Eine problematische Denksportaufgabe

Nehmen wir an, eine Spaghetti zerbricht auf zufällige Weise in drei Stücke. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich aus diesen drei Stücken ein Dreieck legen lässt?

Ich nenne die Denksportaufgabe problematisch, weil die Bedingungen für das Zerbrechen unklar sind. Deshalb ergänze ich die Aufgabe folgendermaßen: Die möglichen Tripel aus den Längen der Bruchstücke x, y und z sind gleich wahrscheinlich.

Die Aufgabe ist nicht ganz leicht. Aber sie macht Spaß. Bitte fügen Sie Ihren Lösungsvorschlag als Kommentar hinzu. Sie können ein Bild einbinden.

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Skeptikerbewegung – Reformgrund Identitätspolitik?

Das Spannungsfeld

Die heutige Skeptikerbewegung wird getragen von der Überzeugung, dass es nur eine Wahrheit gibt und dass uns die Wissenschaft dazu verhilft, dieser Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Dieser Anspruch ist universell. Er umfasst auch das Gebiet der Moral und die Frage, was das Bewusstsein eigentlich ausmacht. Die übliche Trennung von Sein und Sollen und auch das fünfte Welträtsel Bewusstsein werden negiert oder zumindest ausweichend behandelt. Das ist das Wesen des Szientismus.

Bei meinem Eintritt in die GWUP im Jahr 2006 war ich noch ziemlich szientistisch eingestellt. Die Skeptikerbewegung hat mir – unfreiwilligerweise – dabei geholfen, diese Einstellung zu überwinden, einfach indem sie mir das Extrem dieser Denkweise vor Augen geführt hat.

Die Schwierigkeiten rühren daher, dass das Tätigkeitsfeld der Skeptikerbewegung, die Parawissenschaften, zu eng und dabei zu unscharf abgesteckt ist. Wer will sich schon jahrein, jahraus über Homöopathie und Astrologie ereifern? Und weshalb sollte man die Religionen den Parawissenschaften zuordnen?

Bei meinem Austritt nach 15 Jahren Mitgliedschaft drückte ich im Aufsatz Skeptiker trifft auf Skeptikerbewegung die Erwartung aus, der GWUP würde es im Laufe der Zeit gelingen, die enge szientistische Denkweise hinter sich zu lassen. Die von mir erhoffte Reformierbarkeit wurde von Edgar Wunder, einem frühen Dissidenten, „aus den im ‚Skeptiker‘-Syndrom dargelegten strukturellen Gründen dezidiert verneint“.

(Die Aufsätze Skeptiker trifft auf Skeptikerbewegung und Das Skeptiker-Syndrom sind in der Aufsatzsammlung Wissenschaft, Glaube, Wissenschaftsglaube zu finden.)

Es knirscht im Gebälk

Auf der letzten Mitgliederversammlung des Vereins hat sich eine interessante Entwicklung ergeben, die die Hoffnung auf einen Wandel wieder aufkeimen lässt. In die Skeptikerbewegung kommt tatsächlich Bewegung.

Ein Streit hat sich an der Frage entzündet, wie mit der Zeitgeistströmung, Identitätspolitik genannt, umzugehen sei.

Florian Schwarz beleuchtet die Szenerie unter der Überschrift Wokeness ist letztlich eine anti-wissenschaftliche Weltanschauung: Identitätspolitik unterteile die Menschheit anhand von bestimmten Merkmalen in Gruppen und betone deren Unterschiede und ihre dadurch angeblich definierten besonderen Identitäten. Er schreibt:

Wokeness geht von folgenden Prämissen aus: Wissen ist nicht das, was wir an Erkenntnissen über die Realität sammeln, indem wir unsere Ideen, Vorstellungen, Hypothesen an ihr testen und dann korrigieren und anpassen. Wissen ist vielmehr ein soziales Konstrukt. Gruppen, die sich durch verschiedene Eigenschaften auszeichnen – etwa die ethnische Herkunft, die Kultur, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder Identität – machen ihre eigenen Erfahrungen und verfügen deshalb über ein eigenes spezifisches Wissen. Da andere Gruppen nicht dieselben „gelebten Erfahrungen“ machen, können sie dieses Wissen nicht infrage stellen. Jede Gruppe kann also für sich ihre eigene Wahrheit beanspruchen, die akzeptiert werden muss. Selbst wenn sich das Wissen der Gruppen widerspricht. Zu entscheiden, dass eine Gruppe mit ihren Erfahrungen der Realität näher kommt als eine andere Gruppe, ist für Woke anmaßend und diskriminierend. Vor diesem Hintergrund hat etwa Neuseeland beschlossen, an Schulen das traditionelle, teils esoterisch-religiöse „Wissen“ der Maori zu lehren – als andere, aber gleichberechtigte Form des Wissens neben den naturwissenschaftlichen Fächern, die ja nur das „westliche“ Verständnis von Wissenschaft berücksichtigen.

Identitätspolitik und Szientismus stehen natürlich in einem fundamentalen Widerspruch zueinander. In einer Abwehrschrift seitens der „Skeptiker“ ist auch nicht von Identitätspolitik die Rede, sondern von Identitätsideologie (skeptiker 1/2021, S. 18-24). Aber es gibt offenbar eine Gruppe einflussreicher Mitglieder, die diese Art der Herabwürdigung politisch ablehnt. Der Streit ist wohl auch der Hintergrund für die Wahl des neuen GWUP-Vorstands. Überraschenderweise wurde nämlich nicht der vom scheidenden Vorsitzenden vorgeschlagene Kandidat gewählt, sondern ein Gegenkandidat. Da ist sogar von einem Putsch die Rede.

Der Ausweg

Es ist möglich, das Tätigkeitsfeld des Skeptizismus deutlich zu erweitern und gleichzeitig exakter abzugrenzen. Wir brauchen uns nur auf das zu konzentrieren, was den Skeptizismus von alters her ausmacht: der abgewogene Zweifel. So kommen wir zur Skepsis in weiten Grenzen. Skepsis ist durch die negative Methode charakterisiert: genau hinsehen, prüfen und Kritik üben.

Der Skeptikerbewegung steht ein riesiges Betätigungsfeld offen. Kritisches Denken ist ihr Geschäft, nicht das Erstellen kühner geistiger Bauwerke. Kluge und dumme Ideen, an denen der Skeptiker sich abarbeiten kann, gibt’s genug. Und er kann es sogar vor dem Hintergrund der Identitätspolitik tun. Jedenfalls gibt es für ihn keine Verpflichtung, sich zum Szientismus oder zur Identitätspolitik zu bekennen. Und – ich wage es kaum auszusprechen, weil es selbstverständlich ist – die empirische Wissenschaft ist ein wesentlicher Pfeiler der Kritik. Die Kritik macht vor Szientismus und Identitätspolitik nicht halt, sie ist aber nicht länger ideologisch versteift.

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Gendern: ein Exzellenzausweis im neuen Kastenwesen

Die Verabschiedung des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes fiel in meine Amtszeit als Gründungsdekan des Fachbereichs Elektrotechnik an der Fachhochschule Fulda. Eine der ersten Amtshandlungen war die Erstellung einer Prüfungsordnung. Uns im Gründungsfachbereichsrat war klar, dass wir mit dem generischen Maskulinum nicht durchkommen würden. Also stellten wir dem Ganzen eine Präambel voran, in der wir erklärten, dass durchweg das generische Femininum verwenden wird und dass die Männer folglich immer mitgemeint seien.

Das hat nicht funktioniert. Die amtierende Ministerin verdonnerte uns dazu, immer beide Nennungen zu verwenden also: Professorinnen und Professoren, Prüfer und Prüferinnen, Kandidatin und Kandidat. Erlaubt waren nur Doppelnennungen ohne Schrägstrich oder dergleichen.

Diese Umarbeitung der PO habe ich verweigert und die Überarbeitung dem Justitiariat überlassen. Das Ergebnis war wie erwartet: ein unlesbarer Text. Die Personal- und Demonstrativpronomen machten die meisten Schwierigkeiten. Mein damaliger Kommentar dazu: Unser Problem ist, dass viel zu wenige Studenten die Prüfungsordnung überhaupt lesen, zu viele von ihnen dann im Prüfungsprozess orientierungslos sind und aufgrund der Unkenntnis von formalen Bedingungen das Studium ohne Abschluss beenden müssen.

Es ist paradox: ein Gesetz gegen Diskriminierung führt zur Erhöhung von Zugangsbarrieren. Besonders lustig wurde es später, als uns empfohlen wurde, die Doppelnennung durch Verlaufsformen zu ersetzen, also statt von Studenten und Studentinnen von Studierenden zu sprechen. Das Unsinnige an dieser Regelung machte ich so deutlich: Unser Bemühen gilt doch, den Prozentsatz der Studierenden unter den Studenten möglichst zu erhöhen.

Der Protest der Betroffenen hat leider nichts gebracht. Jetzt, fast 30 Jahre später, sehe ich, dass der Quatsch auf die Spitze getrieben wird. Nach den heute propagierten Regeln gelingt das unfallfreie Gendern eigentlich nur äußerst sprachgewandten Personen, und denen auch nicht immer. Es ist ein Exzellenzausweis und Abgrenzungsmerkmal der gehobenen Kaste: Wer gendert, der trägt seine politische Gesinnung und Klassenzugehörigkeit wie eine Monstranz vor sich her.

Mit diesem Urteil stehe ich nicht allein: Heide Wegener beispielsweise schreibt:

Gendern dient der Imagepflege, es soll den Sprecher als woke, als progressiv ausweisen, und noch dazu als guten Menschen.

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Ansteckende Dummheiten

Anfangs habe ich die Beschäftigung mit Chatbots und dergleichen als Spielerei angesehen. Allmählich wird mir klar, dass es sich um gefährliche Spielzeuge handelt.

Damit lassen sich hochwirksame Täuschungen erstellen, die über soziale Netzwerke viral gehen können. Künstliche Intelligenz und Internet ermöglichen ansteckende Dummheiten. Jedermann kann bei der Erzeugung solcher Dummheiten mitmachen. Die dafür nötigen Instrumente sind allgemein verfügbar, teilweise sogar kostenlos.

Wie sich solche Dummheiten mit ChatGPT erzeugen lassen, haben wir in den letzten Artikeln sehen können. Manchmal reicht es, Kunstwerke neu zu interpretieren, und schon ist die Dummheit in der Welt und kann ihren Siegeszug antreten.

Im Freundeskreis macht ein erstaunliches Video die Runde. Dazu gibt es die folgende Erklärung:

Das Video wurde über dem Polarkreis genau zwischen der kanadischen und Alaska-Russischen Grenze gedreht. Es dauert nur ein paar Sekunden, aber es ist wunderschön, dieses Phänomen kann man nur einmal im Jahr für 36 Sekunden sehen. Der Mond ist da der Erde am nächsten, er erscheint und verschwindet sofort wieder, wirklich erstaunlich bis zur Unwirklichkeit. Er ist so nah, dass es aussieht, als würde er die Erde treffen, dann gibt es eine Sonnenfinsternis, die 5 Sekunden dauert und in diesem Moment alles dunkel wird. Dieses Phänomen tritt nur am Perigäum auf (an dem Punkt, an dem der Mond der Erde am nächsten ist) und dort können wir die enorme Geschwindigkeit sehen.

Dass ein solches Machwerk viral geht, kann ich mir nur so erklären, dass viele es für ein Abbild der Realität halten, denn mit computergenerierten Bildern sind wir ja eigentlich schon übersättigt, so dass sich Teilen nicht lohnt. Der „Totentanz“ der Planeten aus Melancholia ist viel eindrucksvoller als der hier fingierte Aufgang und Untergang des Mondes.

Dabei ist die Täuschung in diesem Fall leicht zu entdecken: Der Mond scheint sich, von der Erde aus gesehen, zu drehen, was bekanntlich unmöglich der Fall sein kann. Eine Sonnenfinsternis ist nur bei Neumond möglich und nicht bei Vollmond. Der Wechsel von Voll- zu Neumond dauert überall auf der Erde gleich lang, etwa 15 Tage und nicht etwa nur Sekunden. Video und Erklärtext strotzen von solchen Skurrilitäten. Es muss sich um ein computergeneriertes Werk handeln. Erst der Begleittext macht dieses Werk zu einer Täuschung. Ein Jux? Ein Test auf Leichtgläubigkeit? Wer weiß?

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Kritische Gedanken zur Landesgartenschau Fulda 2.023

Wozu macht man das?

Gartenschauen sind erstens Leistungsschauen des Gartenhandwerks und zweitens dienen sie der Volksbelustigung. Die dafür bereitgestellten Fördermittel von Stadt, Land und Bund sollen drittens eine dauerhafte Verbesserung der Stadtlandschaft bewirken und viertens ist die LGS für die Stadt Tourismuswerbung. Diese Zielsetzungen bilden den positiven Hintergrund dessen, der sich der Gartenschau in kritischer Grundhaltung nähert.

Aktuell

Gerade wurde die Landesgartenschau eröffnet. Hier mein erster Eindruck: Ich sehe, dass die LGS schöne Fleckchen zu bieten hat. Es gibt vier, zum Teil riesig große insgesamt etwa 60 Fußballfelder (42 ha) umfassende, abgegrenzte Gebiete – viel Zaun und wenig Durchlass. Wer gewohnt war, diese Gebiete im Westen und Süden von Fulda für zwanglose Spaziergänge zu nutzen, der wird sich einiger Erholungsmöglichkeiten beraubt sehen. Mit einer Jahreskarte kann er den Verlust mindern. Er hat dann auch Zugang zu zusätzlichen Highlights. Leider wird er sich, wegen der kilometerlangen Zäune rundherum und der geringen Anzahl an Zu- und Ausgängen, des Gefühls eines Hofgangs nicht gänzlich erwehren können.

Blick zum FuldaAcker

Eröffnung, erster Rundgang

Es beginnt mit dem wechselseitigen Schulterklopfen der Nomenklatura. Das muss wohl sein. Dann mache ich meinen ersten Rundgang. Wassergarten und Kulturgarten sind erfreulich, schöne An- und Durchblicke. Leute, die betonierte Gärten, Pflaster und Blumen in Töpfen und Kästen lieben, werden begeistert sein. Dann komme ich zum westlichsten Teil: FuldaAcker. Es ist wie in The Thirteenth Floor: Ende der Simulation. Nur noch Drahtgittermodell. Und kein Entkommen. Es ist zu hoffen, dass die Simulation bis zum Sommer noch fertig wird.

Förderung aus der Distanz

Das Problem bei solchen Großveranstaltungen ist, dass der Bürger die Kosten nicht sieht. Ihm wird der Eindruck vermittelt, alles sei ein Geschenk der Stadt und des Landes. Grob gerechnet werden für diese LGS von Stadt und Land etwa 30 Mio. € eingebracht. Der Kartenverkauf soll ca. 10 Mio. € bringen. Dem Bürger wird vorgegaukelt, dass nicht er es ist, der die ganze Rechnung bezahlt. Aber genau das muss er tun: die Zeche zahlen.

Ganz verrückt wird es, wenn beipielsweise die Förderung von Wanderwegen aus Brüssel kommt. Ich kann mich an die feierliche Eröffnung eines Radwanderwegs erinnern, der die Bürgermeister der Anrainerstädte und die Landräte von zwei Landkreisen beiwohnten. Auf dem Flyer zum Tage waren alle Prominentenköpfe präsent. Ich wollte diesen Radwanderweg auf der Heimfahrt durch den Gieseler Forst nutzen und musste feststellen, dass die Radwegemarkierungen nur so weit reichten, wie sie von der Straße aus zu Fuß leicht zu erreichen waren. Die beauftragte Firma hat es sich wohl bequem gemacht: Ausschilderung des Radwegs mittels Auto. Auf der Höhe des Gieseler Forstes habe ich mich dann total verfranst.

Vor Jahren wurde ein einst schöner und in die Jahre gekommener Platz neu gestaltet. Ich fand die Umgestaltung gewalttätig und fragte, ob das nötig gewesen sei. Ja doch: Man habe Fördergelder beantragt, bekommen und jetzt verbauen müssen.

Diese Erlebnisse haben meine Meinung zu Fördergeldern aus Wiesbaden, Berlin oder Brüssel geprägt.

Woher die massenhafte Begeisterung?

Was bringt die Menschen der Stadt dazu, trotz der eigentlich offensichtlichen Mängel, eine Gartenschau euphorisch zu begrüßen? Ich stelle es mir so vor: Es ist das Gefühl, Teilhaber an einer großen Sache zu sein. Das hat wohl etwas mit der Psychologie der Massen zu tun: In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und zwar in so hohem Grade, dass der Einzelne sehr leicht seine persönlichen Wünsche den Gesamtwünschen opfert (Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, 1895/2009, S. 36).

Wie damit leben?

Ich will, wenn möglich, jeden Tag auf die LGS gehen. Missmutig werde Sie mich dort nicht sehen. Ich erfreue mich nämlich an den vielen schönen Dingen, die es dort zu erleben gibt. Für mein Seelenleben nehme ich mir vor allem das Positive vor. Und es ist selbstverständlich, dass ein auswärtiger Besucher die Landesgartenschau Fulda ganz anders sieht als ein Anlieger mit kritischem Blick.

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Oberflächenkompetenz

Annalena Baerbock sieht ja nett aus, ein echtes Schmuckstück in der Politik. Dabei wird gern übersehen, dass ihre werteorientierte Politik das Potenzial hat, den Dritten Weltkrieg zu befördern. So stellt sich die Sache mir dar: glänzende Oberfläche, mauer Kern. Das stelle ich mit Bedauern fest, denn Grün ist mir im Grunde sympathisch.

FOCUS online fragte nach und erhielt vom Auswärtigen Amt diese Auskunft: „Außenministerin Baerbock wird – wie das auch bei anderen Spitzenrepräsentantinnen Deutschlands bereits seit langem üblich und bekannt ist – zu Bild- und Fernsehterminen von einer Maskenbildnerin begleitet.“

Im Artikel „So begründet das Baerbock-Ministerium die teure Visagistin“ zitiert FOCUS online den Bund der Steuerzahler (15.04.2023): „Im ersten vollen Jahr der Ampel 2022 sind die Kosten für Fotografen, Friseure und Visagisten der Regierenden auf rund 1,5 Millionen Euro gestiegen – 80 Prozent mehr als im Jahr davor und gar eine Verdreifachung innerhalb von zehn Jahren“.

Ich kann das nicht verurteilen. Es ist nur ein allseits sichtbares Zeichen eines allgemeinen Trends – hin zur Oberfläche. Die Tünche wird wichtiger als das, was darunter ist. Es ist ja leichter, eine neue Farbe aufzulegen, als die Überzeugung zu ändern. Am besten lässt man das mit der Überzeugung ganz sein. Zur Zeit der Friedensbewegung war es angezeigt, sich pazifistisch zu geben. Jetzt, wo das Leid der Ukraine unser Herz berührt, empfiehlt es sich, Kriegsbemalung aufzulegen. Das demonstrative Vorzeigen der Werteorientierung verstehe ich genau so.

Mit 83 Millionen Menschen im Rücken einem Volk von 1,4 Milliarden vorschreiben zu wollen, nach welchen Werten es zu leben hat, ist kühn und kaum erfolgversprechend. Nach einem Gespräch mit Baerbock betonte der chinesische Außenminister Qin Gang: „Was China am wenigsten braucht, ist ein Lehrmeister aus dem Westen.“ (Das berichtete der Deutschlandfunk am 14. April 2023.)

Blicken wir kurz zurück, aus meinem Blickwinkel. Die Mitgliederentwicklung der ehemals großen deutschen Parteien zeigt, wohin die Reise geht.

Die SPD hatte 1976 einen Höchststand von 1.022.191 Mitgliedern. Danach ging es ziemlich kontinuierlich bergab. Damals gehörte die politische Bühne den politischen Schwergewichten Willy Brandt, Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß. Die CDU hatte den Höhepunkt etwas später unter Helmut Kohl (1983 mit 734.555 Mitgliedern).

Auch damals waren die Auftritte durchaus knallig. Aber es gab einen engen Zusammenhang mit den Inhalten. Das Wahlkampfmotto der CDU „Freiheit statt Sozialismus“ wurde von Brandt gekontert: „Von Freiheit verstehen wir mehr“. Bei Willy Brandt hieß es: „Mehr Demokratie wagen.“ Heute ist die Ampelkoalition programmatisch schon mit „Mehr Fortschritt wagen“ zufrieden. Eine Hülle für Verheißungen, die jeder nach Gusto füllt.

Wie haben wir doch die Amerikaner nach dem Krieg bewundert: Von ihnen gab es Kaugummi und sie fuhren in riesigen Straßenkreuzern. Aber erst jetzt erlebe ich, wie nachhaltig unser Land amerikanisiert wird. Werbung spielt die Hauptrolle. Die großen Unternehmen, die unser Leben bestimmen, sind die Big Five, darunter Google und Facebook. Ihr Geschäftsmodell ist der Handel mit Kundendaten und die darauf beruhende Werbung (Advertising Business Model).

Einer, der nach amerikanischer Art lebte wie kein anderer, ist Phineas Taylor Barnum. Im Kapitel V seiner Lebenserinnerung (The True Life of the World’s Greatest Showman, 1888) finde ich seinen Leitspruch:

Alles, was wir für den Erfolg brauchen, ist Bekanntheit.

In Kapitel VIII schreibt er:

Ich habe die Kunst der Werbung gründlich verstanden, und zwar nicht nur mit Hilfe der Druckerschwärze, die ich immer frei verwendet habe und der ich zugegebenermaßen so viel für meinen Erfolg verdanke, sondern indem ich jeden möglichen Umstand für mich nutzte.

(Meine Übersetzung)

Barnum lockte die Leute einmal mit diesem Trick in sein Museum (Barnum’s American Museum): Für einen Vierteldollar beauftragte er einen Bettler, je einen Backstein an den Ecken der Kreuzung vor seinem Museum abzulegen, dann mit einem fünften Backstein zu beginnen, nacheinander die Backsteine auszutauschen, alles ohne ein Wort darüber zu verlieren. Am Ende einer Stunde sollte er dann die Eintrittskarte vorzeigen, feierlich durch das Museum gehen und danach seine Runde wieder aufnehmen. Das sorgte für beträchtliches Aufsehen im Süden von Manhattan und für Leben in Barnums Museum.

Manchmal glaube ich, dass es in der Politik genauso läuft. Die aufsehenerregenden Aktionen haben kaum etwas mit den eigentlichen Zielen zu tun. Bekanntheit ist alles, was für den Erfolg nötig ist. Großmeister in diesem Spiel ist Donald Trump. Ein Amerikaner eben.

In Kapitel IX schreibt Barnum, dass es ihm nur recht war, wenn hin und wieder jemand „Humbug“ und „Scharlatan“ rief. Auch das half, für ihn zu werben, und er war bereit, den Ruf zu ertragen.

Der Begriff „Oberflächenkompetenz“ fiel mir ein, als die Kommerzialisierung der Hochschulen so richtig Fahrt aufnahm. Meine Enttäuschung über die Veränderungen an Schule und Hochschule habe ich seinerzeit in Worte gefasst: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten. Ich fand Zustimmung, aber auch Widerspruch.

Gerade kommt über hr1 die ermutigende Nachricht herein, dass Fox News eine hohe Summe (787,5 Mio $) an einen Wahlmaschinen-Hersteller zahlt, um eine Klage zu vermeiden. Fox News hatte seinerzeit die Falschnachricht verbreitet, dass bei der letzten Präsidentschaftswahl in den USA Donald Trump der Wahlsieg gestohlen worden sei, auch mithilfe dieser Maschinen.

Der Nachrichtensender arbeitet ganz offenbar nach Barnums Rezept, dass Bekanntheit alles ist. Den Meinungsmachern geht es allein darum, eine große Klientel zu erreichen und an sich zu binden – und das auch mit „alternativen Fakten“ (Kellyanne Conway).

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Quanteninformation und Emergenz

In diesem Hoppla!-Artikel will ich die Überschneidung von Quantenphysik, Informationstheorie und der Entstehung von Innovation diskutieren. Diese Bereiche beruhen alle auf dem Konzept der Information als abstrakte, aber dennoch greifbare Entität, die auf verschiedene Weise manipuliert und reproduziert werden kann.

Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht das Konzept eines physischen Substrats – des Mediums, über das Informationen übertragen und gespeichert werden. Im digitalen Zeitalter haben wir uns daran gewöhnt, Informationen als etwas rein Abstraktes zu betrachten, das nur im Bereich der Bits und Bytes existiert. Dabei wird jedoch übersehen, dass auch digitale Informationen letztlich durch physische Objekte repräsentiert werden – zum Beispiel durch magnetische Ladungen auf einer Festplatte.

Die Quanteninformation hebt dieses Konzept auf die nächste Ebene und nutzt die Prinzipien der Quantenphysik, um Informationen in den Eigenschaften subatomarer Teilchen zu kodieren. In einem Quantensystem kann der Zustand eines Teilchens manipuliert werden, um ein Informationsbit darzustellen – aber aufgrund des Phänomens der Superposition kann dieses Teilchen tatsächlich mehrere Informationsbits gleichzeitig darstellen.

Dies bringt uns zum Konzept der Entropie, das den Grad der Unordnung oder Zufälligkeit in einem System beschreibt. In der klassischen Informationstheorie ist die Entropie ein Maß für die Unsicherheit, die mit einem bestimmten Datensatz verbunden ist. Im Quantenbereich werden die Dinge jedoch komplexer – aufgrund der Überlagerung von Quantenzuständen gibt es mehrere mögliche Zustände, in denen sich ein Quantensystem zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden kann, wobei jeder Zustand mit einer eigenen Wahrscheinlichkeit verbunden ist. Das bedeutet, dass sich das Konzept der Entropie in der Quantenwelt eher auf die Beziehungen zwischen den Zuständen als auf die Zustände selbst bezieht.

Trotz des abstrakten Charakters der Information unterliegt sie immer noch bestimmten physikalischen Zwängen. So ist beispielsweise der Prozess der Replikation – die Fähigkeit, eine Kopie einer bestimmten Information zu erstellen – durch die uns zur Verfügung stehenden physikalischen Ressourcen begrenzt. Wir können nur eine bestimmte Anzahl von Kopien einer Datei erstellen, bevor uns der Speicherplatz ausgeht oder die Qualität der Kopien nachlässt.

An dieser Stelle kommt das Konzept der Interoperabilität ins Spiel. Damit Informationen nützlich sind, müssen sie mit anderen Systemen interagieren und von anderen Agenten verarbeitet werden können. Interoperabilität ist die Fähigkeit verschiedener Systeme, nahtlos zusammenzuarbeiten, so dass Informationen frei zwischen ihnen fließen können. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Vervielfältigung und Verbreitung von Informationen und ein Schlüsselfaktor für das Entstehen von Innovationen.

Beim Innovationsprozess geht es im Wesentlichen um die Schaffung neuer Ideen und Konzepte. Dabei werden häufig Analogien verwendet, d. h. es werden Verbindungen zwischen scheinbar nicht zusammenhängenden Dingen hergestellt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Kategorientheorie, ein Teilgebiet der Mathematik, das sich mit der Untersuchung abstrakter Strukturen und Beziehungen befasst, ist für diesen Zweck besonders nützlich. Indem wir gemeinsame Muster und Beziehungen zwischen verschiedenen Konzepten erkennen, können wir neue Ideen und Modelle entwickeln, die es uns ermöglichen, über alte Probleme auf neue Weise nachzudenken.

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Irreführende Argumentation durchschauen

Das YouTube-Video Stoppt die Grünen endlich! wurde mir empfohlen. Ich verschaffte mir einen ersten Eindruck und machte ein paar kritische Bemerkungen. Darauf die Antwort: „Trotzdem finde ich es gut, wenn man auf das grundsätzliche Problem unserer heutigen Medienwelt hinweist und das jemand tut, der genau zu dieser gehört.“

Dem kann ich mich anschließen. Aber nichts ist so gut, als dass es sich nicht verbessern ließe. Ich ergreife diese Gelegenheit und und liefere eine genauere Kritik ab.

Alexander Prinz, der Autor, beginnt mit einem Fake-Angriff auf die Grünen. Darin habe er „kein einziges echtes Argument“ vorgebracht, bekennt Prinz. Er wolle nur zeigen, mit welchen Scheinargumenten wir es in den sozialen Netzen zu tun haben. Dann zeigt er die Argumentationsmuster auf, die seiner Meinung nach der Irreführung dienen.

Unter den von Prinz angeprangerten Argumentationsmustern sind auch einige, die im Hoppla!-Artikel Täuschende Argumente bereits aufgetreten sind. Eins dieser Muster nenne ich Stellvertreter. Im Video heißt es Ignoratio elenchi: Wenn du etwas nicht beweisen kannst, dann beweise etwas anderes und behaupte, es sei dasselbe.

Weitere Argumentationsmuster, die hier ebenfalls eine Rolle spielen, sind das Dilemma-Argument (falsche Dichotomie) und die Petitio principii.

Um eine irreführende Argumentation aufzuzeigen, genügt es nicht, das Argumentationsmuster zu benennen. Dem Debunker bleibt nicht erspart, auch den inneren Widerspruch der Argumentation im konkreten Fall aufzuzeigen. Ich greife ein Beispiel aus dem Video heraus.

Wer für den Verbrenner argumentiert, indem er behauptet, dass „die Mehrheit offensichtlich keine E-Autos haben will“, der benutzt ein Argumentum ad populum. Das ist eine Art Autoritätsarguments, bei dem der Mehrheit Autorität zugesprochen wird.

Diese Argumentationsfigur ist ein erster Hinweis auf Irreführung. Sie rechtfertigt einen Anfangsverdacht, mehr aber nicht. Dem Debunker bleibt nicht erspart, die Datenlage zu eruieren: „Derweil ist der Anteil reiner Elektroautos an den PKW-Neuzulassungen in Deutschland 2022 laut Kraftfahrt-Bundesamt auf fast 18 Prozent gestiegen. Hybride eingerechnet sind fast 50 Prozent der Neuwagen mindestens teilweise elektrisch angetrieben.“ (Statista, 16.02.2023)

In diesem Lichte gesehen, ist das Argument tatsächlich nicht irreführend, anders als im Video unterstellt. Ich halte das Argument tatsächlich für schwach, aber ein Scheinargument ist es nicht. Dass es nicht weit trägt, kann man an den Statistiken und an den Trends sehen.

Argumente, gute oder schlechte, als Scheinargumente zu apostrophieren, ist auch nur ein Scheinargument. Für die Entlarvung von irreführenden Argumenten gibt es kein einfaches Rezept!

Manipulation und Propaganda sind Bestandteil des sozialen Lebens und nicht eliminierbar. Nur in einer von Axiomen definierten Welt hat man die Möglichkeit, wahr von falsch zweifelsfrei zu unterscheiden. Sogar Fakten als Prüfstein für gute und zutreffende Argumente beruhen letztlich auf sozialen Übereinkünften. Das sehen dogmatische Naturalisten freilich anders: Für sie gibt es eine naturgegebene Wahrheit, die man nur erkennen müsse – eine Sondermeinung, die wir hier nicht berücksichtigen müssen.

Man muss sich schon selber darum kümmern, dass man in dieser Welt zurechtkommt. Mein Credo hat Arthur Schopenhauer treffend formuliert: „Allein auch wenn man Recht hat, braucht man Dialektik, es zu verfechten, und muss die unredlichen Kunstgriffe kennen um ihnen zu begegnen; ja oft selbst welche brauchen, um den Gegner mit gleichen Waffen zu schlagen.“

Alexander Prinz manipuliert selbst, wenn er Dieter Nuhr bezichtigt, Scheinargumente als Arbeitsprinzip zu haben. Mit der Frage „Wie viele Menschen kann man in regionaler Biowirtschaft ernähren?“ spricht Nuhr nämlich ein seit den 70er Jahren diskutiertes Problem an. Ich bezweifle wie er, dass die Energiewende ohne Zwangsmaßnahmen zu schaffen sein könnte. Bleiben wir bei Dieter Nuhr: Er hat eine Meinung, die muss einem nicht gefallen. Einem Satiriker Scheinargumente als Arbeitsprinzip vorzuwerfen, ist schräg, oder?

Ohne Werbung, sprich Propaganda, gäbe es dieses YouTube-Video nicht. Ich empfehle bissfeste Kost: das Büchlein Die Kunst Recht zu behalten von Arthur Schopenhauer und das maßgebende Werk Propaganda von Bernhard Edward Bernays.

In einem muss ich Alexander Prinz recht geben: Medienkompetenz ist ein Bildungsauftrag. Er gehört an die Schule, aber auch ins Elternhaus, wie das Essen mit Messer und Gabel.

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Das geheimnisvolle Ich

In der Kindheit kommt irgendwann einmal der Moment, in dem man sich seines Denkens und seiner selbst bewusst wird: Hier bin ich und dort ist der andere. Und er denkt und empfindet sicherlich genauso wie ich denke und empfinde. Das ist ziemlich nahe an einer Erkenntnis, die René Descartes zum Ausgangspunkt seiner Philosophie gemacht hat: Ich denke, also bin ich.

Das denkende Ich ist also ein alter Bekannter von mir. Ich sollte ihn gut kennen. Aber davon kann nicht die Rede sein.

Um die Gedanken über das Ich aufzudröseln, beginnen wir damit, was unsere Wahrnehmung uns mitteilen kann. So stoßen wir fast zwangsläufig auf das, was Emil du Bois-Reymond Das fünfte Welträtsel genannt hat. Es wurde im Anschluss an den Hoppla!-Artikel Das fünfte Welträtsel: Bewusstsein ausgiebig diskutiert. Im Anschluss an den Artikel Der Realismus erklärt nichts wurde das Thema von Peter Schöne aufgegriffen. Darauf will ich noch eingehen und beziehe mich dabei auf seinen Text Die Grenze des Diesseits.

Dinge, Erscheinungen, Protokolle

Wir nehmen die Welt beim Wort: Was wir wahrnehmen, scheint genau so zu sein. Dann entdecken wir die optischen Täuschungen und wir beginnen daran zu zweifeln, dass wir sehen, was ist. Immanuel Kant sagt es so: „Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen.“ (Prolegomena, § 13, Anmerkung II)

Wer meint, dass er erkennt, was wirklich ist, der möge uns sagen, was das ist:

Erscheinungen sind individuelle Erlebnisse, über die wir unkorrigierbar berichten können. Derartige Protokolle sind in einer Sprache verfasst, die dem gemeinsam Erlebten entspringt. Das führt zur Objektivierung des subjektiven Erlebens: Wir schauen Bäume an und sind uns einig, dass die Blätter grün sind. Das verführt uns zu dem weiterreichenden Gedanken, dass alle Beobachter das Grün in derselben Weise empfinden, dass dieses empfundene Grün also eine Eigenschaft des Objektes in der Welt ist. Für einen solchen naiven Realismus gibt es jedoch keinen Grund. Welche Empfindung ich beim Anblick einer roten Rose habe und welche bei der Fanfare von Also sprach Zarathustra, wird ein anderer niemals erfahren, egal, wie blumenreich ich das Erlebnis schildere.

Wer oder was empfindet?

Noch vertrackter wird es, wenn wir uns fragen, welcher Teil in uns für das Erlebte verantwortlich ist. Was ist dieses Ich, das die Erscheinungen hat?

Im Abschnitt „Von den Paralogismen der reinen Vernunft“ schreibt Immanuel Kant: „Durch dieses Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter als ein transcendentales Subject der Gedanken vorgestellt = X, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädicate sind, erkannt wird, und wovon wir abgesondert niemals den mindesten Begriff haben.“

Wir ordnen die Gedanken mit Hilfe der folgenden Grafik.

R ⟶⎢ X ⎢⟶ P

Die Welt der Dinge an sich, die ungreifbare Realität, sei R. Immanuel Kant folgend ist das erkennende Ich = X. Dieses X produziert die Erscheinungen. [Peter Schönes Interpretation zeigt mir, dass diese Reifikation zu Missverständnissen führen kann, 29.6.2023] Wo und wie das innere Bild entsteht, das entzieht sich unserem Zugriff. Die Funktion von X ist das große Geheimnis. Die senkrechten Striche in der Grafik sollen andeuten, dass das X in einer Art Black Box eingeschlossen ist. P steht für die Protokolle, die wir von den Erscheinungen machen.

Nicht zum Ausdruck gebracht sind

  1. die Realisierungen der Protokolle und Theorien in Form von Bildern und Texten beispielsweise, insofern gehören sie zu R, und
  2. das Hintergrundwissen, also das phylo- und ontogenetisch Erlernte, das Wahrnehmung und Erkenntnis überhaupt erst möglich macht und das man dem X zurechnen kann.

Es gibt also eine Menge Rück- und Wechselwirkungen, die in der simplen Grafik nicht auftauchen. Insbesondere führen Erkenntnisse in der Welt des Wissens und der Wissenschaft P zu Erfindungen, die die Welt R der Dinge verändern.

R, X und P lassen sich ohne Gewaltanwendung in Poppers Welten 1, 2 und 3 verorten.

Umkehrung der Erkenntnisrichtung

In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant die Umkehrung der Erkenntnisrichtung: „Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten […] es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem er mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht so gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“

Diese Umkehrung der Erkenntnisrichtung kommt zum Ausdruck in der erwartungsgetriebenen Wahrnehmung und in der Rolle wissenschaftlicher Hypothesen. Letztere sind Vermutungen, die wir noch zu prüfen haben. Wissenserwerb verlangt den aktiven Beobachter.

Erwartungsgetriebene Wahrnehmung und Erkenntnis habe ich an den optischen Täuschungen und an den Denkfallen studiert.

Das irreduzible Ich

Das Denken denken, das Wahrnehmen wahrnehmen und das Sehen sehen wird wohl nicht gelingen. Wir sind zurückgeworfen auf das Wahrgenommene und das Gedachte.

Peter Schöne meint, dass wir durch die sehr gute Reproduzierbarkeit der psychoakustischen Messfunktionen und durch die geringen interindividuellen Unterschiede wüssten, dass Empfindungen bei allen gesunden Versuchspersonen sehr ähnlich seien:

„Um möglichst viele Teilfunktionen INNERHALB der Black Box aufzuklären, hat die Forschung das Gehör immer weiter erkundet. Dabei wurden physikalische Messgeräte abgelesen, wodurch eine lange Kette von Repräsentationen entstanden ist: Ohrmuschel, Gehörgang, Trommelfell plus Gehörknöchelchen Hammer, Amboss, Steigbügel bis hin zum ovalen Fenster (Außenohr und Mittelohr), Schnecke (Cochlea des Innenohrs) mit der Basilarmembran, Muster der erregten Haarzellen samt Deckmembran, Weiterleitung der monauralen und binauralen Erregungsmuster durch die Gehörnerven, also auf der sogenannten Hörbahn in das Gehirn, und schließlich Verarbeitung im Gehirn bis hin zum auditorischen Cortex in der HIRNRINDE.“

Er liefert weitere Argumente dafür, dass das Empfinden X immer weiter entschlüsselt werden könne: „Bezüglich der Individualentwicklung unseres Gehörs ist es noch sehr wichtig anzumerken, dass unsere individuellen Gene aufgrund des ständigen Austauschs in der Evolution des Menschen ganz allgemein KONVERGIEREN in Richtung auf eine phylo- und ontogenetisch sehr ähnliche Entwicklung jedes gesunden Gehörs.“

Es stimmt wohl: Es sind im Laufe der Zeit viele Erkenntnisse über die Funktion des Wahrnehmungs- und Denkapparats hinzugekommen. Aber „die psychophysikalische Lücke [ist] noch nicht überbrückt“, wie er selbst schreibt.

Für Frank Wohlgemut ist die Ähnlichkeit der Empfindungen eine gut begründbare Annahme, aber als „Wissen im strengen Sinn“ würde er das nicht bezeichnen.

Dem Geheimnis des Bewusstseins, dem Ich, ist man mit den psychoakustischen Studien nicht näher gekommen. Die Erkenntnis stößt nach wie vor an eine Schranke.

Die Einschätzung des Emil du Bois-Reymond behält Gültigkeit: Selbst auf der höchsten denkbaren Stufe unseres eigenen Naturerkennens gleichen unsere „Anstrengungen, über diese Schranke sich fortzuheben, einem nach dem Monde trachtenden Luftschiffer“.

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Der Schwarm

Vor vielen Jahren schrieb ich über Schwarmintelligenz. Das Thema scheint immer noch virulent zu sein, deswegen komme ich darauf zurück.

Ich habe den Verdacht, dass die Schwarmforscher immer noch nicht so recht wissen, welchen Nutzen die Schwarmbildung bei Fischen und Vögeln hat. Bei den schwarmbildenden Insekten wie den Bienen ist die Sache ziemlich klar: Zentral sind das verteidigbare Nest und die dadurch gesicherte arbeitsteilige Gesellschaft; außerdem ist der Wärmehaushalt im Schwarm gut zu regeln. Dass bei Fischen oder Vögeln der Grundsatz „Gemeinsam sind wir stark“ gelten soll, hat mir noch keiner so richtig klar machen können. Dass die Tiere uns Menschen gefällige Anblicke bieten wollen, das kann ich wohl ausschließen.

Ich sehe bei der Zuschreibung von Schwarmintelligenz vor allem Anthropomorphisierung am Werk, die sich in Managerkursen gut vermarkten lässt. Als Spitze des Blödsinns empfinde ich die teure und schlecht gemachte 8-teilige ZDF-Serie „Der Schwarm“. Das ist für mich vor allem Esoterik, vermischt mit tatsächlichen Bedrohungsszenarien, die auch noch miserabel in Szene gesetzt wurden. (Zum Roman von Frank Schätzing kann ich nichts sagen.)

Das alles hinterlässt mich ziemlich ratlos und veranlasst mich zu der provokanten Hypothese über die Funktion des Verhaltens unstrukturierter oder schwach strukturierter Schwärme: Möglicherweise ist es nur die Denk- oder Entscheidungsfaulheit, oder auch die Erschöpfung, die den Einzelnen zu Gefolgschaft treibt. Bekanntlich sind es nur einzelne oder wenige Tiere, die die Richtung vorgeben, wobei die Führerrolle durchaus wechseln kann. Eine Art aleatorische Demokratie scheint mir das zu sein. Diese Theorie ist auch nicht schlechter als das, was uns die Schwarmforscher als Begründungen für Schwarmverhalten bieten.

Mehr fällt mir zu dem Schwarm-Hype nicht ein. Und ja: Ich habe hier dem Drang zur Anthropomorphisierung nicht widerstehen können. Weiterlesen

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