Gendern hilft, weil Gendern hilft

Jetzt ist es wissenschaftlich erwiesen: Durch das generische Maskulinum wird ein männerlastiges Bild ausgelöst. Das ist das Ergebnis einer Studie des Würzburger Psychologieprofessors Fritz Strack. Ihn haben wir schon kennengelernt als Träger des Ig-Nobelpreises.

Diese Studie überzeugt mich nicht. Warum? Zwar wird von den meisten Deutschen das Gendern abgelehnt. Wir können aber von etwa zwanzig Prozent ausgehen, die dem Gendern positiv gegenüberstehen. Ich nehme an, dass dieser Prozentsatz auch für die Studienteilnehmer gilt.

Die Genderanhänger kann man zu den aufgeweckten Leuten rechnen (woke). Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Fragen der Studie bei ihnen ein Filter durchlaufen, das für eine Schieflage (Bias) des Studienergebnisse sorgt: Ist kein Hinweis zu finden, dass Nichtmänner mitgemeint sind, dann sind sie für den aufgeweckten Studienteilnehmer eben nicht mitgemeint.

Ich bringe dieses Beispiel, weil es sehr gut zu meinem vorhergehenden Artikel passt: Das Instrumentarium des Naturwissenschaftlers – messen und statistisch auswerten – ist ungeeignet, wenn sich das untersuchte Objekt nicht klar vom Beobachter trennen lässt.

Diese Studie fällt für mich in die Kategorie Statistikplunder, ein zentrales Thema dieses Hoppla-Blogs.

Um mich vor Angriffen der Wokies zu schützen, könnte ich jetzt behaupten, dass der Artikel ironisch gemeint sei. Das hilft leider nichts. Diese Behauptung könnte ja Ironie sein.

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GWUP: Am Ende des Wegs?

Die Skeptikerbewegung in Deutschland, namentlich die GWUP, befindet sich in einer Zerreißprobe, deren öffentlicher Widerhall unüberhörbar ist.

Bisher hat sich die Skeptikerbewegung in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit platten praktischen Dingen wie Homöopathie und Astrologie zur Schulung des kritischen Denkens und mit Verbraucheraufklärung befasst – weniger mit theoretischen Tiefenbohrungen.

Intern aber gab es eine Tiefenbohrung. Diese trat unter der Namen Ontologischer Naturalismus auf. Das führte nach 15 Jahren Mitgliedschaft und siebenjähriger Auseinandersetzung damit zu meinem Austritt aus der GWUP. Dieser Satz von Oscar Wilde fällt mir dazu ein: Those who go beneath the surface, do so at their peril. (Wer sich die Details antun will, der wird im Hoppla!-Blog unter dem Stichwort »Skeptikerbewegung« fündig.)

Der intern spürbare Fanatismus hat mich abgestoßen. Es ist kein Wunder, dass Fanatiker der einen Sorte die einer anderen anziehen. Wer den aktuellen Zwist verstehen will, der muss mehr als ein halbes Jahrhundert zurückgehen, in eine Zeit also, in der es die GWUP noch nicht gab.

Kritisches irgendwas

Gegenpole sind auf der einen Seite die Kritische Theorie, die ein Denksystem oder eine Gesellschaft von innen heraus analysiert und kritisiert und andererseits der Kritische Rationalismus, der versucht, einer vom Denken unabhängigen Realität mit Hilfe von Mathematik und Logik beizukommen. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Denkrichtungen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ist als Positivismusstreit in die Annalen eingegangen. Exponenten und prägende Figuren in diesem Streit waren auf Seite der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno und auf Seite des Kritischen Rationalismus Karl R. Popper.

Kurz gesagt: Für den einen ist der Denkrahmen vorgegeben durch den zu untersuchenden Bereich und für den anderen ist er unabhängig davon. Das sind die jeweiligen Prämissen.

Als Beleg für diese Differenzierung zitiere ich aus Adornos Einleitung zu Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969, 1989, S. 10):

Zu fragen wäre, ob eine bündige Disjunktion gilt zwischen der Erkenntnis und dem realen Lebensprozeß; ob nicht vielmehr die Erkenntnis zu jenem vermittelt sei, ja ob nicht ihre eigene Autonomie, durch welche sie gegenüber ihrer Genese sich produktiv verselbstständigt und objektiviert hat, ihrerseits aus ihrer gesellschaftlichen Funktion sich herleite; ob sie nicht einen Immanenzusammenhang bildet und gleichwohl ihrer Konstitution als solcher nach in einem sie umgreifenden Feld angesiedelt ist, das auch in ihr immanentes Gefüge hineinwirkt.

Gewitterwolken ziehen auf

Aufmerksam geworden bin ich auf den sich entwickelnden Konflikt durch einen Aufsatz von Martin Mahner im skeptiker, dem Vereinsblatt der GWUP, erschienen auch als Gastbeitrag im GWUP-Blog.

Dass der Aufsatz einen GWUP-internen Krach anzeigte, dessen wurde ich erst später über Internet-Medien gewahr, nämlich als bei der Neuwahl des Vorstands auf der letzten Mitgliederversammlung am 20. Mai 2023 nicht der vom scheidenden Vorsitzenden Amardeo Sarma vorgeschlagene Rouven Schäfer gewählt wurde, sondern Holm Hümmler. Von einem Handstreich ist die Rede.

Die beiden werden offenbar verschiedenen Fraktionen zugeordnet:

  • Schäfer der „alten GWUP“ (kritisch rational bis szientistisch, universell orientiert und Objektivität beanspruchend, anti-woke).
  • Hümmler der „neuen GWUP“ (der Critical Theory zugeneigt, partikularistisch und relativistisch, pro-woke).

Diese Sortierung ist in einer Reihe von Videos und Podcasts klar gemacht worden:

Austritte

Es häufen sich die Austritte, darunter Prominente wie Edzard Ernst (2.2.2024) und Florian Aigner (April 2024).

Ergänzung am 11.4.2024: Wie unversöhnliche es inzwischen zugeht, das zeigt ein offener Brief von Ulrich Berger, in dem er den Austritt Aigners kommentiert.

Rücktrittsforderung und Rücktritt

Offenbar können sich einige Leute, deren Herzensangelegenheit die GWUP ist, das nicht länger mit ansehen. Ulrich Berger, dem wir im Hoppla!-Blog schon begegnet sind, kündigte im Gespräch mit André Sebastiani an, Holm Hümmler auf der Mitgliederversammlung am 11. Mai 2024 zum Rücktritt aufzufordern. Dem kam Holm Hümmler zuvor, was Andreas Edmüller ziemlich gnadenlos kommentierte.

Schlussbemerkung

Die Skeptikerbewegung hatte nie etwas mit Skeptizismus zu tun. Skeptikerbewegung ist ein Widerspruch in sich. Der Skeptiker ist kein Rudeltier. Die Kontroverse pro und kontra woke ergibt sich auch aus diesem Selbstwiderspruch. Dennoch: Sollte der Verein untergehen, täte es mir leid. Ich habe durch die Auseinandersetzungen viel gelernt.

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Die Neue Rechte wird grundsätzlich – und irrt herum

Eine Angst geht um in Europa: Die Neue Rechte setzt auf intellektuelle Aufrüstung und auf Erkenntnisse der Wissenschaft. Die Angst ist unbegründet, denn entweder die Argumente überzeugen, oder eben nicht.

Es führt kein Weg daran vorbei: Ich werde in die Ideenwelt der Neuen Rechten eintauchen müssen. Geeignet erscheint mir das Werk Regime Change von rechts – eine strategische Skizze (2023). Der Autor Martin Sellner ist erst kürzlich mit seiner Rede von der Remigration ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Das war Ende November in einem Landhotel bei Potsdam.

Das Buch polarisiert. Die Amazon-Kritiken sind, mit einer Ausnahme, extrem: 46-mal ein Stern und 33-mal alle fünf Sterne. Ich bezweifle, dass viele der Rezensenten des Buch gelesen haben; sie zeigen eine in der Gesellschaft bereits vorhandene Polarisierung.

Begriffsarbeit

Es geht den Neurechten um das durch massenhafte Zuwanderung bedrohte »Volk«. Was genau ist es, was da bedroht wird?

Begriffsbestimmungen haftet etwas Willkürliches an. Das haben wir schon beim Streit um den Begriff der Rasse gesehen. Vorsichtshalber wird von Sellner die genaue Definition auf später verschoben:

Diese weltanschauliche Aufgabe besteht vor allem in einer Arbeit am Begriff (insbesondere an Worten wie »Volk«, »Bevölkerung«, »Staatsbürger«, »Nation«, »Kultur«, »Assimilation«, »Demokratie«, »Staat« etc.).

Viel Glück dabei!

Auch wenn man die Begriffe noch nicht hat, kann man mit der Theoriebildung schon einmal loslegen. Es hebt die Stimmung, wenn einem dazu die passenden Reizwörter oder Trigger einfallen.

Remigration und Reconquista

Der neue Leitbegriff heißt »Remigration«. Als Vorbild für die Rückeroberung des deutschen Lebensraumes dient die spanische Reconquista, eine wechselvolle Geschichte, in deren Verlauf die Moslems weite Teile der iberischen Halbinsel beherrschten aber letztendlich zurückgedrängt wurden. Das ging von 722 bis 1492, nahezu acht Jahrhunderte lang. Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb sich die Reconquista nicht als Schnittmuster für neurechtes Gedankengut eignet.

Der spanische Nationalheld El Cid war mal auf der christlichen Seite und auch mal auf der maurischen Seite tätig. In den 770 Jahren dieser Epoche war allerlei Gelegenheit für die Übernahme der jeweils anderen Kultur.

Der bedeutende jüdische Philosoph Moses Maimonides (1138-1204) verweist auf die muslimischen Mutakallimūn, denen das Abendland die Überlieferung griechischen, also heidnischen Wissens verdankt. Von Aristoteles hätten wir ohne sie möglicherweise nie erfahren.

Die Mauren, die Mohren also, brachten aus ihrer Heimat ein bereits voll ausgereiftes Instrument mit, eine arabische Laute. Daraus entwickelte sich die Gitarre und das Genre der arabisch-andalusischen Musik.

Dann lese ich von großartigen Bauten, beispielsweise von der Kathedralmoschee in Cordoba und der Alhambra. (Das Tárrega-Stück Recuerdos de la Alhambra habe ich in meiner Schulzeit in einem kleinen Gitarre-Konzert als Zugabe gespielt.)

Migration

Das Ende der Reconquista ist nicht das Ende der Geschichte. Danach ging es erst richtig los: Es folgten die „Eroberung des Paradieses“, die Vernichtung zweier Großkulturen im Süden und die Entwürdigung der Eingeborenen im Norden Amerikas. Danach kamen der Sklavenhandel und die Aneignung der Bodenschätze Afrikas.

Die Rechnung für den Imperialismus wird uns Europäern heute präsentiert: die Migration. Der Kreis schließt sich.

Die Neue Rechte gibt eine Antwort auf die befürchtete Überfremdung durch Einwanderung. Die Rede ist von einem Bevölkerungsaustausch.. Anlass ist die sogenannte Flüchtlingskrise mit ihrem Höhepunkt im Herbst 2015. Im Gesamtjahr wurden nahezu eine Million Schutzsuchende registriert.

Man kann keiner Nationen verwehren, seine Einwanderungspolitik zu bestimmen, und zwar nach Interessenlage. Reizwörter (Trigger) wie »Remigration« und »Reconquista« schüren Emotionen und behindern die sachgerechte Entscheidungsfindung. Ideologisierung ist keine passende Antwort auf solch praktische Fragen. Das gilt auch für eine ideologisch oder religiös aufgeladene Willkommenskultur („Wir schaffen das“).

Basis und Überbau

Ganz irre wird es bei dem Versuch, die Strategie der Linken zu kopieren. Martin Sellner fordert ein Primat der Ideologie. Er kennt die Analyse von Karl Marx, in der die Ökonomie als Basis benannt wird. Darüber erhebt sich der Überbau, die Ideologie. Sellner folgt lieber Lenin, der es andersherum sieht: Die ökonomischen Bedingungen eines Landes werden revolutioniert durch eine Idee:

Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.

Die Idee hat nichts getaugt und unter Stalin Millionen von Todesopfern in den Sowjetrepubliken zur Folge gehabt. Noch während meiner Kindheit in der DDR verschwand dann Stalin aus den offiziellen Bildern. Das Ende der Geschichte haben wir 1991 erlebt. Es ist nicht zu erwarten, dass die Neue Rechte mit dem Vorschlag, Marx von den Füßen auf den Kopf zu stellen, erfolgreicher sein wird.

Schlussbemerkung

Der Verlag für neurechte Literatur nennt sich Antaios. Namensgeber ist der Riese Antaios; dieser lebte in einer Höhle und jagte Fremde, Löwen und Einwohner seines Landes. Keiner war ihm gewachsen. Soweit kann man die Namensgebung ja noch verstehen. Die Geschichte nimmt ihre Wendung, als Herakles dem Riesen begegnet. Dieser erkennt, dass der Riese seine Kraft von der Erde, seiner Mutter Gaia bezieht. Herkules macht kurzen Prozess, hebt den Riesen hoch, beraubt ihn so seiner Kräfte und erwürgt ihn.

Vor der intellektuellen Schärfe der Neuen Rechten und der identitären Bewegung müssen wir keine Angst haben.

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Wir diskutieren nicht, wir eskalieren

Wir leben in einer Gesellschaft der gemäßigten Gegensätze, auch wenn Talkshows, Zeitungskommentare und die sozialen Medien einen anderen Eindruck erwecken. „This is not America“, schreiben Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Werk Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, 2023.

Ausgangslage

Um sich ein Bild von der gesellschaftlichen Spannungslage zu machen, gruppieren die Autoren die Befragten nach ihren Einstellungen zu den folgenden Ungleichheitsarenen
• Oben-Unten (Reiche und Arme),
• Innen-Außen (Migration),
• Wir-Sie (Gleichstellung und Normenwandel)
• Heute-Morgen (Klimakrise)
in drei Gruppen: konservativ, mittig und progressiv (S. 328).

Mit der Aufgliederung der Gesellschaft in solch eigenständige Arenen der Auseinandersetzung verblasst das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. „Konflikte sind zwar nicht strukturlos, aber eben auch nicht durch ein klares Gegeneinander unterschiedlicher Sozialstrukturgruppen geprägt“ (S. 25).

Dennoch haben wir den Eindruck einer „großen Gereiztheit“ (Bernhard Poerksen) unserer Gesellschaft. Warum? Ich will hier die Aufmerksamkeitsökonomie der öffentlichen und der sozialen Medien einmal außer Acht lassen. Eskalationen brauchen nicht die große Bühne; sie passieren im kleinen Kreis der Familie und auch hier im Hoppla!-Blog.

Triggerpunkte – Aus Streit wird Feindschaft

Mancher Streit eskaliert; es kommt zum Kontrollverlust, wie beim Besäufnis nach dem Abitur („Wir feiern nicht, wir eskalieren“) – so meine Anspielung im Titel.

Wer den wunden Punkt des anderen kennt, ist versucht, diesen zu berühren. Es sind die Triggerpunkte, die wütend machen. Die besten Methoden, eine Diskussion entgleisen zu lassen, sind

1. Grundsätzlich werden,
2. Ideologisieren und
3. Emotionalisieren.

Werden Triggerpunkte berührt, dann überwiege die affektive gegenüber der kognitiven Komponente von Einstellungen, so Mau, Lux und Westheuser. In der bundesrepublikanischen Diskussion genügen einzelne Wörter für das Triggern: SUV, Gendersternchen, Messerstecher, Transquoten, Sozialbetrug, Political Correctness, Clan-Bosse, …

Trigger Rasse

Wie Diskussionen eskalieren können, haben wir in diesem Hoppla!-Blog vorgeführt, beispielhaft beim Thema Rassismus. Offenbar waren sich die Diskussionsteilnehmer darin einig, dass Rassismus zu verurteilen ist. Die Sache kochte hoch, als es darum ging, das Wort Rasse im Grundgesetz zu tilgen. Ob das nötig oder hilfreich ist, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Praktische Auswirkungen hätte die Tilgung nicht.

Aber dann wurde es grundsätzlich. Die Wissenschaft wurde ins Spiel gebracht und die Diskussion ideologisch und emotional aufgeladen:

Der Begriff der Rasse ist offensichtlich wissenschaftlich veraltet.

Mein Versuch, der Debatte die Spitze zu nehmen, wurde elegant umgangen. Über den Streit Verwandtschafts- kontra Gruppenselektion, im Jahre 2012 ausgelöst durch Richard Dawkins, gewann sie wieder an Schärfe:

Vorwürfe des Rassismus werden strikt bestritten, und wenn Wilson die Soziobiologie aus anderen Gründen falsifiziert, wird das nicht diskutiert und aufgearbeitet, sondern diese Kritik wird praktisch wie in der Kirche einfach auf den Index gesetzt, obwohl Wilson es war, der die Soziobiologie als neues Paradigma einst begründete. So etwas nenne ich Dogmatik.

Mit dem Vorwurf der Dogmatik auf beiden Seiten ist die höchste Eskalationsstufe erklommen, denn die Falsifikation wird ja nur dann erreicht, wenn man den Aussagen eine wahre Theorie entgegensetzt.

Und das ist der grundsätzliche Jammer des popperschen Systems: Von wissenschaftlichen Aussagen wird die grundsätzliche Falsifizierbarkeit verlangt, bei der faktischen Falsifizierung tut man sich schwer, denn wahre Theorien gibt es in diesem Denksystem nicht. Nur eine solche hätten die Kraft, ein Denkgebäude zu widerlegen.

Bisher habe ich etwas der Falsifizierung Vergleichbares nur einmal erlebt. Da hat der Verfechter einer Theorie selbst eingesehen, dass diese nicht funktioniert. Es war ein erschütterndes Erlebnis: ein großartiger und vorbildlicher Forscher, den Tränen nah. Ich erwähne es in meinem Buch über Grundlagen des Risikomanagements von 2001.

Das Erlebnis hat in mir die Erkenntnis reifen lassen, dass der Falsifikationismus ein erstrebenswerter individueller Lebensstil ist. Er eignet sich nicht zur Verurteilung des Denkens anderer.

Nachtrag vom 31. März 2024.
Da ist doch noch etwas: Ostern Friedensfest. Mit Zuspitzungen werden wir moralisch aufgerüstet, sozusagen kriegstüchtig gemacht. Das neueste Triggerwort ist »Einfrieren«. In der Zeitung vom Samstag lese ich auf Seite 6 den Kommentar:

Wenigstens der realistische Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich klar von Mützenichs skurrilem Vorschlag distanziert. Und damit liegt er auf der Linie der Wissenschaftler, für die „Einfrieren“ des Krieges eine Beendigung des Konflikts zugunsten des Angreifers bedeutet.

Anlass ist ein Brandbrief des Geschichtswissenschaftlers Heinrich August Winkler.

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Das alte Denken im neuen

Analogy as the Fuel and Fire of Thinking. Douglas Hofstadter & Emmanuel Sander

Eine Theorie der Welt müsse mit dem Trennen anfangen, nicht mit dem Messen und Abwägen, meint die Anthropologin Mary Douglas, und sie bezieht sich dabei auf das Klassifikationssystem für die natürlichen Arten: „The problem of natural kinds surely begins with the elementary classification processes and the principles used for sorting. A theory of the world would need to start with dividing, not with grading“ (1986, S. 62).

Trennen

Um Klarheit und Sicherheit zu gewinnen, teilen wir die Gegenstandsbereiche vorzugsweise auf in Gegensätzliches. Uns drängt es zur Schwarz-Weiß-Malerei.

Diese Art Kontrastbetonung rechne ich den angeborenen Lehrmeistern zu. Sie sind überlebensdienlich, haben aber auch eine dunkle Kehrseite. Manche Denkfalle lässt sich damit erklären (Grams, 2020).

Das Klassifizieren ist charakteristisch für das Denken der klassischen Epoche (Barockzeit); Michel Foucault (1966/2012) grenzt es ab vom Denken der Antike mit ihren Analogien. Hervorstechendes Beispiel ist die Taxonomie der Arten von Carl von Linné (1735).

Analogien

Die Samenkörner des Eisenhuts sehen Augen ähnlich, also sollte die Pflanze gegen Augenkrankheiten helfen. Die Walnuss soll Kopfschmerzen lindern, denn ihr Inneres ähnelt dem Gehirn.

Solcherart magisches Denken ist heute keineswegs überwunden. Die populäre Homöopathie lebt davon, und in Esoterikkreisen wirkt die Lehre des Hermes Trismegistos bis heute: „Wie oben, so unten; wie innen, so außen; wie der Geist, so der Körper“.

Die Uhrmacher-Analogie zieht sich durch die Jahrhunderte und wird in unserer Zeit durch die Intelligent-Design-Bewegung aufgegriffen. Sie vergleicht die planvolle Bewegung der Welt mit einer Uhr: Wie es eines Uhrmachers bedarf, so auch eines Schöpfers der Welt (Lennox, 2007).

Dass sich Reste des alten Denkens bis heute erhalten haben, ist bemerkenswert. Weitaus interessanter finde ich jedoch, dass dieses Denken auch im heutigen Wissenschaftsbetrieb eine tragende Rolle spielt.

Es ist zwar etwas Neues entstanden, aber dieses Neue enthält Einsprengsel vom Alten, so wie es umgekehrt in der Antike wissenschaftliches Denken gab (Eratosthenes). Warum nur kommt mir jetzt ein altes chinesisches Symbol in den Sinn?

Yin und Yang

Unser Schwarz-Weiß ist Metaphysik vs Wissenschaft. Als Abgrenzungskriterium nehmen wir die Falsifizierbarkeit nach Karl Raimund Popper: Falsifizierbare Aussagen konstituieren die Wissenschaft, alles andere ist Metaphysik. Übersetzen wir die Dichotomie in Kants Vokabular: Auf der einen Seite haben wir die Erfahrung und die Dinge des Verstandes; jenseits sind die transzendentalen Ideen.

Verstandesdinge lassen sich überprüfen, transzendentale Ideen fallen in das Herrschaftsgebiet der Vernunft. Dort wird nichts widerlegt oder bewiesen; es geht um Analogien, deren Plausibilität und um den Wettstreit der Argumente.

Im Hoppla!-Blog sind uns schon Beispiele für transzendentale Ideen begegnet: Das Ich (damit verbunden: die erwartungsgetriebene Wahrnehmung) und die Gruppenselektion. Da gibt es immer eine ganze Menge Wissenschaft aber auch tragende Elemente, die der Metaphysik zuzuordnen sind.

Unsere mathematischen Modelle sind dann nicht Abbilder dessen, was ist. Sie sind Analogien; ihr Verhalten ist dem der modellierten Naturprozesse ähnlich.

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Pastell

Dichotomien haben in meinem Leben eine große Rolle gespielt. Ende der 70er Jahre entdeckte ich Karl Raimund Popper für mich. Er erlöste mich von dem Zweifel an meinem Verstand: Mein Versuch in meiner Studienzeit die 68er-Kommilitonen zu verstehen, führte mich seinerzeit zu Hegel. Das Resultat: Ich verstand gar nichts mehr.

Das hat mich jahrelang belastet. Dann kam das „Erweckungserlebnis“: ein großer Artikel von Ralf Dahrendorf in der Wochenzeitung Die Zeit, in dem er das Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von Karl Raimund Popper zum Jahrhundertbuch erklärte. Ich las und meinte, etwas von zeitgenössischer Philosophie zu verstehen. Außerdem gewann ich die Gewissheit, dass ein Ingenieur Hegel gar nicht verstehen kann. Mein Selbstbewusstsein erholte sich.

Mit Lektüre der Logik der Forschung wurde ich Popperianer und die Welt schwarz-weiß: hier Wissenschaft, da Metaphysik. Während meines Berufslebens in der Industrie fand ich das unproblematisch. Unter Ingenieuren gibt es dazu ja keinen großen Widerspruch. Anfangs hatte ich eine fast szientistische Einstellung – etwas gemildert durch Zweifel an der diesbezüglich extremen Einstellung des Karl Steinbuch.

Ich wurde Professor und begann weiter über die Sache nachzudenken. Die Skeptikerbewegung zog mich an. Ich wurde Mitglied in der GWUP und blieb dort 15 Jahre. Ich trug sogar dazu bei, die dort übliche Schwarz-weiß-Malerei noch zu vertiefen, worüber ich im Artikel Pseudowissenschaft – Kampfbegriff oder mehr? berichte.

Anlässlich der Erstellung eines Webauftritts für den Fachbereich ET musste ich mich (als Gründungsdekan) auch mit Farben und deren Komposition beschäftigen. Pastell entsteht, wenn man einer Farbe alle anderen Farben beimischt, kurz: weißer macht. Geht man von Schwarz aus, dann entsteht Grau. Grau ist das Pastellste aller Pastelle, sagte ich mir damals. Ich füge das ein, weil sich allmählich meine Weltsicht zu ändern begann.

Die Schwarz-weiß-Malerei der extremen Skeptiker begann mich zu stören. Man sieht sich auf der Seite der Wissenschaft und weiß was wirklich ist, kennt die Wahrheit.

Ich begann Zwischentöne zu entdecken. Die Welt wurde für mich bunter, mit Beimischungen der Extreme, pastell sozusagen. Und das waren die Stufen meines Lernprozesses:

Was mich zuallererst störte, war der Wahrheitsanspruch der Naturalisten unter den Skeptikern. Mir wurde bewusst, dass auch Poppers Logik der Forschung einen solchen Wahrheitsanspruch nicht hergibt.

Mit der Zeitenwende kam dann auch noch der moralische Relativismus ins Spiel.

In diesem Hoppla!-Blog treten immer mal wieder Vertreter der Extrempositionen auf. Sie haben leider einen Hang zum Missionarischen und machen einem das Leben schwer. Aber ich muss zugeben: Ich brauche sie. Von den Diskussionen mit den Missionaren habe ich viel gelernt – mühsam zwar, aber dennoch.

In der Diskussion über Soziobiologie lernte ich, dass es neben der Dichotomie Wissenschaft vs Metaphysik mit der Unterabteilung Pseudowissenschaft noch eine ganze Menge gibt; nämlich Wissensgebiete, denen man die Wissenschaftlichkeit schwerlich absprechen kann und die in ihrer Gesamtheit das Popperkriterium nicht erfüllen. Es sind Weltbilder oder Weltanschauungen, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse oder zumindest wissenschaftliche Methoden getragen werden, die aber auch metaphysische und transzendentale Bestandteile haben.

Das ist das Feld der Diskurse. Die besseren Argumente gewinnen. Aussicht auf absolute Gewissheit besteht nicht. Hin und wieder muss man konkurrierende Ideen nebeneinander bestehen lassen.

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Jim Knopf und die Walpurgisnacht

Gerade haben wir die neueste Ausgabe unserer Tageszeitung in den Händen. Bei der Überschrift

Kein N-Wort mehr in „Jim Knopf“

gerät meine Partnerin aus dem Häuschen.

Ohne besonderes Interesse an der Angelegenheit erfahre ich, dass ein offenbar beliebtes Kinderbuch eine zeitgeistige Überarbeitung erfahren hat: Das Wort „Neger“ wird nicht mehr verwendet, „Indianerjunge“ wird zu „Junge“ und „Eskimokind“ zu „Inuitkind“.

Meine Freundin: Das ist ja das allerletzte, worüber sich die Leute so aufregen. Das ist ein Raub unserer Kultur.

Ich werde wach und wiegele ab: Man muss bei manchem Exzess der Cancel Culture nicht gleich an die Zensur im Dritten Reich oder in der DDR denken. Zur Beruhigung erzähle von einer Begebenheit aus meiner Schulzeit.

Der Lehrplan verpflichtete uns Schüler, Goethes Faust 1 zu lesen. Der Lehrer organisierte eine Sammelbestellung eines Taschenbuchs. Ich meldete mich und sagte: das Buch haben wir zu Hause. Ich wurde von der Beschaffung befreit und saß dann folglich mit meinem DDR-Buch „Goethes Werke in Auswahl – Sechster Band“ vom Aufbau Verlag Berlin 1949 unter meinen Mitschülern mit ihren neuen Taschenbüchern aus der BRD.

Das lief problemlos, bis wir zum Abschnitt Walpurgisnacht kamen. Bei mir las ich: Es f–t die Hexe, es st–t der Bock. Etwas verwundert stellte ich fest, dass meine Mitschüler lasen: Es furzt die Hexe, es stinkt der Bock.

Später dann spricht Mephisto in meiner Ausgabe:

Einst hatt‘ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt‘ ein ––—;
So – es war, gefiel mir’s doch.

Und die Alte antwortet:

Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt‘ Er einen –– bereit,
Wenn Er ––– nicht scheut.

Bei meinen Schulkameraden stand:

Einst hatt‘ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt‘ ein ungeheures Loch;
So groß es war, gefiel mir’s doch.

Und

Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt‘ Er einen rechten Pfropf bereit,
Wenn Er das große Loch nicht scheut.

Dass auch Klassiker zensiert werden, finde ich nicht wirklich erstaunlich. Aber für die DDR war gerade das eher untypisch. Vor allem ist sie ja nicht durch allzu große Prüderie aufgefallen. Anders die BRD: Zur Zeit unserer Lektüre war gerade die prüde Zeit; 68 lag noch vor uns. Sonderbar.

Das veranlasste mich jetzt zu einer kleinen Recherche mit diesem Ergebnis: Die Auslassungszeichen stehen bereits in der ersten vollständigen Augabe von Der Tragödie erster Teil von 1808. Das Original wurde in späteren Ausgaben offenbar rekonstruiert.

Dass ich nicht falsch verstanden werde: Zensur war schon zu Goethes Zeit keine gute Sache, heute ist sie es erst recht nicht.

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Pseudowissenschaft – Versuch einer Klärung

Der letzte Hoppla‐Artikel hat heftigen Widerspruch erfahren:

Sie erklären einmal kurz eine der wichtigsten Wissenschaften und ihre Auseinandersetzungen zur Pseudowissenschaft!? Bei der Evolutionsbiologie soll es sich dabei nicht um „prüfbare Theorien“ handeln? […] Bei Verschwörungsmythikern ist diese Lösung auch beliebt, d.h. im Fall des Klimawandels ist alles nur Pseudowissenschaft, wodurch das Problem auf sehr einfache und bequeme Weise erledigt ist und alles so bleibt wie es ist. Toll.

Dazu kommt noch Sarkasmus:

Sowohl Soziobiologie als auch Wilson zusammen mit dem mathematischen Beleg ist alles nur Pseudowissenschaft. Erkennt man wahrscheinlich schon daran, dass es in „Nature“ erschienen ist.

Von Pseudowissenschaft hatte ich es in diesem Hoppla!-Blog schon öfter, unter anderem vor über 10 Jahren im dritten Intermezzo. Grundsätzlich gesprochen geht es um Erkenntnis, also um die Frage, welchen Aussagen über die Welt wir trauen können und welchen nicht.

Poppers Dichotomie – hier Wissenschaft dort Metaphysik – ist gewöhnungsbedürftig. Der Einfachheit halber schließe ich mich diesem Denken an und will unter Metaphysik alle Theorien und Aussagesysteme verstehen, die nicht prüfbar sind, die also an keiner erdenklichen Erfahrung scheitern können. Wissenschaft steht für Erfahrungswissenschaft. Als Pseudowissenschaften gelten

metaphysische Aussagesysteme, die mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftreten

Das ist der Denkrahmen für die folgenden Erläuterungen.

Für die menschliche Vernunft ist die Metaphysik eine unentbehrliche Wissenschaft, meint Immanuel Kant. In Transzendentale Elementarlehre (drittes Hauptstück, fünfter Abschnitt) seiner Kritik der reinen Vernunft schreibt er zwar von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes, aber auch:

Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts anderes, als ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen nothwendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen, und ist nicht eine Behauptung einer an sich nothwendigen Existenz.

(Mit dem letzten Teilsatz werden die Grenzen aufgezeigt, die dem Verstand gesetzt sind zur Erkenntnis einer objektiven Realität Gottes.)

Nach dem gesetzten Denkrahmen, fällt alles, was die reine Vernunft an transzendentalen Gedanken hervorbringt, in das Kästchen Metaphysik. Auch das, was ich zum Thema Denkfallen schreibe, ist keine Wissenschaft und gehört in diese Rubrik, besonders die Aussagen zur erwartungsgetriebenen Wahrnehmung. Pseudowissenschaft ist es nicht. Dazu fehlt der Anspruch der Wissenschaftlichkeit.

Kurzum: In der Rubrik Metaphysik ist neben Feen, Trollen, Wunderheilmitteln und viel Unfug auch viel Nützliches zu finden. Die Modelle der Soziobiologie und deren Konkurrenten gehören meines Erachtens dazu. Zur Pseudowissenschaft wird das aber erst, wenn der Anspruch der Wissenschaftlichkeit und Falsifizierbarkeit hinzutritt.

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Hat E. O. Wilson seine Soziobiologie falsifiziert?

Wenn sich zwei Gruppen von Biologen einander angiften, dann kann der durch Karl Raimund Popper geschulte Ingenieur nur verwundert zusehen. Er wird keine Partei ergreifen. Aber er kann sich den Stein des Anstoßes etwas näher ansehen.

Der Streit zwischen der Nature-Fraktion, repräsentiert durch Richard Dawkins, und der Nurture-Fraktion, repräsentiert durch Edward Osborne Wilson, kam im Laufe der Diskussion des letzten Artikels ausgiebig zur Sprache.

Im Diskussionsfaden wird die Meinung vertreten, dass Edward Osborne Wilson das von ihm selbst geschaffene Gedankengebäude der Soziobiologie zum Einsturz gebracht habe. Nach dieser Auffassung

hat Wilson die Verwandtenselektion seit 2010 und vor allem in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Erde” eindeutig und komplett falsifiziert, ganz nach der von mir glaube ich auch schon mehrfach vorgebrachten Aussage: „Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ (Wilson 2013, S. 68)

Der Anlass

Stein des Anstoßes ist ein Nature-Aufsatz vom August 2010: The evolution of eusociality. Martin A. Nowak, Corina E. Tarnita & Edward O. Wilson.

Darum geht es: Wie kann sich Altruismus, allgemeiner gesprochen: soziales Verhalten, in einer Welt entwickeln, die von egoistischen Genen regiert wird.

Darin wenden sich Wilson und Mitstreiter von der Gesamtfitnesstheorie und dem Prinzip der Verwandtschaftselektion ab. Sie räumen der kulturellen Evolution Vorrang vor der genetischen ein: Nurture besiegt Nature, zumindest dann, wenn es um die Evolution sozialen Verhaltens geht.

Das konnte dem Verkünder des egoistischen Gens, Richard Dawkins, nicht gefallen. Er wurde ausfällig wie beispielsweise in seiner berühmten Besprechung des Wilson-Buchs The Social Conquest of Earth.

Der Stil in diesem Streit ist unpassend, er geht wohl auf die uns angeborene Neigung zur Kontrastbetonung zurück. Es steht mir nicht zu, zu entscheiden, wer in diesem Streit mehr recht hat. Aber eins traue ich mir zu, nämlich die Bewertung, ob der Stein des Anstoßes wirklich Anlass bietet, die Theorie der Verwandtschaftsselektion für falsifiziert zu erklären.

Das statistische Argument

Gemäß dem Lehrbuchwissen wird das Sozialverhalten staatenbildender Insekten wie das der Bienen mit dem besonders hohen Verwandtschaftsgrad innerhalb dieser Völker erklärt: Haplodiploid-Hypothese. Wilson und seine Mitstreiter halten dagegen:

The association between haplodiploidy and eusociality fell below statistical significance.

Zwei Fragen drängen sich auf:

1. Wird durch Widerlegung einer speziellen Subtheorie (Haplodiploid-Hypothese) zugleich die sie überwölbende allgemeine Theorie der Verwandtschaftsselektion widerlegt?

2. Was ist, wenn trotz bester Fortpflanzungsmöglichkeiten die auslösende Mutation für Sozialverhalten ausbleibt?

Wilson und seine Mitstreiter berichten von Arten mit Haplodiploidie, die kein Sozialverhalten entwickelt haben. Das muss ja auch nicht sein, denn die Haplodiploidie ist für das Entstehen von Sozialverhalten keine hinreichende Bedingung. Andererseits kann neben weiteren Faktoren die Verwandtschaftselektion wirksam sein, auch wenn, wie bei den Termiten, keine Haplodiploidie vorliegt. Die Haplodiploidie ist also auch im Rahmen des gängigen Wissens keine notwendige Bedingung für die Entstehung von Sozialverhalten.

Also: Das statistische Argument kann mich nicht überzeugen, und das hat nichts mit Biologie zu tun, sondern allein mit Logik. Aber das ist ja noch nicht alles. Jetzt geht es erst richtig los mit der neuen Theorie.

Der Ansatz

Die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie beansprucht, eine vollständige Theorie der Entstehung des Sozialverhaltens (eusoziale Evolution) zu sein. Sie besteht aus einer Reihe von Stufen. Dazu gehören auf den untersten Stufen präadaptive Merkmale, die zu einer engen Gruppenbildung führen, ein verteidigbares Nest (defensible nest) und das Auftreten von Mutationen, die das Ausbreitungsverhalten unterdrücken.

Zu einer falsifizierbaren Theorie wird das natürlich erst, wenn man es weiter präzisiert. Das geschieht mit einem mathematischen Modell.

Das Modell

Die Welt ist nicht in unserem Kopf. Es ist die Vorstellung von der Welt, die in unserem Kopf ist. Damit kommen wir gut zurecht, weil die Vorstellungen zunehmend besser zu unserem Erfahrungen passen. Der Mathematiker macht die Vorstellungen zu Modellen, auf deren Basis der Informatiker blendende Simulationsexperimente macht. Wir erliegen leicht einer Täuschung, indem wir die Modelle für die Realität halten.

Damit sind wir bei der Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie: Sie besteht im Kern aus mathematischen Modellen, genauso wie die Theorie der inklusiven Fitness Basis der hamiltonschen Ungleichung ist.

Diese mathematischen Modelle beruhen auf mehr oder weniger plausiblen Annahmen. Eine Verifizierung oder Falsifizierung der Theorien ist anhängig.

Im Dokument konnte ich keine Stelle finden, wo die gewählten Modellstrukturen und Parameter mit irgendwelchen Erfahrungswerten oder Messungen abgeglichen wurden. Wir haben es mit Setzungen zu tun, die dazu dienen, das qualitative Verhalten von Populationsdynamiken zu reproduzieren.

Prognostischen Wert hat das alles nicht. Und danach wollen wir doch wissenschaftliche Theorien beurteilen, oder? In der Arbeit von Nowak, Tarnita & Wilson geht es immer nur um das Modell und nicht um das, was sich in der Natur tatsächlich abspielt.

Auch die Nützlichkeit dieser Art der Modellierung, nämlich Gleichungen und Differentialgleichungen für aggregierte Größen, stelle ich für den vorliegenden Zweck infrage. Dieser Ansatz wurde seinerzeit schon im Zusammenhang mit den Grenzen des Wachstums und bei Global 2000 kritisiert. Mir schien das damals vertretbar zu sein. Auch dem Selektionsprozess in der biologischen Evolution kann man so näher kommen.

Niemand aber wird wohl auf die Idee kommen, den Geistesblitz oder den schöpferischen Prozess mit Differentialgleichungen zu modellieren. Bei der Evolution sozialen Verhaltens traut man sich das aber zu. Ich habe den Verdacht, dass da eine Pseudowissenschaft entstanden ist.

Die Schlussfolgerungen

Die Autoren schreiben

If you have a theory that works for all cases (natural selection) and a theory that works for only some cases (kin selection) and where it works, it agrees with the general theory, why not simply use the general theory everywhere?

Das besagt doch nur, dass ihre Theorie – ob richtig oder falsch – die Verwandtschaftsselektion abdeckt. Es heißt nicht, dass sie diese widerlegt.

Ich bleibe bei meinem Urteil: Wilson hat die Verwandtschaftsselektion nicht falsifiziert. Damit ist auch die Titelfrage negativ beantwortet.

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Argumentationsweisen rechts außen

Argumentationsweisen und insbesondere Propaganda sind zentrale Themen dieses Blogs. Der Spiegel (5/2024, S. 23) hat mich auf eine mögliche Fundgrube für Derartiges aufmerksam gemacht: das Buch Systemfrage – vom Scheitern der Republik und dem Tag danach. Es ist vom Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage, von dem das Buch außerdem verrät, dass er als rechter Islam- und Globalisierungskritiker bekannt ist. Björn Höcke hat eine Leseempfehlung für dieses Buch ausgesprochen (Facebook, 31. 01 22).

Ich werde mich auf den Argumentationsstil konzentrieren und die politischen Aussagen nur zitieren, sofern sie für die Erläuterung der Meinungsbeeinflussung erforderlich sind. Eine moralische Bewertung ist grundsätzlich nicht beabsichtigt. Es dürfte klar sein, dass es sich in den meisten Fällen im Propaganda handelt. Eine inhaltliche Analyse solcher Aussagen ist meistens aussichtslos, da ein einheitlicher Interpretationsrahmen nicht zur Verfügung steht. Es geht also nicht um wahr oder falsch. Der Propagandist behauptet, wiederholt, emotionalisiert und er verzichtet auf Begründungen. Beispiele bieten Donald Trump und Kellyanne Conway mit ihren alternativen Fakten. Siehe auch das Word of the Year 2022 Gaslighting. Ich werde mich auf die formale Analyse der Argumentationsmuster beschränken.

Etikettierung

Der Verfasser des Buches bekennt sich zum Grundgesetz, insbesondere zu Artikel 20 und dem darin festgelegten Widerstandsrecht:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. […]
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Wer nun meint, dieses Widerstandsrecht richte sich gegen die etwa 400 Personen, die am 29. August 2020 versuchten, das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen, oder gegen die Reichsbürger um Heinrich XIII. Prinz Reuß, der wird eines Besseren belehrt (S. 214):

Dieser Verfassungskern soll gerade gegen die Usurpationen von Machthaben verteidigt werden, die ihre Ämter auf eine formal verfassungskonforme, materiell aber verfassungswidrige Weise erlangt haben oder ausüben – insbesondere, wenn Sie sie in einer Weise ausüben, die die freiheitlichdemokratische Grundordnung zerstört.

Das Etikett Verfassungsfeind wird also denjenigen angeheftet, die der Artikel eigentlich schützen soll. Für diese Umetikettierung gibt es Anlässe: Eurokrise, Fukushima, Flüchtlingskrise, Klimapolitik, Corona, NetzDG. Ob eine Meinungsbeeinflussung durch Umetikettierung gerechtfertigt ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Ich hatte damals bei der Debatte um das Netzdurchsetzungsgesetz auch ein äußerst mulmiges Gefühl. Das NetzDG schafft ja keine neuen Straftatbestände, es dient der Überwachung und Durchsetzung. Den Zensurvorwurf konnte ich nicht entkräften.

Ich war der Meinung, der Umgang mit Hassbotschaften beispielsweise sollte sich im WWW selbst regeln. Totalkontrolle habe ich während meiner Kindheit in der DDR und durch meine Mitgliedschaft in der GWUP fürchten gelernt. Ich habe im WWW, auch im Rahmen dieses Hoppla!-Blogs, einiges an Beschimpfungen aushalten müssen: „Lassen sie sich mal auf ihre geistige Gesundheit untersuchen!“, „Vorbereitung von Völkermord“, „Putintroll“.

Die Notwendigkeit der Resilienz ist eine neue Erfahrung. Mit der Zeit ändern sich die Gepflogenheiten, so ist das nun mal. Nicht zu empfehlen ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Kausalitätserwartung

Dem Buch zufolge liegt dies im Argen:

Praktisch niemandem geht es besser – aber vielen schlechter – dadurch, daß der Euro eingeführt und „gerettet“, Migranten in Millionenstärke ins Land gelassen, Zensurgesetze, Atomausstieg, Windräder, Lockdown und De-facto-Impfzwang befohlen wurden, von Gender Mainstreaming, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und surrealistischen Datenschutzvorgaben selbst für Kleinstunternehmen ganz zu schweigen.

Nun ist es eine angeborene Neigung des Menschen, für alles eine Ursache zu suchen. Für das Unglück auf dieser Welt braucht es einen Schuldigen. Der ist hier schnell gefunden. Es ist das Kartell, die in ihre Echokammer eingeschlossene politische Klasse der BRD (S.81), die

die Interessen des eigenen Volkes und sogar des von ihr geführten Staates grundsätzlich hinter der Verwirklichung globalistischer Utopien und hinter den Interessen von Machtkonglomeraten hintanstellt, die für sich beanspruchen, „die Menschheit“ oder wenigstens „Europa“ zu repräsentieren, insbesondere also UNO und EU-Institutionen.

Das ist eine ausgewachsene Verschwörungstheorie; die Beantwortung der Frage, ob diese wahr oder falsch ist, überlasse ich der Diskussion.

Kontrastbetonung

Zur Klimadebatte finden wir dies (S. 43):

Es ist in höchstem Maße unplausibel, um nicht zu sagen absurd zu glauben, dass die Welt untergehen soll, wenn der Anteil eines in der Natur von vorkommenden Gases und der Zusammensetzung der Atmosphäre von zwei Zehntausendstel auf vier Zehntausendstel steigt. In der Erdgeschichte sind schon ganz andere Schwankungen sowohl des CO2- Gehalts als auch der mittleren Lufttemperatur vorgekommen […] Noch absurder für jeden Menschen, der sich schon einmal mit komplexen Systemen beschäftigt hat, ist die Vorstellung, man könne bei einem System wie der Ökologie willkürlich eine einzelne Zielvariable (die mittlere Lufttemperatur) herausgreifen und diese durch eine einzige Einflussvariable (nämlich den CO2-Gehalt der Luft) manipulieren.

Die Ergebnisse der Klimaforschung und deren Maßstäbe werden also grundsätzlich angezweifelt. Die derart kritisierte „Klima-Theologie“ wird so beschrieben (S. 45):

Wer nämlich für sich in Anspruch nimmt, nicht weniger als den Weltuntergang zu verhindern, verschafft nicht nur seinen Anliegen dadurch naturgemäß die Pole Position auf der Rangliste der politischen Relevanz, sondern stempelt jeden Andersdenkenden zum Feind der Menschheit […] Die manichäische Schwarzmalerei der Klimajünger, die sich in einen apokalyptischen Endkampf des schlechthin „Guten“ mit dem schlechthin „Bösen“ verstrickt wähnen, gehört zu jenem Giftcocktail, der die politische Kultur, auf der eine liberale Demokratie beruht, in bemerkenswerter kurze Zeit zerstört hat.

Diese starke Polarisierung kommt unserem Hang zur Kontrastbetonung entgegen.

Es gibt noch einiges zu diesem Buch zu sagen. Aber die Grundmuster der Argumentation dürften bereits klar geworden sein.

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