Wenn sich zwei Gruppen von Biologen einander angiften, dann kann der durch Karl Raimund Popper geschulte Ingenieur nur verwundert zusehen. Er wird keine Partei ergreifen. Aber er kann sich den Stein des Anstoßes etwas näher ansehen.
Der Streit zwischen der Nature-Fraktion, repräsentiert durch Richard Dawkins, und der Nurture-Fraktion, repräsentiert durch Edward Osborne Wilson, kam im Laufe der Diskussion des letzten Artikels ausgiebig zur Sprache.
Im Diskussionsfaden wird die Meinung vertreten, dass Edward Osborne Wilson das von ihm selbst geschaffene Gedankengebäude der Soziobiologie zum Einsturz gebracht habe. Nach dieser Auffassung
hat Wilson die Verwandtenselektion seit 2010 und vor allem in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Erde” eindeutig und komplett falsifiziert, ganz nach der von mir glaube ich auch schon mehrfach vorgebrachten Aussage: „Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ (Wilson 2013, S. 68)
Der Anlass
Stein des Anstoßes ist ein Nature-Aufsatz vom August 2010: The evolution of eusociality. Martin A. Nowak, Corina E. Tarnita & Edward O. Wilson.
Darum geht es: Wie kann sich Altruismus, allgemeiner gesprochen: soziales Verhalten, in einer Welt entwickeln, die von egoistischen Genen regiert wird.
Darin wenden sich Wilson und Mitstreiter von der Gesamtfitnesstheorie und dem Prinzip der Verwandtschaftselektion ab. Sie räumen der kulturellen Evolution Vorrang vor der genetischen ein: Nurture besiegt Nature, zumindest dann, wenn es um die Evolution sozialen Verhaltens geht.
Das konnte dem Verkünder des egoistischen Gens, Richard Dawkins, nicht gefallen. Er wurde ausfällig wie beispielsweise in seiner berühmten Besprechung des Wilson-Buchs The Social Conquest of Earth.
Der Stil in diesem Streit ist unpassend, er geht wohl auf die uns angeborene Neigung zur Kontrastbetonung zurück. Es steht mir nicht zu, zu entscheiden, wer in diesem Streit mehr recht hat. Aber eins traue ich mir zu, nämlich die Bewertung, ob der Stein des Anstoßes wirklich Anlass bietet, die Theorie der Verwandtschaftsselektion für falsifiziert zu erklären.
Das statistische Argument
Gemäß dem Lehrbuchwissen wird das Sozialverhalten staatenbildender Insekten wie das der Bienen mit dem besonders hohen Verwandtschaftsgrad innerhalb dieser Völker erklärt: Haplodiploid-Hypothese. Wilson und seine Mitstreiter halten dagegen:
The association between haplodiploidy and eusociality fell below statistical significance.
Zwei Fragen drängen sich auf:
1. Wird durch Widerlegung einer speziellen Subtheorie (Haplodiploid-Hypothese) zugleich die sie überwölbende allgemeine Theorie der Verwandtschaftsselektion widerlegt?
2. Was ist, wenn trotz bester Fortpflanzungsmöglichkeiten die auslösende Mutation für Sozialverhalten ausbleibt?
Wilson und seine Mitstreiter berichten von Arten mit Haplodiploidie, die kein Sozialverhalten entwickelt haben. Das muss ja auch nicht sein, denn die Haplodiploidie ist für das Entstehen von Sozialverhalten keine hinreichende Bedingung. Andererseits kann neben weiteren Faktoren die Verwandtschaftselektion wirksam sein, auch wenn, wie bei den Termiten, keine Haplodiploidie vorliegt. Die Haplodiploidie ist also auch im Rahmen des gängigen Wissens keine notwendige Bedingung für die Entstehung von Sozialverhalten.
Also: Das statistische Argument kann mich nicht überzeugen, und das hat nichts mit Biologie zu tun, sondern allein mit Logik. Aber das ist ja noch nicht alles. Jetzt geht es erst richtig los mit der neuen Theorie.
Der Ansatz
Die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie beansprucht, eine vollständige Theorie der Entstehung des Sozialverhaltens (eusoziale Evolution) zu sein. Sie besteht aus einer Reihe von Stufen. Dazu gehören auf den untersten Stufen präadaptive Merkmale, die zu einer engen Gruppenbildung führen, ein verteidigbares Nest (defensible nest) und das Auftreten von Mutationen, die das Ausbreitungsverhalten unterdrücken.
Zu einer falsifizierbaren Theorie wird das natürlich erst, wenn man es weiter präzisiert. Das geschieht mit einem mathematischen Modell.
Das Modell
Die Welt ist nicht in unserem Kopf. Es ist die Vorstellung von der Welt, die in unserem Kopf ist. Damit kommen wir gut zurecht, weil die Vorstellungen zunehmend besser zu unserem Erfahrungen passen. Der Mathematiker macht die Vorstellungen zu Modellen, auf deren Basis der Informatiker blendende Simulationsexperimente macht. Wir erliegen leicht einer Täuschung, indem wir die Modelle für die Realität halten.
Damit sind wir bei der Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie: Sie besteht im Kern aus mathematischen Modellen, genauso wie die Theorie der inklusiven Fitness Basis der hamiltonschen Ungleichung ist.
Diese mathematischen Modelle beruhen auf mehr oder weniger plausiblen Annahmen. Eine Verifizierung oder Falsifizierung der Theorien ist anhängig.
Im Dokument konnte ich keine Stelle finden, wo die gewählten Modellstrukturen und Parameter mit irgendwelchen Erfahrungswerten oder Messungen abgeglichen wurden. Wir haben es mit Setzungen zu tun, die dazu dienen, das qualitative Verhalten von Populationsdynamiken zu reproduzieren.
Prognostischen Wert hat das alles nicht. Und danach wollen wir doch wissenschaftliche Theorien beurteilen, oder? In der Arbeit von Nowak, Tarnita & Wilson geht es immer nur um das Modell und nicht um das, was sich in der Natur tatsächlich abspielt.
Auch die Nützlichkeit dieser Art der Modellierung, nämlich Gleichungen und Differentialgleichungen für aggregierte Größen, stelle ich für den vorliegenden Zweck infrage. Dieser Ansatz wurde seinerzeit schon im Zusammenhang mit den Grenzen des Wachstums und bei Global 2000 kritisiert. Mir schien das damals vertretbar zu sein. Auch dem Selektionsprozess in der biologischen Evolution kann man so näher kommen.
Niemand aber wird wohl auf die Idee kommen, den Geistesblitz oder den schöpferischen Prozess mit Differentialgleichungen zu modellieren. Bei der Evolution sozialen Verhaltens traut man sich das aber zu. Ich habe den Verdacht, dass da eine Pseudowissenschaft entstanden ist.
Die Schlussfolgerungen
Die Autoren schreiben
If you have a theory that works for all cases (natural selection) and a theory that works for only some cases (kin selection) and where it works, it agrees with the general theory, why not simply use the general theory everywhere?
Das besagt doch nur, dass ihre Theorie – ob richtig oder falsch – die Verwandtschaftsselektion abdeckt. Es heißt nicht, dass sie diese widerlegt.
Ich bleibe bei meinem Urteil: Wilson hat die Verwandtschaftsselektion nicht falsifiziert. Damit ist auch die Titelfrage negativ beantwortet.
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