspannte Agitation gegen den Kommunismus, dem mit der Domino Theorie ungebremster Imperialismus unterstellt wurde. Ein Blick auf die Weltkarte und die Einflusssphären von NATO und Warschauer Pakt zeigten, dass die Rollenverteilung nicht so eindeutig war, wie von Readers Digest beschrieben. Ich begann, an den Verheißungen zu zweifeln.

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Das Absolute

Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, dass Menschen sich gegenseitig dafür töten.

Carl Schmitt (S. 46)

Wer verabsolutiert, will seinem Bekenntnis absolute Gültigkeit zumessen, es zum allein gültigen Maßstab erheben. Das Verabsolutieren findet nur im Kopf statt und ist die Ursache für manches Elend auf dieser Welt, denn echte Feindseligkeiten sind leichter zu befrieden als erdachte.

Der Einzug der Juden in das gelobte Land begann wohl als regional begrenzte Eroberung. Richtig übel wurde es, als Gott sich einmischte, das Geistige, das Wort (2. Mose 23, 20-33). Inzwischen wurde das Wort Gottes abgelöst durch die Aufklärung, mit derselben imperialistischen Stoßrichtung.

Alles unter dem Himmel

Die Auflösung aller internationalen Streitigkeiten in weltweite Wohlfahrt westlicher Machart, das Ende der Geschichte, hat es nicht gegeben, anders als von Francis Fukuyama 1989 prophezeit. Unsere Wirklichkeit ist ein Kampf der Kulturen.

Ein Beispiel dafür, wo sich reale Interessen mit Ideologie paaren und sich die ideologischen Differenzen als die wesentlich haltbareren erwiesen haben, ist der 30-jährige Krieg. Das Materielle wurde mit dem Westfälischen Frieden erledigt. Aber noch heute führt die Frage, ob beim Abendmahl der Wein tatsächlich zum Blut Christi wird, oder ob Christus nur anwesend ist (Transsubstantiation vs Konsubstantiation), zu tiefen Zerwürfnissen. Den Unterschied habe ich nicht richtig verstanden, bei Glaubensinhalten scheint es aber auch nicht nötig zu sein, Hauptsache, sie definieren eine Gemeinde, deren Innen und deren Außen.

In den USA wird die Ideologisierung der Schwangerschaftsabbrüche zum wohl entscheidenden Wahlkampfthema, in erster Linie ein Glaubenskampf: Roe vs Wade. (Der Spiegel Nr 32/3.8.2024, S. 58-60).

In meinen 15 Jahren bei der GWUP habe ich erfahren, wie rein praktische Fragen wie die, ob Homöopathie wirkt oder nicht, durch Ideologie zu Glaubensfragen erhoben werden, was die giftigsten Angriffe und Gegenangriffe rechtfertigt und sogar zu persönlichen Feindschaften führt.

Da die meisten Menschen den Frieden dem Krieg vorziehen, liegt es nahe, nach Alternativen zur westlichen Denkweise Ausschau zu halten. Schon die Hippies der 60er Jahre suchten den Frieden im Osten. Könnte das östliche Denken uns heute einen Weg in eine friedliche Weltordnung zeigen? Ich greife den Vorschlag von Rainer Gebauer auf und werde jetzt versuchen, meine Gedanken entlang der Linien des Buches von ZHAO Tingyang zu ordnen: Alles unter dem Himmel.

Die Menschenrechtsideologie auf dem Prüfstand

Dem westlichen Denken eigen ist die Trennung, die Dichotomie: Innen und außen, Subjekt und Objekt, Freund und Feind, Krieg und Frieden, Gut und Böse; bei Descartes sind es Körper und Geist.

Fortschrittsmotor ist der Konkurrenzkampf, ganz im Sinne der Evolutionslehre von Charles Darwin. Er ist ohne die Trennung von Innen und Außen undenkbar. Selektionseinheiten sind Individuen, Sippen, Gruppen und Staaten.

Der Staat benötigt für den inneren Zusammenhalt das Außen, den Feind. Carl Schmitt schreibt (S. 11): Das Klassische am Modell einer nach innen geschlossen befriedeten, nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Souveränen auftretenden politischen Einheit sei

die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen. Innen und außen, Krieg und Frieden, während des Krieges Militär und Zivil, Neutralität oder nicht Neutralität, alles das ist erkennbar getrennt und wird nicht absichtlich verwischt.

ZHAO schreibt auf Seite 19:

In ihrer Gier sehnen sich die Menschen nach einer Welt, in der sämtliche guten Dinge verwirklicht sind, wie zum Beispiel Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Güte, Frieden, größtmöglicher materieller Reichtum, Fehlen von Ausbeutung und Unterdrückung, Klassenlosigkeit, Selbstverwirklichung, Abwesenheit von Entfremdung und das Glück eines jeden.

So gesehen (Schmitt und ZHAO zusammen) gibt es Menschen, für die die Verheißungen der Menschenrechte gelten, und solche, für die das eben nicht gilt.

Ähnlich klingen die Versprechungen der Unabhängigkeitserklärung der USA. Fortschrittsapologeten machen uns weis, sie seien für jeden erreichbar. Tatsächlich gilt das aber nur für wenige. Genau die sind es, die uns, die Masse, mit den Fortschrittserzählungen beruhigen. Ein Blick auf die Faktenlage ist ernüchternd:

  1. Die Ungleichheit in der Einkommensverteilung wird immer größer.
  2. Die Wirtschaft wächst, der Wohlstand nicht.

Es geht nicht um die reichsten 10% oder 1% der Bevölkerung. Interessant ist, dass die reichsten 0,1% der Bevölkerung über 20% des Gesamtvermögens besitzen.

Auf die Spitze getrieben wird die westliche Weltsicht mit dem Erstarken des Neoliberalismus in der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, also seit etwa 1980. Propagiert wird diese Haltung durch eine Reihe von Think Tanks, die im Atlas Network zusammengeschlossen sind. Besonders hervorstechend ist die Heritage Foundation, die unter anderem das Project 2025 formuliert hat,

einen Plan, der so radikal ist, dass sich vor einigen Tagen sogar Trump davon distanziert hat.

(Der Spiegel 33/10.8.2024, S. 72)

Die Stoßrichtung des Atlas-Netzwerks offenbart sich in der Namensgebung: Namenspatin ist Ayn Rand mit ihrem Buch Atlas Shrugged, das ich im Artikel Toleranz besprochen habe.

Die Kostenseite dieser Weltsicht ist unübersehbar, aktuell in der Ukraine. Für die Massen bringt sie wenig, für viele sogar Krieg, Elend und Unterdrückung; sie führt ohne Umweg in den Imperialismus, der vor allem den Eliten nützt. Die quasi religiöse Verehrung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die selbsternannten Humanisten ist so gesehen entweder naiv oder geheuchelt.

Um es noch einmal zu betonen: Mein Ziel ist nicht die Verunglimpfung der Menschenrechte, allein die universalistische Begründung der Menschenrechte steht auf dem Prüfstand.

Die Illusion einer Einen Welt

Das Scheitern des Westens am Projekt eines Humanismus für die ganze Welt, wird im Osten nicht ungern gesehen und man weiß auch, woran das Scheitern liegt. Im Buch Alles unter dem Himmel von ZHAO Tingyang finden sich Variationen der eben vorgebrachten Argumente gegen den Universalitätsanspruch der Menschenrechte und auch neue Aspekte.

ZHAO bietet uns zwar eine treffliche Analyse des westlichen Denkens, aber er scheitert an der Demonstration, dass diesem Denken das östliche, das kaiserlich-chinesische, vorzuziehen sei.

In diesem Denken gibt es kein Innen und Außen, sondern nur ein Innen, nämlich „Alles unter dem Himmel“. In dieser Einen Welt wirkt das Gen der Kooperation (S. 18), die Voraussetzung für allgemeine Wohlfahrt. Diese Internalisierung (S. 213)

gibt Hoffnung auf die Errichtung einer Weltordnung allgemeiner Teilhabe.

Die Menschenrechte werden, Kant folgend, mit Vernunft begründet. Sie haben demzufolge universelle Gültigkeit. ZHAO begründet seine Sicht der Einen Welt so:

Offensichtlich kann Konflikt sich nicht automatisch in Kooperation verkehren, es sei denn, es existiert von Beginn an irgendein Grundelement, ein Gen der Kooperation.

Das klingt nach absoluter Wahrheit und den Anspruch auf universelle Gültigkeit. In meinem Buch zeige ich, dass in einer Welt aus lauter Egoisten Kooperation entstehen kann, und zwar allein durch Evolution und allein nach den Prinzipien von Zufall und Notwendigkeit. Ein Kooperationsgen von Anfang an ist also nicht vonnöten.

Damals flog mein Pfeil in Richtung Intelligent Design, jetzt geht’s gegen eine andere Weltanschauung mit Absolutheitsanspruch.

Die Evolutionsbiologie lehrt uns, dass alles Leben das Ergebnis von Konkurrenzkämpfen ist. Diese bringen alle möglichen Lebensformen und Verhaltensweisen hervor und eben auch die Kooperation.

Meines Erachtens völlig daneben liegt ZHAO mit seiner Definition des konfuzianischen Optimums, das er mit dem „westlichen“ Pareto-Optimum vergleicht. Das Pareto-Optimum verlangt, dass sich die Nutzensteigerung x+ für irgendeine erson in einer Nutzenminderung y- für eine anderer Personen niederschlägt. Demgegenüber besagt das konfuzianische Optimum,

dass an einer Nutzenverbesserung stets alle an der Angelegenheit beteiligten Personen partizipieren müssen:

also x+ und y+ (S. 41). Das ist natürlich kein Optimum, denn alles kann ja für alle
noch besser werden. Das geht so lange, bis die Grenze erreicht ist. Und dann geht der Streit los, die Gier erwacht.

ZHAOs Ansatz der Einen Welt ist genauso Metaphysik wie die Universalisierung der Menschenrechte, ein reines Konstrukt der Gedanken, nicht beweisbar, nicht widerlegbar und nach allen Erfahrungen realitätsfern. Auch in China scheint das Streben nach einem Ideal Unmenschliches hervorzubringen.

Fazit

Sowohl diese Universalisierung des Gemeinsinns als auch die Universalisierung der Menschenrechte sind Ideologien, Glaubensangelegenheiten also; sie dienen der Propaganda. Es sind die Erzählungen, mit denen die Eliten uns, die Massen, gefügig halten.

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Verschaukelt

Im Hoppla!-Artikel Federalist 10 schreibe ich davon, wie bereits die Gründerväter der westlichen Demokratie bemüht waren, die Masse der Bevölkerung von der Macht fernzuhalten. Tatsächlich aber lassen wir uns gerne einlullen mit einer Propaganda, die das westliche Wertesystem lobpreist und dessen Kosten verschweigt. Alfred Grosser sagte bei einem Auftritt hier in Fulda vor vielen Jahren: „Ich will schon wissen, mit welcher Soße ich verspeist werde.“ Und in diesem Punkt ist unsere offene Gesellschaft großzügig, denn sie muss ja den Schein wahren. Wenn wir die Augen offen halten, können wir sehen, wie wir verschaukelt werden. Das Einzige, was uns abverlangt wird, ist, Bequemlichkeit und Denkfaulheit zu überwinden.

Der Verein Bund der Steuerzahler berichtet über das Vorhaben der Stadt Fulda, dem Schlossturm eine Krone aus Stahl aufzusetzen – für insgesamt 600.000 €. Von Verschwendung von Steuergeldern ist die Rede. Da wird der Bürger hellhörig und fühlt sich gut vertreten. Die Fuldaer Zeitung berichtet am 27.07.2024 von einer Reaktion der Stadt:

Stadtbaurat Daniel Schreiner scherte sich jedoch eher wenig um diese Einschätzung: Schließlich sei der Verein weder eine stattliche [gemeint ist wohl „staatliche“] noch eine neutrale Organisation, erklärte er damals.

Mein Kommentar dazu:

Die Demokratie lebt von der Illusion, das Volk habe etwas zu sagen. Wir danken dem Politiker, der uns die Augen öffnet, indem er uns zeigt, dass ihn Volkes Meinung nicht schert. Stadtbaurat Daniel Schreiner ist da vorbildlich: Er verteidigt die Krone für den Schlossturm, indem er die Kritiker, nämlich den Bund der Steuerzahler, herabwürdigt und nicht etwa, indem er sachliche Argumente für das Stahlding vorbringt.

Das ist das Schöne an unserer offenen Gesellschaft: Wir können sehen, wie wir verladen werden, wenn wir das überhaupt sehen wollen.

In den 60er Jahren hat man ziemlich klar gesehen, wohin die Reise geht:

Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie. 1967

Mit dem extrem rechten Populismus in den USA und in Europa geht die Rückbildung der Demokratie in ein tiefes Tal:

Noam Chomsky, C. J. Polychroniou: Illegitimate Authority. 2023

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Propagandamasche Gegenfeuer

Eine Früherkennungssoftware enttarnte

von Ende vergangenen Jahres an eine neue deutschsprachige Welle russischer Versuche, die Debatten in sozialen Medien zu manipulieren. Ein wiederkehrendes Muster war auch hier: Die Bundesregierung vernachlässige die eigene Bevölkerung zugunsten der Ukraine.

Das berichtet die aktuelle Ausgabe des Spiegel (28/2024, S. 32).

Zuerst habe ich das für einen schwachen Witz gehalten. Um die Vernachlässigung der eigenen Bevölkerung, insbesondere ihres armen Teils, zugunsten der Ukraine zu bemerken, braucht es wirklich keine russische Desinformationskampagne. Der Blick in Tagesschau oder heute Sendung genügt. Die Ukraine Flüchtlinge werden besser gestellt als andere Flüchtlinge. Das geht natürlich zu Lasten der übrigen Bevölkerung.

Ganz offensichtlich wird hier von einer Spezialeinheit des Bundesinnenministeriums eine Propagandamasche angewendet, die man gemeinhin Gegenfeuer nennt. Dabei geht es darum, bestimmte Flächen (der Volksmeinung) kontrolliert abzubrennen, um sich ausbreitenden Flächenbränden (der feindlichen Propaganda) Brennstoff zu nehmen und diese somit einzudämmen.

Bitte fragen Sie mich nicht, ob ich die Propaganda oder die Gegenpropaganda gut finde, und auch nicht, ob die Bevorzugung der Ukraine-Flüchtlinge gerechtfertigt ist. Es geht allein um das Propagandamuster. Die Sache liegt hier ganz ähnlich wie bei den Faktenchecks: Das Etikett macht eine Meinung noch nicht zu einem unbezweifelbaren Faktum. Allein die Qualität der Begründung zählt. Meinen Studenten musste ich klar machen, dass die Aussage „Es ist wahr, dass die Sonne scheint“ der Aussage „Die Sonne scheint“ nichts hinzufügt. Mag sie nun wahr sein oder nicht. Weiterlesen

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Hochschule zwischen Demokratie und Ökonomie

Das Folgende ist keine Kritik an Präsidium und Leitungsgremien der Hochschule Fulda. Soweit ich es beurteilen kann, tut man dort genau das, was die deutsche Hochschullandschaft zulässt; alles ist im wohlverstandenen Sinne der Studentenschaft und der Stakeholder – wohlverstanden im Rahmen der vorgefundenen Strukturen und Bedingungen. Diese sollten wir genauer betrachten. Der Blick wird geweitet und geht über den Campus dieser Hochschule hinaus.

Den noch druckfrischen Prachtband zur 50-Jahrfeier meiner Hochschule in Händen stelle ich fest: Die Hochschule hat noch immer acht Fachbereiche wie vor drei Jahrzehnten: Sozial- und Kulturwissenschaften, Wirtschaft, Angewandte Informatik, Ökotrophologie, Lebensmitteltechnologie, Sozialwesen, Elektrotechnik und Informationstechnik und Gesundheitswissenschaften. Aufgebläht wurde die Hochschule durch immerhin 66 Studiengänge. Dabei hat sie nicht ganz 150 Professoren.

Die zu enge Orientierung der Ausbildung an spezifischen Praxisfeldern halte ich für eine Fehlentwicklung. Wichtig sind die Grundlagen: Sprachen, Mathematik Naturwissenschaften und Vertrautheit mit den elementaren Werkzeugen. Was das Berufsleben verlangt, wird man nach dem Studium sehen.

Die technischen Fachbereiche Lebensmitteltechnologie, Elektrotechnik und Informatik spielen in der Festschrift so gut wie keine Rolle. Auf den folgenden Gebieten wird Exzellenz ausgewiesen: Lebensqualität und Gesundheit, Akademisierung der Pflegeberufe („Die Puppen können sogar grün erbrechen“, so wurde mir berichtet.), Diätetik, Hebammenkunde, frühkindliche Bildung.

Besonders herausgestellt wird die Diversitätskultur und die Tatsache, dass die Gleichstellungsarbeit der Hochschule Fulda deutschlandweit eine Spitzenposition einnimmt. Das Gender-Sternchen wurde erfolgreich verteidigt, entgegen den Wünschen des hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein. Stolz ist man auf das Selbstlernzentrum. Es erinnert mich an die Lernmethoden nach Klippert. Eine hoffentlich vergangene Modeerscheinung.

Auf solchen Nebenkriegsschauplätzen zu reüssieren allein, wird der Leistungsfähigkeit der Hochschule Fulda m. E. nicht gerecht.

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Universalisierung der Menschenrechte – eine Ideologie?

Auch Die Ideologie des Westens hätte als Überschrift gepasst. Ich empfehle, diesen Artikel von Bettina Gaus zu lesen – vor meinem zum Aufwärmen oder danach als Ausklang.

Die Truman Show

Der Nationalstaatsgedanke entstand im Gefolge des Dreißigjährigen Kriegs und des Westfälischen Friedens. Zwischen dem Nationalstaatsgedanken und den allgemeinen Menschenrechten besteht ein Spannungsverhältnis, das Stefan-Ludwig Hoffmann unter Bezugnahme auf das 20. Jahrhundert so beschreibt:

Die zweite Jahrhunderthälfte wurde bestimmt von der geopolitisch lückenlosen Nationalstaatsbildung und der zunehmenden Aushöhlung staatlicher Souveränität unter anderem durch transnationale Rechtsnormen wie den Menschenrechten.

Im westlichen Lager sorgen die Menschenrechte für Harmonie und gedeihliches Miteinander. Da kommt kaum einer auf die Idee, dass es sich um eine Ideologie handeln könnte.

Dem Hauptdarsteller der Truman Show, Truman Burbank, musste eine Jupiterlampe vor die Füße fallen, so dass er den Verdacht schöpfte, dass die glänzende Welt, in der lebte, nicht real, sondern eine Show ist.

Unsere Jupiterlampen sind die Kriege in Europa und Nahost, die Flüchtlingsströme und die Messerstechereien wie beispielsweise die von Mannheim. Offenbar braucht es mehrere davon, bis wir merken, was los ist.

Die Idee

Alle Menschen sollen frei und glücklich leben können. Das wird zumindest den US-Bürgern durch die Verfassung versprochen. Gemeint ist jeder Einzelne, das Individuum also. Damit geht die Auffassung einher, dass ein jeder Mensch auf dieser Erde einen Anspruch darauf hat, dass diese Menschenrechte also universelle Gültigkeit besitzen. Das ist die Idee, der geistig-moralische Überbau der erstrebten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Weiterlesen

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Emotionen verbieten

Emotionen verbieten: Dieses Paradoxon schließt an den letzten Artikel an.

Gerade schreibe ich über Abscheu und Überempfindlichkeit, da erreichte mich die Nachricht vom Messerangriff in Mannheim.

Der Messerangriff auf dem Marktplatz von Mannheim am 31. Mai 2024 ist unentschuldbar. Ein Polizist ist das Opfer eines radikalen Islamisten aus Heppenheim an der Bergstraße geworden. Täter-Opfer-Umkehr ist nicht erlaubt.

Dennoch ist die Frage zulässig, warum PAX Europa e.V. gerade dort gegen den politischen Islam demonstrieren muss. Der Tatort Marktplatz ist nicht weit weg vom Jungbusch-Viertel. Dieses ist spätestens seit dem Song „Iwwa die Brick“ von Joy Fleming ins Blickfeld der interessierten Öffentlichkeit geraten. Dort findet man viele Clubs, Treffpunkte junger Leute. Ich bin dort gern ins Kino gegangen. (Der großartige Thriller „Diva“ rund um eine Opernsängerin ist dort monatelang gelaufen und sonst wohl nirgends.) Zwei von drei Bewohnern haben einen Migrationshintergrund.

Der eigentlich gegen den anti-islamistischen Aktivisten Michael Stürzenberger gerichtete Messerangriff ist durch nichts zu rechtfertigen. Stürzenberger wurde verletzt. Auch ihm gilt unser Mitgefühl.

Dennoch sollten wir nachsehen, auf welchem Boden solch ein Unwesen gedeihen kann. Stürzenberger hat in der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) für einen radikalen Kurs mit Nähe zur Pegida-Bewegung gesorgt. In einer Rede bezeichnete Stürzenberger Geert Wilders

angesichts seines mutigen Einsatzes für Freiheit und Demokratie als einen „Helden unserer Zeit“.

In der Sendung Markus Lanz vom 4.6.24 nannte die Journalistin Anna Lehmann den Polizeieinsatz in Mannheim bei einer Veranstaltung der islamkritischen Bewegung Pax Europa, bei dem ein Polizist tödlich verletzt wurde, „dilettantisch“. An der Wortwahl sieht man, wie aufwühlend das Ereignis ist.

Jedenfalls war Polizei vor Ort, man ahnte also, dass Unheil droht. Der Konflikt zeigt sich in voller Schärfe: Der leidenschaftliche Islamverächter zieht Hass auf sich, die Emotionen werden unbeherrschbar.

Von Migranten hört man immer wieder den Ruf nach Respekt. Das könnte ein Zauberwort zur Lösung der Probleme sein. Ist es aber nicht.

Fehlender Respekt ist eine der Ursachen für die Krisen dieser Welt. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise beispielsweise schreibt Fiona Hill: „Putin will Respekt“ (DER SPIEGEL 7/2015, S. 91). Putin hat in seiner Münchner Rede 2007 Respekt eingefordert. Niemand hat ihn ernst genommen. Die Ostererweiterung der NATO war dem Westen wichtiger.

Der Respekt hat in der aufgewühlten Stimmung unserer Zeit keine Chance. Sogar die schwachen Schutzwände, die unsere Gesetze bieten, werden infrage gestellt. Der humanistische Pressedienst beispielsweise fordert anlässlich der Messerattacke in Mannheim hpd eine Streichung des §166 StGB,

wegen dem die Organisatoren der Veranstaltung in zynischer Weise für das Attentat verantwortlich gemacht werden könnten.

Dieser Gesetzestext wäre demzufolge zu streichen:

(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Auch wer angesichts der Verrohung unserer Debattenkultur von der Streichung nichts hält, sollte bedenken, was Michel Abdollahi im aktuellen Spiegel über  die singenden Ausländerfeinde auf Sylt schreibt (DER SPIEGEL 23/2024, S. 38 f.):

Man kann Symbole und Aussprüche verbieten. Aber glauben wir wirklich, indem wir das Singen und Sagen verbieten, können wir auch das Denken und das Handeln verbieten? […] Wir müssen unsere Kritik laut äußern und in den Konflikt gehen.

Dafür braucht es Begeisterung. Womit wir wieder beim Anfang dieses Artikels wären. Wenn Paradoxien überhaupt etwas leisten, dann das: Diskussionen anstoßen.

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Aufklärung paradox

Paradoxien sind für Paul Watzlawick Quellen der Erkenntnis. Ein prägnantes Beispiel ist die Aufforderung „Sei spontan“. Paradoxien sind alltäglich.

Wohlwollende Menschen mit guter Erziehung und Mitgefühl hat man gerne zum Freund. Sie beeindrucken mit ihrem Einsatz für die Menschenrechte und gegen den Rassismus. Alle Menschen sollen frei und glücklich leben können. Das wird zumindest den US-Bürgern durch die Verfassung versprochen. Gemeint ist jeder Einzelne, das Individuum also.

Dieser westliche Individualismus war ein Erfolgsrezept. Es hat für Wohlstand gesorgt – für üppigen bei wenigen und für bescheidenen bei vielen. Die Wohlmeinenden sind von dem Wunsch getrieben, diese Wohltaten der ganzen Welt zukommen zu lassen, indem sie den Menschenrechten universale Geltung zumessen. Ziemlich unerwartet verkehren sich die hehren Absichten ins genaue Gegenteil. Wie das?

Zwei Beweggründe kann ich ausmachen. Der erste ist vernünftig, der zweite gefühlsbedingt. Im ersten Fall liegt es an einer scheiternden Universalisierung der Regeln des Zuammenlebens und im zweiten an den Eigenheiten eines jeden. Das werde ich noch erläutern. Eine Vorbereitung brauche ich noch.

Sein und Denken

Wir leben in einer Zeit, in der der Glaube verbreitet ist, dass man nur das Denken und die Sprachen ändern müsse, um zu einer besseren Gesellschaft zu kommen. Sicht- und hörbaren Ausdruck findet dieser Trend im Gendern. Die Bedeutung des wohlmeinenden Denkens wollte mir ein Freund mit dem folgenden Zitat vor Augen führen (Tschingis Aitmatow):

Das Niveau der geistigen und sittlichen Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft sollte stets ein wenig höher sein als das Niveau des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.

Ich versuche, dem Satz Sinn abzuringen. Vielleicht meint der Autor, dass die geistige Entwicklung der technischen immer ein wenig voraus sein sollte, so dass erstere die letztere kontrolliert. Karl Marx sieht das wohl eher andersherum: Auf der realen Basis der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung erhebt sich der geistige und administrative Überbau.

Da habe ich Anschauungsmaterial zu bieten. Acht Jahre lang war ich Angestellter eines KKW-Herstellers und habe nachgedacht: Nach dem Krieg und nach dem Atombombenabwurf gab es den Ruf nach einer friedlichen Nutzung der Kernenergie. Diese versprach eine lange dauernde und saubere Energieversorgung. Es war moralisch geboten, auf diese Karte zu setzen. Die politischen Parteien stimmten zu. Mit der Zeit wurden die Probleme sichtbar: Die Sicherheit (mein Arbeitsgebiet) erschien zunehmend fraglich. Die Frage, wohin mit den Abfällen, wurde immer dringlicher; sie ist noch heute unbeantwortet. Dass Frankreich seinen Atomstoff aus Niger und prospektiv aus Mali bezieht, dürfte inzwischen jedem als eine der Ursachen der Misere in der Sahelzone aufgefallen sein. Fazit: Die moralische Aufbereitung folgt den Geschehnissen – bestenfalls und eher zögerlich.

Kommunistische Führer maßen den Intellektuellen eine Avantgardefunktion zu und die Neue Rechte glaubt an die Gestaltungskraft einer großen umfassenden Idee. Vom Leninismus und Stalinismus wissen wir, dass das nicht klappt.

Also Vorsicht mit den großen und universalen Ideen zur Fortentwicklung der Gesellschaft. Der zitierte Satz von Aitmatow klingt gut, hat aber kaum Substanz.

Alles ist Zahl

Die Aufklärung hat uns die moderne Wissenschaft gebracht und die Illusion, dass alles messbar und berechenbar ist. Die Zahlen haben universelle Gültigkeit und verleihen Herrschaft über Dinge und Menschen. Insofern knüpft die Moderne an die Mythologie der antiken Pythagoräer an, die meinten, alles sei Zahl. Max Horkheimer erklärt den „Begriff der Aufklärung“ so (Dialektik der Aufklärung, 1969/1988, Seite 32):

Die Entfernung des Denkens von dem Geschäft, das Tatsächliche zuzurichten, das Heraustreten aus dem Bannkreis des Daseins, gilt der szientifischen Gesinnung ebenso als Wahnsinn und Selbstvernichtung, wie dem primitiven Zauberer des Heraustreten aus dem magischen Kreis, den er für die Beschwörung gezogen hat

.
Der Anspruch der universellen Gültigkeit erstreckt sich auch auf die Regeln des Zusammenlebens. Die Rede von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte begleitet die Missionstätigkeit des Westens, die den Boden bereitet für die Herrschaft des Kapitals. Dieser Zusammenhang wird derzeit sichtbar, weil sich der globale Süden gegen die Bevormundung durch die westliche Welt wehrt. Paul Kagame, Präsident von Ruanda:

Afrika braucht keine Babysitter. Je weniger sich die Welt um Afrika kümmert, umso besser geht es Afrika.

Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen gibt es Rassismus. Das ist die rationale Seite des Paradoxons.

Überempfindlichkeit

Beim Auswringen von Wäsche kriege ich eine Gänsehaut. Von anderen höre ich, dass sie das Kratzen von Messern auf einem Topfboden kaum aushalten können. Viele Leute, die ich kenne, haben ein Geräusch, das sie nervt. Das sind Beispiele für Überempfindlichkeit (Idiosynkrasie). Ich erkläre mir diese Eigenheiten so: Diese Geräusche erfährt das Baby immer genau dann, wenn es die Mutter vermisst. Die hat ja offenbar gerade etwas anderes zu tun. Möglicherweise ist das Erlebnis so intensiv, dass es im Gefühlsleben hängen bleibt. In der fünften These der „Elemente des Antisemitismus“ aus dem Buch „Dialektik der Aufklärung“, geschrieben vermutlich von Leo Löwenthal, finde ich Folgendes:

»Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiss das nicht so leicht« sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkasie.

Wenn ein wohlmeinender Verfechter der Menschenrechte die Regeln und Gepflogenheiten des Islam abscheulich, zum Kotzen oder widerlich findet, dann ähnelt das den Idiosynkrasien von Rassisten und Antisemiten. Das ist die emotionale Seite des Aufklärungsparadoxons. Weiterlesen

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Ein Skeptikerverein – geht das?

Wenn man die Geschichte des Skeptizismus betrachtet, fragt man sich, ob es so etwas wie einen Skeptikerverein wirklich braucht. Der Skeptiker ist eigentlich kein Rudeltier. Auf der anderen Seite ist es sicherlich eine feine Sache, sich unter Skeptikern auszutauschen und das kritische Denken zu popularisieren. Die diesbezüglichen Formate der GWUP habe ich immer geschätzt. Schade, dass das aufgrund des aktuellen Zoffs in Gefahr ist. Das Problem sind die ideologischen Kämpfe im Hintergrund, die für das Publikum im Grunde keine Rolle spielen.

Wurzel des Übels

Der momentane Zoff ist bereits in der alten GWUP angelegt und hat seine Wurzeln im „angelsächsischen Denken“: Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit des Individuums sind universelle Werte, denen alle Menschen folgen sollen – dann ist das „Ende der Geschichte“ da und Frieden überall.

In der Wissenschaft hat dieser Universalitätsanspruch Ausdruck gefunden im kritischen Rationalismus des Karl Raimund Popper, der Ideen von John Locke und David Hume aufgreift. Das war ein sehr erfolgreiches Programm infolge der Aufklärung, die der Naturwissenschaft einen atemberaubenden Triumphzug beschert hat.

Das, was ich die „alte GWUP“ nenne, hat den Fortschrittsglauben der Aufklärung verinnerlicht und ideologisch vertieft.

Der Frieden der Welt ist fern wie eh und je und gesellschaftliche Probleme verweigern sich dem kritisch-rationalen Zugriff. So kam, was kommen musste: Alternative Denkrichtungen verschafften sich Gehör, insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Im letzten Artikel habe ich eine der kritischen Studien besprochen: White Fragility von Robin DiAngelo.

Positionen

Die aktuellen Spannungen in dem Verein finden Ausdruck in zwei Briefen: Erstens im Austrittsschreiben von Florian Aigner und zweitens in der darauffolgenden Replik von Ulrich Berger.

Aigner beklagt die

Auseinandersetzung zwischen den gesellschaftspolitischen Strömungen „woke“ und „anti-woke“. Plötzlich wurde nicht mehr über naturwissenschaftliche Fakten diskutiert, sondern über Identitätspolitik, über postmoderne Philosophie, über Gendersprache und Cancel Culture.

Er findet es unpassend, dass sich der Verein in solchen Fragen positioniert.

Innerhalb der GWUP gab es die Forderung, den gesamten Bereich der „Critical Studies“ (ein weites Feld, von Gender-Studies bis hin zu Critical Race Theory) als Pseudowissenschaft zu deklarieren und den Einsatz dagegen als Teil der Vereinsarbeit zu sehen

Aigner findet es zwar wichtig, solche Fragen im Spannungsfeld von „Wokeness“ und „Anti-Wokeness“ zu diskutieren, jedoch nicht in der GWUP. Er schreibt:

In der Skeptikerbewegung geht es um Rationalität und Aufklärung, um Fragen, die man mit naturwissenschaftlichen Methoden klar beantworten kann.

Das ist ein Plädoyer für die fortgesetzte Engführung des Vereins, eine ideologische Fixierung, wie ich meine. Berger hält dagegen:

Nein, es ging niemals nur um solche Fragen. Das wäre eine radikale, willkürliche und unnötige Einschränkung. Vor 15 Jahren schon gab es z.B. im Skeptiker eine Diskussion darüber, ob die Volkswirtschaftslehre eine Pseudowissenschaft sei

Den hier angesprochenen Disput zwischen Mario Bunge (kontra VWL) und Ulrich Berger (pro) fand ich sehr interessant. Er erschien im skeptiker-Heft übrigens unmittelbar hinter meinem ersten Auftritt in dieser Zeitung: Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution (skeptiker 2/2009).

Besinnung auf den klassischen Skeptizismus

Den Skeptiker zeichnet ja aus, dass er keine Begründung braucht, anders als der Ideologe und der Philosoph. Dass bereits die alten Griechen eine Philosophie aus dem Skeptizismus gemacht haben, interessiert hier nicht weiter. Ich halte mich an die Basics für Skeptiker. Diese reichen für das Programm eines Skeptikervereins aus. Mit diesem Instrumentarium kann man sich kritisch alle möglichen Aussagesysteme vornehmen, sogar deren Überbau wie den Kritischen Rationalismus und die Kritische Theorie.

Ulrich Bergers Standpunkt halte ich für zukunftsweisend. Wenn der vereinsorganisierte Skeptizismus in Deutschland überhaupt eine Chance haben soll, dann so: Ohne Ideologie, ohne ontologische Festlegungen, offen für den gepflegten Streit über alles, was die Menschen interessiert, der Kritik zugänglich ist und nicht schon anderweitig gründlich beackert wird. (Damit sind Religionen, einige Weltanschauungen und die Politik schon draußen.)

So könnte es gehen.

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