Alternative Fakten sind normal

Das ifo Institut meldet am 18.02.2025:

Mehr Ausländer erhöhen die Kriminalitätsrate nicht

Migration nach Deutschland führt nicht zu einer höheren Kriminalitätsrate an den Zuzugsorten. Dies zeigen Auswertungen des ifo Instituts der Polizeilichen Kriminalstatistik nach Landkreisen für die Jahre 2018 bis 2023. „Wir finden keinen Zusammenhang zwischen einem steigenden Ausländeranteil in einem Kreis und der lokalen Kriminalitätsrate. Gleiches gilt im Speziellen für Schutzsuchende“, sagt ifo Forscher Jean-Victor Alipour.

Stehenden Fußes übernimmt der öffentlich-rechtliche Rundfunk diese Pressemeldung.

Die Tagesschau: Migration steigert laut Studie nicht die Kriminalität

ZDF: Kriminalität durch Ausländer. Neue Studie: Wohnort spielt sehr große Rolle

Auch Ricarda Lang teilt auf X die ifo Pressemeldung mit der launigen Einleitung: „Jetzt mal bitte nicht den Wahlkampf mit Fakten stören.“

Was haben wir uns seinerzeit aufgeregt, als Kellyanne Conway im Januar 2017 die vom  Pressesprecher des Weißen Hauses genannten falschen Zuschauerzahlen anlässlich von Trumps Amtseinführung beschönigend alternative Fakten nannte.

Das was die können, das können wir doch allemal. Die ifo Meldung gehört für mich in die Kategorie alternative Fakten. Dahinter steht eine moralische Haltung und eine dazu passende Interpretation der Daten.

Schauen wir uns das genauer an. Ich übernehme Teile meines Kommentars zum letzten Hoppla!-Artikel. Ein Kernsatz
aus der ifo Pressemeldung ist der folgende:

Die Annahme, dass Ausländer oder Schutzsuchende eine höhere Kriminalitätsneigung besitzen als demografisch vergleichbare Einheimische, ist nicht haltbar.

Diese Aussage ist überzogen. Eine Statistik lässt eine Kausalitätsaussage wie die zur „Kriminalitätsneigung“ grundsätzlich nicht zu. Wir haben hier einen Musterfall, an dem man schön erklären kann, dass Statistiken nicht dazu taugen, Ursache-Wirkungsbeziehungen aufzuzeigen.

Beginnen wir damit, was die Presseerklärung objektiv und durch Daten gestützt feststellt:  Überall ist die lokale Kriminalitätsrate der Ausländer nicht höher als die der Inländer.
Das ist der Hintergrund der ifo Meldung, die diese Daten im Sinne einer (fehlenden) Kriminalitätsneigung interpretiert. Aber es gibt eine naheliegende alternative Interpretation der Daten, wie man aus der ifo Pressemeldung ersehen kann:

Ausländer sind in der Kriminalstatistik gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil überrepräsentiert. […] Migranten ziehen häufiger in Ballungsräume, wo das allgemeine Kriminalitätsrisiko höher ist – auch für Einheimische.

Könnte es nicht sein, dass es kriminell veranlagte Ausländer in die Ballungszentren zieht und ließe sich nicht so die Überrepräsentation von Ausländern in den Ballungszentren erklären? Wenn ja, dann wäre die weit verbreitete Meinung, dass Ausländer die Kriminalitätsrate erhöhen, doch nicht widerlegt. Dann läge die beobachtete nationale Kriminalitätsentwicklung tatsächlich nicht an der Stadt sondern am Menschen.

Wir haben also zwei Meinungen, die einander ausschließen und die sich dank des zugrundeliegenden Zahlenmaterials als Fakten tarnen können. Alternative Fakten eben.

Das scheint mir auch der Wesenskern von Kelleyanne Conways Vorstoß zu sein: Die Interpretation von Zahlen im Lichte der eigenen Überzeugung.

In dem Aufsatz zum simpsonschen Paradoxon habe ich die hier wirksamen Zusammenhänge ausführlich dargelegt. In einen größeren Zusammenhang gestellt und an mehreren Beispielen erläutert habe ich das simpsonsche Paradoxon im Buch Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Dahinter steckt unsere Kausalitätserwartung, ein „angeborener Lehrmeister“ (Konrad Lorenz).
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Minimalideologie

JD Vance beschwört anfangs seiner Münchner Rede die gemeinsamen Werte der westlichen Demokratien. Diese Einleitung dient offensichtlich nur dazu, den Zuhörer wohlgesinnt zu stimmen. Er beschwört ein Band, von dem er selbst nichts hält. Nach dieser geschmeidigen Einleitung legt er kräftig los und zeigt uns Trumps Zertrümmerungsstrategie. Ich habe versucht, mir einen Reim darauf zu machen.

Regelbasierte Bündnisse sind brüchig, wenn mehr als zwei Individuen, Parteien oder Staaten beteiligt sind. Es genügt wenn einer einen Vorteil im Regelbruch sieht, dann bricht ein solches Gebäude in sich zusammen. Die Arbeiten an übergreifenden Regeln und Verträgen sind folglich ihr Geld nicht wert und gehören bekämpft, so Trump und Kompanie. Als ein Musterbeispiel solch unnützer Konventionen gilt der Trump-Mannschaft das 2015 verhandelte Übereinkommen von Paris zur Begrenzung der Erderwärmung. Missfallen erregen auch die Regeln zum achtsamen Umgang miteinander; mit Inbrunst runtergemacht wird die Woke-Bewegung.

Und dann gibt es noch diesen amerikanischen Klassiker: Was keinesfalls geht, ist Kommunismus. Wir haben die regelbasierte Ordnung des Westens auf der einen und den verhassten Kommunismus auf der anderen Seite – beides im Grunde Ideologien, denen man keineswegs trauen darf. Diesen Ideologien gilt Trumps Zerstörungswut. Was aber setzt er dagegen?

Meines Erachtens baut er auf eine einfachen Prämisse: Der Egoismus des Menschen ist das Einzige, worauf man sich wirklich verlassen kann. Das begründet zwar ebenfalls eine Ideologie, aber eine äußerst einfache: eine Minimalideologie sozusagen.

Daraus ergibt sich der sehr übersichtliche Werkzeugkasten Donald Trumps: Es geht um Deals und Familie. Deals zwischen zwei Partnern sind äußerst haltbar, da beide Seiten davon profitieren. Auch Mafiakreise setzen auf Familie und folgen der mittelalterlichen Weisheit: Blut ist dicker als Wasser. Bestenfalls den Kirchen wird noch ein Bindungskraft zugetraut.

So gesehen dürfte klar sein, dass bei einem Treffen Trump-Putin nur am Katzentisch Plätze für Selenskyj oder irgendeinen Europäer frei sind.

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Das dicke Ende

Der Skeptiker hat oft Gelegenheit, sich richtig schlecht zu fühlen. Er kann zwar manchen Shitstorm gegen seine Ansichten leicht wegstecken, aber dann, wenn sein Pessimismus wahr wird, geht seine Stimmung in den Keller. Die Wahrheit hat manchmal ein wirklich hässliches Gesicht.

Axios (Mike Allen)  schreibt gestern (13.2.25) in den Nachmittagsnachrichten davon, was Pete Hegseth soeben auf dem Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel von sich gegeben hat und was ein hoher US-Verteidigungsbeamter so unterstreicht:

Ukraine won’t become a NATO member.
U.S. troops won’t help to enforce any postwar security guarantees.
Any European troops deployed to Ukraine for peacekeeping need to be on a „non-NATO mission,“ so that the U.S. would not be obligated to protect them.

(Die Ukraine wird nicht Mitglied der NATO werden. Die US-Truppen werden nicht die Sicherheitsgarantien für die Zeit nach dem Krieg durchzusetzen helfen. Alle europäischen Truppen, die zur Friedenssicherung in die Ukraine entsandt werden, müssen in einer „Nicht-NATO-Mission“ eingesetzt werden, so dass die USA nicht sie zu schützen verpflichtet wären.)

Der Auftritt des US-Vizepräsidenten JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz wird für heute Nachmittag »mit Spannung erwartet«, schreibt tagesschau.de. Ich erwarte, dass er dort nichts anderes sagt, als das bereits von Pete Hegseth Ausgeplauderte. Donald Trump wirkt auf uns erratisch, aber in vielen Dingen ist er erstaunlich unbeirrt. Er hat einen Plan, ob der uns gefällt oder nicht.

Nach drei Jahren Blutvergießen habe ich kein Verständnis mehr für den Einwand, dass das alles über die Köpfe der Ukraine hinweg passiert. Ich zähle die USA wie Putin zu den Verantwortlichen für das Blutbad und es sollte niemanden verwundern, dass Donald Trump den auch für die USA kostspieligen Einsatz beenden will. Jetzt wird sich zeigen, was den Europäern die Ukraine wert ist.
Was bleibt, ist die Erkenntnis: Die Westlichen Werte haben dem realen Sturm nicht standgehalten. Weiterlesen

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Verlustaversion – eingebaute Evolutionsbremse?


Der Begriff Verlustaversion „bezeichnet in der Psychologie und Ökonomie die Tendenz, Verluste höher zu gewichten als Gewinne“. Diese aus der Wikipedia entnommene Definition wird beinahe ausschließlich begleitet von Überlegungen und Erklärungen, was dieses weitgehend irrationale menschliche Verhaltensmuster für Konsequenzen hat. Zwar wird psychologisch bzw. evolutionstheoretisch begründet, warum wir lieber festhalten als riskieren. Aber dem eigentlichen Grund, warum das so ist, wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt, wahrscheinlich weil es ein so einfacher mathematischer ist.

Eine Entwicklungskurve, sei sie linear oder nichtlinear, soll einen Verlauf darstellen, also das Fortschreiten eines Vorgangs in der Zeit. Da der Zeitverlauf gerichtet ist, stellt jeder Kurvenpunkt einen jeweils singulären Verweilpunkt dar. Im Rückwärtsblick offenbart sich von dort die bis dahin erfahrene Vergangenheit, also etwas sehr Reales und womöglich auch Belegbares. Im Blick nach vorn dagegen ist immer nur Extrapolation möglich, also das anhand des Zurückblickens eventuell zu Erwartende. Dieses Vorausschauen im Zurückblicken erzeugt also nichts Reales sondern lediglich etwas mehr oder weniger Wahrscheinliches.

Diese triviale, um nicht zu sagen banale Definition einer Entwicklungskurve wird erst etwas spannender, wenn man sie buchstäblich vom Anfang bzw. vom Ende her denkt. Während sie im Rückblick, im Koordinatensystem also links, ganz konkret endet (im Extremfall beim Urknall als dem Beginn der Zeit), lässt sich in der Vorausschau nach rechts kein solcher Endpunkt lokalisieren, nicht einmal unter der Annahme, dass es ihn überhaupt gibt. Der gerichtete Zeitpfeil könnte zwar ein zu errechnendes, aber eben kein erfahrenes Ende haben.
Das Leben, ob nun menschliches oder nicht, ist demnach vom Wesen her nicht in der Lage, die Zukunft allein so zu gestalten, dass sie aus seiner Sicht „richtig“ verläuft. Aber offenbar ist es ausschließlich das menschliche Leben, das die Tatsache des gerichteten Zeitpfeils nicht zu akzeptieren bereit ist. Weil wir Menschen sind, haben wir die Mathematik erfunden und könnten jene Tatsache anerkennen, eben weil wir darum wissen. Aber indem wir Lebewesen sind, fehlt uns die Fähigkeit zu dieser Akzeptanz. Die Verlustaversion ist reine Biologie, es gibt kein Mittel dagegen, auch wenn wir uns dies dereinst eingestehen würden. Wir können nicht unterlassen statt zu tun, nicht verzichten statt haben zu wollen, jedenfalls nicht, solange der Zeitpfeil aktiv ist und uns zum Handeln verpflichtet.

Ob das Universum von 3 oder 4 Grundkräften gesteuert wird, vielleicht aber auch von 5 oder gar nur von einer (Wikipedia:“ Fundamentale Wechselwirkung“): Was auch immer seine Entwicklung vorantreibt, es geschieht in der Zeit. Erfahrung macht uns klüger, aber was geschehen wird, kann niemals gewusst, sondern höchstens näherungsweise geschätzt werden. Die Verlustaversion des Lebendigen ergibt sich schlicht daraus, dass nur sicher sein kann, was man hat, aber nicht, was morgen fehlen oder zu viel sein könnte. Entwicklung gibt es nur für den Preis, dass Erreichtes auch wieder verloren geht.

Mephisto, wer sonst, bringt’s auf den Punkt: „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“ Aber man muss eben Teufel sein, um das auszusprechen.

(Mehr zu dieser Thematik auch hier.)

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Medien: Der Schwindel mit der Lupe

Irreführende Statistikinterpretationen und täuschende Grafiken fand ich vor allem im stern und im SPIEGEL. Seit ich Abonnent von Welt+ bin, finde ich so etwas auch dort.

Sie mögen es nicht, manipuliert zu werden? Dann schauen Sie sich die Beispiele meiner Sammlung an. Sie offenbaren einige Tricks der Manipulanten.

Am 22.1.2025 finde ich in Welt+ diesen Artikel: »Der große Irrtum vom Eigenheim als perfekter Geldanlage fürs Alter.« Diese Aussage wird garniert mit einer Grafik, die dem Leser drastisch vor Augen führt, dass er, anstatt in Immobilien zu investieren, sein Geld auch gleich zum Fenster rausschmeissen kann.

Im begleitenden Text steht:

Investiertes Kapital in Unternehmen arbeitet im Schnitt viel besser als in „Betongold“ gestecktes Geld.

Aha, darum geht es: Der Leser soll in den Aktienmarkt gelockt werden. Weiten wir den Blick. Schauen wir uns nicht nur die Entwicklung der letzten zwei Jahre an. Gehen wir zehn Jahre zurück; schon sieht die Sache ganz anders aus.

Der Blick durch die Lupe, die Konzentration auf einen kurzen Zeitschnipsel, wie oben geschehen, engt das Blickfeld ein. Der Kontext, die Umwelt wird unsichtbar, das Urteil in eine bestimmte Richtung gelenkt.

Bei Walter Lippmann finde ich dazu die folgende erhellende Passage (Die öffentliche Meinung. 1949/2018, S. 157):

Nahezu nichts, was unter dem Namen historischen Rechts oder historischen Unrechts geläufig ist, kann als wirklich objektive Sicht der Vergangenheit bezeichnet werden. Da ist zum Beispiel die französisch-deutsche Streitfrage über Elsass-Lothringen. Die Beantwortung hängt ganz vom Ausgangsdatum ab, das man herausgreift. Beginnen wir mit den Raurakern und Sequanern, so waren diese Gebiete geschichtlich ein Teil des alten Galliens. Wenn wir stattdessen Heinrich I. an den Anfang stellen, ist Elsass-Lothringen geschichtlich ein deutsches Territorium. Nehmen wir 1273, so gehört es zum Hause Österreich. […] Mit Ludwig XIV. und dem Jahr 1688 sind diese Gebiete nahezu ausschliesslich französisch.

Um auf den Welt+-Artikel zurückzukommen: Nach dem knalligen Eingangsstatement wird einiges wieder zurechtgerückt. Aber es ist eine gut bestätigte Weisheit, dass der erste Eindruck der prägende ist. Nachfolgende Korrekturen bewirken demgegenüber nur wenig. Dieser Verankerungseffekt tritt in meiner Halbkreisaufgabe deutlich zutage.

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Was ist faul an Zuckerbergs Community Notes Model?

Wie bereits vorgestern angemerkt, übernimmt Mark Zuckerberg für Facebook Elon Musks Modell der Community Notes. Er kündigt an, das derzeitige Programm zur Überprüfung von Fakten durch Dritte in den Vereinigten Staaten zu beenden und stattdessen zu einem Programm für Community Notes überzugehen. Er bezieht sich darauf, dass dieser Ansatz bei X funktioniere. Die Community entscheidet, wann ein Beitrag potenziell irreführend ist und mehr Kontext benötigt, und die Menschen aus den unterschiedlichsten Perspektiven entscheiden, welche Art von Kontext für andere Nutzer hilfreich ist.

Schauen wir uns an, wie Musks Modell Kollektive Anmerkungen auf X funktioniert.

Wenn eine Anmerkung von ausreichend Mitwirkenden mit verschiedenen Ansichten als hilfreich bewertet wurde, wird die Anmerkung zu einem Post öffentlich angezeigt. 

Der Guide für X Notes präzisiert: Nur Bewertungen, die von Leuten mit unterschiedlichen Sichtweisen als hilfreich bewertet wurden, erscheinen mit den Posts.

Das Modell Kollektive Anmerkungen funktioniert nicht nach dem Mehrheitsprinzip. Zur Identifizierung von Anmerkungen, die für zahlreiche verschiedene Menschen hilfreich sind, müssen sich Mitwirkende, die bei früheren Bewertungen manchmal unterschiedlicher Meinung waren, über die Anmerkungen einig sein. Das hilft, einseitige Bewertungen zu verhindern.

Unter dem Titel Vielfältige Sichtweisen wird erläutert, wie das Modell Kollektive Anmerkungen mit unterschiedlichen Sichtweisen umgeht.

Kollektive Anmerkungen möchte Anmerkungen identifizieren, die wahrscheinlich viele Leute auf X hilfreich finden, auch Leute mit verschiedenen Sichtweisen.

Bei der Suche nach Anmerkungen, die möglichst verschiedene Leute hilfreich finden, berücksichtigt Kollektive Anmerkungen nicht nur, wie viele Mitwirkende eine Anmerkung als hilfreich oder nicht hilfreich bewertet haben, sondern auch, ob die Leute, die sie bewertet haben, unterschiedliche Sichtweisen haben.

Soweit die Verlautbarungen der Plattform X.

Nehmen wir uns einmal ein konkretes Beispiel vor: Donald Trump ist der Ansicht, dass ihm der Wahlsieg im Jahre 2020 gestohlen worden sei. Obwohl es überzeugende Hinweise gibt, dass dies nicht stimmt, haben sich viele Leute dieser Ansicht angeschlossen. Solche Leute gehören zu den Mitwirkenden bei den Community Notes und müssten bei einer negativen Berurteilung zustimmen, was sie in diesem Fall verständlicherweise nicht tun werden. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Bei dieser Sachlage ist es nahezu ausgeschlossen, dass bereits verbreitete Falschmeldungen negativ notiert werden. Das System ist zahnlos und strukturbedingt ungeeignet, der Falschmeldungen Herr zu werden.

In der neuen Informationsweltordnung

haben die Menschen mit den größten Plattformen und Anhängern mehr Macht denn je, die Realität zu gestalten. Das ist eine seismische Verschiebung in der Art und Weise, wie Realitäten in Echtzeit geformt werden,

schreibt Mike Allen auf Axios (übersetzt von DeepL).

Kurzum: Wir müssen lernen, mit Falschmeldungen zu leben. Jeden Einzelnen von uns betrifft das. Das einzige, was uns hilft, ist kritisches Denken, Skepsis.

Nachtrag, 15.1.2024: Was Europas Presse dazu schreibt.

Die europäischen Regeln für digitale Dienste: DSA

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The Pursuit of Happiness

Tragende Säulen des amerikanischen Way of Life sind die vermeintlich gottgegebenen unveräußerlichen Rechte Life, Liberty and the Pursuit of Happiness, Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit. Dort ist es aufgeschrieben: The Declaration of independence.

Ideologieverdacht

Es war 1982, da habe ich mir Gedanken über die Ziele der Politik gemacht und notiert:
– Möglichst viele zufriedene Menschen
– Mehr zufriedene als unzufriedene Menschen
– Möglichst wenige unzufriedene Menschen.

Zwanzig Jahre später habe ich Mary Douglas gelesen und Jeremy Benthams Prinzip des »größten Glücks der größten Zahl« kennengelernt. Manch einer hält den damit verbundenen Utilitarismus für einen Fortschritt gegenüber Immanuel Kants kategorischen Imperativ.

Sowohl Kants Gesinnungsethik als auch Benthams Utilitarismus kennzeichnet das Bestreben, die Glückseligkeit auf viele, möglichst auf alle auszudehnen.
Aber, o Schreck, schnell wird Philosophie zur Ideologie. Ich erinnere an die Pädagogik Kants und den Utilitarismus Peter Singers. Derartige Idealisierungen und Überdehnungen können das Denken vernebeln.

Die in der Unabhängigkeitserklärung genannten unveräußerlichen Rechte sind nämlich nur dem Individuum zugerechnet. Sie sind Rechte des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und nicht etwa umgekehrt. Sehen wir uns zunächst genauer an, welcher Ärger droht, wenn wir das Recht auf Glückseligkeit überdehnen. Weiterlesen

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Geld herrscht

Die USA sind die Vorzeigedemokratie der Welt, zumindest wenn man ihrer Propaganda Glauben schenkt.

Dabei lag den Gründungsvätern der USA – insbesondere James Madison (1751 bis 1836) und Alexander Hamilton (1755 oder 1757 bis1804) – nichts ferner als die Einrichtung einer wirklichen Volksherrschaft, einer »Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk«, wie es der 16. Präsident der USA Abraham Lincoln im Jahr 1863 ausdrückte. Das Ganze sollte nur so aussehen.

In einer Bundesversammlung machte Hamilton die folgende Bemerkung zum Charakter einer »guten Regierung«:

Alle Gesellschaften teilen sich in die Wenigen und die Vielen. Die Ersteren sind die Reichen und die aus guter Familie, die anderen sind die Masse des Volkes. Man nannte die Stimme des Volkes Gottes Stimme: Aber wie selbstverständlich diese Maxime auch zitiert und geglaubt worden ist, sie ist freilich nicht wahr. Das Volk ist unruhig und wechselhaft; selten treffen seine Urteile und Auffassungen zu. Wenn man allerdings der oberen Klasse einen deutlichen und dauerhaften Anteil an der Regierung verschafft, so wird sie die Unbeständigkeit der anderen in Schach halten. Und da sie keinen Vorteil durch einen Wechsel erlangen kann, wird sie stets an einer guten Regierung festhalten.

Das Volk braucht die Illusion von Demokratie. Die Kluft zwischen dem was ist und dem was sein soll schließt die Propaganda. Darin sind die US-Amerikaner Meister. Sie haben die moderne Werbung vervollkommnet. Wie diese funktioniert, erleben wir tagtäglich in der Presse, in Funk, Fernsehen und im Internet. Man sollte sich dabei immer die Fragen stellen, wer wohl hinter der gerade gehörten oder gelesenen Meldung steckt und wie sie demjenigen nützen könnte und vor allem warum vieles andere, das für einen genauso wichtig und interessant wäre, nicht berichtet wird.

Dass die Eliten ihre Fähigkeiten zur Volksbeeinflussung ständig weiterentwickeln, lässt sich an den Wirtschaftsnobelpreisen ablesen. Schon die Bezeichnung »Wirtschaftsnobelpreis« ist Hochstapelei, denn dieser »Alfred-Nobel-Gedächtnispreis« war nicht im Sinne Alfred Nobels und wurde von ihm auch nicht gestiftet. Preisträger des Jahres 2017 ist Richard Thaler. Sein Buch Nudge ist eine Anleitung zur wirksamen Beeinflussung der Massen, vorzugsweise ruhiggestellter Konsumenten, die vermeintlich einen freundlichen Schubs in die richtige Richtung brauchen.

In dieser uns vertrauten Welt des Scheins geschieht nun Ungeheuerliches. Donald Trump – soeben zum 47. Präsidenten in der USA gewählt – geht unter die Oberfläche. Der Großmeister des Humbugs serviert uns die Wahrheit ungeschminkt. Donald Trump hat superreiche Unterstützer, alle mehrere Milliarden Dollar schwer: Elon Musk, Larry Ellison, Jeff Bezos, Peter Thiel, … Der Einfluss des Geldes auf die Politik wird nicht etwa verschämt zugegeben. Nein, man trägt die Verbindungen offen zur Schau und ist stolz darauf.

In vielem sind die USA für uns Europäer und insbesondere uns Deutsche Vorbild. Vor allem die Checks and Balances haben es uns angetan. Die Gewaltenteilung funktioniert bei uns derzeit recht gut und vielleicht sogar besser als in den USA. Auch den Föderalismus verdanken wir den USA. Ich halte ihn für ein wichtiges Element der Gewaltenteilung.

Die USA führen uns auch die Gefahr vor Augen, dass sich die Demokratie als Plutokratie entpuppt. Dagegen anzugehen, halte ich für verdienstvoll. Eine Organisation, die genau das tut, ist LobbyControl. Ihr aktuelles Thema: Parteispenden.

Quelle des von Alexander Hamilton stammenden Zitats ist Joseph Vogls Buch Der Souveränitätseffekt (2015, S. 153 f.).

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Vorsicht Statistik!

Wenn der Hochschulpräsident „die neuen Studierenden willkommen heißt“, dann wendet er sich an Leute, die sich zwar für ein Studium eingeschrieben haben, die möglicherweise auch vorhaben zu studieren, aber es gerade eben nicht tun, die folglich zur Zeit der Ansprache gar keine Studierende sein können.

Das Gendern ist gar nicht so einfach, es ziert eigentlich nur Leute, die ein bereits hochentwickeltes Sprachgefühl besitzen. Ich jedenfalls fühle mich überfordert und nicht inkludiert.

Das macht nichts. Was mich aber wundert, ist die Fürsprache, die das Gendern in akademischen Kreisen und unter Nachrichtensprechern genießt. In meinem Alltag kommt es nicht vor. Auch meine dem Gendern zugeneigten Freunde sprechen eher unauffällig.

Mir stellt sich die Frage: Wie verbreitet ist das Gendern eigentlich? Was sagt die Statistik dazu? Und damit bin ich bei meinem Thema.

Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung werteten im Rahmen der Deutschland-Erhebung 2017/18 insgesamt 1439 Onlinefragebögen in Bezug auf die angebotenen Möglichkeiten zum Ausfüllen eines Satzes aus. Fast fünfzig Prozent Zustimmung findet dieser Satz: „Die neu gestalteten Gruppenräume in der Bibliothek bieten den Studierenden optimale Arbeitsbedingungen.“

Weit abgeschlagen sind Alternativen anstelle der „Studierenden“ wie Doppelnennungen, Gender* und dergleichen. Auch das generische Maskulinum hat in dieser Umfrage keine Chance.

Dieser Umfrage nach ist das Gendern also sehr beliebt und das Pro offenbar längst entschieden. Oder ist es vielleicht so, dass diese Umfrage genau diesen Eindruck erwecken will?

Bei den Gruppenräumen in der Bibliothek geht es ja tatsächlich um die Leute, die dort studieren wollen. Auch ich würde in diesem Fall von Studierenden sprechen – egal ob Studenten oder nicht. Demgegenüber ist die Formulierung des Hochschulpräsidenten – streng genommen – schlechtes Deutsch.

Die Umfrage ist ein schönes Beispiel für die Grenzen der Wissenschaft: Das Objekt der Beobachtung lässt sich vom Denkrahmen und den Wertvorstellungen des Beobachters nicht trennen. Objektivität im klassischen Sinn ist bei gesellschaftlichen Fragestellungen nicht erreichbar. 

Für Michel Foucault ist das ein Kennzeichen der Moderne (Die Ordnung der Dinge, 1974, S. 439):

Die abendländische Kultur hat unter dem Namen des Menschen ein Wesen konstituiert, das durch ein und dasselbe Spiel von Gründen positives Gebiet des Wissens sein muß und nicht Gegenstand der Wissenschaft sein kann.

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Angela Merkel: Teufel oder Heilige?

Angela Merkels Buch Freiheit habe ich mir sofort nach Erscheinen am vergangenen Dienstag, den 26.11.24 besorgt. Mehr als den Prolog habe ich noch nicht geschafft, denn der Wälzer braucht Zeit. Die werde ich mir nehmen. Schon die auch bei mir auf DDR und BRD aufgeteilte Biografie schafft Verbundenheit.

Einmal, so erinnere ich mich, habe ich Angela Merkel auch gewählt. Ich bin halt Wechselwähler. Jedenfalls fand ich seinerzeit, dass sie einiges richtig gemacht hat: Im nachbarschaftlichen Verhältnis zu Russland und in der Flüchtlingskrise 2015/2016. Ihren Gebrauch des Wortes „alternativlos“ fand ich aber schon immer grässlich. Dann kamen die AfD und Putins Angriffskrieg. Die „Wahrheit“ wurde neu kalibriert.

Abgesehen vom Prolog ist mein Informationsstand zum Buch gegeben durch die Videos der Interviews mit Anne Will am Vortag und am Tag der Buchvorstellung im Deutschen Theater.

Was mich heute schon zu einem Artikel provoziert, sind die stante pede erschienenen 38 Rezensionen bei Amazon – so der Stand heute, zwei Tage nach Erscheinen des Buches.

Aktuelle Amazon-Rezensionen

Über die Hälfte davon sind Verrisse in dieser Tonlage:

Wie banal kommt sie daher, ohne kritische Reflexion, ohne ein Eingeständnis ihrer Fehler.

Eine andere:

Merkel vermeidet konsequent, Fehler einzugestehen. Weder die umstrittene Energiewende noch die Herausforderungen der Eurokrise oder die Polarisierung der Gesellschaft durch ihre Migrationspolitik werden kritisch beleuchtet.

Es geht noch toller:

Sowohl der Titel als auch der Preis für dieses Schundwerk sind eine Frechheit.

Auf der Gegenseite heißt es:

Einen so tiefen und ehrlichen Einblick, ohne sich zu bemitleiden oder zu bejubeln, habe ich selten seitens eines Politikers gelesen.

Und:

Frau Merkel war das beste Staatsoberhaupt das wir je hatten.

Den meisten Rezensenten geht es nicht um das Buch, sondern um die Politik. Sie müssen das Buch also gar nicht gelesen haben. Die Rezensionen spiegeln Zerrissenheit und Polarisierung unserer Gesellschaft. Darin sind die USA Vorreiter und kein gutes Vorbild.

Der Tumult um das Buch führt uns einen weiteren Irrtum vor Augen, nämlich das, was ich die Erinnerungsfalle nenne. Der Volksmund sagt: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Die Verzerrung der Wirklichkeit kann sich in die eine oder die andere Richtung auswirken, als Beschönigung oder als Übertreibung. Dabei ist das, was man im Nachhinein für falsch hält, oftmals nur ein ganz Normaler Irrtum. Ich neige dazu, auch die Nord Stream Pipeline für einen solchen zu halten. Was das Buch selbst angeht, werde ich mich später noch einmal melden.

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