Peter Scholl-Latour ist vor nun neun Jahren gestorben. Sein Buch Die Welt aus den Fugen von 2012 ist mir erst jetzt in die Hände gekommen (14. Auflage 2022). Da es viele Themen anspricht, die auch in diesem Hoppla!-Blog behandelt worden sind, werde ich Passagen aus dem Werk wiedergeben und den Zusammenhang herstellen. Zur Einstimmung zitiere ich aus einer Amazon-☆☆☆☆-Kritik (4.11.2012):
Das Interessante auch an diesem neuen Buch Scholl-Latours sind die weiten Bögen die er spannt. Der Autor hat ein gutes Einfühlungsvermögen in kulturelle und religiöse Gegebenheiten und Zusammenhänge. Man spürt sein tiefes Interesse auch für die geschichtlichen Hintergründe. Dazu kommt, dass er seit Jahrzehnten mit vielen Konflikten dieser Welt vertraut ist. Ob man ihm in den verschiedenen Bereichen immer Recht gibt oder nicht – Scholl-Latour bietet guten Stoff, um über Gegenwart und Zukunft der Welt nachzudenken.
Wer den Frieden will, sollte sich auf den allgemeinen physikalischen Grundsatz von Actio und Reactio, das dritte Newtonsche Gesetz, besinnen. Das Reziprozitätsprinzip in den verschiedenen Ausprägungen gilt auch für das Zusammenleben der Menschen und Nationen. Die Blickumkehr und Erweiterung des Blickfelds hilft gegen Rechthaberei. Angesichts des Elends auf dieser Welt, heute gerade in der Ukraine, fällt uns diese Blickumkehr schwer. Die Erinnerung an die Erfahrungen und Einsichten des Peter Scholl-Latour können helfen, die Emotionen halbwegs im Zaum zu halten.
Mein vager Verdacht, dass es eine Sehnsucht nach Autoritäten gibt, wird durch Scholl-Latour konkretisiert. Gleich zu Beginn schreibt er (S. 22):
Man sollte sich nicht einreden, dass die Welt zwangsläufig auf eine liberale Gesellschaft zusteuert.
Wir Kinder der europäischen Aufklärung sehen das nach Selbstbestimmung strebende Individuum im Zentrum der Gesellschaft. Was aber, wenn das Individuum gar nicht souverän sein will?
Scholl-Latour bewegt uns zu einem Perspektivwechsel, weg vom freiheitssuchenden selbstbestimmten Individuum westlicher Prägung. Für maßgebend hält er den islamischen Philosophen Ibn Khaldun (Ibn Chaldūn) aus dem Spätmittelalter (S. 82):
In weiten Teilen der islamischen „Umma“ [Gemeinschaft der Muslime] ist heute die Hoffnung auf die Wiedererrichtung einer höchsten geistlichen und weltlichen Autorität lebendig geworden. „In Abwesenheit eines Propheten“, so dozierte Ibn Khaldun, als sich die „Zeit der Düsternis“ über die Völker des Orients senkte, „bedarf eine religiöse Gemeinschaft einer Person, die Autorität über sie ausübt und in der Lage ist, die Menschen zu zwingen, in Befolgung der offenbarten Gesetze zu leben.“
Andererseits war Ibn Khaldun ein Vertreter der islamischen Aufklärung und Vorbereiter moderner soziologischer Denkweisen.
Unter US-amerikanischer Ägide macht sich unsere Außenministerin für die weltweite Verbreitung der Menschenrechte und der parlamentarischen Demokratie stark. Ein Perspektivwechsel im eben beschriebenen Sinne täte Annalena Baerbock gut. Wir haben ja genügend viele Beispiele, dass Missionierungen und Anstrengungen des Nation Building schrecklich schief gehen können. Dem Aufruf des Peter Struck vom 4. Dezember 2002, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt, folgte im Jahre 2021 ein schmachvoller Rückzug. Die Bundeswehr beklagt 59 tote Soldaten. Die Menschenrechtssituation in Afghanistan hat all das nicht gebessert. Das war wohl absehbar. Scholl-Latour schreibt (S. 63):
Zur Stunde deutet alles darauf hin, dass nach Beendigung der ISAF-Mission das Regime des Präsidenten Karzai in Kabul binnen kurzer Frist zusammenbrechen wird. Am Hindukusch dürfte dann ein rigoroser koreanischer Gottesstaat entstehen und das Gemetzel der Stämme neuen Auftrieb finden.
Sogar im Westen kommen Zweifel auf, ob das volle Demokratie-Paket wirklich unverzichtbar ist: individuelle Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und allgemeine, freie und geheime Wahlen. Wirklich notwendig ist die Möglichkeit eines gewaltfreien Machtwechsels. Und da schneidet China gar nicht so schlecht ab (S. 19):
Seit dem Tod Mao Zedongs hat der Wechsel in den obersten Führungsgremien im Abstand von vier Jahren ziemlich regelmäßig stattgefunden, was nach dem Ausscheiden des genialen Reformerd Deng Xiaoping immerhin eine gewisse Ausbalancierung der Tendenzen zu signalisieren scheint. Jedenfalls wäre hier der Vergleich mit der weltweit verbreiteten Alleinherrschaft von Militärdikatoren und Despoten, die sich zwanzig, dreißig, sogar vierzig Jahre lang an ihre Willkürherrschaft klammern, völlig unangebracht.
Heute würde Peter Scholl-Latour das möglicherweise nicht mehr in so rosigem Lichte sehen, denn 2018 ließ der amtierende Präsident Xi Jinping die Amtszeitbegrenzung aufheben, was ihm eine Amtsführung auf Lebenszeit ermöglicht.
Die Welt ist nicht schwarz-weiß.
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