Über Wunder

Ein mystisches Weltbild und dessen Überwindung

In den zehn Jahre meiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und bei Veranstaltungen des Humanistischen Verbandes Deutschland (hvd) bin ich auf Leute gestoßen, für die sich alles nach den geltenden Naturgesetzen richtet. Dieser Standpunkt weckte meinen Widerstand und in diesen Disputen schärfte ich meinen Standpunkt: Ich habe einiges über Wunder gelernt und auch über den Zusammenhang zwischen Wundern und Kreativität.

Wie nun denkt man in Kreisen der sogenannten Skeptiker über Wunder? Inge Hüsgen und Martin Mahner schreiben am  12.11.2011: „Ein Wunder ist ein Ereignis, das der allgemeinen Erfahrung widerspricht, naturgesetzlich unmöglich ist, und daher von einer übernatürlichen Wesenheit verursacht wurde.“

Der Skeptiker-Chefreporter kennt „(unwandelbare) Naturgesetze“ (GWUP-Blog, 16. März 2014). Dieser Auffassung begegnete ich folgendermaßen: „Auch die Idee von den ‚(unwandelbaren) Naturgesetzen‘ ist letztlich Glaubenssache.“ Der Chefreporter darauf: „Klar, ich habe gleich Pause, werde mal aus dem vierten Stock springen – bin sicher, dass die Gravitation nur eine Glaubenssache ist.“ (17. März 2014)

Gemessen an solchen Grobschlächtigkeiten kommt Martin Mahner eher feinsinnig daher (Unverzichtbarkeit und Reichweite des ontologischen Naturalismus, 2007). Aber auch er kennt grundlegende und nichthinterfragbare Naturgesetzlichkeiten und nennt sie Postulate. Diese Postulate stehen für ein im Grunde statisches Weltbild.

Eine der wohl machtvollsten Begründungen für diesen, letztlich in der Zahlenmystik wurzelnden Standpunkt liefert der Nobelpreisträger Eugene Wigner. In seinem Aufsatz „The unreasonable effectiveness of mathematics in the natural sciences“ (1960) bietet er eine Rechtfertigung für Galileis berühmte Aussage, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben sei (1623). Diese Auffassung reicht weit zurück, bis zu Platon und Pythagoras, denen man den Ausspruch „Alles ist Zahl“ zuschreibt. (Die „Philosophie der Physik“ von Norman Sieroka, 2014, gibt eine Einführung in den hier angesprochenen Themenkreis.)

Wigner bescheibt etwas, worüber wir uns nur wundern können: ein Wunder.

Erst kürzlich erschien im Spiegel (33/2015) ein Interview mit dem Nobelpreisträger Frank Wilczek. Der Nobelpreisträger meint darin: „Es ist eine grandiose Tatsache, dass wir die Natur, wenn wir ihr auf den Grund gehen, in ihrem Innersten verstehen können. Die einzige, aber zutiefst spekulative Erklärung könnte sein, dass irgendein Sternenmacher, ein Ingenieur verantwortlich ist für das Design dieser Welt.“

Aus all dem spricht ein mystisches Wissenschaftsverständnis: Es gibt ewig wahre Naturgesetze. Diese liegen großteils noch im Dunkeln, aber mit unserem Aufklärungsscheinwerfer leuchten wir immer größere Teile dieser Landschaft aus.

Das ist ein unbiologischer Standpunkt. Er erinnert an die Idee vom Intelligent Design, eine von den „Skeptikern“ gründlich verachtete Denkrichtung. Sie wird dem evolutionären Charakter der Weltbildentstehung nicht gerecht. Die Wissenschaft nahm ihren Aufschwung erst, als sie nicht mehr danach fragte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Deshalb gibt es auch geistreiche Entgegnungen auf die mystische Auffassung vom Weltgefüge, beispielsweise die Antwort des Richard Hamming auf Eugene Wigner (1980). Schauen wir einmal nach, ob es ihm gelingt, das Wunder zu entzaubern.

Hammings Gegenposition hat ihre Wurzeln in der Evolutionslehre des Charles Darwin. Im Jahr 1897 formulierte der bedeutende Physiker Ludwig Boltzman die Grundidee des (später von Popper so genannten) kritischen Rationalismus: „Das Gehirn betrachten wir als den Apparat, das Organ zur Herstellung der Weltbilder, welches sich wegen der großen Nützlichkeit dieser Weltbilder für die Erhaltung der Art entsprechend der Darwinschen Theorie beim Menschen geradeso zur besonderen Vollkommenheit herausbildete, wie bei der Giraffe der Hals, beim Storch der Schnabel zu ungewöhnlicher Länge.“

In seiner Antrittsvorlesung von 1900 führte Boltzmann das weiter aus: „Nach meiner Überzeugung sind die Denkgesetze dadurch entstanden, dass sich die Verknüpfung der inneren Ideen, die wir von den Gegenständen entwerfen, immer mehr der Verknüpfung der Gegenstände anpasste. Alle Verknüpfungsregeln, welche auf Widersprüche mit der Erfahrung führten, wurden verworfen und dagegen die allzeit auf Richtiges führenden mit solcher Energie festgehalten […], dass wir in solchen Regeln schließlich Axiome oder angeborene Denknotwendigkeiten sahen.“

Wunderbares

Der Naturwissenschaftler mit mystisch begründetem Weltbild kann sich noch der Illusion hingeben, er könne Wunder als solche identifizieren. Er glaubt ja, einige der unverrückbaren Naturgesetze zu kennen. Da tut sich der kritische Rationalist mit evolutionär begründetem Weltbild schwerer. Ihm fehlt bereits der Begriff der „übernatürlichen Wesenheit“ und folglich auch die Vorstellung eines von einer solchen Wesenheit verursachten Ereignisses. Er hat kein Mittel, ein solches Ereignis von einem mit noch unbekanntem aber letztlich prüfbarem Wirkmechanismus zu unterscheiden.

Martin Mahner folgt dem einfachen Rezept des Mystikers: Wunder sind Verstöße gegen die geltenden Naturgesetze. Und was gegen die Naturgesetze verstößt, kann es nicht geben.

Meistens liegt der Naturalist und „Skeptiker“ damit richtig: Wünschelrutengängerei, Astrologie, Homöopathie, Gedankenübertragung und vieles mehr lässt sich irrtumsfrei auf diese Weise verdammen. Aber in all diesen Fällen braucht man das Argument, dass ein Verstoß gegen die momentane Wissenschaftsauffassung vorliegt, tatsächlich nicht: Bei den vorgeblichen Wundern handelt es sich um prüfbare Effekte, die sich im Laufe der Prüfung verflüchtigen, die der Prüfung also nicht standhalten. Das Argument, sie stünden im Widerspruch zu geltenden Naturgesetzen, fügt dem nichts hinzu.

Wer Wunderberichte in Bausch und Bogen durch Hinweis auf die bekannten Naturgesetze ablehnt, verliert den Blick für das Wunderbare, für interessante Anomalien, deren Untersuchung zu neuen Erkenntnissen führt. Der Kampf gegen den Wunderglauben hat, ebenso wie die Verächtlichmachung des illusionären Denkens, eine kontraproduktive Kehrseite: Man schüttet das Kind mit dem Bade aus.

Sobald wir die schwer fassbare Übernatur außer Acht lassen, wird der Zugang zum Begriff des Wunders leichter. Aus rein diesseitiger Sicht, also durchweg in unserer Erfahrungswelt angesiedelt, gibt es

  1. die alltägliche Wunder der Natur und des Lebens,
  2. die Wunder, denen bereits bekannte aber verborgene Wirkmechanismen zugrunde liegen, und es gibt
  3. wunderbare Erfindungen und Entdeckungen.

Ich kann mich immer noch darüber wundern, dass ein Stein zu Boden fällt, dass Flugzeuge fliegen und dass wir Naturgesetze kennen, die uns Ingenieuren erlauben, Maschinen zu bauen, die den Menschen das Leben erleichtern.

Trotz aller Fortschritte der Biologie und der Künstlichen Intelligenz bleiben die Wunder des Lebens auf geheimnisvolle Art überwältigend. Erneut hat mir das der Aufsatz „Roboter mit Ego“ von Tony Prescott (Spektr. d. Wiss. 8/2015, S. 80-85) vor Augen geführt: Es ist schon erstaunlich, wie langsam die Wissenschaft der Künstlichen Intelligenz trotz aller großartigen Verkündigungen ihrer Apologeten vorankommt.

Der 14. Vers des 139. Psalms drückt dieses Erstaunen angesichts der Wunder der ersten Art aus: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin.“

Aber diese Wunder erster Art sind sicherlich nicht gemeint, wenn wir von Wundern sprechen: Ein Wunder ist für uns kein Wunder mehr, wenn es sich auf Alltägliches und gut Geprüftes zurückführen lässt.

Diese Rückführung ist nicht immer leicht. Manches Wunder lässt sich nicht einfach entzaubern. Schon aus diesem Grund ist es völlig daneben, von übernatürlichen Wundern zu sprechen: Wir könnten sie ja nicht von Wundern unterscheiden, die sich im Prinzip entzaubern lassen und die sich beharrlich der Entzauberung entziehen.

Bei den folgenden beiden Wundern der zweiten Art stecken hinter den wundersamen Effekten nahezu triviale Mechanismen. Man muss sie nur erkennen.

Die Masse macht’s

„Am 18. August 1913 gab es in Monte Carlo ein bemerkenswertes Ereignis. In dem legendären Spielcasino, in dem sich die Oberschicht halb Europas in Frack und Abendgarderobe ein Stelldichein gab, landete die Kugel des Roulette stolze sechsundzwanzig Mal hintereinander auf Schwarz“ (Frankfurter Allgemeine, 30.06.2012).

Bei vielen Gelegenheiten für ein „Wunder“ erscheint halt hin und wieder eins. Um dieses spezielle Casino-„Wunder“ zu produzieren, müssen weltweit nämlich höchstens ein paar hundert Millionen Mal die Rouletteräder gedreht werden. Sehr diesseitig ist das.

Für den mathematisch Interessierten: Die Anzahl der Spielrunden am Roulettetisch bis erstmals 26 Mal Schwarz erscheint, ist nicht allzu groß. Der Erwartungswert für die Zahl der Runden, bis ein solches Ereignis eintritt, beträgt nur 134.217.726, also etwa 134 Millionen. Bei der weltweit großen Zahl an Spieltischen ist eine solche Rundenzahl etwas durchaus Irdisches. Man sollte sich wundern, wenn ein solches Ereignis nicht irgendwann einmal eintritt (Problemsammlung Querbeet, Aufgabe 24 Zufall oder nicht?).

Verborgene Strukturen

Hier ist ein weiteres Beispiel für Trivialitäten, die sich als Wunder ausgeben. Es ist der Unterhaltungsmathematik zuzuordnen. Ich stelle Ihnen jetzt eine kleine Rechenaufgabe.

Schreiben Sie eine beliebige Zahl, die nicht negativ und kleiner als zehntausend ist, auf einen Zettel. Schreiben Sie diese Zahl mit vier Ziffern, notfalls ergänzen Sie die Zahl um führende Nullen. Nun stellen Sie aus diesen vier Ziffern durch Umordnen die größtmögliche und die kleinstmögliche Zahl her. Nun bilden Sie die Differenz der beiden Zahlen. Diese neue Zahl bezeichnen wir als Folgezahl zur zunächst gewählten. Von dieser Zahl bilden wir nach derselben Vorgehensweise erneut die Folgezahl, und damit wieder und wieder. Falls wir mit 7777 starten liefert der Prozess diese Folge

7777 → 0000 → 0000.

Wir landen also bei der Zahl 0, was weiter kein Wunder ist. Interessant wird es, wenn wir anfangs eine Zahl mit nicht durchweg identischen Ziffern wählen, beispielweise 0021. Dann ergibt sich die Folge

0021 → 2088 → 8532 → 6174 → 6174 → …

Wir landen bei der Zahl 6174. Und das Sonderbare ist: Egal von welcher der 9990 möglichen Zahlen wir starten, immer wieder ergibt sich 6174. Die Zahl 6174 scheint eine wunderbare magische Anziehungskraft zu besitzen. Mancher Mathematiker hat sich davon narren lassen.

Entzauberung (wiederum für den mathematisch Interessierten): Wir fassen alle wesentlichen Zahlen zur Menge K0 zusammen. Von den Zahlen, die allein durch Umordnen der Ziffern entstehen, nehmen wir jeweils nur einen Repräsentanten in die Menge auf. Das sind dann insgesamt 715 Zahlen, also schon deutlich weniger als die zunächst eingebrachten zehntausend. Nun gehen wir zur Menge K1 der Repräsentanten der direkten Nachfolger dieser Zahlen über. Dann bilden wir die Menge K2 aller Nachfolger der Zahlen aus K1. Und so weiter. Es entsteht eine Folge von Mengen K0, K1, K2, … Die Rechenvorschrift für den Nachfolger bewirkt, dass jede Folgemenge ausschließlich Elemente der jeweiligen Vorgängermenge enthält, aber – und das ist der Witz – manchmal nur einen kleinen Teil davon.

In unserem Fall schrumpfen die Zahlenmengen ziemlich rasch von 715 auf 31, 18, 13, 9, 6, 3 und schließlich auf nur noch zwei Zahlen zusammen. K7 enthält nur noch die Repräsentanten der Zahlen 0 und 6174.

Es kann gar nicht ausbleiben, dass nach wenigen Schritten, hier sind es sieben, nur noch wenige Zahlen übrigbleiben und dass sich diese Zahlenmenge nicht weiter reduzieren lässt. Die letzte Menge muss ausschließlich Zyklen von Zahlen enthalten, bei denen die Nachfolgerbeziehung irgendwann auf die Ausgangszahl zurückführt. Solch ein Zyklus wird erwartungsgemäß ziemlich kurz sein, im Extremfall besteht er aus nur einem Element.

Bei den vierstelligen Dezimalzahlen sind das zwei Zyklen aus jeweils nur einer Zahl: 0000 und 6174. An der Zahl 6174 ist so besehen als überhaupt nichts magisch oder wunderbar.

Wenn man mit anderen Stellenzahlen und Basiswerten (Oktalsystem, Hexadezimalsystem) experimentiert, kommt man ebenfalls auf kleine Zyklen. Bei den zweistelligen Dezimalzahlen kommt man neben dem Nullzyklus noch auf den Zyklus aus fünf Zahlen:

09 → 18 → 36 → 45 → 27 → 09

Bei den zweistelligen Zahlen im Stellenwertsystem zur Basis sieben gibt es schließlich nur noch den 0-Zyklus: Egal mit welcher der 49 möglichen Zahlen man startet, stets landet man bei 00.

Erfindungen und Entdeckungen: Serendipity

Was für die meisten Leute ein Wunder ist (beispielsweise die Tatsache, dass die Lichtgeschwindigkeit eine obere Schranke für die Ausbreitung von Energie oder die Bewegung von Körpern darstellt), ist für den Physiker kein Wunder mehr. Aber auch er – und gerade er – begegnet immer neuen Wundern. Die Welt ist voller Wunder, einfach weil uns viele Wirkmechanismen nicht bekannt sind. Ob etwas ein Wunder ist oder nicht, hängt offenbar vom Wissensstand des Betrachters ab. Der Begriff des Wunders im dritten Sinne ist subjektiv und zeitabhängig.

Es ist ein Fehlschluss, wenn man meint, man könne solchen Wundern im Rahmen der massiven Forschungsförderung und mit riesigen Teams auf die Spur kommen. In meinem Artikel „Skeptiker“ kontra Skeptiker über Kreativität in der Wissenschaft“ gehe ich darauf ein.

Neue Lösungen und Entdeckungen werden keinesfalls in Teamarbeit und zielgerichtet angegangen. Der Geistesblitz ereignet sich stets in einem einzigen Kopf! Meist entdecken die Genies rein zufällig Lösungen für Probleme, die sie eigentlich gar nicht hatten. Und das ist wunderbar.

Diese Auffassung wird von vielen Autoren vertreten, die über das Wesen der Kreativität schreiben. Der Vorgang des Erfindens und Entdeckens wird in ihren Büchern meist anhand des Märchens der „drei Prinzen aus Serendip“ erläutert: Durch Zufall und Weisheit machen diese Drei unerwartete Entdeckungen. Diese Sicht der Dinge hat sogar Eingang in den angelsächsischen Wortschatz gefunden: Serendipity steht für glückliche Fügung, genauer: für die zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist.

Echokammern und Wunderverhinderung

Wer meint, gegen Wundervorstellungen ankämpfen zu müssen, gerät in zwei wesentliche Schwierigkeiten; die erste ist formaler Natur und die zweite betrifft die praktischen Konsequenzen.

  1. Wer übernatürliche Wunder als nichtexistent nachweisen will, muss sagen, was er unter einem solchen Wunder versteht. Und das wird ihm mit seinem komplett diesseitigen Instrumentarium nicht gelingen. Es gibt kein Kriterium für Ereignisse, die von einer Übernatur verursacht sind. Sie lassen sich nicht unterscheiden von Ereignissen, die noch nicht ausreichend untersucht worden sind und über deren Wirkmechanismen noch keine Erfahrungen vorliegen.
  2. Wer unter Wunder all das begreift, was der heutigen Naturwissenschaft und den bisherigen Erfahrungen widerspricht, wird blind für Neues, unempfindlich für das Wunderbare. Er schließt sich in eine Echokammer ein, die nur das widerhallen lässt, was er bereits gut kennt.

Der zweite Punkt scheint mir besonders wichtig zu sein. Er spiegelt den Zeitgeist der grassierenden Bequemlichkeit wieder. Wenn ich heute über das Internet ein Buch bestellen will, bekomme ich seitens Amazon bereits Kaufvorschläge, die auf den Spuren beruhen, die ich – insbesondere aufgrund meiner bisherigen Bestellungen und Wahlhandlungen – im Internet hinterlassen habe. Cass R. Sunstein hat sich mit diesen Fragen in seinem Buch „Choosing not to choose“ (2015) eingehend beschäftigt: “There is a risk to learning and development in any situation in which people are defaulted into a kind of echo chamber, even if they themselves took the initial step to devise it” (Seite 109). „The problem, in short, is that if defaults are based on such choices, the process of personal development might be stunted. When your experiences are closely tailored to your past choices, your defaults are personalized, which is highly convenient, but you will also be far less likely to develop new tastes, preferences, and values” (Seite 161).

Sunstein spricht von Standardregeln (default rules), die uns von der interessierten Wirtschaft auferlegt werden. Die so erzeugten Echokammern behindern unsere geistige Entwicklung.

Das Internet bietet eine nahezu grenzenlose Freiheit der Informationsgewinnung. Gleichzeitig geraten wir in ein neues Paradoxon: „Die moderne, durch hochverdichtete Netze zusammengebundene Industriegesellschaft […] lässt sich […] zentralistisch nicht mehr organisieren. Entsprechend wächst mit der Netzverdichtung und mit dem ihr entsprechenden Grad der Komplexität moderner Lebensverhältnisse unsere Angewiesenheit auf Formen lebendiger politischer Selbstorganisation nicht zuletzt in kleinen Einheiten und Kommunitäten“ (Hermann Lübbe in „Modernisierung und Folgelasten“, 1997, S. 20). Die homogene Massengesellschaft zerfällt in homogene abgeschottete Untermassen, die sich in ihre Echokammern einschließen.

Ein Muster dieses Isolierungsprozesses ist der Präsidentschaftswahlkampf 2004 in den USA. Erstmals wurde die politische Diskussion im großen Maßstab durch Blogs geprägt, sauber getrennt nach Red Believers (Republikaner um Präsident Bush) und Blue Believers (Demokraten um den Herausforderer Kerry). „Technology made it possible to nationalize the sense of community, help people find political soul mates and search for their personal truths online; but the political class also helped peel people apart. Both parties redrew districts to be more political homogeneous, marginalized their centrists, elevated their flamethrowers, viewed with suspicion anyone who sounded temperate or reached across the aisle.” (Time, September 27, 2004, p. 42)

Der Wissenschaftsgläubige, der das Wesen der Dinge zumindest partiell erkannt zu haben meint, macht etwas Ähnliches: Er setzt auf das bereits Bekannte und bildet sich seine eigene Echokammer. Das macht ihn unaufmerksam gegenüber dem überraschend Neuen. Und damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angelangt: Die Fokussierung der Abwehr auf „übernatürliche  Wunder“ — ein im Grunde sinnfreien Begriff  — sorgt für gedankliche Enge.

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Viertes Intermezzo: Täuschung und Selbstbetrug

Glaube, Wissenschaft und Selbstbetrug

Der Gläubige hält an seinen Überzeugungen fest, auch wenn Widersprüche auftauchen: Da gibt es den Philosophen, der bei der Lösung seines Transzendenzproblems in Zirkelschlüsse und Selbstwidersprüche gerät und den Theologen, der sich mit der Theodizee konfrontiert sieht. Es kommt zu geistigen Spannungen und Dissonanzen. Der Glaube wird anstrengend. Selbstbetrug als Mittel der Stressvermeidung tritt auf den Plan. Das wiederum führt zu neuerlichem, weniger bewusstem Stress.

Der wissenschaftlich denkende Mensch strebt danach, Widersprüche zu vermeiden, anstatt sie zu verstecken. Er lässt – Karl Raimund Popper folgend – liebgewonnene aber widerlegte Theorien an seiner Stelle sterben. Im Idealfall kommt er ohne Selbstbetrug aus.

Beispiele für Selbstbetrug in diesem Weblogbuch

In diesem Weblogbuch habe ich gelegentlich versucht, irgendwelche mir absonderlich erscheinenden Glaubensbekenntnisse mit Selbstbetrug zu erklären. Beispiele:

In diesen Fällen werden „Wahrheiten“ verkauft, die wohl auch dem „Verkäufer“ nicht geheuer sind. Wahr ist, dass etwas Falsches behauptet wird. Sich dessen bewusst zu sein, dürfte dem „Verkäufer“ großes Unwohlsein bereiten. Im Sinne des seelischen Gleichgewichts muss dieser Gedanke verschwinden. Er wird verstaut und unsichtbar gemacht nach dem Motto: Wer sich selbst betrügt, kann andere besser hereinlegen.

„Fooling yourself the better to fool others“ ist der Untertitel eines Buches des Evolutionstheoretikers Robert Trivers. Ich komme darauf zurück.

Aura-Reading

Die Gesundheitsmesse ist eine Veranstaltung, zu der Klinikchef Dr. Jürgen Freiherr von Rosen jährlich nach Gersfeld einlädt. Im Artikel über Homöopathie war bereits von ihm die Rede. Die Messe ist ein Stelldichein für Alternativheiler. Im Jahr 2012 wollte ich mir die Sache einmal näher ansehen.

150819Aura-ReadingIch stieß auf einen würdigen älteren Herrn mit weißem Haupthaar und Vollbart. Neben ihm eine Dame mittleren Alters, offenbar seine Kundin, deren Hand auf einer Unterlage mit mehreren Kontaktpunkten lag, die mit einem Computer verbunden war. Auf dem Bildschirm vor den beiden waren schemenhaft ein menschlicher Körper und dessen „Energiezentren“ zu sehen.

Versprochen war ein Aura-Chakra-Clearing für 25 €.

Im Verlaufe des Gesprächs zwischen dem Heiler und der Kundin flackerten die Chakren eindrucksvoll. Ich weiß nicht, was die beiden besprochen haben.

Zuerst habe ich an Betrug gedacht: Die Dame wird hier mit irgendwelchem Hokuspokus abgezockt. Dann meldete sich der Skeptiker in mir. Liegt die Sache vielleicht ganz anders? Die Kontaktfläche sah verdächtig nach einem Aufnahmegerät für Hautspannungen aus. Der Computer arbeitete wohl wie eine Art Lügendetektor mittels Hautwiderstandsmessungen (Galvanic Skin Response, GSR).

Da dämmerte es mir: Nicht der Heiler betrügt, nein, er deckt möglicherweise geheime Wahrheiten auf, die die Dame in ihrem Unterbewusstsein verstaut hat. Vielleicht hilft der Heiler ihr gar, über ein geschicktes Frage-Antwort-Spiel unter Beachtung der Bildschirmsignale, mehr über sich selbst zu erfahren als sie selber weiß.

Denn das ist durch die Forschung zum Thema Selbstbetrug ziemlich gut belegt: Die Haut weiß mehr als das Gehirn. – Natürlich „weiß“ die Haut gar nichts. Aber über Erregungszustände teilt sie etwas mit. Und diese Erregungszustände werden auch durch das Unbewusste gesteuert.

Es gibt ein berühmtes Experiment zur unbewussten Stimmerkennung von Gur und Sackheim (1979). Ich habe davon aus dem Buch Buch Deceit and Self-Deception von Robert Trivers erfahren (2011, S. 59 ff.).

In diesem Experiment werden den Versuchspersonen Aufnahmen vorgespielt, in denen sie selbst oder ein anderer einen Abschnitt eines Buches vorlesen. In den Aufnahmen hören die Versuchspersonen manchmal ihre eigene und manchmal die Stimme einer anderen Person. Per Knopfdruck sollen sie zu erkennen geben, ob sie die eigene oder aber eine fremde Stimme wahrnehmen. Dabei sind sie an ein Messgerät zur Bestimmung des Hautwiderstands angeschlossen. Beim Hören der eigenen Stimme ist der Messwert gegenüber dem anderen Fall deutlich erhöht.

Das per Knopfdruck mitgeteilte Ergebnis ist zuweilen falsch. Falsch-positiv ist es, wenn die eigene Stimme erkannt wird, obwohl es eine andere ist, falsch-negativ, wenn die eigene Stimme einem nicht als solche erscheint.

Etwas Erstaunliches zeigte sich bei diesen Experimenten. Die Haut lag immer richtig: erhöhter Messwert bei der eigenen Stimme, niedriger bei der fremden. Und noch erstaunlicher ist, dass die falsch-negativen Antworten vornehmlich von jenen stammten, denen kurz zuvor – im Schein – eine demütigende Niederlage beigebracht wurde. Wurden Erfolgserlebnisse vorgespiegelt, kam es zu falsch-positiven Entscheidungen.

Ein Freund leidet

Mein Freund und ich, wir stehen in unserer Lieblingskneipe beim Bier. Er meint:

  • Du, seit einiger Zeit quälen mich öfter ganz grässliche Kreuzschmerzen. Neulich in der Frühe bin ich kaum aus dem Bett gekommen. Ich habe gefühlt mindestens eine halbe Stunde gebraucht, um ins Bad zu kommen.
  • Was sagt Dein Arzt dazu?
  • Ja, ganz entgegen meiner Gewohnheiten habe ich ihn zum Hausbesuch bestellt. Er hat nichts gefunden. Das Diagnoseergebnis war gleich null.
  • Hast Du Dein Liebesleben endlich in Ordnung gebracht?
  • Wieso denn das? Ich bin mit Barbara und Sandra vollkommen glücklich. Sie wissen auch voneinander. Sie sind vielleicht etwas weniger glücklich als ich. Aber ich habe die Schmerzen, nicht sie.

Viele Monate später berichtet mein Freund, dass Sandra nach drei Jahren von diesem Dreierverhältnis genug gehabt habe und abgesprungen sei. Nun gut.

  • Was machen Deine Kreuzschmerzen?
  • Jetzt, wo Du drauf zu sprechen kommst, hallo: Die sind seit einiger Zeit wie weggeblasen.

Da ich kürzlich das Buch „Deceit and Self-Deception“ von Robert Trivers gelesen habe, komme ich auf eine verrückte Idee zu sprechen:

  • Könnten Deine damaligen Nöte nicht damit zusammenhängen, dass Dein Gehirn die hässliche Wahrheit, nämlich Dein Unbehagen mit der Situation und mit den Notlügen, im Unterbewusstsein verstaut und Dir in Deinem Bewusstsein die Glückslüge vorgegaukelt hat? So etwas bedeutet Stress für den Körper und sein Immunsystem.

Dann erzähle ich ihm von dem Experiment zur unbewussten Stimmerkennung von Gur und Sackheim und auch von den Kosten des Selbstbetrugs: Unterdrückte Wahrheiten belasten Immunsystem und Gesundheit.

Nach ein paar weiteren Bier sehen wir klar: So muss es gewesen sein. Wir wollen einmal sehen, ob diese Wahrheit morgen, in aller Nüchternheit gesehen, immer noch Bestand hat.

Manch einer betrügt sich ganz bewusst selbst – und es funktioniert

Zwei junge Pharmazeuten und Apotheker berichten von ihren Erlebnissen.

A. Welker: Gestern erhielt ich eine telefonische Kundenanfrage in der Apotheke, die mich auf das Thema Selbstbetrug mit neuen Augen blicken ließ. Bisher ging ich davon aus, dass Selbsttäuschung, wie zum Beispiel der Glaube an die Heilkraft der Homöopathie, auch aus einem (berechtigten) Skeptizismus des Alternativlers gegenüber Big-Pharma resultiert und er deshalb nach Alternativen sucht. Einen bewussten Selbstbetrug hatte ich bisher jedoch nicht in Betracht gezogen! Nun dieses Erlebnis. Es war gestern.

  • Haben Sie noch Rescue-Kaugummis? Die werden nicht mehr produziert, ich weiß; aber haben Sie noch Restbestände?
  • Nein.
  • Ich brauch die gegen Flugangst. Haben Sie wirklich keine mehr?
  • Nein, es gibt da Alternativpräparate, Mittel gegen Reiseübelkeit, die auch beruhigen, sowie Verschreibungspflichtiges, das gut wirkt.
  • Können Sie mal schauen, ob sie nicht noch irgendwo eine leere Schachtel von den Rescue-Kaugummis haben? Da können Sie mir dann auch normale Kaugummis reintun, ganz egal, ich brauch das für die Beruhigung

Wenn wir als Skeptiker versuchen, Menschen durch Diskussion und Nachdenken zu überzeugen, sollte man vielleicht berücksichtigen, dass es manchen Menschen weder um Nachdenken, Erkenntnis oder Wahrheit geht, sondern dass sie irgendwie aus einer unangenehmen Situation (z.B. Krankheit) heraus möchten, und ein probates Mittel ist Selbstbetrug, selbst wenn dieser ganz bewusst geschieht.

Christian Lutsch antwortet: Trifft nicht folgendes Totschlagargument das von Dir beschriebene Szenario: „Wer heilt, hat Recht“, unabhängig davon, ob plausibel oder kausal. Hier lässt sich noch etwas weiter differenzieren: Zwischen denen, die sich bewusst selbst betrügen wollen (?) und jenen, die es nicht besser wissen und subjektive Erfahrung über alles andere stellen. Letztere sollten ja die Adressaten unserer Arbeit sein. Aber bei Ersteren wird einfach eine Unwahrheit bewusst akzeptiert. Was soll oder kann man dagegen tun?

In der Pharmazeutischen Zeitung gab es vor knapp einem Jahr einen Artikel über die Wirkung von Placebos, die selbst dann wirkten, wenn sie ausdrücklich als Placebos verabreicht wurden. Ich denke, dass der Kontext, das Ritual, sich etwas gegen etwas einzuwerfen, und vielleicht auch der Hauch einer Chance, dass vielleicht doch irgendwie etwas Wirksames enthalten sein könnte, durchaus hilfreich sein können. Dass man sich diesen Effekt auch bewusst zunutze machen kann, ist für mich nachvollziehbar. Dazu eine kleine Anekdote.

Ich leide hin und wieder an Lippen-Herpes, meist stressbedingt. Das übliche Kribbeln warnt mich und ich trage umgehend Aciclovir-Creme auf. So habe ich schon häufig einen Ausbruch komplett verhindert. Als ich die Creme noch nicht kannte, war das Kribbeln Vorbote für einen hundertprozentig sicheren Herpes-Ausbruch.

Nun war ich unterwegs und spürte das Kribbeln. Kein Aciclovir dabei und keine Apotheke in der Nähe. Ich musste schnell handeln. Was tun?

Ich erinnerte mich, dass in den Tiefen meines Rucksacks noch ein Fläschchen mit Globuli war, das mir eine Freundin einmal gutgemeint gegen Kniebeschwerden mitgegeben hatte und das seit vielen Monaten von mir ignoriert wurde.

Indikation?

Plausibilität?

Egal!

Ich habe mich an den PZ-Artikel erinnert, ein paar Globuli genommen und gehofft, dass es irgendwie mein Immunsystem stärkt. Der Herpes ist nicht ausgebrochen! Ob nun das Ritual oder die homöopathische Wirkung ausschlaggebend waren, sei dahingestellt :)

Für mich war es zumindest das erste Mal ohne Hilfe von Aciclovir.

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Die Unterwanderungsstrategie des Neuen Atheismus

Dies ist ein Fallbericht. Er zeigt, wie der Neue Atheismus (GBS, Brights) weltanschaulich pluralistische oder neutrale Vereine und Verbände mit säkular-laizistischer Grundhaltung (GWUP, HVD) unterwandert und dabei totalitäre Strukturen aufbaut. Das habe ich erst in den letzten Wochen klar erkannt, obwohl ich durch den Spiegel-Artikel Der Kreuzzug der Gottlosen von 2007 hätte vorgewarnt sein müssen. Aber ich habe den Ausriss erst jetzt, anlässlich der Recherchen, in meinem Exemplar des Richard-Dawkins-Werkes „The God Delusion“ wiederentdeckt.

Die GWUP öffnet sich der atheistischen Mission

Eine offizielle Informationsschrift der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) hat den Titel „Parawissenschaft – Pseudowissenschaft“ (Martin Mahner, 5.1.2010). Sie steht im Widerspruch zur gültigen GWUP-Satzung.

Es geht um eine Ausweitung des Arbeitsfeldes der GWUP. Die entscheidende Grenze für die GWUP soll danach nicht länger zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft verlaufen, sondern zwischen Erkenntnis und Illusion (Martin Mahner in „Was sind Parawissenschaften?“, skeptiker 4/2009, S. 186-190). Auch Metaphysik und Religionen sollen demnach in das Zielgebiet der GWUP fallen.

Auf der Mitgliederversammlung 2014 in München (traditionell am Freitag nach Himmelfahrt) stellte ich einen Antrag, in dem der Vorstand aufgefordert wird, die Widersprüche zwischen offiziellen Verlautbarungen und Satzung zu beseitigen und insbesondere die Neudefinition „Parawissenschaft – Pseudowissenschaft“ zurückzuziehen.

In der Versammlung wurde der Wunsch nach einer gründlichen Diskussion laut. Die Entscheidung wurde auf das Folgejahr vertagt, also auf Himmelfahrt 2015.

In diesem Jahr, am Freitag nach Himmelfahrt, lag der Mitgliederversammlung ein Beschlussvorschlag des Vorstands zu einer Satzungsänderung vor. Dieser bezweckt eine Ausweitung und Aufweichung des Vereinszwecks derart, dass die GWUP-Informationsschrift und die Ausweitung des GWUP-Arbeitsfeldes nun satzungskonform sind. In der Begründung dieses Antrags spielte die von mir kritisierte Informationsschrift keine Rolle, stattdessen wurden ein paar, im Grunde haltlose, Argumente vorgeschoben. Es ging also nicht mehr darum, sich nach der Satzung zu richten, sondern darum, die Satzung so zu ändern, dass die Informationsschrift dann satzungskonform ist.

Die Möglichkeit, neben der Esoterik auch die Religionen aufs Korn zu nehmen, wird damit ausdrücklich eröffnet. Offenbar besteht die Absicht, die GWUP zu einer Einrichtung der atheistischen Missionierung umzubauen.

Giordano-Bruno-Stiftung und Brights

Zweifel an dieser Zielsetzung verfliegen, wenn man sich das Personal, die in prominenter Stellung Handelnden, ansieht. Es folgt ein Auszug aus der Besetzungsliste.

Martin Mahner, Verfasser der GWUP-Informationsschriften, ist Hausphilosoph der GWUP und zugleich Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS). Amardeo Sarma, Vorsitzender der GWUP, gibt sich als Mitglied der GBS zu erkennen. Viele Anhänger der GBS sind gleichzeitig Anhänger oder Mitglieder der Brights.

Eine Schlüsselfigur des noch zu schildernden einjährigen „Diskussionsprozesses“ von Himmelfahrt 2014 bis Himmelfahrt 2015 ist Rainer Wolf. Er ist sowohl Mitglied im Vorstand und dort zugleich Repräsentant des Wissenschaftsrats der GWUP als auch Mitglied der Brights. Rainer Rosenzweig, ehemals Doktorand von Rainer Wolf, ist Mitglied im Wissenschaftsrat der GWUP und im Beirat der GBS.

Die GBS als auch die Brights missionieren aggressiv für den Neuen Atheismus in der Gefolgschaft von Richard Dawkins („The God Delusion“, 2006). Die Ziele und Methoden dieser Vereinigungen sind mit den Grundsätzen eines weltanschaulichen Pluralismus unverträglich. Im Hoppla!-Artikel „Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich?“ habe ich ein paar Bemerkungen dazu gemacht.

Das Büchlein „Manifest des evolutionären Humanismus“ von Michael Schmidt-Salomon aus dem Jahre 2005 bildet die „philosophische“ Grundlage der GBS. Die Absicht dahinter wird schnell klar: Jeder liberale Geist soll sich darin irgendwo wiederfinden können. Nur nachdenken darf er dabei nicht. Der Text ist, wie der ihm zugrundeliegende ontologische Naturalismus mahnerscher Prägung, von haarsträubender Oberflächlichkeit. Dazu strotzt er vor inneren Widersprüchen. Hier nur zwei weitere Beispiele.

Erstens: Der auf Seite 37 angesprochene Falsifikationismus des Karl Raimund Popper ist eng verbunden mit dessen „Sozialtechnik der Einzelprobleme“ (aus: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“). Das großsprecherische 10. (An‑)Gebot des Evolutionären Humanismus auf  S. 158 steht im unversöhnbaren Gegensatz dazu: „Stelle Dein Leben in den Dienst einer ‚größeren Sache‘“. Aus diesem Satz spricht Totalitarismus, also das Ziel, „ein umfassendes neues Wertsystem durchzusetzen“ (Brockhaus). Nichts lag Popper ferner.

Zweitens: Auf S. 94 wird der naturalistische Fehlschluss angesprochen, nach dem man das Sollen, das sind die moralischen Gesetze, aus dem Sein, den Naturgesetzen also, herleiten könne. Obwohl das Scheitern dieses Programms zugestanden wird, versucht Schmidt-Salomon einige Seiten später (S. 120 ff.) genau das: Die Etablierung einer humanistischen Ethik auf der Basis von Vernunft und Naturverständnis. Der Präferenzutilitarismus des Peter Singer wird geradezu als Denknotwendigkeit angeboten.

Kürzlich wurde selbst Schmidt-Salomon ob der Wahl des Peter Singer zur Leitfigur  unheimlich zumute.

Für Joachim Kahl vom HVD sind die zehn Angebote des evolutionären Humanismus ein Türöffner der Beliebigkeit (Fürther Streitgespräch vom 27.06.2006). Allmählich spricht sich herum, wie dürftig das Angebot des evolutionären Humanismus der GBS ist.

Missionsgebiete: GWUP und HVD

Weltanschaulich pluralistische und eher dem Diesseits zugewandte Vereinigungen wie der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) und die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), die gut ohne derartige Metaphysik auskommen, gehören zum Missionsgebiet der Neuen Atheisten. Auch wenn der HVD eine säkular-laizistische Gesellschaft zum Ziel hat und den politische Einfluss der Kirchen zurückdrängen will, heißt das noch lange nicht, dass in die dann vermeintlich entstehende Lücke eine andere Religion, eine in der Gestalt des Neuen Atheismus, hineingestopft werden muss.

Der zunehmende Einfluss der Neuen Atheisten auf den HVD wird ersichtlich, wenn man das 2011  verfasste „Humanistische Selbstverständnis“ des HVD mit den im Jahr darauf publizierten „Humanistischen Grundsätzen“ des HVD Bayern vergleicht: Das erstgenannte Papier ist weitgehend frei vom ideologischen Gedankengut der Neuen Atheisten. In dem zweiten verrät sich deren Einfluss durch typischen Naturalisten-Sprech: „Es geht überall mit rechten Dingen zu“, „Humanisten sind Naturalisten“ und dergleichen mehr.

Einen Großteil des Einflusses erreichen die neuen Atheisten durch Personalunion. Im Falle der GWUP leisten das die Herren Sarma, Mahner, Rosenzweig und Wolf. Dazu kommen die Philosophen Gerhard Vollmer und Bernulf Kanitscheider, die sowohl Mitglieder des GWUP-Wissenschaftsrats als auch des GBS-Beirats sind. Das sind nur die Personen, deren Zugehörigkeiten ich zweifelsfrei kenne.

Die GWUP-interne „Diskussion“ zur Satzungsänderung zeigt, wie die Neuen Atheisten ihren Einflussbereich ausweiten. Mit offenen, wissenschaftsorientierten Diskussionen hat das nichts zu tun. Es läuft nach dem Motto: Wir sind die Aufgeklärten, die Brights, wir haben Recht, und deshalb heiligt der Zweck die Mittel.

Um bereits jetzt unangebrachten Vorwürfen zu begegnen: Auf den monatlichen Treffen der Würzburger GWUPler habe ich immer wieder betont: Mein Untersuchungsgegenstand ist nicht die Homöopathie, auch nicht Astrologie oder Wünschelrutengängerei; mein Interesse gilt seit einiger Zeit der GWUP, ihren inneren Strukturen und ihrer Diskussionskultur.

Eine „Diskussion“ mit Glaubenskämpfern

Ein Jahr lang, von Himmelfahrt 2014 bis Himmelfahrt 2015, fand eine bemerkenswerte „Diskussion“ zum Thema Satzungsänderung statt. Sie ist wesentlich durch die  totalitäre Grundhaltung der GBS-Leute innerhalb der GWUP geprägt.

In diesem Diskussionsprozess nahm ich einige Demütigungen in Kauf, denn ich hatte ein Ziel vor Augen, nämlich den Strukturen der GWUP näher zu kommen. Ich stelle ein paar Wesenszüge des Prozesses heraus. Eine Schlüsselfigur ist Rainer Wolf.

1. Kompromisslosigkeit. Sie ist eine Eigenschaft aller Glaubenskämpfer und kommt hier nicht überraschend. Der harte und nicht anzweifelbare Glaubenskern wird durch ein gefälliges Drumherum versüßt. Man darf sich durch die verbalen Schleifchen nicht täuschen lassen: „Deine kritischen Überlegungen kann ich sehr gut nachvollziehen, und ich glaube, sie treffen ganz Wesentliches. Drei Punkte sehe ich, wo ich wohl etwas anders denke …“ Oder so: „Auch wenn ich nicht allen Formulierungen von Michael Schmidt-Salomon  zustimme, ist er doch einer der wenigen Philosophen …“ Oder so: „Wir schließen die Festlegung auf eine Weltanschauung aus“ und gleichzeitig wird alles getan, um genau eine solche Festlegung zu ermöglichen. Ein Diskurs kommt aufgrund der Ablenkung durch Strohmann- und Stellvertreter-Argumente erst gar nicht zustande.

2. Intransparenz. Mir war zu keinem Zeitpunkt klar, mit welchen Personen (Wissenschaftsrat? Vorstand?) ich es zu tun hatte und wie der Konsens unter ihnen zustande gekommen sein könnte.

3. Totalkontrolle. Einem Hinweis vom 01.08.2014 entnehme ich, dass die Lenkung der Meinungsbildung einer „kleinen Kommission“, bestehend aus Rainer Rosenzweig, Martin Mahner und Rainer Wolf übergeben worden war. So funktioniert das totalitäre Regime: Es gibt eine Kommission der Eingeweihten, in diesem Falle alles Neuatheisten; ihnen gegenüber sitzt der Delinquent, in dem Fall ich. Warum ich auf so etwas allergisch reagiere, kann man in meiner Abschiedsvorlesung im Zusammenhang mit der „Entnazifizierung eines Achtjährigen“ nachlesen.

4. Bevormundung. Manche meiner E-Mails wurden von Rainer Wolf einfach zurückgehalten. Auf Nachfrage gab er mir den Bescheid, dass damit Porzellan zerschlagen würde. Andere E-Mails wurden von Rainer Wolf mit Kommentaren versehen und erst dann an den internen Zirkel weitergeleitet. Ein Leserbrief zu einem Mahneraufsatz im skeptiker hat die Redaktion wohl erst gar nicht erreicht. Anstelle einer Eingangsbestätigung erhalte ich nur Wolfs Kommentar: „Dem Inhalt Deines Leserbriefs kann ich beim besten Willen nicht zustimmen“ (Wolf, 21.12.2014). Und das war’s dann.

5. Gutsherrenart. Mein mehrfach geäußerter Wunsch, meinen Gegenantrag genauso wie den Vorstandsantrag vorab an alle Mitglieder zu verteilen, aus Kostengründen nur per E-Mail, wurde abgelehnt mit den Worten: „Der Vorstand hat bereits nach eingehender Diskussion vor mehr als eine Woche beschlossen, Ihr Schreiben nicht per reguläre Post an alle Mitglieder zu verschicken“ (Sarma, 14.04.2015). Meine Versuche, die Mitgliedschaft doch noch direkt zu erreichen, wurden dadurch vereitelt, dass mir tote Geleise gewiesen wurden, wie beispielsweise eine vermeintliche Mailingliste der Mitglieder (Sarma, 09.04.2015). Ich musste erst mühsam lernen, dass es sich dabei um ein fluktuierendes Forum handelt, an dem immer nur wenige Mitglieder teilnehmen.

6. Autoritätsargumente. Fremde Ideen muss man schnell wieder loswerden. Wie das funktioniert? Man setzt auf das Autoritätsargument und auf Einschüchterung: „Mir liegt mittlerweile die Rückmeldung vor, dass alle Wissenschaftsräte sich einstimmig für die neue Satzung ausgesprochen haben“ (Rainer Wolf am 12.05.2015).

Ein Teilnehmer der Mitgliederversammlung 2015 kritisierte das starre Verhalten des Vorstands und empfahl, sich doch besser an dem bekannten Ausspruch zu orientieren: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“

Abschluss des Verfahrens

Angesichts des massiven Auftretens des Vorstands für die Satzungsänderung war mir die Chancenlosigkeit meines Widerstands seit Monaten klar. Aber ich wollte ja sehen, wie die Sache abläuft. Bis zum bitteren Ende. Immerhin gab es ein paar Mitglieder, die dem Vorstand, trotz dessen massiven Auftretens, nicht  gefolgt sind. Mutig.

Nachdem der Vorstandsvorschlag von der Versammlung mehrheitlich angenommen war, gab ich eine Erklärung zu Protokoll. Darin wiederholte ich meine bereits vor einem Jahr geäußerte Auffassung, dass einem solchen Beschluss, der eine wesentliche Zweckänderung des Vereins nach sich ziehe,  alle Vereinsmitglieder, ob anwesend oder nicht, zustimmen müssten. Unter diesen Bedingungen müsse der Vorstandsantrag als gescheitert gelten. Diese Stellungnahme sollte dem Amtsrichter in Darmstadt, der über die Satzungsänderung zu befinden hat, vorgelegt werden.

Daraufhin gab das Vorstandsmitglied Ralf Neugebauer, Richter am OLG Düsseldorf, zu verstehen: Das sei alles mit dem Amtsrichter vorab geklärt worden.

Auch dahinter könnte man Ungeheuerliches vermuten. Vorsichtshalber habe ich im Anschluss an die Mitgliederversammlung meine Erklärung dem Amtsgericht direkt zugeschickt. Mal sehen, was daraus wird.

Meine Erfahrung zusammengefasst: Wer sich mit den Brights oder den Vertretern der  Giordano-Bruno-Stiftung anlegt, der bekommt es mit Feinden der offenen Gesellschaft zu tun.

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Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich?

Die Giordano-Bruno-Stiftung vertritt nach eigener Auskunft „die Position des ‚Evolutionären Humanismus‘, die Mitte des letzten Jahrhunderts von dem bedeutenden Evolutionsbiologen und ersten Generaldirektor der UNESCO, Julian Huxley, formuliert wurde“.

In dem vom Geschäftsführer der GBS Michael Schmidt-Salomon verfassten Manifest des evolutionären Humanismus (erschienen 2005 im einschlägig tätigen Alibri-Verlag) steht der Hinweis auf die philosophischen Grundlagen der Stiftung: „Evolutionäre Humanisten vertreten ein dezidiert naturalistisches Weltbild. Das heißt: Sie gehen von einem Bild des Kosmos aus, in dem ‚alles mit rechten Dingen‘ zugeht.“ Dabei verweist Schmidt-Salomon auf das Werk „Über die Natur der Dinge“ von Mario Bunge und Martin Mahner. Auch der Hinweis auf die Übernatur, bevölkert von Göttern, Dämonen, Hexen und Kobolden, fehlt nicht.

Man will sich also an der Wissenschaft orientieren. Esoterik, Mystizismus, metaphysisches Gedankengut und ganz besonders die Religionen sind es, die es zu bekämpfen gilt. Diese Intention der Stiftung wird durch das 1. (An-)Gebot des evolutionären Humanismus Schmidt-Salomonscher Prägung klar gemacht: „Diene weder fremden noch heimischen ‚Göttern‘ (die bei genauer Betrachtung nichts weiter als naive Primatenhirn-Konstruktionen sind), sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid der Welt zu mindern! Diejenigen, die behaupteten, besonders nah bei ‚Gott‘ zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fern standen. Beteilige dich nicht an diesem Trauerspiel! Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!“

Aber hoppla! Hier wird doch der Atheismus zur neuen Religion erhoben und auch über den Namensgeber Giordano Bruno haben wir doch etwas ganz anderes gehört und gelesen, als hier unterstellt wird.

Giordano Bruno – Märtyrer der Wissenschaft?

Warum gerade Giordano Bruno und nicht Galileo Galilei? Für eine kämpferische Glaubensgemeinschaft wie die GBS ist Galilei einfach nicht Märtyrer genug! Die Autoren Lawrence S. Lerner und Edward A. Gosselin schreiben in ihrem Aufsatz „Galileo Galilei und der Schatten des Giordano Bruno“: „Galileo ist eine schlechte Besetzung für Heldenrollen“ (Spektr. d. Wiss. 1/1987, S. 102-113).

Und da kommt dieser Vorgänger Galileis, Giordano Bruno, ins Spiel. Einer, der auf dem Scheiterhaufen der Inquisition landete. Dieser Mann macht sich als Märtyrer wesentlich besser. In der Begeisterung für diesen Helden des kopernikanischen  Weltsystems wurde wohl übersehen, dass mit Giordano ein ausgemachter Mystiker zum Helden erwählt wurde: „Giordano versteht das kopernikanische Modell des Sonnensystems falsch“ (Lerner/Gosselin). Und weiter: „Der Wert des kopernikanischen Systems liegt für Giordano Bruno nicht in seinen astronomischen Einzelheiten, sondern in den Möglichkeiten, die es als poetisches und metaphorisches Medium für weitergehende philosophische Spekulationen bietet.“

Giordano Bruno bezieht sich, ebenso wie die heutigen Esoteriker, auf die okkult-esoterische Offenbarungs- und Geheimlehre des sagenhaften Hermes Trismegistos. Was Bruno in Schwierigkeiten brachte, war weniger sein Eintreten für das kopernikanische Weltbild, sondern eher sein Bekehrungseifer im Dienste einer hermetischen Mystik, die sich auf neuplatonische Schriften des 2. und 3. Jahrhunderts berief.

Die Naturalisten stehen in Gegnerschaft zum Mystizismus. Als Vorzeigegestalt des Naturalismus ist Giordano Bruno jedenfalls denkbar ungeeignet. Was die GBS anrichtet, ist wirres Zeug.

Sehr interessant finde ich die personelle Besetzung des GBS-Kuratoriums: Zum Vorstand gehört Dr. Michael Schmidt-Salomon. Im Leitbild der Stiftung steht: „Im Auftrag der Stiftung wurden Huxleys Ideen u.a. im ‚Manifest des evolutionären Humanismus‘ wieder aufgegriffen und auf den Stand der heutigen Forschung gebracht.“ Hier hat also jemand sich selbst einen Auftrag erteilt. Ich erkenne eine Grundfigur wieder, die in diesen Naturalisten-Kreisen hohe Wertschätzung genießt: Selbstüberhöhung durch Zirkelbezug bei gleichzeitiger Immunisierung gegen fremdes Gedankengut.

Im Stiftungsbeirat finden wir einige uns bereits vertraute Personen: Bernulf Kanitscheider, Gerhard Vollmer und Martin Mahner. Sie sind eingefleischte Atheisten und sie fühlen sich in der GBS sicherlich gut aufgehoben. Warum diese Leute, nachdem sie in der  GBS ein lohnendes Tätigkeitsfeld gefunden haben, auch noch die rein wissenschaftsorientierte GWUP auf Linie bringen wollen, bleibt mir ein Rätsel.

Julian Huxley und Eugenik

Da sich die GBS auf Julian Huxley als Namensgeber des Evolutionären Humanismus beruft, sollte sich die Stiftung in Julian-Huxley-Stiftung (JHS) umbenennen. Allerdings bekäme die Stiftung dann ein Problem: Sie müsste sich wortreich von Huxleys Eugenik („Eugenics in Evolutionary Perspective“) distanzieren. Schauen wir uns ein paar Zeilen aus Huxleys Werk „Evolutionary Humanism“, 1964, an.

Die Menschheit sei unvollkommen, meint Huxley, und das in zunehmendem Maße, wenn wir nicht dagegen steuerten. Letzteres gelinge, wenn erst einmal klar sei, was den genetischen Verfall verursacht und indem man fehlerhafte und minderwertige Typen davon abbringe, sich zu vermehren. („The obverse of Man’s actual and potential further defectiveness is the vast extent of his possible future improvement. To effect this, he must first of all check the processes making for genetic deterioration. This means reducing man-made radiation to a minimum, discouraging genetically defective or inferior types from breeding, reducing human overmultiplication in general and the high differential fertility  of various regions, nations and classes in particular.“)

Solcherart Auslese brauche Verhütungs- und Sterilisierungsmethoden in Kombination mit künstlicher Befruchtung oder anderen  Methoden stellvertretender Elternschaft.  („The implementation of negative eugenics […] in practice  will depend on the use of methods of contraception or sterilization, combined where possible with A.I.D. (artificial insemination by donor) or other methods of vicarious parenthood.“)

Es sei zwingend, das genetische Niveau des Menschen hinsichtlich der geistigen und handwerklichen Fähigkeiten anzuheben. In der Praxis lasse sich das wohl mittels künstlicher Befruchtung durch ausgewählte Spender erreichen. (We „must rely increasingly on raising the genetic level of man’s intellectual and practical abilities […] Artificial insemination by selected donors could bring about such a result in practice“.)

Nur insoweit, als diese Überzeugungen auf wissenschaftlichem und überprüftem Wissen beruhen, seien sie geeignet, die menschliche Evolution in die gewünschte Richtung zu lenken. („Only in so far, as those purposes and beliefs are grounded on scientific and tested knowledge, will they serve to steer human evolution in a desirable direction.“)

Wem jetzt noch nicht schlecht geworden ist, der kann sich ja das letzte Kapitel von Huxleys Buch reinziehen.

Der Zweck heiligt die Mittel

Mit dem Satz „Der Zweck heiligt die Mittel“ hat man schon manche Schandtat gerechtfertigt. Folter scheint erlaubt. Der Totalitarismus ist nicht weit. Aber auch der evolutionäre Humanismus hat da einiges zu bieten. Fündig wird man im 4. (An-)Gebot des evolutionären Humanismus: „Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen.“

Mich irritiert, dass hier keine Einschränkung gemacht wird. Nur ein paar Beispiele werden genannt: Lügen zugunsten verfolgter Juden und der Tyrannenmord seien erlaubt. Jedoch geht es um etwas anderes, es geht um die „Ideale des Humanismus“ ganz allgemein. Nun tauchen ein paar ganz zentrale Fragen auf: Wer formuliert den Kanon der humanistischen Ideale? Wer soll ihn durchsetzen? Und vor allem: Wie soll das geschehen? Auch mit Lug und Trug?

In welche Zwickmühlen man bei diesem Vorhaben geraten kann, ist den Äußerungen selbsternannter Humanisten zu entnehmen. Peter Singer ist ein solcher. Er hat im Jahr 2011 als einer der Ersten den von der GBS verliehenen Ethikpreis der GBS erhalten.

Utilitarismus

Um der Geisteshaltung des Peter Singer, eine Spielart des Utilitarismus, etwas näher zu kommen, zitiere ich aus einem SPIEGEL-Interview mit der Überschrift „Nicht alles Leben ist heilig“. Kommentieren kann ich das Interview nicht; das würde mich überfordern. Eins zumindest – so meine ich – wird dennoch klar: Die ethischen Normen sollten niemals Angelegenheit nur einer gesellschaftlichen Gruppierung oder nur einer Weltanschauungsgemeinschaft sein.

SPIEGEL: Schon einmal, in der Aufklärung, gab es den Versuch, eine Weltsicht auf die Vernunft zu gründen. Aber damals setzten die Philosophen, anders als Sie, die Würde des Menschen an den Anfang all ihrer Überlegungen.

Singer: Es stimmt, Sie finden diesen Gedanken Ende des 18. Jahrhunderts in der Erklärung der Menschenrechte. Aber nehmen Sie zum Beispiel Kant: Er sagt, der Mensch sei stets als „Zweck an sich selbst“ zu betrachten. Doch wenn Sie sich seine Argumentation genauer ansehen, dann stellen Sie fest, dass er sich auf die Fähigkeit zu Vernunft und Autonomie beruft. Dieser Gedanke ist dann missbraucht worden, um allen menschlichen Wesen diesen Status zuzusprechen – obwohl es keine 30 Sekunden Nachdenken braucht, um sich klar zu machen, dass es durchaus menschliche Wesen gibt, die weder vernunftbegabt noch autonom sind.

SPIEGEL: Lassen Sie uns versuchen, Ihr Denkmodell auf Embryonen anzuwenden. Zunächst: Wann beginnt in Ihren Augen menschliches Leben?

Singer: Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen – aber unter ethischem Gesichtspunkt ist es gar nicht furchtbar wichtig, für welche davon man sich entscheidet.

SPIEGEL: Nein? Über keine Frage wird in der gegenwärtigen Debatte um embryonale Stammzellen so erbittert gestritten wie über diese.

Singer: Das ist eben falsch. Moralisch wichtig ist doch nicht, ob ein Embryo menschliches Leben ist, sondern einzig die Frage, welche Fähigkeiten und Eigenschaften er hat. Denn auf diese gründet sich sein moralischer Status.

SPIEGEL: Ein früher Embryo hat aber kaum höhere Fähigkeiten als ein Bakterium oder, sagen wir, eine Kartoffelpflanze. Also steht er mit ihnen auf einer moralischen Stufe?

Singer: Der Unterschied besteht aber darin, dass der Embryo leibliche Eltern hat, denen dieser Embryo etwas bedeuten könnte. Und die hat eine Kartoffelpflanze nicht.

SPIEGEL: Solange aber diese Eltern damit einverstanden wären, könnte man diesen Embryo für jeden beliebigen Zweck verwenden – selbst wenn man Embryos zu einer Schönheitscreme oder einem Potenzmittel verarbeiten wollte?

Singer: Ein ethisches Problem hätte ich damit nicht

[…]

SPIEGEL: Wann wachsen dem Embryo denn, nach Ihrer Auffassung, erstmals irgendwelche Rechte zu?

Singer: Ein wesentlicher Punkt ist das Einsetzen von Schmerzempfinden. Ab diesem Zeitpunkt verdient der Embryo einen gewissen Schutz – ähnlich wie ihn ein Tier auch verdient.

SPIEGEL: Das heißt: Vorher gleicht der Embryo, ethisch betrachtet, einer Kartoffel, nun steigt er auf zum moralischen Wert einer Ratte?

Singer: Was den Embryo selbst betrifft, würde ich die Frage mit „Ja“ beantworten – allerdings mit der Einschränkung, dass es, wie schon gesagt, eine Sicht der Eltern gibt, die es zu berücksichtigen gilt.

[…]

SPIEGEL: Sie koppeln also das Lebensrecht, das höchste aller menschlichen Rechte, an einen Zeitpunkt, den Sie allenfalls sehr vage benennen können?

[…]

Singer: Ich habe einmal den Vorschlag gemacht, eine Phase von 28 Tagen nach der Geburt festzusetzen, nach der dann das volle Lebensrecht erst in Kraft tritt. Das ist zwar ein sehr willkürlicher Zeitpunkt, den wir einer Idee aus dem antiken Griechenland entlehnt haben. Aber es würde den Eltern Zeit für ihre Entscheidungen geben.

[…]

SPIEGEL: Bisher haben wir weitgehend über gesunde Babys gesprochen. Wie aber steht es mit schwer behinderten Babys, die möglicherweise nie volles Bewusstsein ihrer selbst erlangen werden. Kommen die nie im Laufe ihres Lebens in den Genuss eines vollwertigen Rechts zu leben?

Singer: In derartigen Fällen bin ich der Auffassung, dass sie selbst kein derartiges Recht haben. Aber sie können Eltern haben, denen sie etwas bedeuten, die ihnen Liebe geben und die sich um sie kümmern.

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„Viel hilft viel“ oder „Weniger ist mehr“?

 

Hier geht es ein wenig „mathematischer“ zu als in den vorhergehenden Artikeln. Gleichzeitig nähere ich mich wieder mehr den Leitlinien dieses Weblogbuchs, in dem es darum gehen soll, Stolpersteine oder Denkfallen aufzugreifen, die uns im Alltag und in den Medien begegnen. Diesmal hab ich mir den Stolperstein selbst hingelegt und ihn vorübergehend aus dem Auge verloren.

Für die Lehrveranstaltung Problemlösen hatte ich die Denksportaufgabe „Wie viele Taxis?“ ausgegeben. Aus einer Menge von Beobachtungen war eine Schätzung für Anzahl der Taxis in einer Stadt abzuleiten. Der ersten Eingebung folgend, denkt man sich: Je mehr der Informationen ich benutze, desto genauer wird mein Schätzwert wohl werden. Aber Hoppla! Das stimmt nicht.

Die Aufgabe ist ein schönes Beispiel für die von Gerd Gigerenzer wärmstens empfohlene Weniger-ist-mehr-Heuristik. Im Artikel Bauchgefühle: Je dümmer, desto klüger? und danach in Kopf oder Bauch? habe ich die Grenzen dieser Heuristik deutlich gemacht und gezeigt, dass sie mit Bauchgefühlen recht wenig zu tun hat und eher dem „langsamen Denken auf kurzen Wegen“ zugeordnet werden muss.

Das Taxi-Beispiel gibt sehr eingängige Hinweise darauf, wann diese Heuristik hilfreich sein kann. Die Anregung  zur Taxi-Aufgabe habe ich vom Büchlein „Mathematisches Sammelsurium“ von Christian Hesse, München 2012.

Wie viele Taxis? Nehmen wir an, Sie sitzen etwas gelangweilt in einem Café und notieren sich die Nummern der vorbeifahrenden Taxis: 477, 491, 342, 596, 68, 251, 258, 917, 775, 954, 160, 875, 618, 74, 457, 100, 181, 628, 512 und 729. Sie fragen sich nun, wie viele Taxis es in der Stadt wohl gibt.

Um überhaupt zu einer mathematisch lösbaren Aufgabe zu kommen, brauchen wir ein paar Annahmen:

  1. Die Taxis der Stadt sind von 1 bis zu einer Zahl N lückenlos durchnummeriert.
  2. Die Auswahl geschieht rein zufällig: Jede der Nummern von 1 bis N erscheint also mit derselben Wahrscheinlichkeit vor dem Fenster des Cafés.
  3. Jedes mehrfach erscheinende Taxi wird nur einmal erfasst. Für den Statistiker ist das ein Urnenmodell ohne Zurücklegen.

Wir sind also an einer Schätzung des uns unbekannten Wertes N interessiert. Mit a will ich die kleinste der beobachteten Taxinummern bezeichnen und mit b die größte. Die Zahl der insgesamt beobachteten Taxis ist n, hier gleich 20.

Dass die Nummer b = 954 bereits die größte der Nummern und damit gleich der Anzahl der Taxis ist, dass also b = N gilt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Zur besseren Abschätzung des Wertes N schlage ich Ihnen die Formel b*(n+1)/n – 1 vor. Das gäbe im vorliegenden Fall den Wert 1001.

Auf diese Formel bin ich durch die Analogie-Heuristik gekommen: Habe ich Ähnliches schon einmal gesehen? Kenne ich ein verwandtes Problem?

In der Tat hat das Taxi-Problem eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Problem „Das erste Ass“ aus meiner Problemsammlung Querbeet. Jetzt geht es nur noch darum, den dort beschriebenen Lösungsvorschlag auf das Taxi-Problem zu übertragen. Ich will dies in gebotener Kürze tun. Wem es jetzt zu mühsam ist, dem Gedankengang zu folgen, der kann die folgenden eingerückten Absätze vorerst überschlagen; er muss die Formel halt einfach so hinnehmen.

Wenn man gedanklich sämtliche N Taxis der Stadt nach aufsteigenden Nummern hintereinander anordnet und dann die beobachteten Taxis markiert, dann liegt es nahe, davon auszugehen, dass die Abstände zwischen den markierten Taxis alle in derselben Weise verteilt sind und folglich auch denselben Mittelwert haben. Aber es gibt die Schwierigkeit mit Anfang und Ende der Liste: Wie viele Taxis mit Nummern kleiner als a gibt es und wie viele oberhalb des Maximalwerts b?

Um diese Schwierigkeit zu umgehen, greifen wir zu demselben Trick wie beim Das-erste-Ass-Problem. Allerdings müssen wir unser Gedankenmodell entsprechend vorbereiten. Sicherlich ist es für die Statistik egal, ob man sich im Café die Nummern merkt, oder ob man die vorbei kommenden Taxis irgendwie markiert, indem man beispielsweise einen Zettel auf die Rückbank legt – rein gedanklich. Die Taxis brauchen dazu gar nicht nummeriert zu sein. Wir können – ohne die Statistik wesentlich zu stören – diese Nummerierung sogar nachholen. Wir stellen uns nun vor, dass sämtliche Taxis zum Nummerieren auf einen riesigen Betriebshof gebracht werden. Um mit der Nummerierung irgendwo anfangen zu können, fügen wir ein weiteres Taxi hinzu und geben ihm die Nummer 0.

Nun ordnen wir sämtliche Taxis rein zufällig im Kreis an. Das entspricht dem Mischen eines Spielkartenstapels. Das Zusatztaxi mit der Nummer 0 spielt hier die Rolle eines zufällig gesetzten Ortes, an dem die fortlaufenden Nummerierung beginnt, so wie wir beim Kartenstapel eine Karte eingefügt haben, die den Ort markierte, wo der Stapel beim Abheben geteilt wird. Vom 0-Taxi ausgehend folgen wir dem Kreis, beispielsweise im Uhrzeigersinn, und vergeben fortlaufend die Nummern 1, 2, 3, …, N.

Um zu zeigen, dass die Einfügung eines 0-Taxis an den statistischen Verhältnissen nichts ändert, muss man sich nur klar  machen, dass jede zyklische Anordnung der Taxis einschließlich 0-Taxi eine Eins-zu-eins-Entsprechung in der linearen Anordnung der Taxis hat — letztere ohne das Zusatztaxi.

Die Nummern der beobachteten und markierten Taxis erscheinen nun in aufsteigender Folge. Weil alle Taxis unterschiedslos behandelt worden sind, können wir davon ausgehen, dass die Abstände zwischen aufeinanderfolgenden Markierungen derselben Statistik genügen. Der Mittelwert der insgesamt n+1 Abstände zwischen den Taxis einschließlich des 0-Taxis lässt sich folglich durch den Quotienten (N+1)/(n+1) errechnen. Wenn wir nun – ausgehend vom 0-Taxi – nur die folgenden n Abstände betrachten, den Abstand des b-ten Taxis zum darauf folgenden 0-Taxi also außer Acht lassen, erhalten wir mit b/n eine weitere Abschätzung dieses mittleren Abstands. Gleichsetzen dieser beiden Mittelwerte und Auflösen nach N liefert die gesuchte Formel für den Schätzwert.

Die Formel b*(n+1)/n-1 bezeichnen wir als erste Schätzung. Sie scheint ein wenig windig zu sein: Nur der Maximalwert b kommt darin davor. Wir nutzen nur ein Minimum der verfügbaren Information. Deshalb besorgen wir uns eine weitere Schätzung über eine Symmetriebedingung: Es werden im Mittel genauso viele Zahlen unterhalb des Minimalwerts a liegen, nämlich a-1, wie oberhalb des Maximalwerts b, nämlich Nb. Gleichsetzung ergibt die zweite Schätzung für N, nämlich a+b-1 = 1021.

Die zweite Schätzung nutzt schon mehr Information als die erste, nämlich a und b. Wäre es nicht noch besser, alle Taxinummern für die Schätzung heranzuziehen? Wir können beispielsweise den Mittelwert m aller beobachteten Nummern berechnen und diesen mit dem Mittelwert (N+1)/2 der Zahlen von 1 bis N gleichsetzen. So erhalten wir die dritte Schätzung: 2m – 1 = 945. Ein Mangel dieser Schätzung fällt sofort ins Auge: Der Schätzwert für N kann kleiner als b werden, im Widerspruch zu den Tatsachen.

Nun wollen wir noch wissen, was es mit diesen Schätzungen auf sich hat und wie gut sie sind. Dazu realisiere ich eine kleine Simulation mit dem PC. Der Rechner führt viele Male hintereinander das folgende Experiment durch: Erzeugung von 20 paarweise verschiedenen Zufallszahlen aus dem Bereich von 1 bis 1000. Jede Zahl hat dieselbe Chance, ausgewählt zu werden. Jedes Mal werden die Schätzwerte nach den drei Formeln berechnet.

Schließlich werden die Mittelwerte der Schätzungen über sämtliche Versuche sowie deren Standardabweichung (ein Maß für die Streuung) ermittelt. Es zeigt sich, dass alle Schätzer erwartungstreu sind: Für jeden Schätzer ergibt sich ein Mittelwert (Erwartungswert) von 1000, was ja genau die für den Test angenommene Anzahl von Taxis ist. Für den ersten Schätzer ist die Standardabweichung gleich 48, für den zweiten gleich 66 und für den dritten gleich 129.

Fazit. Je mehr Information in die Schätzungen einfließt, desto schlechter wird sie. Hier gilt also nicht „Viel hilft viel“, sondern „Weniger ist mehr“.

Aber Hoppla! Das kann nicht durchweg stimmen. Es kommt darauf an, auf welche Information man sich stützt und welche man ignoriert. Und für diese Entscheidung sind dann doch wieder Rationalität und umfassende Kenntnis der Problemlage gefragt. In diesem Sinne hilft viel dann tatsächlich viel. Wie man mit der Weniger-ist-mehr-Heuristik daneben liegen kann, zeigt uns eine vierte Schätzung auf der Basis der kleinsten beobachteten Nummer: a*(n+1)-1 = 1427. Auch diese Schätzung ist erwartungstreu. Von daher lässt sich nichts gegen die Formel sagen. Aber die Streuung der Schätzwerte ist exorbitant. Die Standardabweichung ist gleich 944. Die Schätzung taugt nichts.

Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse des Simulationsexperiments für die ersten 20 Versuche für alle vier der von mir vorgestellten Schätzformeln.

Die Schätzergebnisse aus den ersten 20 Versuchen der stochastischen Simulation

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Je ne suis pas Charlie

Es gibt Anlass zur Trauer. Viele gehen auf die Straße. Am 11. Januar 2015 in Paris sind es eineinhalb Millionen Menschen. Unsere Verachtung gegenüber der Killertruppe von Paris besteht zu Recht. Und ja: Satire wie die von Charlie Hebdo muss möglich sein.

Das Bekenntnis „Je suis Charlie“ trifft auf unser Mitgefühl. Der Bundespräsident meint gar, dass wir alle Charlie seien. Wir bekennen uns zur Satire dieser Zeitung, so wie sich Kennedy am 26. Juni 1963  zum bedrohten Berlin bekannte, als er sagte: „Ich bin ein Berliner“.

Aber Hoppla! So aufgewühlt wir auch sind, sollten wir nicht vergessen, über Zweck und Wirkung der Demonstrationen nachzudenken. Damals im Kalten Krieg waren Beistand und Identifikation gefragt. Heute geht es vor allem um Trauer und es ist nicht ausgemacht, dass unsere Trauer erst durch die Identifikation mit der religionskritischen Satirezeitschrift echt ist.

Als Schüler und Student habe ich gern die Pardon (später: Titanic) gelesen. Satire hat mir Spaß gemacht, Religionskritik inbegriffen. Heute frage ich mich eher, was sie bezweckt und erreicht. Meine Freude daran hat nachgelassen.

Also: Ich bin nicht Charlie.

Möglicherweise geraten wir in unserer Trauer genau in die Falle, die uns die Killertruppe von Paris stellt: Wir übernehmen deren falsches Begründungsmuster, nämlich dass diese Schandtaten aus dem rechten Glauben folgen.

Gegen einen Machtapparat wie den IS, der die Religion als Begründung seines weltlichen Macht- und Alleinvertretungsanspruchs ganz im archaischen Sinne gebraucht, hilft Satire von außen nicht. Spott wird die Islamisten nicht zur Umkehr bringen. Eher werden der Binnenzusammenhalt als auch der Hass gegen Anders- und Nichtgläubige größer.

Wir müssen fragen, wie die Jugendlichen zu Fanatikern und religiös motivierten Killern werden. Dann kommen wir schnell auf die sozialen Ursachen und auf das Bildungswesen. Auch in Deutschland hängt der Schulerfolg noch viel zu stark von der sozialen Herkunft ab. Hier liegen die wahren Baustellen unserer Gesellschaft: Bessere Bedingungen für Zuwanderer. Chancengleichheit in der Bildung. Dafür lohnt es sich, zu demonstrieren.

Eine andere Frage ist, welche Rolle die Religion in unserer Gesellschaft spielt und spielen soll. In dieser Frage stehen Grundrechte miteinander im Konflikt: Auf der einen Seite die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und auf der andern die Meinungs- und  Pressefreiheit (Art. 4 und 5 GG). Der Paragraf 166 StGB über die Beschimpfung von Bekenntnissen und Religionsgemeinschaften ist Ausdruck der Balance, die unsere Gesellschaft in dieser Frage gefunden hat. Das ist immer wieder neu zu verhandeln. Manchen geht der Schutz der Religionen nicht weit genug, anderen geht er zu weit. Religionskritische Zeitschriften wie Charlie Hebdo beziehen eindeutig Stellung. Das ist gut so; aber nicht jeder muss ihre Haltung teilen.

Dass unsere Trauer so eng mit Religionskritik verbunden wird, lässt nichts Gutes erwarten. Erst der halbwegs kühle Kopf befähigt uns, das Richtige tun.

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iPad-Klassen: Evaluation 2.0

Den Jubelmeldungen über die neu eingeführten iPad-Klassen an Schulen bin ich seinerzeit mit Misstrauen begegnet. Insbesondere die fehlende Kontrolle des Lernerfolgs erweckte meinen Argwohn (iPad-Klassen: unkontrollierte Experimente an jungen Menschen).

Für mich gehören der Computer und dessen Einsatz in Lehrveranstaltungen zum beruflichen Alltag. Es geht hier also nicht um eine pauschale Verurteilung von neuen Medien im Unterricht. Will man etwas über den pädagogischen Nutzen des Computers im Unterricht erfahren, muss man verschiedene Aspekte beleuchten. Das betrifft wenigstens die folgenden Felder:

  1. Technische Hilfsmittel: Lese-, Schreib-, Kommunikationswerkzeuge im ansonsten weitgehend traditionellen Unterricht, Herausbildung von Computer- und Medienkompetenz. Computergestütztes Arbeiten: Analyse-, Simulations- und Konstruktionswerkzeuge.
  2. Arbeitsverhalten: Individualisierung des Lernens, mobiles Lernen, neue Kommunikationsformen, Wandel im Miteinander und im Unterrichtsstil.
  3. Computergestütztes Lernen: eLearning, Edutainment
  4. Gefahren: Suchtverhalten.

Über ein Jahr nach dem ersten Bericht über das „Leuchtturm-Projekt“ liegt nun ein weiterer vor: „iPad-Klassen-Projekt wird weiter ausgebaut“ (Fuldaer Zeitung, 23.12.2014, S. 15) und „Großer Schritt in Richtung Schule 2.0“ (Osthessen News, 11.12.2014).

Als Erfolg wird hervorgehoben, dass der „Webauftritt der iPad-Klasse“ im  „Google-Ranking […] eine Top-Platzierung erzielt“ habe. Das nenne ich Evaluation 2.0. Ein Logo und eine „Corporate Identity“ habe man inzwischen auch. Es ist, als gälte es Brühwürstchen zu verkaufen. Der Bildungsauftrag gerät zur Nebensache. Viel besser kann man meine vor Jahren geäußerten Befürchtungen eigentlich nicht illustrieren: „Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten. Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung“ (THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6).

Die bereits vor über einem Jahr angekündigte seriöse Begleitstudie zum iPad-Klassen-Projekt hat wohl noch keine Ergebnisse erbracht. Jedenfalls ist davon nichts zu vernehmen. Ich verbleibe in gespannter Erwartung.

Bei sorgfältig erwogenem Einsatz sind mit dem Computer sicherlich gute Lernerfolge zu erzielen. Zur Debatte stehen vor allem die Punkte Hilfsmittel und Arbeitsverhalten. Aber zweifellos kann man auch einiges falsch machen. Hinsichtlich des Computeruntstützten Lernens (eLearning und Edutainment) ist die allgemeine Ernüchterung heute bereits ziemlich groß und zum Suchtverhalten gibt es schon seit Jahren Warnungen von berufenen Leuten.

Hier interessiert besonders die Frage, inwieweit das Lernen von Mathematik durch den frühen Einsatz von computergestützten Werkzeugen in der Schule gefördert oder gar behindert wird. Ich denke da an Dynamische-Geometrie-Software (DGS) und an Computer-Algebra-Systeme (CAS).

Dass es sich um ein brennend aktuelles Problem handelt, wird mir ständig vor Augen geführt: Viele meiner Studenten gehen mathematische Herausforderungen eher lustlos an. Ich empfinde sie als trostlose Gestalten, denen offenbar nie das Glücksgefühl zuteil wurde, das sich mit der selbst vollbrachten Lösung eines schweren mathematischen Problems einstellt. Möglicherweise wurde ihnen die Freude an der Mathematik auch durch den Computer verdorben. Was ich damit meine, habe ich in der Ministudie Erfolgserlebnisse beim Lernen und deren Verhinderung mittels Computer zum Ausdruck gebracht.

Ähnliche Erfahrungen und Erkenntnisse liegen in der Mathematikdidaktik vor. Das in der Fachwelt verfügbare Wissen geht weit über meine eher anekdotische Beweisführung hinaus. Aufschlussreich ist der Aufsatz „Zum Einfluss der Informatik auf die Mathematikdidaktik. Weiterhin nur Computereinsatz und noch immer keine Medienbildung?“ von Horst Hischer.

Die Begleitstudie zum iPad-Klassen-Projekt sollte sich dieses Themas annehmen. Es hat auch mit der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu tun.

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Argumentationsfehler des ontologischen Naturalismus

Unfug

„Darf man Unfug Unfug nennen?“ heißt es in der Ankündigung eines Vortrags, in dem es um die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft gehen soll. Unterstellungen, nämlich dass die Naturwissenschaftler sich eine solche Abgrenzung zu einfach vorstellten und dass der von ihnen vorgebrachte „populäre Verweis auf Falsifizierbarkeit recht wenig zur Abgrenzung“ tauge, sollen auf den Vortrag neugierig machen. Es wird ein Rezept versprochen, „wie man dennoch sinnvoll Fug von Unfug voneinander unterscheiden kann“.

In dem Vortrag wird es wohl um den ontologischen Naturalismus gehen. Er ist der gedankliche Hintergrund, vor dem sich approximativ wahre Erkenntnis von Illusion (Mahner, 2007) und damit „Fug von Unfug“ scheiden lassen. Nach dieser Maßgabe sind dann „Bereiche wie Astrologie, Kreationismus oder Homöopathie“ leicht als Unfug erkennbar.

Hier will ich – in skeptischer Grundhaltung – die Argumente, die für den ontologischen Naturalismus vorgebracht werden, in Zweifel ziehen. Aber Achtung: Der Umkehrschluss, dass damit die genannten Bereiche der Parawissenschaften vom Verdikt des Unfugs freigesprochen würden, ist keinesfalls erlaubt. Auch findet sich im Folgenden kein Plädoyer für irgendeine vermeintlich bessere Weltanschauung. Dieser Artikel soll und wird niemanden von seinem Glauben abbringen. Der Naturalist soll seine Ontologie aber auch nicht als Denknotwendigkeit „verkaufen“ können. Ein solcher Geltungsanspruch steht in fundamentalem Widerspruch zum Skeptizismus.

Die Argumente

Den Kern des ontologischen Naturalismus bildet die Keine-Übernatur-Hypothese: Die Welt ist kausal geschlossen und es gibt keine Wechselwirkung mit so etwas wie einer Übernatur.

Dabei wird durchaus zugestanden, dass Hypothesen dieser Art – anders als wissenschaftlichen Aussagen – grundsätzlich „nicht empirisch prüfbar“ sind (Mahner, 2007). Da sie dem Falsifizierbarkeitskriterium für wissenschaftliche Aussagen folglich nicht genügen, haben sie den Rang von metaphysischen Hypothesen. Das heißt aber, dass es sich beim ontologischen Naturalismus um ein Glaubenssystem handelt.

Diese Einstufung des Naturalismus will vielen seiner Vertreter nicht so recht gefallen. Als Ausweg wird angesehen, dass diese Hypothesen wenigstens kritisierbar seien. Falls sich der Diskussionspartner auf dieses Wischiwaschi nicht einlässt, wird gelegentlich behauptet, dass die „Keine-Übernatur-Hypothese“ doch grundsätzlich widerlegbar sei.

Obwohl dieses Argument nicht von allen Verteidigern des ontologischen Naturalismus ins Feld geführt wird, nehme ich es in die folgende Sammlung von Argumenten auf, um im Zuge der Widerlegung dieses Arguments dem Hin und Her zu begegnen: Die „Keine-Übernatur-Hypothese“ ist tatsächlich NICHT falsifzierbar, sie ist metaphysisch.

Es folgen einige der zentralen Argumente des ontologischen Naturalismus. Im folgenden Kapitel widme ich mich den Mängeln dieser Argumente.

  1. „Der ontologische Naturalismus [ist] eine notwendige Voraussetzung der Realwissenschaften.“ (Mahner, 2007) Er ist eine unverzichtbare Bedingung dafür, dass keine merkwürdigen Dinge passieren, dass es sozusagen in der Welt mit rechten Dingen zugeht. Die Prüfung wissenschaftlicher Theorien ist nur in einem naturalistischen Kontext möglich. Durch die Möglichkeit supranaturaler Manipulation verlieren Beobachtung, Messung und Experimente den Status als empirische wissenschaftliche Methoden. „Überprüfbar ist […] nur etwas, mit dem wir wenigstens indirekt interagieren können und das sich gesetzmäßig verhält. Übernatürliche Wesenheiten entziehen sich hingegen per definitionem unserem Zugriff und sind auch nicht an (zumindest weltliche) Gesetzmäßigkeiten gebunden.“ (Mahner, 2007)
  2. „Die Wissenschaften [wurden] immer erfolgreicher […], je konsequenter sie die geistesgeschichtlich bedingten supranaturalistischen Überreste aus ihrem Weltbild entfernt haben.“ (Mahner, 2009)
  3. Die Keine-Übernatur-Hypothese ist falsifizierbar. „Der Naturalismus könnte scheitern, indem wir die Welt plötzlich so vorfänden, wie sie im zeitgenössischen Kino- und Fernseh-Gruselgenre gezeichnet wird, wo Vampire, Dämonen, Teufel und Erzengel aus und ein gehen und Dinge tun, die man nur als Wunder betrachten kann.“ (Mahner, 2007).
  4. Nullhypothese. Der ontologische Naturalismus ist die Nullhypothese der Naturwissenschaften. (Mahner, 2007; Neukamm, 2009)
  5. Erkennbarkeit. Die reale Welt existiert und sie kann auch erkannt werden. „Naturgesetze sind Eigenschaften von Dingen“ (Mahner, 2001).
  6. Die Alternative zur Annahme einer Erkennbarkeit der Welt ist eine konsequent relativistische Position. Wissenschaft ist dann nur noch ein Diskurs wie jeder andere ohne Anspruch, die Realität wenigstens näherungsweise zutreffender zu beschreiben und zu erklären als andere Bereiche. (Dieses Argument wurde in einer privaten Kommunikation mit dem Hinweis auf das Bullshit-Buch von Harry Frankfurt garniert. S. d. Artikel Kontrastbetonung. S. a. Körkel, 2014)
  7. Insbesondere das entsprechend den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet modifizierte Kausalitätsprinzip („Alles hat eine Ursache“) haftet der Natur an. Es ist Wesensmerkmal der „Dinge an sich“. „Nach der These des ontologischen Naturalismus ist der Kosmos kausal strukturiert und in sich abgeschlossen.“ (Neukamm, 2009)
  8. Approximationspostulat. „[Man muss] in einer realistischen Wissenschaftsphilosophie davon ausgehen, dass wissenschaftliche Gesetzesaussagen mehr oder weniger gute (d.h. approximative) Repräsentationen objektiver Gesetze in der Natur sind.“ (Mahner, 2001)

Fehleranalyse und Widerlegungen

In den Diskussionen mit Naturalisten begegnet einem immer wieder eine Argumentationsfigur: Das Dilemma-Argument. Beim Dilemma wird für eine Position Zustimmung dadurch erheischt, dass man dieser Position eine unhaltbare Alternativposition (einen Strohmann sozusagen) gegenüberstellt und diese dann widerlegt. Auf dieses Argumentationsmuster fällt herein, wer sich auf die damit verbundene Blickverengung einlässt und übersieht, dass es außer der aufgezeigten auch noch andere und nicht so leicht zu erledigende Alternativen gibt.

Ich nehme mir jetzt jedes der oben aufgeführten Argumente vor und zeige das jeweilige Argumentationsmuster und dessen fehlleitende Wirkung auf.

  1. Hier wird die Glaubensneigung des Menschen ausgenutzt (DENKFALLEN UND PARADOXA). Wer einfach glaubt, was er liest, entlastet seinen Denkapparat. Dem Sparsamkeitsprinzip folgend, schalten wir für gewöhnlich erst dann in den anspruchsvollen Denkmodus, wenn es unplausibel wird. Genau das wollen wir jetzt einmal tun. Dass es in der Welt nach unseren Erfahrungen mit rechten Dingen zugeht, ist unter anderem mit der Annahme verträglich, dass Gott die Welt geschaffen und sie dann weitgehend sich selbst überlassen hat. Viele andere Beispiele für jenseitige Eingriffsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Ermöglichung von Wissenschaft findet der Interessierte im Kino, beispielsweise im Film Matrix der Wachowski-Geschwister, und in der Bibel. Sogar gelegentliche Wunder würden die Wissenschaft nicht im Herz treffen. Der Glaube an Gott und seine wunderbare Schöpfung scheint mir sogar eine stärkere Triebkraft der Wissenschaft zu sein als die Annahme irgendeiner abstrakten Ontologie. Bezeichnend ist ja, dass die Zeit höchster religiöser Erregung im Gefolge der Reformation und der Religionskriege mit der Blütezeit der modernen Wissenschaft zusammenfällt: Galilei, Descartes und Pascal beispielsweise waren zutiefst religiöse Menschen. Dasselbe gilt für Kopernikus, Kepler und Newton (Larson/Witham: Naturwissenschaftler und Religion in Amerika. Spektr. d. Wiss. 11/1999, S. 74-78). Kurz: Der ontologische Naturalismus ist keineswegs „notwendige Voraussetzung der Realwissenschaften“. Wissenschaft gedeiht offensichtlich im Kontext ganz unterschiedlicher Begründungssysteme. Ich halte es für gleichgültig, woher der Forscher seine Motivation bezieht, denn: Die Hauptsache ist der Effekt.
  2. Beim Argument, „dass die Wissenschaften immer erfolgreicher wurden, je konsequenter sie die geistesgeschichtlich bedingten supranaturalistischen Überreste aus ihrem Weltbild entfernt haben“, werden Korrelation und Kausalität miteinander verwechselt (DENKFALLEN UND PARADOXA). Nehmen wir einmal an, die negative Korrelation zwischen Wissenschaft und Glauben besteht tatsächlich; dann liegt die Vermutung nahe, dass der Glaube aufgrund der zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnis schwindet und nicht etwa umgekehrt. Vielleicht aber haben beide Effekte auch eine gemeinsame Ursache. Als Kandidat kommt der gesellschaftliche Wandel infrage, der natürlich selbst wieder von den genannten Einflussgrößen und anderen abhängt. Also: So einfach, wie im zweiten Argument dargestellt, ist die Sache sicher nicht. Und wenn der Glaube an die Übernatur schwindet, heißt das noch lange nicht, dass anstelle dieses Glaubens ein anderer, nämlich der an den ontologischen Naturalismus treten muss. Die Welt der Zweifler am Supranaturalen scheint mir ziemlich bunt zu sein. Und einigen, insbesondere manchem Agnostiker, sind philosophische Überlegungen dieser Art fremd, denn: Ein gelingendes (Forscher-)Leben ist auch ohne Ontologie möglich.
  3. Dass die Keine-Übernatur-Hypothese falsifizierbar sei, ist ein ganz gewöhnlicher Fehlschluss. Die Beobachtung einer die Hypothese widerlegenden „übernatürlichen“ Erscheinung wie beispielsweise die Gedankenübertragung würde diese sofort zu einem Phänomen der realen Welt machen. Das Phänomen würde also nicht mehr der falsifizierenden Übernatur zugerechnet. Die falsifizierende Übernatur bliebe, falls es sie tatsächlich gäbe, der Erkenntnis unerreichbar. Daraus folgt, dass die Keine-Übernatur-Hypothese – nicht anders als die Annahme eines Schöpfergottes –  unwiderlegbar und somit eine Glaubensangelegenheit ist.
  4. „Nullhypothese“ ist in diesem Zusammenhang ein Täuschwort. Der Manipulant vertraut darauf, dass dieser Begriff einen gewissen Sog in Richtung des Natürlichen, in Richtung dessen, was keinerlei Begründung mehr bedarf, entwickelt. Der Begriff ist der schließenden Statistik entlehnt; dort hat man es – anderes als hier – mit messbaren und prüfbaren Dingen zu tun. Der Begriff täuscht Seriosität vor.
  5. Die Annahme der Erkennbarkeit der Welt steht im Widerspruch zur alten und vielbe­stätigten Erkenntnis, dass wir keinen unmittelbaren Zugriff auf die Realität haben; was wir erkennen können, sind die Erscheinungen der Dinge und nie die „Dinge an sich“. Je mehr die Physik der Welt zu Leibe rückt, desto mehr scheint die Realität zurückzuweichen. Was übrig bleibt, sind Formeln. Meinhard Kuhlmann schreibt: „Die Theorie sagt uns zwar, was wir messen können, aber sie spricht in Rätseln, wenn es um die Frage geht, was eigentlich hinter unseren Beobachtungen steckt“ und weiter „Physikalische Theorien können empirisch gültig sein, ohne metaphysische – jenseits der Physik liegende – Fragen zu klären“ („Was ist real?“,  Spektrum der Wissenschaft, Juli 2014, S. 52).
  6. Es handelt sich um ein klassisches Dilemma-Argument: Es wird so getan, als gäbe es nur Erkenntnis der Realität und Wahrheit einerseits und alternativ dazu einen bedeutungsarmen Diskurs und Pseudowissenschaft. Das ist auch eine Art Strohmann-Argument. Die Alternative kommt so abschreckend daher, dass man sie ablehnen muss. Selbstverständlich gibt es weitere Alternativen, und darunter sind weit plausiblere als die hier präsentierte. Meine Lieblingsalternative ist der kritische Rationalismus des Karl Raimund Popper. Er kommt ohne Weltanschauung aus. Aber niemand muss deswegen auf seine Weltanschauung verzichten. Der kritische Rationalismus ist so etwas wie der größte gemeinsame Teiler unter den Wissenschaftlern. Selbst Popper bekennt sich darüber hinaus zum Realismus; aber er betont, dass seine Logik der Forschung den Realismus nicht voraussetzt (Drittes Intermezzo: Was ist Pseudowissenschaft?).
  7. Die Kausalitätserwartung, also die Erwartung, dass es zu jedem Geschehnis eine Ursache gibt, ist ein angeborener Lehrmeister (Konrad Lorenz). Das Kausaldenken ist Grundlage der empirischen Wissenschaften und des freien Willens. Unsere Handlungen erfahren wir als Ursache dessen, was sich daraufhin entwickelt. Dasjenige, was von der getroffenen Entscheidung abhängt, ist die Wirkung. (Der Billardspieler sieht den Stoß, also die Krafteinwirkung, als Ursache der Kugelbewegung. Wer im Kettenkarussell sitzt, der verspürt die Fliehkraft als Wirkung, verursacht durch die Kreisbewegung seines Sitzes.) Ursache-Wirkungs­beziehungen sind der Hebel, mit dem es uns gelingt, den Lauf der Welt in unserem Sinne zu beeinflussen. Das Kausalitätsprinzip („Alles hat eine Ursache“) wurde im Laufe der Zeit immer wieder neu interpretiert, je nach Fortgang der Wissenschaft. Kurz: Das Kausalitätsprinzip wird gelernt. Es ist unserem Erkenntnisapparat zuzuordnen und nicht einer für uns letztlich unerkennbaren „objektiven Realität“.
  8. Approximations- bzw. Näherungsverfahren dienen dazu, „Lösungen mathematischer Probleme in endlich vielen Schritten mit definierter Genauigkeit“ anzunähern (Brockhaus). Für die Genauigkeit der Annäherung an die Realität liefert die Wissenschaft – anders als es das Wort „approximativ“ unterstellt – keine Anhaltspunkte. Dass Repräsentationen objektiver Gesetze approximativ seien, ist so gesehen eine irreführende Formulierung. Karl Raimund Popper und Hans Albert haben realistischere Vorstellungen. Ich habe sie durch mein Stöckchen-Beispiel im Artikel Kontrastbetonung veranschaulicht.

Die hier aufgespießten Argumentationsmuster wie das Dilemma, der Strohmann und das Täuschwort schöpfen das Repertoire der Kämpfer für den ontologischen Naturalismus bei weitem nicht aus. Neben allgemeinen Fehlschlüssen und Fehldeutungen wird genommen, was die Trickkiste der fehlleitenden Argumentation so hergibt. (Ich gebe hier nur wieder, was ich in Diskussionen erlebt habe.) Ein einfacher und aus der Werbung gut bekannter Trick ist die Holzhammermethode: Widerlegte Behauptungen werden einfach ständig wiederholt. Und dann gibt es noch den Stellvertreter: Wenn du nicht beweisen kannst, was du beweisen willst, dann demonstriere etwas anderes und behaupte, es sei dasselbe (Ein X für ein U). Beispielsweise habe ich von einem Verteidiger des ontologischen Naturalismus diesen Satz gelesen: „Ob die Welt im strengen Sinn kausal geschlossen ist, weiß niemand.“ Da muss eine ganz andere Weltanschauung, ein Stellvertreter, dahinter stehen, denn: Die kausale Geschlossenheit der Welt ist das fundamentale Postulat des ontologischen Naturalismus und eigentlich nicht verhandelbar. Viele Beispiele für Stellvertreter- und Strohmann-Argumente findet der interessierte Leser im Artikel von Körkel: Immunisierungsstrategien stehen dort stellvertretend für das illusionäre Denken, Wahrnehmungsberichte über die Realität treten anstelle der Erkennbarkeit der Welt; für meinen Standpunkt muss der radikale Skeptizismus als Strohmann herhalten, wahlweise auch Kants transzendentales Verfahren, der subjektive Wahrheitsbegriff oder der radikale Konstruktivismus, usw. (Diesen Absatz habe ich am 4.10.2014 nachgetragen.)

Fazit und Ausblick

Es scheint ziemlich egal zu sein, ob ein Wissenschaftler seine Motivation aus dem Glauben an einen Gott, aus dem Glauben an einen ontologischen Naturalismus oder allein aus dem Erfolg der Wissenschaft bezieht. In den Labors und auf Fachtagungen spielen die verschiedenen Begründungssysteme folglich auch kaum eine Rolle; sie treten im Forschungsalltag nicht groß in Erscheinung. Die Verständigung gelingt allein auf der Basis der Logik der Forschung. Durch den Verzicht auf Missionierung und jeglichen Beglückungsanspruch wird das Leben leichter und jeder kann sich dem widmen, was auch dem Skeptiker am Herzen liegt – die Wissenschaft.

Quellen

Martin Mahner: Naturgesetz – naturphilosophische Aspekte. Naturwissenschaftlichen Rundschau 54(9), 2001, 505-506

Martin Mahner: Unverzichtbarkeit und Reichweite des ontologischen Naturalismus. In: Zufall Mensch, 2007 (Hrsg. Lars Klinnert), S.77-90

Martin Mahner: Demarcating Science from Non-Science. Handbook of the Philosophy of Science – Focal Issues, pp. 515-575, Elsevier 2007

Martin Mahner: Religion und Wissenschaft. Materialien und Informationen zur Zeit, 03.09.2009

Martin Neukamm: Der ontologische Naturalismus ist keine Ideologie, sondern die Nullhypothese der Naturwissenschaften. Aufklärung und Kritik 1/2009, S. 94-109

Manfred Feodor Körkel: Sind Naturalismus und Skeptizismus kompatibel? Blog-Artikel 2014

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Kontrastbetonung

Wirst du aber […] alles tun, was ich dir sage, so will ich deiner Feinde
Feind und deiner Widersacher Widersacher sein. Ja, mein Engel wird vor dir
hergehen und dich bringen zu den Amoritern, Hethitern, Perisitern,
Kanaanitern, Hewitern und Jebusitern, und ich will sie vertilgen.

2. Mose 23, 22-23

Hüte dich, einen Bund zu schließen mit den Bewohnern des Landes,
in das du kommst, damit sie dir nicht zum Fallstrick werden in deiner Mitte;
sondern ihre Altäre sollst du umstürzen und ihre Steinmale zerbrechen
und ihre heiligen Pfähle umhauen; denn du sollst keinen andern Gott anbeten.
Denn der HERR heißt ein Eiferer; ein eifernder Gott ist er.

2. Mose 34, 12-14

„Bullshit? Bingo!“ überschreibt ein „Skeptiker“ seinen Blog-Artikel. Bullshit ist ein in „Skeptiker“-Kreisen gern genommener Kraftausdruck, mit dem die Abscheu gegenüber Äußerungen von Homöopathen und paranormal „Begabten“ zum Ausdruck gebracht wird. Um auch ja nicht falsch verstanden zu werden, beruft man sich auf das Heftchen Bullshit des US-amerikanischen Philosophen Harry Gordon Frankfurt.

Bullshit

Ich kann diesen 42-seitigen und prätentiös in Buchform gebrachten Text – der Titel „Bullshit“ der Suhrkamp-Taschenbuchausgabe ist in erhabenen(!) Buchstaben gesetzt – nicht ernst nehmen. Für mich handelt es sich um eine Faschingsvorlesung, um einen Vortrag also, den Professoren halten, wenn sie die Gepflogenheiten ihres Faches einmal durch den Kakao ziehen wollen. Mit professoraler Akribie und unter ausufernder Diskussion von Quellenmaterial, nicht zu vergessen das Oxford English Dictionary, verbreiten sie sich dann über ein lächerliches Thema. Was in diesem Fall dabei herauskommt, ist genau das, was der Titel verspricht: breitgetretener Bullshit. Spaßig.

Textprobe: „Es scheint durchaus angebracht, zwischen achtlos hergestellten, minderwertigen Produkten und Bullshit eine Parallele zu sehen. Aber in welcher Hinsicht? Liegt die Übereinstimmung darin, dass auch Bullshit stets achtlos und ohne jede Sorgfalt produziert wird, dass er nie fein gearbeitet ist, dass sich bei seiner Herstellung niemals die penible Aufmerksamkeit fürs Detail findet, von der Longfellow spricht? Ist der Bullshitter seinem Wesen nach ein geistloser Banause? Ist sein Produkt in jedem Fall grob und unsauber gearbeitet? Das Wort shit verweist natürlich darauf. Exkremente sind niemals in besonderer Weise gestaltet und gearbeitet. Sie werden nur ausgeschieden und entsorgt. Sie mögen eine mehr oder weniger in sich geschlossene Form haben, aber ganz sicher sind sie nicht ‚mit größter Sorgfalt gearbeitet‘.“

Mancher „Skeptiker“ nimmt den Bullshit-Text offenbar ernst. Er empfindet ihn als Rückenwind für seine Angriffe gegen Para- und Pseudowissenschaftler. Die „Bullshit“-Metapher dient ihm der Kontrastbetonung. Sie gibt seinen verbalen Attacken die rechte Würze. In der “Skeptiker”-Ecke des Internets gibt es denn auch eine Bullshit Police, ein Bullshit-Blog, eine Bullshit-Olympiade und diverse Bullshit-Bingos.

Freund oder Feind?

Eine kleine Textprobe: „Ich möchte mit meinen Zuschauern meinen Bullshitdetektor schärfen und begebe mich dafür in die vernunftverlassensten Ecken der Esoterik, Verschwörungstheorien und Pseudowissenschaften, ziehe Bullshitter aus ihren Löchern und lege jede ihrer Aussagen auf die Goldene Waage der Wahrheit.”

Da kommt ein ziemlich einfaches Weltbild zum Vorschein: Der „Skeptiker“ versucht Wahrheit und Bullshit zu trennen; er selbst steht auf der Seite der Wahrheit, seine vermeintlichen oder tatsächlichen Gegenspieler hingegen reden Bullshit.

Was derartiges bipolar ausgerichtetes Denken anrichten kann, zeigt der ehemalige U.S.-Präsidenten George W. Bush. Er gibt sich als überzeugter Christ, als Born-Again. Dem Journalisten Bob Woodward gegenüber erklärte er seinerzeit, dass er auf Ratschläge seiner Berater und auf Unterstützung durch seinen Vater, den früheren Präsidenten, verzichten könne, da er „einen höheren Vater“ konsultiere (The Faith Factor. TIME, 21.6.2004, S. 36-41). Damals ging es um den Einmarsch in den Irak.

George W. Bush steht auf der Seite des Guten, denn Gott ist mit ihm. Seine Gegner bilden die Achse des Bösen. Die TIME vom 30 Juni 2014 präsentiert – ganz aktuell – auf der Titelseite das katastrophale Ergebnis dieses bipolaren Denkens: THE END OF IRAQ.

Der Vergleich ist ziemlich drastisch, ja übertrieben; das gebe ich zu. Und den „Skeptikern“ wird er gar nicht gefallen. Er zeigt nämlich die Nähe ihrer Argumentation zu derjenigen ihrer Gegner. Aber genau darum geht es mir: um die Grundmuster der Argumentation, die auf beiden Seiten anzutreffen sind.

Ontologie für Rechthaber

Die Argumentationsweisen, die ich hier meine, zeichnen sich alle durch einen unangreifbaren Dreh- und Angelpunkt aus. Gott ist ein solcher. Wer ihn auf seiner Seite hat, ist im Recht und im Besitz der Wahrheit. Und wie sieht er bei den „Skeptikern“ aus?

Da sich die „Skeptiker“ als Anwälte der Wissenschaften verstehen, müsste man meinen, dass ihre Argumentationskultur streng an wissenschaftlichen Grundsätzen orientiert ist. Aber damit haben sie ein Problem, denn: Wissenschaft kann keine absoluten Wahrheiten bieten. In den empirischen Wissenschaften ist das Weltbild von den Wahrheitsbesitzern einerseits und den Bullshittern andererseits nicht unterzubringen.

Für den Bekehrungseifer hin zur Wahrheit lässt sich dem Felde der Wissenschaft also kein Schwung abgewinnen. Der  „Skeptiker“ braucht aber die sichere Basis. Er muss sich des Besitzes der Wahrheit, nämlich der (unwandelbaren) Naturgesetze, gewiss sein können. Erst dann kann er das Gefühl haben, dass seine Angriffe und Hohn- und Spottaktionen gerechtfertigt sind.

Harry Frankfurt zeigt einen Rettungsweg zum Heil – ob ernst gemeint oder nicht. Er drückt seine Botschaft so aus: „Wer […] nicht mehr an die Möglichkeit glaubt, bestimmte Aussagen als wahr, andere hingegen als falsch auszuweisen, dem bleiben nur zwei Wege. Entweder er stellt jegliche Versuche ein, die Wahrheit zu sagen bzw. zu lügen. Das bedeutet, auf Tatsachenbehauptungen ganz und gar zu verzichten. Oder er stellt weiterhin Behauptungen auf, die den Anspruch auf eine Beschreibung der Wirklichkeit erheben, aber nichts anderes als Bullshit sein können.“

Und weiter: „Die gegenwärtige Verbreitung von Bullshit hat ihre tieferen Ursachen auch in diversen Formen eines Skeptizismus, der uns die Möglichkeit eines zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität abspricht und behauptet, wir könnten letztlich gar nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Diese ‚antirealistischen‘ Doktrinen untergraben unser Vertrauen in den Wert unvoreingenommener Bemühungen um die Klärung der Frage, was wahr und was falsch ist, und sogar unser Vertrauen in das Konzept einer objektiven Forschung. Eine Reaktion auf  diesen Vertrauensverlust besteht in der Abkehr von jener Form der Disziplin, die für die Verfolgung eines Ideals der Richtigkeit erforderlich ist, und in der Hinwendung zu einer Disziplin, wie sie die Verfolgung eines alternativen Ideals erfordert, nämlich eines Ideals der Aufrichtigkeit.“

Da der „Skeptiker“, seinem Selbstbild entsprechend, sicherlich keinen Bullshit redet, weiß er sich, Harry Frankfurt im Umkehrschluss folgend, im Besitz eines „zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität“, wie auch immer dieser aussehen mag. Der „Skeptiker“ hat den Blick für das Wesen der Dinge, er ist im Besitze einer Ontologie. Die damit einhergehenden metaphysischen Hypothesen haben den Vorteil, prinzipiell nicht widerlegbar zu  sein. Das schafft Sicherheit, ist Gott-Ersatz.

Kurz oder lang?

Harry Frankfurt hat sicherlich nur Spaß gemacht, denn „objektive Forschung“ steht keineswegs infrage, nur weil wir „gar nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind“. Nach Karl Raimund Popper liegt „die Objektivität wissenschaftlicher Sätze […] darin, dass sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen“ (Logik der Forschung, 8. Abschnitt). Ein unmittelbarer Zugriff auf die Realität ist für unseren Erkenntnisapparat leider unmöglich, für eine objektive Wissenschaft aber glücklicherweise auch verzichtbar. Objektivität lässt sich rein diesseitig erreichen.

Harry Frankfurt meint (vermutlich im Spaß), man könne über Wahrheit in der Wissenschaft im Positiv reden („was wahr ist und was falsch ist“). Das sehen die  Erkenntnistheoretiker Karl Raimund Popper, Hans Albert und Gerhard Vollmer anders. Sie reden über mehr oder weniger Wahrheitsnähe, also konsequent im Komparativ. Anstelle von Frankfurts „zuverlässigem Zugang zur objektiven Realität“ sehen sie nur eine mehr oder weniger gute Annäherung an die Realität. In Bildern gesprochen: Wenn ich zwei Stöckchen vorgelegt bekomme, kann ich sehr wohl sagen, welches länger ist und welches kürzer. Ob das längere lang oder das kürzere kurz ist, kann ich nicht entscheiden, solange mir ein absoluter Maßstab fehlt.

Auch das Reden im Superlativ ist durchaus in Ordnung, zum Beispiel ist folgende Rede möglich: Unter den bekannten Theorien r, s, t, u, … ist die Theorie r diejenige, die der Wahrheit am nächsten kommt, eben weil sie wenigstens die von den Theorien s, t, u, … erklärten empirischen Sachverhalte ebenfalls erklärt und weil sie umfassender, präziser oder besser geprüft ist als jene.

Von einem Vertrauensverlust in das Konzept einer objektiven Forschung kann also nicht die Rede sein, nur weil wir „letztlich gar nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind“. Allerdings bekommt der Begriff der objektiven Erkenntnis eine Bedeutung, die ihm durch Karl Raimund Popper beigemessen wird; er steht nicht für die Erkenntnis einer objektiven Realität.

Übrigens: Können Sie sich einen Moralphilosophen vorstellen, der Aufrichtigkeit für Bullshit hält, bloß weil er meint, der Mensch könne eben auch nicht die Wahrheit über sich selbst erkennen?

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„Skeptiker“ kontra Skeptiker über Kreativität in der Wissenschaft

Die Welt der Skeptiker ist bunt. Das ist gut so. Skeptiker erheben das Zweifeln zum Prinzip. Und natürlich zweifelt der Skeptiker auch an den verschiedenen Spielarten des Skeptizismus. Da bleiben Kontroversen nicht aus. Es kann sich lohnen, eine solche Kontroverse einmal genauer zu beäugen. Daraus lässt sich etwas über das skeptische Argumentieren lernen.

Im Artikel „Der mörderische russische Yeti vom Djatlow-Pass“, verfasst vom „Skeptiker-Chefreporter“, stieß mir dieses mit Wohlwollen weitergereichte Zitat auf:

Ein Dauerthema in der Bullshitistic ist der „brillante Ketzer“. Gläubige sind oft der Überzeugung, die Wissenschaft werde von verkannten Außenseitern vorangebracht, deren fabelhafte Theorien zunächst abgelehnt, später jedoch als der neueste Stand der Erkenntnis anerkannt werden. Nichts könnte falscher sein. Umwälzende Innovationen entstehen nicht auf der Grundlage eigenbrötlerischer Träumereien. Sie sind vielmehr die Folge massiver gemeinsamer Forschungsanstrengungen und des gegenseitigen Datenaustausches […]

In diesen Zeilen wird für mich die in Skeptiker-Kreisen weit verbreitete Blindheit gegenüber dem Wesen schöpferischer Prozesse deutlich. Mein Kommentar: „Hier offenbart der Schreiber eine verblüffende und sicherlich von ihm unbemerkte Nähe zur Anthroposophie. Beispielsweise meint Prof. Dr. Olaf-Axel Burow, der diesen Kreisen ebenfalls nahesteht: ‚Kreativität gibt es nur im Plural‘. Seine Rezepte auf Grundlage des von ihm zum phantastischen ‚kreativen Feld‘ überhöhten Zusammenschlusses von ‚Persönlichkeiten mit stark unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeiten, die eine gemeinsam geteilte Vision verbindet‘, bringen möglicherweise technische Optimierungsvorgänge wie die von ihm angesprochenen Entwicklungen des Rolls-Royce, des Apple-Computers und des Mountain-Bikes voran; die wirklich umstürzenden Erfindungen wie die des Buchdrucks, des Telefons, des Computers, des WWW, des Penicillins kommen so aber nicht zustande. Was bei der Lehre vom kreativen Feld herauskommt, ist eine Sammlung von Trivialtäten, wie ‚die Weisheit der Vielen‘ und all das, was man die Tugenden des Mittelmaßes nennen könnte: Teamfähigkeit, Flexibilität, ‚Fokus auf die Zukunft‘. Genau auf diesem Niveau hält sich der Blog-Artikel auf.“

Ich weise im Kommentar auf meine Abschiedsvorlesung hin, in der ich die gegenteilige Auffassung vertrete: Es ist nicht das Team, das erfindet, und neue Lösungen werden auch keinesfalls zielgerichtet angegangen. Der Geistesblitz ereignet sich stets in einem einzigen Kopf! Meist entdecken die Genies rein zufällig Lösungen für Probleme, die sie eigentlich gar nicht hatten.

Mein Diskussionsbeitrag zum Skeptiker-Artikel endet so: „Und noch etwas, das für die Skeptiker mit oberflächlichem Wissenschaftsverständnis ziemlich schwer verdaulich sein dürfte: In den Kaptiteln 2, 6, 7 und 8 seiner Aufsatzsammlung ‚Vermutungen und Widerlegungen‘ bringt Karl Raimund Popper – sicher kein Schwärmer für das Okkulte – eine Reihe von Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte, die die Bedeutung des mystischen und metaphysischen Denkens für das Entstehen neuer Theorien zeigen. Unter anderem: Die Zahlenmystik des Pythagoras ist Quelle das Atomismus; die newtonsche Mechanik ist aus Mythen entstanden; die religiös-neuplatonische Idee, dass der Sonne der höchste Platz im Universum gebührt, war Ausgangspunkt der kopernikanischen Wende.“

Nicht einmal eine halbe Stunde später kommt die Replik des „Skeptiker-Chefreporters“ auf meinen Kommentar. Er bezieht sich zunächst auf meine Bemerkung zur Rolle von Zahlenmystik, Mythen und religiös-neuplatonischen Ideen und schreibt:

Mit dem kleinen Unterschied, dass Newton eben nicht bei den Mythen stehengeblieben ist und diese immer weiter vertieft hat, bis er sich völlig im Mythologischen verloren hat, ebenso wenig wie Kopernikus mit „Ideen“ hausieren ging, sondern sich ein Fernrohr genommen und seine Vermutungen überprüft und schließlich bewiesen hat.

Ja, natürlich, in den Parawissenschaften wird die kritische Seite der empirischen Wissenschaft – nämlich das Deduzieren und Prüfen – sträflich vernachlässigt. Mir wird fälschlich unterstellt, diese Seite übersehen zu haben. Nur: Es ist halt die kreative Seite der Wissenschaft, auf die ich das Augenmerk lenken wollte; deshalb bleibt die kritische Seite unerwähnt. Das Unerwähnte eignet sich prächtig für ein Strohmann-Argument, wie wir gesehen haben. Im Artikel geht es gerade so weiter:

Alles, was er [der „Yeti-Explorer“] herausgefunden hat, weist genau in die gegenteilige Richtung eines „Yeti-Monsters“.

Damit wird mir die Absicht untergeschoben, die Yeti-Monster-Geschichte zu verteidigen. Auch das ist ein Argumentationsfehler. Der Zweifel an einem Argument für eine bestimmte Auffassung zieht nämlich noch lange nicht die Auffassung selbst in Zweifel. Der „Skeptiker-Chefreporter“ macht etwas, das dem Scheitern am Modus Tollens gleich kommt: Aus der Aussage, „Wenn es regnet, gehe ich ins Kino“ lässt sich eben nicht schließen, dass ich auf das Kino verzichte, wenn es nicht regnet.

Das Strohmann-Argument wird weiter ausgewalzt, und zwar in der Replik auf meine Bemerkung „Meist entdecken die Genies rein zufällig Lösungen für Probleme, die sie eigentlich gar nicht hatten“:

Pseudowissenschaftler entdecken eben nicht zufällig „Lösungen“ für echte Probleme noch beschäftigen sie sich überhaupt mit „echten“ Problemen der Wissenschaft, sondern sie sind von diversen Phantastereien überzeugt, ohne dafür jemals Belege zu liefern, und die die „echte“ Wissenschaft längst abgehakt hat.

Als hätte ich das angezweifelt. Der „Skeptiker-Chefreporter“ beantwortet schließlich meine Bemerkung, dass in Skeptiker-Kreisen die Blindheit gegenüber dem Wesen schöpferischer Prozesse weit verbreitet sei, mit dieser Köstlichkeit:

Gewiss ja – erzählen Sie das bitte jemandem, der keine 25 Bücher geschrieben hat, aber nicht mir.

Der „Skeptiker“ sollte eigentlich wissen, dass der Vorwurf der Majestätsbeleidigung – und darum handelt es sich hier ja – dem Skeptiker einem inneren Vorbeimarsch gleichkommt. Wer jetzt noch nicht genug hat, der kann ja den gesamten  Blog-Artikel des „Skeptiker-Chefreporters“ samt Kommentaren lesen.

Wo kann man etwas über den Skeptizismus lernen? Im Buch über „Antike und moderne Skepsis“ von Markus Gabriel (Junius Verlag, 2008). Und wo findet man eine gute Zusammenstellung von Argumentationsfiguren – manchmal irreführend, manchmal auch nützlich? In „Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren“ von Hubert Schleichert (Beck, 1997).

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