Der Draghi-Trick

Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), will keine Zweifel an der Handlungsfähigkeit der Währungshüter und am Erfolg der bisherigen Strategie aufkommen lassen.  In Draghis Rede vom vergangenen Montag klingt das so: „Die Wirtschaftslage im Euroraum ist nach wie vor schwierig, aber Anzeichen einer möglichen Stabilisierung sind zu erkennen.“

Wer sind die Adressaten dieses Satzes? Es sind die Akteure der Finanzmärkte, die Wertpapierhändler und Börsengurus. Diese Leute sind bekannt dafür, dass sie ihrem Bauchgefühl höchste Treffsicherheit zutrauen (System der Denkfallen). Und auf diese Intuition und die Tendenz zur Selbstüberschätzung (Overconfidence) setzt Draghi. Seine Verlautbarungen verleiten dazu, darin genau das zu hören, was ein jeder hören will. So auch diesmal: Es läuft gut und alles ist in Butter. Wir sind erleichtert und verschieben die Panik.

Draghi hat zwar kein Problem gelöst, aber eine kurzfristige Marktberuhigung hat er wohl erreicht.

Suspendieren wir einmal das schnelle Denken. Schauen wir uns Draghis Äußerung genauer an:  Eine Rettung ist zwar nicht in Sicht, jedoch eine Stabilisierung. Und die ist auch nicht so sicher. Wenigstens lassen sich Anzeichen einer Möglichkeit dafür erkennen.

Rational, also in Ruhe und aus der Weitwinkelperspektive betrachtet lässt Draghis Verlautbarung mehrere Deutungen zu:

  • Es läuft gut
  • Es wird schon irgendwie klappen
  • Schlimm sieht es aus
  • Wir haben die Sache in den Sand gesetzt
  • Die Katastrophe ist nahe

Also: „Alles klar auf der Andrea Doria?“

Wahrsager-Schule

Kürzlich habe ich ein Büchlein gekauft und begonnen, darin zu lesen: „Paranormalität. Warum wir Dinge sehen, die es nicht gibt“. Darin verrät Richard Wiseman die Tricks der Wahrsager. Auch für den Alltagsgebrauch sind sie tauglich.

Willst du als einer gelten, der die Zukunft kennt und weiß „wie der Hase läuft“, dann beherzige ein paar einfachen Regeln aus der angewandten Psychologie. Ich bringe hier nur die drei wichtigsten: Sage, was die Leute hören wollen („Atomkraft ist sicher“). Fällt dir das mangels guter Nachrichten und lästiger Skrupel wegen schwer, drücke dich mehrdeutig und vage aus („es gibt Anzeichen für“, „ich gehe davon aus, dass“). Dein Publikum wird zufrieden sein. Jeder hört nämlich genau das heraus, was er glaubt oder was er glauben will. Und schließlich: Überlasse es den Adressaten, tieferen Sinn in deine Worte zu legen. Denn das können wir Menschen ziemlich gut: Bedeutung schaffen. Dafür sorgen schon die Sinnsuche des Wahrnehmungsapparats und die Prägnanztendenz.

Wahrsager von Rang: Notenbankpräsidenten

Wer Notenbankpräsident werden will, muss ein Meister der angewandten Psychologie sein. Von Draghi gibt es weitere Zeugnisse seiner Begabung. Mit der Ankündigung „Innerhalb unseres Mandats ist die EZB bereit alles Erforderliche zu tun, um den Euro zu erhalten“ löste er am 26. Juli des vergangenen Jahres einen Anstieg der Kurse für Aktien und Anleihen aus, ganz wie gewünscht. Leider war es schon nach einer Woche vorbei mit der guten Laune; Draghis Rettungsaktionen fielen magerer aus als erwartet („Dünne Bertha“, Der Spiegel 32/2012, S. 80-84).

Auch der frühere amerikanische Notenbankpräsident Alan Greenspan war bekannt für seine kryptischen und interpretierbaren Verlautbarungen. Er ließ uns sogar in seine Trickkiste blicken: „Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meinte.“

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Kopf oder Bauch?

Aus zwei mach eins: „Risiko“ von Gerd Gigerenzer

Endlich halte ich wieder einmal ein sorgfältig gemachtes Buch zum Thema Denken und Irren in Händen: Das kürzlich erschienene Buch „Risiko“ von Gerd Gigerenzer (2013). Es ist die Zusammenfassung der Gedanken zweier seiner früheren Werke: 1. „Das Einmaleins der Skepsis“ und 2. „Bauchentscheidungen“. In dem Blog-Artikel Bauchgefühle: Je dümmer, desto klüger? erkläre ich das erste zu einem meiner Lieblingsbücher und vor dem zweiten warne ich. Jetzt, wo beide Gedankenwelten in einem Band vorliegen ist es an der Zeit, sich noch einmal damit auseinanderzusetzen.

Im System der Denkfallen charakterisiere ich unter der Überschrift „Intuition und Reflexion“ die beiden in dem Werk vereinten Denkwelten folgendermaßen:

Die Intuition repräsentiert das langfristig abgespeicherte und sofort verfügbare Wissen, während die Reflexion für unsere Fähigkeit steht, durch diskursives Denken und Analyse die intuitiven Eingebungen notfalls zu korrigieren und zu steuern. Kurz gesagt: Die Intuition macht Denkfallen möglich; und verantwortlich für deren Vermeidung ist die Reflexion.

Die Intuition ist bei unseren Entscheidungen immer dabei – ungefragt und blitzschnell. Die Intuition arbeitet automatisch und anstrengungslos. Sie funktioniert dort gut, wo Entscheidungen in einem stark geregelten Umfeld zu treffen sind. Der Schachspieler, der Feuerwehrmann und die Krankenschwester bewegen sich in einem solchen Umfeld und können sich mit zunehmender Erfahrung auf ihr Bauchgefühl verlassen. Unter Zeitdruck kann ein verlässliches Bauchgefühl lebenswichtig sein. Die Intuition ist in einer regelhaften Umwelt trainierbar. Wir können Fertigkeiten und Fähigkeiten entwickeln, die unsere schnellen Entscheidungen treffsicher machen.

Die Kontroverse

Mit dieser Charakterisierung der beiden Denkweisen gebe ich im Wesentlichen die Sicht von Daniel Kahneman wieder, dessen Position derjenigen Gigerenzers entgegenzustehen scheint. Aber sie ist ein guter Ausgangspunkt für die Erörterung der Kontroverse.

Für Gerd Gigerenzer läuft Daniel Kahnemans Standpunkt auf eine „Verleumdung der Intuition“ hinaus und er fasst seine Rehabilitation der Intuition auf Seite 147 in drei Punkten zusammen:

  1. Intuition ist weder eine Laune noch die Quelle aller schlechten Entscheidungen. Sie ist unbewusste Intelligenz, welche die meisten Regionen unseres Gehirns nutzt.
  2. Intuition ist dem logischen Denken nicht unterlegen. Meistens sind beide erforderlich. Intuition ist unentbehrlich in einer komplexen, ungewissen Welt, während Logik in einer Welt ausreichen kann, in der alle Risiken mit Gewissheit bekannt sind.
  3. Intuition beruht nicht auf mangelhafter mentaler Software, sondern auf intelligenten Faustregeln und viel Erfahrung, die im Unbewussten verborgen bleibt.

Eine intelligente Faustregel ist für Gigerenzer eine Heuristik, „weil sie sich auf die eine oder die wenigen Informationen konzentriert, die wichtig sind, und die anderen außer Acht lässt“ (S. 47). Diese einfachen Heuristiken machen – so meint Gigerenzer – die Schlagkraft des Bauchgefühls aus.

Daniel Kahneman meint, dass der Wirksamkeitsnachweis für die „intelligenten Faustregeln“ auf statistischen Simulationen beruhe, die nur zeigten, dass sie im wirklichen Leben funktionieren könnten, dass dies aber nicht erwiesen sei; und er fügt hinzu, dass Heuristiken keineswegs – anders als Gigerenzer immer wieder betont – einfach sein müssten. Ganz im Gegenteil: Das Gehirn verarbeite eine riesige Informationsmenge parallel und das intuitive Denken könne schnell sein, und brauche dabei nicht auf Informationen zu verzichten. Es sei die Fähigkeit, große Informationsmengen schnell und effizient zu verarbeiten, die das Expertentum auszeichne – so Kahneman (Thinking, Fast and Slow, 2011, S. 457 f.).

Zunächst einmal stellen wir fest, dass Gigerenzer sich praktisch nicht mit den Bauchgefühlen eines Schachspielers, einer Krankenschwester oder eines Feuerwehrmannes befasst. Diese auf großer Informationsfülle beruhenden Bauchgefühle nenne ich hier einmal Ahnungen (Hunches). Ich lege das Klassifizierungsschema der folgenden Tabelle zugrunde.

Klassifizierung der Entscheidungsverfahren

Von dieser Art Bauchgefühl halte ich sehr viel; ich bin überzeugt davon, dass ein Ingenieur, der in seinem Metier kein Bauchgefühl entwickelt, es nicht weit bringt. Ich erinnere mich an ein sehr intensives Auftreten des Bauchgefühls. Es war auf einer Jahrestagung „Sicherheit“ in Saarbrücken im Jahr 2008. Ein junger Software-Ingenieur trug zum Thema Nachweis hoher Softwarezuverlässigkeit vor. Die für seine Arbeit grundlegende Formel rief bei mir Unbehagen hervor; mich überkam die Ahnung, dass sie falsch sein müsse. In der Pause versuchte ich gegenüber seiner Mentorin meine Bedenken in Worte zu fassen. Es gelang mir nicht so recht; ich versprach, die Sache zu durchdenken und mich noch einmal zu melden. Das tat ich dann auch. Im Laufe meiner Analyse stieß ich dann auf einen weiteren eklatanten Fehler, der in Statistik-Lehrbücher weit verbreitet ist. Auf meiner Denkfallen-Seite berichte ich darüber.

Ziemlich sicher bin ich, dass beispielsweise die soziale Faustregel Vertrauen zu den Ahnungen gehört: Ich gehe zu dem Arzt oder Anlagenberater, zu dem ich Vertrauen habe. Der Grad des Vertrauens ist ein Stellvertreter für die vermutliche Qualität der Behandlung bzw. Beratung. Dabei bleibt mir weitgehend unklar, woher mein Vertrauen kommt.

Derartig Komplexes ist bei Gigerenzer die Ausnahme. In seinen Heuristiken kommt es ansonsten nicht vor. Um Einfachheit geht es ihm. Sehen wir nach, ob wir auch seine einfachen Heuristiken unter der Rubrik Intuition und Bauchgefühl (bei Kahneman: schnelles Denken) unterbringen können. Die meisten der einfachen Heuristiken beruhen auf dem Prinzip der Substitution: Wenn du etwas nicht beurteilen kannst, dann nimm an dessen Stelle etwas Ähnliches und beurteile das.

Ein Musterbeispiel ist die Rekognitionsheuristik: „Wenn du zwischen zwei Alternativen wählen kannst, von denen dir eine bekannt vorkommt und die andere nicht, dann entscheide dich für die bekannte.“ Im Bauchgefühl-Artikel beziehe ich mich auf folgendes Beispiel:

Genannt werden zwei Städte und Sie werden gefragt, welche mehr Einwohner hat als die andere. Ist Ihnen nur eine der Städte bekannt, tun Sie gut daran, die ihnen bekannte zu nennen. Bereits hier stellt sich die Frage, ob Sie diese Entscheidung wirklich unbewusst, also aus dem Bauch heraus treffen, oder ob Sie sich zuerst Ihrer Unwissenheit bewusst werden und sich dann ganz  bewusst für die Ihnen bekannte Stadt entscheiden, weil Sie unterstellen, dass die größere der Städte wohl auch die bekanntere sein wird. Damit das Kästchen nicht ganz leer bleibt, wollen wir – trotz der Zweifel – diese Heuristik in das Kästchen „Unbewusste Faustregeln“ einsortieren.

Unsere weitere Suche nach unbewussten Faustregeln im Gigerenzschen Katalog bleibt ziemlich erfolglos. Hoppla! Wir sehen: Gigerenzers einfache Heuristiken haben eigentlich wenig bis nichts mit Bauchgefühlen zu tun. Sie gehören fast durchweg zu den Denkabkürzungen und verlangen Reflexion, langsames Denken also. Langsames Denken auf kurzen Wegen.

Unter falscher Flagge

Die einfachen Heuristiken beruhen auf dem Grundsatz weniger ist mehr: Wenn du nicht sämtliche Merkmale in Rechnung stellen kannst, beschränke dich auf die wichtigsten. Die herausgefilterten Merkmale werden dann unter die Lupe genommen, und zwar mit dem Instrumentarium des langsamen Denkens, mittels Reflexion also. Welche Merkmale wichtig sind und welche nicht, und wie sie zu verrechnen sind, ist eine Sache der Erfahrung. Ganz sicher sind diese Heuristiken dem Bereich des Rationalen und der Empirie zuzuordnen und nicht dem der Gefühle. Sie sind in das Kästchen „Bewusste Faustregeln“ einzusortieren. Es folgen drei Beispiele:

Börsen sind Plätze, an denen die Ungewissheit regiert. Es bestätigt sich der Verdacht, dass komplizierte Anlagestrategien meist nicht besser sind als die 1/N-Regel: Verteile dein Geld gleichmäßig auf N Fonds (S. 126 ff.).

Kaufhäuser sind gut beraten, wenn sie ihre Werbekampagnen nur potentiellen und halbwegs treuen Kunden zukommen lassen. Das Problem wird üblicherweise mit komplexen Analysen angegangen. Aber auch hier hat sich eine Faustregel als wirksam herausgestellt, die Hiatus-Regel: Beurteile den Kunden nur aufgrund des Zeitpunkt seines letzten Kaufs (S. 162).

Take-the-Best heißt, dass man sich nur auf den besten Grund verlässt und alle anderen außer Acht lässt; dies ist eine einfache und in unübersichtlichen Situationen wirksame Faustregel (S. 165).

Mit Bauchgefühlen haben diese Regeln nichts zu tun. Noch deutlicher wird die Abwesenheit von Intuition bei Checklisten, bei effizienten Entscheidungsbäumen und beim Satisficing – Vorgehensweisen, die Gigerenzer den einfachen Heuristiken zuordnet.

Gigerenzer selbst macht in seinem Buch deutlich, dass der Gebrauch von Checklisten nicht intuitiv erfolgt. Sein Beispiel ist die Notwasserung eines Verkehrsflugzeugs im Januar 2009 (S. 44): „Auch hatten [die Piloten] keine Zeit, die Checklisten für Notwasserungen durchzugehen. Während die Evakuierung vonstatten ging, blieb Skiles im Cockpit und arbeitete die betreffende Checkliste ab, um eventuelle Brände und andere Gefahren auszuschließen.“ Das war Reflexion vom Feinsten.

Effiziente Entscheidungsbäume „sind keine vollständigen Bäume mit allen denkbaren Informationsästen, sondern Bäume, die nach jeder Frage oder jedem Test eine Entscheidung erlauben“ (S. 238). Wie bei den Checklisten ist auch hier bewusstes Vorgehen angezeigt, sowohl beim Erstellen als auch beim Durchgehen der Entscheidungsbäume, so gestutzt und vereinfacht sie auch immer sein mögen.

Noch eine Regel vom Weniger-ist-mehr-Typ: „Strebe nicht immer das Optimum an, sondern wähle die erste Alternative, die dein Anspruchsniveau erreicht“. Obwohl Gigerenzer diese Satisficing-Heuristik der Gefühlswelt zurechnet (S. 196 ff.), macht er selbst paradoxerweise eine ziemlich anspruchsvolle Übung in Simulation und Mathematik daraus. Wer wirklich tief in die Rationalität abtauchen und dabei die Austreibung jeglichen Gefühls erleben will, dem empfehle ich ein Studium des Heiratsproblems.

Fazit

Gigerenzer verspricht, über Intuition zu schreiben, tut es aber nicht. Ich habe den Verdacht bereits in meinem früheren Bauchgefühl-Artikel geäußert: Das Etikett „Bauchentscheidung“ ist ein Marketingtrick. Was mich darauf bringt? Eine einfache und bewährte Heuristik: Traue keinem erhabenen Motiv, wenn sich ein niedriges finden lässt.

Trotz aller Kritik: Gigerenzers Buch gehört zu denen, die dem Wissen der Welt etwas hinzufügen. Mit Vorsicht genossen bringt es Gewinn.

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Denkfallen, total vergeigt

Bücher, die besser nicht geschrieben worden wären

Es gibt Bücher, die fügen dem Wissen der Welt etwas hinzu; selbst bescheidene Beiträge zählen. Manche Bücher tun das vorsätzlich nicht. Das Beste, was sie leisten können, ist unterhalten. Und dann gibt es Bücher, die besser nicht geschrieben worden wären. Es sind Bücher mit „Wissensvernichtungspotential“.

Von einem Verlag bekam ich folgendes Angebot: „… hätten Sie Lust, Denkfallen in Buchform für ein breites Publikum darzustellen? Das könnte folgendermaßen aussehen: Achtung Denkfehler – Klug irren will gelernt sein. [Der Autor] vermittelt in diesem Buch, wie Sie kluge Endscheidungen treffen und wie Sie die üblichen Denkfallen erkennen…“

Oh, ja. Das ist mein Thema, so könnte ich das System der Denkfallen einem größeren Publikum nahebringen. Das dachte ich und übersandte einen Entwurf mit Textbeispielen. Die Antwort des Verlags: „Um möglichst viele Leser ansprechen zu können, ist […] das Buch eher populärwissenschaftlich zu halten. Auf zu komplexe Definitionen, mathematische Beweise etc. darf daher verzichtet werden.“

Gedacht war also an ein weiteres oberflächliches Buch für den Ratgeber-Markt und zum Gebrauch für Managerkurse. Solche Bücher gibt es nun wirklich schon genug, geschrieben von fähigen Feuilletonisten. Wenn sie witzig sind, gehören sie zur Unterhaltungsliteratur. Andererseits können in Kolumnenformat gepresste Wissenshäppchen kein systematisches Wissen vermitteln. Zusammenhänge werden aufgelöst und zurück bleibt ein zwar gut unterhaltener aber letztlich doch etwas ratloser Leser.

Kurz und gut: Das in Aussicht genommene Buch entgeht dem Urteil, dass es besser nicht geschrieben worden wäre. Es wird nicht geschrieben.

Beispiel: Der Autopilot im Kopf

Aber manches Buch mit „Wissensvernichtungspotential“ gibt es schon. Ich habe eins gefunden, und zwar zum selben Thema: „Der Autopilot im Kopf. Entscheiden, Urteilen, Probleme lösen, ohne in die üblichen Denkfallen zu tappen.“ Es ist von Carl Naughton. Neben seiner Fachausbildung in Linguistik und kognitiver Psychologie hat der Autor eine Ausbildung zur Schauspielerei genossen. Jedenfalls ist er fähig, seine Aktionen mit einer blendenden Oberfläche auszustatten; er hat Charisma. Um den Inhalt ist es jedoch vergleichsweise übel bestellt.

Aufmerksam wurde ich, als ich mein Konsumforschungs-Beispiel aus „Denkfallen − Klug irren will gelernt sein“ darin fand und feststellte, dass es als Aufmacher für ein Kapitel über unerlaubte Umkehrschlüsse und Induktionsfehler diente. (Erschienen ist der Aufsatz in „Jenseits des Verstandes“, herausgegeben von Martin Dresler und Tanja Gabriele Klein, Hirzel Verlag, 2007.) Leider wurde von Carl Naughton der Mechanismus der Blickfeldverengung, der in dem Beispiel deutlich wird, nicht herausgestellt und der Zusammenhang mit den anderen Beispielen des Kapitels bleibt im Dunkeln. Das liegt vor allem daran, dass in Naughtons Buch der Zusammenhang zwischen plausiblem Schließen und unerlaubten Umkehrschlüssen nirgends erläutert wird. Der Autor scheint die Mathematik nicht zu mögen, er diskreditiert sie sogar. Dadurch vergibt er die Chance, Klarheit zu schaffen. Die anfängliche Freude über die Würdigung meiner Arbeit wich zunehmendem Entsetzen über das, was ich in dem Buch sonst noch fand.

Mir geht es nicht darum, dem Autor eins auszuwischen. Aber bekanntlich lernen wir aus Fehlern, und ich denke, dass wir nicht darauf bestehen sollten, alle Fehler selbst zu machen. Weniger schmerzhaft ist es, anderen dabei zuzusehen. Schauen wir also in dieses Buch hinein; womöglich gibt es etwas zu lernen.

An dem Buch fällt als Erstes auf, dass der Autor vorgibt, Logikverstöße aufzuzeigen und dass er sich dabei unablässig verstolpert. Wenn C. N. behauptet, dass der Text „Männer sind Säugetiere. Manche Säugetiere sind weiblich. Schlussfolgerung: Manche Männer sind weiblich.“ (S. 79) vom Aufbau völlig logisch sei und er daraus schließt, dass Weltwissen und Logik nicht immer gut zueinander passen, dann frage ich, was er unter einem „logischen Aufbau“ versteht. Der Text ist ein Verstoß gegen Logikgesetze, nichts weiter.

Die Formulierung „Wenn und nur wenn …, dann …“ sieht C. N. als Variante der Konstruktion „Wenn …, dann …“ an (S. 90). Dabei handelt es sich aussagenlogisch um verschiedene Formen. Die erste ist eine Äquivalenz und die zweite eine Implikation.

Ganz lehrreich fand ich folgendes Beispiel (S. 84): „Eine der folgenden Aussagen ist wahr:  Wenigstens einige der weiblichen Kunden sind nicht knauserig oder Keiner der weiblichen Kunden ist knauserig. Ist es möglich, dass kein Knauseriger weiblich ist?“ Ich sehe keine zwei Aussagen, sondern nur eine Aussage, bestehend aus zwei mittels oder verknüpften Teilaussagen, und eine Frage. Möglicherweise hat hier der Texteditor Verwirrung gestiftet. Also versuche ich, der Sache einen Sinn zu geben und fasse die mittels oder verknüpften Teilaussagen als zwei getrennte Aussagen auf und die Frage als an mich, den Leser gerichtet. Ich denke mir einen Fall aus: Die Kundinnen Emma und Paula sind nicht knauserig. Weitere Kundinnen gibt es nicht. Damit sind beide Teilaussagen wahr (also auch „eine“) und die Frage ist mit „ja“ zu beantworten. Da C. N. darauf besteht, dass die korrekte Antwort „nein“ lautet, wird im Rückblick klar, dass er mit oder ein exklusives Oder meint. Und natürlich kann man „eine“ im Sinne von „genau eine“ auffassen – zwingend ist es aber nicht. Kurzum: C. N. hätte bei der Formulierung der Aufgabe genau die Sorgfalt aufbringen sollen, die er von seinen Lesern erwartet.

Begriffswirrwarr

Mir ist schleierhaft, worin C. N. den Unterschied zwischen Problemlösen und kreativem Problemlösen sieht (S. 75). Im ersten Fall sieht er Hindernisse auf dem Weg zur Lösung. Demgegenüber zeichne sich das kreative Problemlösen dadurch aus, dass wir die Methoden und Techniken nicht parat haben, die zur Lösung führen. Aber was ist das anderes als ein Hindernis auf dem Weg zur Lösung?

Auf Seite 115 rührt C. N. die Begriffe „Wahrscheinlichkeit“, „Häufigkeit“ und „Grundrate“ durcheinander. Man fragt sich, was wirklich klarer wird, wenn man den Begriff der „Regenwahrscheinlichkeit“ durch „Grundrate für Regen“ ersetzt? Es sind beide Male dieselben Zahlenwerte und auch der Bedeutungsunterschied ist eher theoretischer als praktischer Natur. Das nachfolgende Beispiel macht deutlich, dass er eigentlich auf etwas anderes hinaus will, nämlich auf den Basisraten-Fehler (Neglect of Base-Rates): Zum eigenen Schaden lassen wir oftmals die Grundrate eines Ereignisses außer Acht. Basisraten-Fehler werden in der einschlägigen Literatur über kognitive Täuschungen ziemlich klar dargelegt (Lesevorschläge: „Thinking, Fast and Slow“ von Daniel Kahneman, 2011; „Das Einmaleins der Skepsis“ von Gerd Gigerenzer, 2002). Hier jedoch legt sich Nebel über die Sache.

Kuddelmuddel entsteht dadurch, dass der Monte-Carlo-Effekt (Gambler’s Fallacy) als Folge des Basisraten-Fehlers angesehen wird. Dabei geht der Spieler-Irrtum (beispielsweise, dass nach einer längeren Folge von Rot das Erscheinen von Schwarz wahrscheinlicher wird) einzig auf die weit verbreitete aber irrige Annahme zurück, dass das Rouletterad ein Gedächtnis hat. Die Basisrate hat damit nichts zu tun.

Derartige falsche Zuordnungen sind allgegenwärtig. Der Hang zur Überbewertung bestätigender Informationen (Confirmation Bias), wie sie uns die Harvard-Medical-School-Studie vor Augen führt, wird fälschlich auf Overconfidence, also auf ein übertriebenes Vertrauen in das eigene Urteil, zurückgeführt (S. 114). Die Verfügbarkeitsheuristik – wahrscheinlich ist, was uns schnell in den Sinn kommt – wird für die Fehleinschätzung des Verhaltens einer Person verantwortlich gemacht (S. 138). Das sind nur einige Beispiele für die fast durchgängig falsche Verwendung von Begriffen. Das ist nicht die versprochene Anleitung zu „professionalisiertem Denkverhalten“ (S. 12); es ist ein Anschlag auf den Verstand, den nur der schadlos überstehen kann, der das Gelesene nicht ernst nimmt.

Einen gewissen Höhepunkt stellt dieser Textauszug dar:  „So wie das Verhältnis von 1 zu 2 ist auch das Verhältnis von 3 zu 4. Oder Kürzer: 1:2=3:4“ (S. 256). Damit hat das Buch endgültig den Rang jugendgefährdender Schriften erreicht.

Wilde Hypothesen und falsche Ratschläge

Die Grenze des Erträglichen wird überschritten, wenn der Autor wilde und unbelegte Hypothesen verbreitet und sich zu Ratschlägen versteigt.

Auf Seite 98 steht: „Wir sind nicht so gut in reiner Logik. Gut sind wir, wenn es um Verhaltens(maß)regeln geht. Mit der Vorgabe ‚Erlaubtes und Verlangtes‘ betreiben wir pragmatisches und praktisches Schlussfolgern… Binden Sie am besten jede abstrakte und zahlenbasierte Information in einen sozialen Zusammenhang ein.“ Durch diesen Ratschlag wird der Glaubensneigung (Belief-Bias) Vorschub geleistet, einer berüchtigten Denkfalle: Was halbwegs plausibel klingt und was – aufgrund der Einbettung in ein konkretes Beispiel – ein in sich stimmiges Bild ergibt, wird nicht weiter hinterfragt. Die eigentlich nötigen Anstrengungen zur Blickfelderweiterung und Abstraktion werden unterlassen.

Dabei hat C. N. auf Seite 81 selbst diese Glaubensneigung als eine wesentliche Denkfalle herausgestellt: „Wir neigen dazu, Aussagen für logisch einwandfrei zu halten, wenn wir in unseren Erfahrungen zutreffende Möglichkeiten für deren Bestätigung finden. Glaubhaftigkeit übertrifft dann im Zweifelsfall Richtigkeit.“

Die Einsicht „Zahlen sind eine kulturelle Errungenschaft, um Macht auszuüben und uns das Leben schwer zu machen“ (S. 113) hält C. N. nicht davon ab, moderne Errungenschaften wie die modernen Medien zu nutzen – undenkbar ohne Mathematik.

Dazu passt dies Textstelle (S. 102): „Vier Dinge helfen sehr, wenn Sie der Bestätigungsverzerrung aus dem Weg gehen wollen: ein ausgeprägter Zeitdruck, ein hoher Informationsüberfluss und ein kritischer Blick auf das eigene Selbstbewusstsein.“ Witzig, nicht wahr?

Selbsterkenntnis eines Charismatikers

Mir kommt ein Ausspruch von Tom DeMarco, dem weltbekannten Software-Pionier in den Sinn: Es gibt keine größere Gefahr als einen schwachen Gedanken in den Händen eines begnadeten Kommunikators („There is no greater danger than a mediocre idea in the hands of a gifted communicator“). Er sagte es auf der Konferenz der Software-Pioniere 2001 im alten Bundestag in Bonn und bezog sich dabei schelmisch auf sein eigenes, ein Vierteljahrhundert vorher veröffentlichtes Werk.

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Dicke leben länger – oder auch nicht

Es war auf dem Turm-der-Sinne-Symposium im letzten Herbst in Nürnberg; es ging um „das Tier im Menschen“. Der mir damals noch unbekannte Mediziner Achim Peters trug seine Erkenntnisse aus der Adipositasforschung unter dem Titel „Dicke leben länger“ vor. Dahinter steckte seine Theorie des egoistischen Gehirns. Ich empfand die Präsentation und auch den in der Diskussion offenbar werdenden Stil als zu dogmatisch. Auch seine These, dass es allein der Stress sei, der den einen krank und den anderen dick macht, kam etwas schmalspurig daher.

Auf dem Gesundheits- und Fitnessmarkt ist man einiges gewöhnt: Da werden fast allwöchentlich neue Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen Kenngrößen der körperlichen Leistungsfähigkeit, allerlei schädlichen Einflüssen und gesundheitsfördernden Gegenmaßnahmen postuliert. Vieles davon trifft zu, wieder anderes ist leicht als Pseudowissenschaft zu entlarven. Beispielsweise lese ich im aktuellen Informationsblatt meines Fitnessstudios, dass „Entsäuerung“ die Wunschfigur bringe und dass „Entschlackung der entscheidende Schritt zur Topfigur“ sei. Aber neben solchem Unfug gibt es viel Bedenkenswertes.

Die Gemengelage aus Gesundheitsangeboten und –theorien überfordert uns. Wir sind nicht gut darin, eine Vielzahl von Mechanismen und Theorien im Kopf zu behalten und deren Bedeutung zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen. „Haben wir eine halbwegs schlüssige Hypothese über die möglichen Ursachen unserer Beobachtungen gefunden, neigen wir dazu, diese Hypothese als einzig mögliche Erklärung der beobachteten Effekte anzusehen und die Suche nach konkurrierenden Hypothesen abzubrechen.“ (System der Denkfallen) Diese Tendenz wird noch dadurch verschärft, dass wir bevorzugt in eindimensionalen Ursache-Wirkungsketten denken und die Vernetzung der Ursachen und die Nebenwirkungen außer Acht lassen. Die Fitnessgurus und Gesundheitsapologeten nutzen diese Schwächen aus und preisen ihre Sicht der Dinge als jeweils allein seligmachend an.

Der Rummel um die Theorie des egoistischen Gehirns passt ins Bild. Achim Peters tut einiges dafür, dass wir in die Denkfalle der Blickverengung tappen. Aber der Argwohn ist geweckt. Ich will genauer wissen, was an der Sache dran ist und inwieweit die Theorie des egoistischen Gehirns unser Denken über Fitness, Gesundheit und Dicksein verändern kann.

Achim Peters ist ein Erfolgsautor und hinter ihm steht eine ganze Riege von Wissenschaftlern und Instituten. Seine Veröffentlichungen machen einen seriösen Eindruck und auch in Magazinen kommt er ausgiebig zu Wort, beispielsweise im Artikel „Wenn die Seele dick macht“ (DER SPIEGEL 7/2013, S. 98-106). Die Theorie lässt sich offenbar nicht als Humbug abtun. Welche Möglichkeiten hat angesichts dieser formalen Autorität der skeptische Nichtfachmann, sich ein Bild von der spektakulär erscheinenden Theorie zu machen? Wie prüft er deren Relevanz?

Es ist nicht aussichtslos. Was hilft, ist die Blickfelderweiterung. Dabei helfen die folgenden Fragen:

  • Was wissen wir bereits? Was ist der Stand der Diskussion?
  • Was genau wird behauptet?
  • Welche Prüfungen wurden durchgeführt und wie stichhaltig sind diese?
  • Wie groß ist der Wissenszuwachs durch die neue Theorie? Welche Bedeutung hat sie?

Was wir bereits wissen: Gesundheits- und Ernährungsstudien

Als Lebenszeit verkürzende Risikofaktoren gelten: geringe Lebensqualität, Rauchen, Diabetes, Bluthochdruck, Stress; auch das Übergewicht wird immer wieder genannt. Aber unser Körper ist ein hochkomplexes System. Die behaupteten eindimensionalen Ursache-Wirkungsbeziehungen kommen darin nicht vor. Es ist kein Wunder, dass die von den Fitness-Gurus angebotenen Trivialerklärungen und Patentrezepte oft zueinander im Widerspruch stehen. Gut, dass der Adressat ein kurzes Gedächtnis hat: Nur der neueste Trend zählt.

BMI und Mortalität (USA-Studie)

Aber wir verfügen auch über verlässliche Informationen. Seit den 1970er Jahren werden in den USA Gesundheits- und Ernährungsstudien durchgeführt. Sie stellen einen Zusammenhang zwischen dem BMI (Body Mass Index) und der Sterblichkeit (Mortalität) her. Der BMI einer Person ist gleich ihrem Gewicht (in kg) geteilt durch das Quadrat der Größe (in Metern); und die Mortalität ergibt sich aus der Anzahl Todesfälle innerhalb eines bestimmten Zeitraums (beispielsweise 1 Jahr) bezogen auf die Größe der betrachteten Population.

Der BMI soll den Grad der Fettleibigkeit messen. Tut er das? Es gibt Zweifel: Ein muskelbepackter Athlet kommt auch ohne dicke Speckschwarte auf ein eindrucksvolles Gewicht. Es gibt bessere Indikatoren für Fettleibigkeit als den BMI. Aber dieses Maß hat sich durchgesetzt und wird allgemein angewendet. Man muss sich seiner begrenzten Aussagekraft bewusst sein.

Eine aktuelle US-Studie von Katherine M. Flegal und anderen (“Association of All-Cause Mortality With Overweight and Obesity Using Standard Body Mass Index Categories”, Januar 2013) zeigt, dass das Normalgewicht (BMI ab 18.5 bis 24.9) gar nicht so ideal ist. Die Sterblichkeit der Übergewichtigen (BMI von 25 bis 29.9) und sogar der leicht Adipösen (30 bis 34.9) ist um 6% bzw. 5% geringer. Erst Adipositas des Grades II und III lässt die Sterblichkeit gegenüber derjenigen der Normalgewichtigen um 29% ansteigen.

BMI und Mortalität (japanische Studie)

Die Japaner haben offenbar ein geringeres Problem mit dem Übergewicht. In einer der US-amerikanischen Studie vergleichbaren japanischen Untersuchung („Impact of obesity, overweight and underweight on life expectancy and lifetime medical expenditures: the Ohsaki Cohort Study“, 2012) unterscheiden Masato Nagai und seine Mitstreiter die Adipositasklassen nicht, dafür betrachten sie zusätzlich die Untergewichtigen (BMI unter 18.5). Und siehe da: Auch das Untergewicht ist ein bedeutender Risikofaktor.

Der Zusammenhang zwischen Mortalität und BMI hat – über alle Altersgruppen und Todesursachen gesehen – einen U-förmigen Verlauf. Die bessere Stressbewältigung durch die Dicken kann eine (!) der Ursachen für ihre geringere Sterblichkeit sein. Aber es kann auch daran liegen, dass sie in Krisenzeiten über Reserven verfügen. Der Ausspruch „Dicke leben länger“ mag zwar etwas übertrieben scheinen, aber ganz falsch ist er nicht. Dass er für uns überraschend kommt, liegt daran, dass wir unablässig mit den Sprüchen der Fitness- und Gesundheitsbranche konfrontiert sind, die uns die Topfigur als anzustrebendes Ziel anpreist. Die Erkenntnisse der Wissenschaft liegen zwar leicht zugänglich vor, aber sie fallen uns nicht ins Auge; wir müssen uns selber darum bemühen.

Auch die hier betrachteten Studien haben ihre Mängel: Die Daten werden über alle Altersgruppen zusammengefasst. Auch wird nicht nach Vorbelastung und Risikofaktoren unterschieden. Diese Aggregierung der Daten kann Effekte verfälschen oder unsichtbar machen. Eine Aufschlüsselung nach Altersgruppen beispielsweise bringt einen interessanten Sachverhalt ans Tageslicht: Katherine M. Flegal vom Center of Disease Control and Prevention (CDC) erklärt, dass eine Fülle von Daten darauf hindeute, dass sich Adipositas im Alter weniger stark auf die Mortalität auswirke als in jüngeren Jahren („Übergewicht überbewertet?“, Spektrum der Wissenschaft, 10/2005, S. 24-31).

Was wird behauptet?

Wir wenden uns nun der Theorie des egoistischen Gehirns zu. Eine Übersicht bietet der Aufsatz „The selfish brain: stress and eating behavior“ von Achim Peters, Britta Kubera, Christian Hubold und Dirk Langemann (Frontiers in Neuroscience, 30.5.2011). Ich beziehe mich auf diesen Text und die eine oder andere dort angegebene Quelle.

Achim Peters geht von Umfragen, Dokumentationen von Langzeitexperimenten und Ergebnissen der Neurophysiologie und Endokrinologie aus, die in der wissenschaftlichen Literatur dokumentiert worden sind. Besonders zwei Beobachtungen hebt Achim Peters hervor.

  1. Eine Umfrage unter Studienanfängern, die den Einfluss des studienbedingten Stresses auf das Körpergewicht belegen sollte, ergab, dass nach einem Studienjahr eine Mehrheit der Studenten an Gewicht zugelegt und andere an Gewicht verloren hatten.
  2. In einem Langzeitexperiment zogen Mütter aus einem Problemviertel in ein stressärmeres, besseres Wohnviertel um. Nach 15 Jahren waren diese Frauen dünner als die Frauen der Vergleichsgruppe.

Die erste Beobachtung liefert Achim Peters die Motivation für seine Modellbildung. Peters schreibt, dass die Arbeitgruppe ein mathematisches Modell der zerebralen Versorgungskette benutzte, um die Auswirkungen eines langfristigen Anstiegs des zerebralen Energiebedarfs zu simulieren.

Für das Aufnehmen der Energie braucht der Körper Insulin, das Gehirn kommt ohne das aus. Durch Unterdrückung der Insulinsekretion sorgt das eigensüchtige Gehirn dafür, dass die mit der Nahrung aufgenommene Energie in Form von Zucker vorrangig ihm zur Verfügung steht: „Ein Brötchen für das Gehirn, nur ein Brötchen für den Körper“, wie Peters es ausdrückt. Auf diese Weise lässt sich die Gewichtsabnahme der kleineren Gruppe der oben genannten Studienanfänger erklären. Kurz gesagt: Diese Gruppe von Menschen ist schlank, aber ihre Gesundheit ist gefährdet, wenn die Stesssituation lange anhält.

Wenn dieser den Körper belastende Unterdrückungsmechanismus nicht funktioniert oder auf lange Sicht gesehen erlahmt, dann holt sich das Gehirn immer noch, was es braucht: Es wird mehr gegessen und das Gehirn erhält ebenfalls sein Brötchen, aber – mangels Insulinunterdrückung – landen drei im Körper. Das Körpergewicht nimmt zu.

Wie wird geprüft?

Was Achim Peters uns mitteilt, sind offenbar die Schlussfolgerungen aus Simulationsläufen. Die Frage ist, inwieweit die Hypothese und das Simulationsmodell durch Experimente am realen Objekt überprüft worden sind. Peters bietet dazu einen Rückgriff auf die Beobachtungen, die ihn zur Modellbildung veranlasst hatten.

Die erste Beobachtung – die über die stressgeplagten Studenten – überzeugt mich nicht so recht: Was ist eigentlich verwunderlich daran, dass bei einigen Studenten das Gewicht zu und bei anderen abnimmt? Hätte man vorab durch ein unabhängiges Kriterium sagen können, bei welchen der Studenten das Gewicht zu- und bei welchen es abnehmen würde, dann hätte die Beobachtung sicherlich mehr Gewicht.

Auch das Langzeitexperiment mit den Müttern hat nur eine geringe Aussagekraft zugunsten der Theorie des egoistischen Gehirns: Das geringere Gewicht kann ja auch darauf zurückzuführen sein, dass die neue Umgebung mehr Anregung zur Betätigung bot oder dass das Angebot des Supermarkts im Viertel gesundheitsorientiert war oder dass die Frauen in der Nachbarschaft neue Freunde und gute Vorbilder für Verhaltensänderungen fanden, und so weiter?

Also: Es bleiben viele Fragen offen. Aber das ist in der Wissenschaft normal und stellt nicht von vornherein die Theorie selbst infrage.

Resümee

Naturwissenschaft ist vom Wesen her reduktionistisch. Das ist ein Grund ihres Erfolgs. Den meisten Wissenschaftlern ist die begrenzte Reichweite ihrer Erkenntnisse bewusst. Der Rummel um die Theorie des egoistischen Gehirns lässt diese Bescheidenheit vermissen. Ein Wirkmechanismus wird, wie auf dem Gesundheits- und Fitnessmarkt üblich, als die Erkenntnis schlechthin verkauft. Die Erfahrungen mit den verschiedenen Diäten und ihrer Unwirksamkeit sollten uns vorsichtig machen: Der Körper ist ein hoch komplexes System und es gibt eine Vielzahl von Wirkungszusammenhängen. Achim Peters hat wohl einen dieser Zusammenhänge ans Licht geholt. Wir sollten das richtig einordnen und unserem Hang zu einfachen Erklärungen und zur Bevorzugung eindimensionaler Ursache-Wirkungsbeziehungen widerstehen, sonst laufen wir womöglich in die falsche Richtung.

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Schwarmintelligenz – Herrschaft des Mittelmaßes

Ein zukunftsfähiger Unternehmensstil zeichne sich aus „durch eine Firmenkultur, die Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten, ja sogar Kapitalgeber und die gesamte Öffentlichkeit in den Innovationsprozess mit einbezieht“, so Trendforscher Peter Wippermann am 28.6.2012 im Deutschlandfunk. Es sieht demnach so aus, als könne das Internet eine neue Kultur der Zusammenarbeit ermöglichen, in der jeder mitreden darf. Bessere Entscheidungen durch Schwarmintelligenz – so lautet das Versprechen.

Gegen diese  These spricht einiges. Hier nur ein paar Personen, die Großes hervorgebracht haben – und das ganz ohne Schwarmintelligenz: Columbus, Konrad Zuse, Niklaus Wirth, Tim Berners-Lee, Steve Jobs. Ich bin überzeugt, dass alle großen Einfälle und Erfindungen nicht vom Nachdenken im Schwarm kommen, sondern das Ergebnis von Freiheit, Individualität und Originalität sind, wie John Stuart Mill in seinem Aufsatz „On Liberty“ meint.

Schwarmverhalten dominiert Vernunft

Fachausschüsse in VDI und VDE sind lose Zusammenkünfte von Experten aus verschiedenen Unternehmen und Hochschulen, die ein bestimmtes Thema bearbeiten und dazu Richtlinien abliefern sollen.

Die Diskussion um eine neue Richtlinie zieht sich gewöhnlich über viele Jahre und weitgehend ergebnislos hin. Irgendwann muss doch ein Ergebnis her. Dann einigen sich die Beteiligten auf einen Entwurf, der keinem wirklich gefällt. Weil sich aber jeder irgendwie darin wiederfindet, lässt man ihn passieren. Und so geschieht es, dass ein Schwarm hochkarätiger Experten nur Mittelmaß hervorbringt. Es liegt  nicht am Einzelnen, Schuld am Unglück ist das Schwarmverhalten, das die Vernunft dominiert.

Diesmal ging es um die Zuverlässigkeit und Sicherheit in der Automatisierungstechnik. Die Diskussion in all den Jahren verlief eher zirkulär als linear. Sachargumente kamen und gingen wie die Figuren eines Karussells. Die Dynamik der Diskussion wurde weniger durch die Schlüssigkeit der Argumentation als durch das Kommunikationsverhalten der Teilnehmer bestimmt. Sturheit und Redegewandtheit waren Trumpf. Das konnte noch jahrelang so weitergehen.

Und so wurde der Zirkel aufgebrochen: Ich machte auf der Basis eines schlüssigen Konzepts und im Alleingang einen Vorschlag für ein neues Richtlinienblatt. Noch bevor das Zerreden beginnen konnte, bildeten wir einen kleinen Arbeitskreis von Leuten, die von der Grundidee überzeugt waren. In nur wenigen Sitzungen erstellten diese Sechs ein Papier und legten es dem Ausschuss vor. Bevor die erneut startende zirkuläre Diskussion richtig in Fahrt kommen konnte, sagte ich: Gut, man kann das auch anders machen. Dann soll jemand mit einem Konzept kommen und dieses mit ein paar Mitstreitern ausarbeiten, so wie es hier geschehen ist. Damit war Ruhe. Das Papier durchlief die Genehmigungsprozedur ziemlich geräuschlos; das Konzept zur „Zuverlässigkeit und Sicherheit komplexer Systeme“ wurde 1993 sogar auf dem Jubiläumskongress „100 Jahre VDE“ in Berlin vorgestellt und es regte zu einigen Büchern und Fachartikeln an.

An dieses Geschehen vor nun über zwanzig Jahren erinnerte ich mich im Zusammenhang mit der Diskussion zum Ziegenproblem. Hier zeigt sich das Schwarmverhalten noch deutlicher. In diese Diskussion waren insgesamt mehr als 500 Diskutanten verwickelt. Es gab ein Hin und Her von Meinungen und nach 10 Jahren setzte sich ein Standpunkt durch, der – verglichen mit den anderen bis dahin vertretenen Meinungen – keineswegs der beste war.

In meinem letzten Blog-Artikel „Meinungsbildung im Internet – Kurioses wird Norm“ beschäftige ich mich mit den Mechanismen, die hinter einer solchen Diskussionsdynamik stecken könnten. Ich wiederhole in Kürze: Ideen haben dann eine Chance, wenn sie hartnäckig und ausdauernd vertreten werden. Ermüdungserscheinungen dünnen die Gegnerschaft aus und es kommt zu faulen Kompromissen. Die Wiederholung des Immergleichen dient der Durchsetzung einer Meinung. Da es auf Präsenz ankommt, wächst die Informationsflut an. Wer nicht untergehen will, muss schnell reagieren, kann Gegenargumente kaum noch wahrnehmen. Einige Autoren halten sich nicht mit dem sorgfältigen Lesen der Beiträge anderer auf. Gleich nach dem Erfassen von Reizwörtern wird die Antwort formuliert und losgeschickt. Dadurch leidet die Qualität der Argumentation. Ein Übriges tut die Fluktuation unter der Autorenschaft. Sie sorgt dafür, dass immer wieder dieselben Probleme hochkommen und dass manchem Fortschritt wieder ein Rückschritt folgt.

Kurz: Eloquenz geht vor Inhalt, Schnelligkeit vor Tiefgang. Der Sture setzt sich durch. Das nenne ich Schwarmverhalten. So kommt die Vernunft unter die Räder.

Gemeinsam dümmer

Interessant ist, was der Soziologe zur Meinungsbildung im Schwarm zu sagen weiß. Dirk Helbing von der ETH Zürich näherte sich dem Problem mittels rechnergestützter Simulation. Ein Sammelband zu seinen Arbeiten „Social Self-Organization. Agent-Based Simulations and Experiments to Study Emergent Social Behavior“ ist kürzlich erschienen.

Neben diesen Simulationen hat er auch ein Experiment mit realen Personen durchgeführt. Spiegel-online berichtet darüber am 17. Mai 2011 unter dem Titel „Gemeinsam sind wir dümmer“. Es zeigte sich, dass die Antworten von 144 Befragten im Durchschnitt die besten waren, wenn keiner die Antworten der anderen kannte. Erfuhren die Probanden von den Schätzungen der anderen Studienteilnehmer, verschwanden die Extremwerte nach und nach. Die  Schätzwerte kamen zwar einander näher, nicht jedoch dem tatsächlichen Wert.

Schwärme ganz ohne Intelligenz

Ich habe es auf die Spitze getrieben und ein Programm geschrieben, das einen typischen Diskussionsprozess nachbilden soll. Die Agenten in diesem Programm kommen gänzlich ohne Intelligenz und Vernunft aus. Es gibt nur die Charaktere Knallfrosch, Mitläufer und Sturkopf. Der Knallfrosch ändert seine Meinung spontan und zufällig. Der Mitläufer übernimmt die Mehrheitsmeinung der Nachbarn und der Sturkopf beharrt auf seiner Meinung. Ein echter Diskurs ist also ausgeschlossen. Dennoch zeigt das Simulationsmodell eine Art „Diskussionsdynamik“, die derjenigen in den Diskussionsforen des Internets verblüffend ähnlich ist.

Diese agentenbasierte Simulation zeigt natürlich nicht, dass an den Diskussionen im Internet nur Dummköpfe beteiligt sind, die zu einem echten Diskurs unfähig sind. Nein, meist ist das Gegenteil der Fall: die Diskussionsteilnehmer sind gut informiert und können in der richtigen Umgebung sicherlich auch zielführend diskutieren. Es ist das Schwarmverhalten, das die Vernunft dominiert.

Simulationsergebnis

Die Grafik zeigt das Ergebnis eines Simulationslaufs: Phasen größerer Meinungsvielfalt wechseln sich mit Einigungsphasen ab. Welche Meinung sich schließlich oder auch nur zeitweilig durchsetzt, ist zufallsbedingt. Ich vermute, dass es genau diese Wesenszüge sind, die die Meinungsbildung in Schwärmen ausmachen, insbesondere in Schwärmen, die nur schwach strukturiert sind und denen eine deutliche Zielvorgabe fehlt.

Der Verlauf der Diskussion zum Ziegenproblem kommt diesem automatisch generierten und „dummen“ Prozess beängstigend nahe.

Dem Spektrum der Wissenschaft  (9/2005, S. 22-24) entnehme ich, dass die Wissenschaftler Iain Couzin, Jens Krause, Nigel Franks und Simon Levin eine ganz ähnliche  Simulation zum Schwarmverhalten von Tieren durchgeführt haben (Nature 433, S. 513-516). Sie sind ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass es in einem Schwarm keinen Sinn ergibt zu fragen, welche Richtung wirklich die richtige ist. Die Umwelt geht in die Simulation nicht ein. Christoph  Pöppe vom Spektrum der Wissenschaft beschreibt es so: „Es ist einzig die Überzeugung des Führers selbst, im Besitz der  Wahrheit zu sein, die ihn von allen anderen unterscheidet; und je rücksichtsloser er diese Überzeugung vertritt, desto erfolgreicher setzt er sich gegen Vertreter anderer Ansichten durch.“

(Quellenhinweise überarbeitet am 4.10.2023)

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Meinungsbildung im Internet – Kurioses wird Norm

Die Diskussion zum vorletzten Hoppla!-Artikel hat mich auf den Wikipedia-Artikel „Ziegenproblem“ gebracht. Den fand ich zunächst kurios. Nach genauerer Betrachtung sehe ich: Es ist schlimmer. Der Artikel wird dem Anspruch einer Enzyklopädie, also das derzeit allgemein akzeptierte Wissen der Allgemeinheit verfügbar zu machen, nicht gerecht: Er bewirkt nicht Wissensvermehrung, sondern Wissensverminderung. Dieses harsche Urteil verlangt nach einer Begründung. Die will ich geben.

Vom Ziegenproblem-Artikel kommen wir ganz schnell auf die Frage, ob das Internet, insbesondere das Web, die besten Ideen nach oben spült. Die Beantwortung dieser Frage hat Bedeutung auch für die Beurteilung der von der Piratenpartei beabsichtigten Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse in das Internet. Wir fragen, ob eine Liquid Democracy funktionieren kann; und wenn ja, wie? Darauf wird es so schnell keine Antwort geben. Ich beginne mit einer Fallstudie zum Ziegenproblem-Artikel. Sie verspricht, einige Hinweise zu liefern.

Alle von mir benutzten Wikipedia-Informationen beziehen sich auf den Stand am 26. September (letzte Änderung des Ziegenproblem-Artikels am 24.9.2012, 17:11 Uhr). Wer sich schnell über die im Artikel behandelte Denksportaufgabe und die landläufigen Irrtümer bei der Lösungsfindung informieren will, findet das Nötige in meiner Ministudie „Das Drei-Türen-Problem (Ziegenproblem) bei undurchsichtigem Gastgeber“.

Was ist verkehrt am Wikipedia-Artikel zum „Ziegenproblem“?

Der Wikipedia-Artikel ist im Laufe der letzten zehn Jahre entstanden. Immerhin haben etwa 500 Autoren daran mitgewirkt und die Diskussionsseiten darüber würden ein Buch von 500 Seiten ergeben, also einen ziemlich dicken Wälzer. Die Autoren waren nicht gleichzeitig aktiv: Mancher kam und ging gleich wieder, nachdem er eine oder zwei Änderungen vorgenommen hatte, andere blieben über Monate bei der Sache und einige sogar über Jahre.

Bei der inhaltlichen Würdigung des Artikels sollten wir diesen Entstehungshintergrund im Auge behalten. Denn genau dort ist das Problem zu suchen.

Was ist faul an dem Artikel? Es beginnt damit, dass ein bereits seit 21 Jahren ausgeräumt geglaubter Irrtum, der Fifty-fifty-Irrtum, als Erstes vorgestellt und als akzeptable Lösung präsentiert wird: „Die Gewinnchancen für die Tore 1 und 2 sind gleich. Denn ich weiß ja nichts über die Motivation des Showmasters, das Tor 3 mit einer Ziege dahinter zu öffnen und einen Wechsel anzubieten.“

Es handelt sich um eine elaborierte Version des Irrtums. Aber es bleibt ein Irrtum, wie ich in meiner Ministudie gezeigt habe. Die Sache wird auch nicht dadurch besser, dass eine Interpretation nachgeschoben wird, die zwar mathematisch korrekt ist, die aber nichts mit der Aufgabenstellung zu tun hat: Die Kandidatin hat „keine bessere Möglichkeit, als sich nach dem Wurf einer fairen Münze zu entscheiden. Ihre Gewinnwahrscheinlichkeit ist somit 1/2“, steht in dem Artikel. Thema verfehlt. Und das in einem enzyklopädischen Artikel!

Der ganze Kuddelmuddel kommt daher, dass in dem Artikel immer wieder Nebenpfade beschritten werden. Der Artikel verschiebt ganz allgemein die Gewichte von der Hauptsache hin zum Unwesentlichen. Der elaborierte Fifty-fifty-Irrtum konnte ja nur zustande kommen, weil man die Willkür des Showmasters eingeführt hatte. Auf diesen Gedanken, dass die Motivation des Showmasters eine große Rolle spielen könnte, kommt der Rätselfreund, der dem Rätsel erstmals begegnet, wirklich nicht. Die Frage nach der Motivation des Showmasters taucht in den einschlägigen Nachrichten und Leserbriefen nur gelegentlich und am Rande auf.

Im Abschnitt „Antwort von Marilyn vos Savant“ sollte eigentlich das stehen, was vos Savant gesagt hat, klar und kurz. Das von ihr Gesagte reicht zum Verständnis des Rätsels und dessen Auflösung vollkommen aus. Hier wird die Sache durch die Problematisierung einer natürlichen Annahme, nämlich dass der Showmaster nicht willkürlich handelt, verdunkelt. So verdirbt man den Spaß an der Sache: Aus einer sehr schönen Denksportaufgabe wird etwas Hässliches. (Das ist übrigens der Hauptgrund für mein Engagement in dieser Sache: In der Lehre setze ich auf das Puzzle Based Learning. Damit kann man den jungen Leuten den Spaß am Denken und am Lösen schwerer Probleme vermitteln. Ein Artikel, der diesen Bestrebungen zuwider läuft, setzt mich in Bewegung.)

Im weiteren Verlauf verlieren die Autoren des Artikels den Sinn einer Denksportaufgabe ganz aus den Augen. Dazu kommt, dass der „Ziegenproblem“-Artikel ganz allgemein unter einer überzogenen Darstellungsweise leidet: Der Gebrauch nichtssagender Grafik ist ausufernd, ebenso die Nutzung bombastischer Mathematik. So lässt sich die Sache leicht der Aufmerksamkeit eines interessierten Rätselfreundes entziehen. Dabei geht es um einfache Sachverhalte, mit denen das Vorstellungsvermögen und die Kombinationskraft eines jeden allgemein Gebildeten auch ohne den Einsatz schwerer Geschütze zurechtkommen sollten.

Manche Überschrift hat so gar nichts mit dem darunter Abgehandelten zu tun. Das beginnt schon damit, dass die bevorzugte Lösung, die eigentlich falsch ist, unter dem Titel „Die erfahrungsbezogene Antwort“ erscheint. Die treffendere Titelvariante „Die intuitive Lösung“ ist im Laufe des Meinungsbildungsprozesses unter die Räder gekommen. Unter dem Titel „Strategische Lösung“ bekommen wir tatsächlich keine strategische Lösung geboten, sondern eine entschärfte Aufgabenstellung ohne jeglichen Witz und ohne Reiz. Unter dem Stichwort „Kontroversen“ wird keineswegs über die – tatsächlich vorhandenen – Kontroversen berichtet. Stattdessen werden „faule“ und „ausgeglichene“ Moderatoren eingeführt, ohne zu sagen wozu das gut sein soll.

Im Abschnitt über den „ausgeglichenen Moderator“ wird das eigentlich Selbstverständliche groß und breit ausgewalzt. Hinzu kommt Unverständliches: „Hat der Kandidat das Tor mit dem Auto gewählt, dann öffnet der Moderator zufällig ausgewählt mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eines der beiden anderen Tore, hinter dem sich immer eine Ziege befindet und stellt damit sicher, dass seine Torwahl keinerlei zusätzlichen Hinweis zum aktuellen Standort des Autos liefern kann.“ Erst wenn er auf den Abschnitt über den „faulen Moderator“ stößt, merkt der aufmerksame Leser, dass hier die Autoren mit ausgiebigen Umschreibungen ein eigentlich selbstverschuldetes Malheur heilen wollen. Hätten Sie die Sache doch einfach gestrichen.

Und so muss es zustande gekommen sein: Im Laufe der Diskussion ging so mancher Knallfrosch hoch. Einer der Autoren kam auf die Idee, dass man besonders die Fälle betrachten solle, in denen der Kandidat Tür 1 wählt und der Showmaster Tür 3 mit einer Ziege dahinter öffnet (26.2.2009).  Was ist gerade an dieser Situation besonders? Nichts, außer dass der Autor des Leserbriefs, der die ganze Ziegenproblem-Manie ausgelöst hat, Craig F. Whitaker, zur Erläuterung der Aufgabenstellung meinte: „You pick a door, say #1, and the host, who knows what’s behind the doors, opens another door, say #3“. Die Autoren haben diese Chance ergriffen, sich auf einen Nebenpfad zu begeben und den Leser mit Zusatzannahmen und Zusatzaufgaben, die zur Lösung des ursprünglichen Problems nichts beitragen, zu verwirren. Daher werden in dem Artikel nun auch faule und unausgeglichene Moderatoren unter die Lupe genommen. Einen tieferen Sinn hat das nicht.

Die Diskussion: Mitwirkende und Dynamik

Die Autoren bilden eine divergierende Gruppe, denn jeder ist aufgerufen, mitzumachen. Sie folgen unterschiedlichen Motivationen und Antriebskräften. Da gibt es den Sachorientierten, den Selbstdarsteller, den Konsenssucher, den Schwätzer, den Streitsüchtigen, den Knallfrosch, der mal da mal dort Ideen hochgehen lässt, den Satzungskenner usw.

Die Qualifikationen und Kompetenzen sind ebenfalls sehr verschieden: Mit dabei sind der Experte in Wahrscheinlichkeitsrechnung, der interessierte und gut gebildete Laie und die Person mit Lücken im Bruchrechnen.

Ich wollte etwas über die Diskussionsdynamik erfahren und wissen, welche Ideen sich Geltung verschaffen und wie das geschieht. Die Diskussionsseiten zum Wikipedia-Artikel erwiesen sich als reiche Quelle. Sie stillten mein Informationsbedürfnis. Ich konnte unter anderem die folgenden Mechanismen ausmachen:

  1. Ideen haben dann eine Chance, wenn sie hartnäckig und ausdauernd vertreten werden. Mancher Diskussionsteilnehmer produziert riesige Mengen an Text. Ermüdungserscheinungen dünnen die Gegnerschaft aus und es kommt zu faulen Kompromissen. Beispielsweise gab es am 29. Oktober 2010 eine substantielle Verschlechterung des Artikels durch Einführung des faulen, des netten, des fiesen und des zufallsbestimmten Moderators mit daraus folgender Verlagerung des Textes auf Nebensächlichkeiten. Das Resultat wurde daraufhin mit Vehemenz verteidigt und lange aufrechterhalten. Das prägt den Artikel heute noch.
  2. Die Wiederholung des Immergleichen ist die auch in der Werbewirtschaft geschätzte Holzhammermethode zur Durchsetzung von Meinung.
  3. Die Fluktuation unter der Autorenschaft sorgt dafür, dass immer wieder dieselben Probleme hochkommen, so dass manchem Fortschritt wieder ein Rückschritt folgt.
  4. Die Qualität der Argumente spielt demgegenüber eine eher untergeordnete Rolle. Offensichtlich halten sich manche der Autoren nicht mit dem sorgfältigen Lesen von Gegenargumenten auf, sondern schreiben nach dem Erfassen von Reizwörtern lieber gleich ihre Antwort. So kommt es vor, dass Angriff und Verteidigung äußerlich verschieden aber inhaltlich identisch sind, beispielsweise in der Diskussion unter der Überschrift „Moderatorenunterscheidung bei Monty-Hall ist Quatsch“ vom 9. bis 10.9.2012.
  5. Es kommt darauf an, mit möglichst vielen Beiträgen zu allem Möglichen präsent zu sein, um Bedeutung anzuhäufen. Da im Internet die strukturellen Mittel zur Definition von Autorität weitgehend fehlen, schafft man sich auf diese Weise Pseudo-Autorität.
  6. Argumentiert wird vorzugsweise lokal und augenblicksbezogen: Nur das interessiert, was gerade in der Diskussion ist. Es wird nicht versucht, das Geschehen in ein konsistentes Gesamtbild einzufügen. Auch frühere Diskussionen sind nicht im Blick. Das passiert sogar ein und demselben Autor mit seinen eigenen Aussagen. Beispielsweise behauptet einer von ihnen am 20. Februar 2011: „Richtig, der Kandidat erhält eine Zusatzinformation durch das Öffnen eines Nietentors. Diese Zusatzinformation betrifft aber nicht das zuerst gewählte Tor, welches als einziges vor einer Öffnung geschützt ist, sondern nur die beiden anderen Tore, und zwar derart, dass die Gewinnchance vom geöffneten Nietentor auf das andere nicht gewählte Tor übergeht.“ Und am 10. Sep. 2012 kommt vom selben Autor die rhetorische Frage: „Welche Information liefert der Showmaster, und wieso folgt daraus, dass sich an der Wahrscheinlichkeit, dass sich der Hauptgewinn hinter der vom Kandidaten zuerst gewählten Tür befindet, nach dem Öffnen einer Ziegentür nichts ändert?“

So kann kein Wissen entstehen, so können keine Strukturen gebildet werden. Es bleibt bei Zufallsergebnissen. Komplexitätsreduktion findet nicht statt.

Wissen und Komplexitätsreduktion

Ja, darum geht es: Um Komplexitätsreduktion, ein Begriff, der zentrale Bedeutung hat im Lebenswerk von  Niklas Luhmann. Wie ist er zu verstehen? Unsere Welt stellt sich uns als überaus komplex dar. Wir können sie niemals durch unmittelbare Anschauung verstehen. Wir suchen nach Gesetzmäßigkeiten, beispielsweise nach Kausalzusammenhängen. Sie sind der Hebel, mit dem wir Einfluss auf das Weltengeschehen nehmen können. Entscheidungsfreiheit setzt voraus, dass wir eine Vorstellung davon haben, was Ursache und was Wirkung ist.

Dummerweise kennt die Natur keine Kausalität. Sie gibt es nur in unseren Modellen von der Welt. Wir brauchen also, bevor wir uns an die Theoriebildung und an die Anhäufung von Wissen machen, Modelle der Realität, im einfachsten Fall Klassifizierungssysteme. Der Übergang von der Realität zum Modell bedeutet Komplexitätsreduktion. Allgemeiner dient die Komplexitätsreduktion der Schaffung von Struktur und Ordnung.

Übertragen wir das auf unsere Situation: Was soll ich mit der riesigen Informationsmenge, die über das Internet verfügbar ist, anfangen? Ich brauche Selektionsmechanismen, mit denen ich die Spreu vom Weizen sondern kann. Ein solcher Selektionsmechanismus könnte in der Wikipedia umgesetzt werden. Sie wird dadurch zu einem Medium der Komplexitätsreduktion: Sie bildet die vom Menschen der Welt abgelauschten und simplifizierten Strukturen ab, die uns bei der Orientierung im Leben helfen. Sie macht das wesentliche Wissen zugänglich. Das ist der Wunsch. Nun zur Wirklichkeit.

Von der Realität zum Wissen braucht es Komplexitätsreduktion, klar. Aber wie kommt das Wissen zustande, in der Welt allgemein und speziell in der Wikipedia? Die Komplexitätsreduktion geschieht in Prozessen, die von Menschen gestaltet werden, beispielsweise von der Autorenschaft der Wikipedia. Und da alle mitmachen können und da diese Vielen von vielerlei Interessen getrieben sind, vielerlei Qualifikationen besitzen und selbst wieder in vielfältigen Abhängigkeiten und Wirkungszusammenhängen stehen, handelt es sich hier wieder um ein äußerst komplexes Gebilde, das selbst Komplexitätsreduktion dringend nötig hat.

Fragen von Kultur und Macht

Schon sind wir bei der Frage der Kultur. Grundprinzip eines jeden öffentlichen Wikis ist, dass der Zugang praktisch jedermann offensteht; jeder kann die Inhalte lesen und bearbeiten. Das sieht nach totaler Freiheit aus. Jeder darf alles, der Fachmann, der Schwätzer, der Saboteur.

Solange der Kreis der Autoren eines Themas klein ist und man sich kennengelernt hat, funktioniert die Sache. Da wird die Komplexitätsreduktion allein durch wachsendes Vertrauen erzeugt: Nicht jede Änderung und Verbesserung muss auf Herz und Nieren geprüft und hinterfragt werden, da die Autoren untereinander quasi ein System von Autoritäten aufbauen können. Die Arbeit flutscht.

Das  funktioniert in Kleingruppen. Bei größer werdender Autorenschaft stellt sich die Frage, wie Kompetenz und Einfluss (Macht, Autorität, Führung) miteinander gekoppelt werden? Wie wird die „Macht im System“ (Luhmann, 2012) verteilt?

Wir kennen Beispiele für solche Machtverteilung: Unsere Schulen- und Hochschulen verleihen Grade, Diplome und Titel; sie statten so die Absolventen mit Autorität aus. Für Wissenschaften gibt es renommierte Verlage, die dank ihrer Lektoren dem Leser einen Teil der Glaubwürdigkeitsprüfungen abnehmen. Fachtagungen mit ihren Reviewern, Sitzungs- und Tagungsleitern sind weitere Strukturierungselemente des Wissenschaftsbetriebs. Solcherart formalisierte Machtverteilung bewirkt Komplexitätsreduktion: Der Einzelne muss sich nicht um alles kümmern, er kann auf Institutionen bauen, die sein Vertrauen genießen, sich auf Zeugnisse verlassen.

Die Kultur der Wikipedia-Gemeinschaft: Anspruch und Wirklichkeit

Welcher Art könnten die Strukturen der Wikipedia-Community sein? Ich beziehe mich im Folgenden auf die  pluralistische Kulturtheorie von Michael Thompson, Richard Ellis und Aaron Wildavsky (Cultural Theory, 1990), siehe Grafik „Ways of Life“. Die von ihnen unterschiedenen vier Kultur-Grundtypen (Ways of Life) zeichnen sich durch verschiedene Mittel der Komplexitätsreduktion aus: Vorschriften, Gruppenloyalität und Marktmechanismen nehmen uns Entscheidungen ab oder erleichtern sie zumindest.

Ways of LifeVom Anspruch her ist die Wikipedia-Gemeinschaft auf Freiheit und Gleichheit gestimmt und gegen einschränkende Vorschriften (Grid) ziemlich allergisch. Es ist also keine fatalistische Runde, die im Wesentlichen irgendwelchen Zwängen gehorcht, die ihr von außen aufgezwungen sind. Sie neigt eher zum Individualismus, kennt kaum Gruppenbindungen und verzichtet gern auf Vorschriften. Beispiel für eine individualistischer Gruppe ist die freie Unternehmerschaft.

Aber auch in der freien Wirtschaft herrscht nicht das Chaos. Es gibt Gesetze; aber als wesentliches Strukturierungselement dienen hier Geld und Profitstreben. Sie sorgen, zumindest im Prinzip, für Stimmigkeit im Ganzen: „Wenn mein Betrieb floriert, dann ist das gut für die ganze Gesellschaft.“ So etwas fehlt unseren Autoren.

Egalitaristisch ist die wissensorientierte Internetgemeinde ebenfalls nicht. Die Gruppenabgrenzung beruht allein auf übereinstimmenden Interessen. Gleichheit der handelnden Personen ist kein Thema und braucht nicht, beispielsweise mittels Ausschlussandrohung, erzwungen zu werden. Das unterscheidet sie von den Bürgerinitiativen und den aus Bürgerbewegungen entstandenen Parteien (Güne, Piraten) beispielsweise.

Damit landen wir bei der Hierarchie als Mittel der Komplexitätsreduktion: Vertrauen auf der Grundlage verliehener Ämter und im Rahmen einer Bürokratie. Tatsächlich gibt es eine selbstauferlegte Hierarchie der Wikipedianer: Angemeldeter Benutzer, bestätigter Benutzer, Benutzer mit Stimmberechtigung, Benutzer mit Sichterstatus, Administrator und Bürokrat. Das Dumme ist nur, dass der Aufstieg in dieser Hierarchie kein Ausweis von Kompetenz und Qualifikation ist; allein auf das Sitzfleisch und den Umfang der Aktivitäten kommt es an. Bis hin zur Stimmberechtigung werden ausschließlich Ausdauer und Ehrgeiz belohnt. Es ist fraglich, ob man auf diese Weise den oben dargestellten Mängeln beikommen kann. Die Frage nach einer sinnvollen Verteilung der Macht ist offen.

Flüssiges Wissen

Zum Schluss noch ein spezielles Problem der Wikipedia. Die Wikipedia gewinnt dadurch an Wert, dass auch auf externe Web-Seiten verlinkt wird. Damit geraten die Wiki-Macher in ein Dilemma. Eine Verlinkung macht abhängig vom Autor der Zielseite. Ändert dieser den Inhalt, kann es zu Diskrepanzen mit dem Wikipedia-Artikel kommen und zur Konfusion führen. Auch mir ist das schon passiert: Einmal habe ich eine kleine atmosphärische Änderung an einem Text vorgenommen, der auf einer Wikipedia-Seite als Link angegeben war. Versehentlich fehlte der Änderungsvermerk. Es kam zu einer kurzen und eigentlich unnötigen Debatte unter den Autoren der Seite.

Als Gegenmaßnahme könnte man verlinkte Seiten archivieren. Damit wird das System aber eher zähflüssig: Die Aktualität leidet.

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Vorsicht Grafik

Immer wenn ich in einer Zeitschrift eine Statistik zur Untermauerung einer Aussage finde und wenn diese auch noch mit einer Grafik garniert ist, gehen bei mir alle Warnlampen an.

Grafiken in unseren Zeitungen und Zeitschriften stehen im Ruf, in hohem Maße manipulativ zu sein. Walter Krämer hat in seinem deutschen Remake „So lügt man mit Statistik“ (1991) des Klassikers „How to Lie with Statistics“ von Darrel Huff (1954) viele eindrucksvolle Beispiele zusammengetragen, die diese Einschätzung untermauern.

Es scheint Agenturen zu geben, die sich auf das Erstellen manipulierender Grafiken geradezu spezialisiert haben. Hier die wichtigsten der weit verbreiteten Tricks dieser Manipulanten:

  1. Stauchen und dehnen

    Durch Stauchung der x-Achse oder Streckung der y-Achse rücken selbst zwei voneinander stark abweichende Kurven dicht aneinander; so lässt sich jede Vorhersage mit dem tatsächlichen Verlauf (eines Aktienkurses beispielsweise) mühelos zur Übereinstimmung bringen.

  2. Die Verlagerung des Ursprungs, also des Nullpunkts, irgendwohin außerhalb der Grafik, macht jeden noch so unauffälligem Kurvenverlauf durch Aufspreizung zu einer bedrohlichen Angelegenheit. Die Wahl geeigneter Kurvenausschnitte und die Lupenfunktion können noch dem flachsten Ding Glamour verschaffen. Gern genommen werden auch „problemangepasst“ verzerrte Maßstäbe an den Diagrammachsen.
  3. Sehr beliebt ist die Veranschaulichung von Größenverhältnissen mit dreidimensionalen Figuren, beispielsweise mit Bildern von Ölfässern zur Darstellung des Energieverbrauchs, wobei nur die lineare Ausdehnung als Vergleichsmaß genommen wird. So wird aus einer eigentlichen harmlosen Verdoppelung spielend eine aufregende Verachtfachung.

Längen und Flächen

Der zuletzt genannte Trick funktioniert bereits in der Ebene recht gut, wie ich in einem VDE-Vortrag (Fulda, 28.2.07) erfahren habe. Es ging darum, die menschengemachte Klimaveränderung nicht gar so bedrohlich erscheinen zu lassen. Der Vortragende veranschaulichte das Verhältnis der Masse von pflanzlicher und tierischer Biomasse unserer Erde mit der nebenstehenden Grafik.

Der Durchmesser des kleinen schwarzen Kreises beträgt etwa 1% vom Durchmesser des großen hellgrünen Kreises.

Der große Kreis steht für die pflanzliche Biomasse der Erde, und der kleine für die tierische. Das Bild soll offenbar drastisch vor Augen führen, wie klein die tierische Biomasse tatsächlich ist. („Und was so klein ist – sogar die Frau Merkel hat in dem schwarzen Punkt Platz – kann doch keinen so Furcht erregend großen Einfluss auf die Biosphäre haben?!“)

Tatsächlich ist das Verhältnis der Biomasse auf der Erde gleich 1:100, wie das Verhältnis der Kreisdurchmesser. Die Kreisflächen verhalten sich aber wie 1:10 000. Und das ist maßlos übertrieben.

Obwohl es schon etwas ausgelutscht ist: Das Thema Grafik muss immer wieder einmal auf die Tagesordnung, damit die Aufmerksamkeit gegenüber solchen Täuschungen nicht nachlässt. Der neueste Dreh der Meinungskneter ist die Stückelung von Grafiken.

Stern-Grafik

Mit der Grafik links widerspricht der Stern (21/2012, S. 74) der Volksweisheit, „dass clevere Eigenheimbesitzer ihr Heizöl am besten im Sommer tanken“. Der Blick auf die Preiskurve der vergangenen drei Jahre zeige, dass Heizöl jeweils nicht im Sommer, wenn die Nachfrage gering ist, sondern Ende Januar, Anfang Februar am günstigsten war (linkes Bild).

Stern-Grafik, neu montiert

Nun ja: montiert man die Grafik etwas anders zusammen, so dass der Sommer am Anfang und der Jahreswechsel in der Mitte liegt (rechtes Bild), sieht die Sache ganz anders aus: Danach scheint es tatsächlich günstiger zu sein, im Spätfrühjahr oder im Sommer zu tanken, wie die meiste Leute offenbar zu Recht meinen. Die spektakuläre Nachricht des Stern ist ein Kunstprodukt der grafischen Darstellungsweise und hat mit der Realität nicht viel zu tun.

Spiegel-Grafik

Nicht viel besser ergeht es uns mit dieser Spiegel-Grafik (32/2012, S. 81), die demonstrieren soll, wie der Aktienkurs durch die Äußerung des EZB-Chefs, „innerhalb eines Monats alles Erforderliche zu tun, um den Euro zu erhalten“, abrupt gestiegen und eine Woche später – nach Konkretisierung der Maßnahmen – ebenso abrupt wieder gefallen ist.

Das sollte beim Leser wohl den Eindruck „Wie gewonnen, so zerronnen“ wachrufen. Bei nüchterner Betrachtung sieht man, dass eigentlich nichts Weltbewegendes passiert ist: Die (von mir eingefügten) roten Kreisen enthalten dieselbe Zahl, nämlich 6600; das ist der DAX sowohl nach Draghis erster als auch nach seiner zweiten Verlautbarung.

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Kontroverse um das Drei-Türen-Problem (Ziegenproblem) dauert an

Rückblick auf das Problem, die Zwei-Drittel-Lösung und den Fifty-fifty-Irrtum

Der Zwist um das Drei-Türen-Problem (Ziegenproblem) wurde im Jahr 1990 von Marilyn vos Savant in einer ihrer Kolumnen angestoßen. Ihr Lösungsvorschlag stieß auf teilweise erbitterten Widerspruch; und es waren Geistesgrößen unter ihren Gegnern. Dieser Widerspruch ist bis heute nicht verstummt.

Dabei gibt es einfache Beweise dafür, dass Marilyn vos Savant richtig liegt. Auf meiner Denkfallen-Seite habe ich die Sache dargestellt. Hier noch einmal eine kurze Zusammenfassung.

Das Problem. Große Fernsehshow. Der Supergewinn verbirgt sich hinter einer von drei Türen. Der Kandidat trifft seine Wahl. Die Tür wird jedoch zunächst nicht geöffnet. Der Showmaster öffnet eine der beiden anderen Türen, wohl wissend, dass dahinter eine Ziege als lebende Niete angepflockt ist. Der Showmaster stellt dem Kandidaten nun frei, bei seiner ursprünglichen Wahl zu bleiben oder die dritte der Türen zu öffnen. Soll er, oder soll er nicht?

Lösung. Es lohnt sich, zu wechseln. Durch den Wechsel verdoppelt sich die Gewinnwahrscheinlichkeit von 1/3 auf 2/3. Und so lässt sich diese Zwei-Drittel-Lösung begründen: Hinter der vom Kandidaten gewählten Tür steckt der Hauptgewinn mit der Wahrscheinlichkeit 1/3. Mit der Wahrscheinlichkeit 2/3 steckt der Hauptgewinn hinter einer der beiden anderen Türen. An diesen Wahrscheinlichkeiten ändert sich durch die Offenbarung einer Niete durch den – voraussetzungsgemäß gut informierten – Showmaster gar nichts. Der Showmaster liefert Information. Und diese kann der Kandidat nutzen.

Der Fifty-fifty-Irrtum. Die weitaus meisten der Befragten (erfahrungsgemäß so um die 99%) meinen allerdings, dass es sich nicht lohnt, neu zu wählen. Sie kommen zum Schluss, dass es egal ist, was man macht. Dieser populäre Fifty-fifty-Irrtum beruht auf einer falschen Anwendung des Indifferenzprinzips („Wenn keine Gründe dafür bekannt sind, um eines von verschiedenen möglichen Ereignissen zu begünstigen, dann sind die Ereignisse als gleich wahrscheinlich anzusehen“, John Maynard Keynes). Anstatt es korrekterweise nur auf die Ausgangssituation anzuwenden, wird das Prinzip fälschlich auch auf die durch den Showmaster veränderte Situation übertragen: Es stehen nur noch zwei Türen zur Wahl, und hinter jeder der Türen befindet sich der Hauptgewinn mit derselben Wahrscheinlichkeit von 50%; was aber nicht stimmt.

Die Kontroverse

Vertreter der Fifty-fifty-Lösung besitzen großes Beharrungsvermögen und sie sind wenig zimperlich, wenn es um die Verteidigung ihrer Position geht. Auf den Seiten für Unterhaltungsmathematik der Magazine wurde das ausgiebig dokumentiert. Auch das Internet hat viel zu bieten.

Ich wähle einen der ernst zu nehmenden Einwände gegen die Zwei-Drittel-Lösung (www.gfksoftware.de/Ziegenproblem/, kommentierte Version): „Die Reaktion der großen Mehrheit auf die angebliche Zwei-Drittel-Lösung für das ‚Ziegenproblem‘ kann man durchaus so interpretieren, dass sie ‚intuitiv‘ richtig erkannte, dass an der Sache etwas faul ist – nur dass sie nicht genau sagen konnte, wo der Haken liegt. Das Ziegenproblem hat als ‚bestes Beispiel für das Scheitern menschlicher Intuition‘ deshalb eine so große Berühmtheit erlangt, weil die behauptete Lösung gar nicht stimmte.“

Was genau soll es sein, das an der Zwei-Drittel-Lösung nicht stimmt? Und was spricht für die Fifty-fifty-Lösung?

Der Einwand geht dahin, dass man ja über die Absichten des Showmasters gar nichts weiß. Ist der Showmaster böswillig und er will den Kandidaten reinlegen, dann macht er sein Angebot nur, wenn der Kandidat mit seiner Wahl schon richtig gelegen hat. Der wohlwollende Showmaster hingegen wird sein Angebot dann unterbreiten, wenn der Kandidat zunächst auf eine Niete getippt hat. Der zum Wechsel bereite Spieler hat beim böswilligen Showmaster keine Chance, den Gewinn zu erhaschen, beim wohlwollenden erhält er ihn mit hundertprozentiger Sicherheit.

Jetzt ist klar zu erkennen: Der Beweis der Zwei-Drittel-Lösung beruht auf der stillschweigenden Annahme, dass der Showmaster fair ist. Sein Angebot macht er unabhängig davon, welche Wahl der Kandidat getroffen hat. Das kann er beispielsweise dadurch sicherstellen, dass er vor der Show darüber entscheidet.

Jetzt kommt die Psychologie ins Spiel

Die Fifty-Fifty-Lösung lässt sich unter anderem durch die Annahme retten, dass der Showmaster zwischen bös- und gutwillig schwankt: In etwa zwei Drittel der Shows ist er böswillig und im restlichen Drittel wohlwollend, was der Kandidat aber nicht erkennen kann. Auch der wechselbereite Kandidat wird dann mit der Wahrscheinlichkeit von 1/3 den Gewinn erhalten. Der Kandidat kann durch den Wechsel seine Gewinnchancen also nicht verbessern und genausogut bei der ersten Wahl bleiben.

Der Verteidiger der Fifty-fifty-Lösung geht noch weiter, wenn er behauptet „Wer nichts über die Strategie des Showmasters weiß, liegt mit der These richtig, dass die Gewinnwahrscheinlichkeit für die beiden verbleibenden Türen jeweils gleich 1/2 ist.“

Diese Beweisführung basiert wieder auf Annahmen, und zwar ziemlich künstlichen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum gerade solche verzwickte Annahmen unterstellt werden sollten.

Aber Hoppla! – Ich frage mich, welches Spiel hier eigentlich gespielt wird. Haben wir es noch mit Logik und Mathematik zu tun oder sind wir schon auf dem Gebiet der Psychologie?

Ein Fall von Selbstbetrug?

Denksportaufgaben sind knapp und knackig. Alles was sich der Adressat denken kann, muss man nicht sagen. Im Fall des Drei-Türen-Problems liegt es nahe, die Fairness des Showmasters stillschweigend zu unterstellen. Wer diese Annahme in Zweifel zieht, kommt nicht darum herum, nach den Absichten des Showmasters zu fragen. Eine solche Frage habe ich noch nie vernommen. Es kommt wohl kaum zu Missverständnissen.

Ich kann mir vorstellen, dass die ganze Kontroverse einfach darauf zurückgeht, dass die Fifty-fifty-Fraktion nicht wahr haben will, dass sie sich geirrt hat. Irren ist erlaubt und eigentlich nicht ehrenrührig.  Aber wer will vor sich selbst schon gerne dumm dastehen. Da ist es doch besser, man erfindet eine Geschichte, die aus der falschen Lösung eine richtige macht. Das Selbstwertgefühl wird auch noch dadurch gesteigert, dass diese nachträgliche Rationalisierung eine gehörige Menge Gehirnschmalz erfordert.

Noch ein Ausweg für die Fifty-fifty-Freunde

Die Fifty-fifty-Freunde haben noch einen Weg gefunden, ihre Lösung zu rechtfertigen. Sie betrachten die Situation, dass der Showmaster eine Tür öffnet und sein Angebot unterbreitet. Der Kandidat weiß nicht, ob er es mit einem böswilligen, einem wohlwollenden oder einem fairen Showmaster zu tun hat: „Es bleibt nur der Münzwurf: so erwischt der Kandidat – unabhängig vom Verhalten des Moderators! – mit Wahrscheinlichkeit 1/2 die richtige Tür. Jegliche Bevorzugung einer bestimmten Tür würde dagegen seine Chance im schlimmsten Fall verringern.“ (Marc C . Steinbach über Autos, Ziegen und Streithähne, Juli 2000)

Der Kandidat hat im Falle des Angebots also eine Gewinnchance von fünfzig Prozent, unabhängig von den Absichten des Showmasters. Aber danach war in der Denksportaufgabe gar nicht gefragt. Gefragt war, ob ein Wechsel günstiger ist oder  nicht. Der Münzwurf schützt zwar vor einem böswilligen Showmaster. In anderen Fällen vernichtet er Gewinnchancen. Auf die Frage, ob ein Wechsel von Vorteil ist, gibt es beim Verzicht auf die Annahme eines fairen Showmasters keine schlüssige Antwort.

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Esoterik

Spaß oder Ernst?

„Beim Hören dieser Meditation wird Ihr Bewusstsein gestärkt und in der ersten Phase ausgeweitet bis auf die Größe unseres Universums. Alle Energiefrequenzen, auf die Sie auf dem Weg treffen, werden integriert und mit dem eigenen Energiefeld in Einklang gebracht. Die zweite Phase lässt Ihr Bewusstsein immer kleiner werden, bis es die Größe von Quanten, der kleinstmöglichen Wirkungsebene, erreicht hat. Auch auf diesem Weg werden alle Schwingungen integriert. Danach nimmt das Bewusstsein die Größe Ihres eigenen Körpers an, und Sie spüren die Integration und die Verbundenheit mit allem Sein.“ Diese wirklich wunderbare „Bewusstseinserweiterung“ erfahren Sie in nur 41 Minuten, und das zum Schnäppchenpreis von nur 13,95 €, so das Versprechen in der Frühjahrsausgabe des Schirner-Versandkatalogs 2012 (www.schirner.com).

Persiflage, Satire und Parodie nutzen die Übertreibung und die Verkleidung. Der unvorbereitete Leser fragt sich, ob das Gelesene nun ernst gemeint oder nur Spaß ist. Möglicherweise ist es sogar noch komplizierter: Der Schreiber bringt Hirngespinste zu Papier, die die spirituellen Bedürfnisse seines Publikums befriedigen sollen. Die Wahrheit, nämlich dass es nur Hirngespinste sind, verdrängt er ins Unterbewusstsein. So betrügt er sich selbst und so kann er andere überzeugend täuschen.

Ich weiß nicht, ob die Esoteriktexte aufrichtig gemeint sind oder ob es sich um Täuschungen handelt. Jedenfalls bieten sie Lesespaß. Die Zitate des folgenden Kapitels sind aus dem genannten Katalog.

Werbetexte

„Die Heilapotheke enthält ein Testsystem aus 6 Testkarten mit 18 Testkomplexen sowie Karten mit 308 Frequenzen von Bachblüten, Farben, Tieren, Erzengeln, Sternenklängen, Schüsslersalzen, Sternbildern, Seelenzeichen der Maria Magdalena, Pflanzen, homöopathischen Mitteln bis hin zu Kristallen. Mithilfe der unter Anleitung der Testkarten zur Selbstdiagnostik gezogenen sogenannten »Heilsinfonie-Kärtchen« lässt sich über einen Nummern-Code im Begleitbuch eine passende Frequenz finden. Diese wird anschließend mit der Kopierkarte auf das beiliegende Amulett übertragen.“ Ziemlich viele Karten, ein Amulett plus Begleitbuch gibt es für 29,99 €.

Dem mathematisch Vorgebildeten ist das womöglich zu flach: einfach nur Karten ziehen. Für ihn gibt es die anspruchsvollere Variante: „Der Einsatz der geheimnisvollen Fibonacci-Sequenz wird [in einem 150-seitigen Buch in Klappenbroschur] ebenso erklärt wie der Umgang mit der heiligen Heilungszahl nach Dr. Zhi Gang Sha.“

Sie haben Angst vor schädlichen Strahlen, gehören zu den Hochsensiblen? Kein Problem: „Diese Handy-Taschen bestehen aus einem ganz  besonderen Gewebe, das herausragende Abschirmeigenschaften besitzt. Die Basis bildet ein Faden aus reinem Silber, der mit Nanotechnologie behandelt wurde und dadurch seine besonderen Fähigkeiten erhielt. Die hohe Abschirmwirkung dieses Gewebes bestätigen Gutachten der Universität der Bundeswehr München. Die modischen Taschen sind nicht nur beim Tragen des Handys vorteilhaft: Auch beim Telefonieren können Sie sie nutzen und an ihr Ohr legen, ohne die Kommunikation zu beeinträchtigen. Und wenn Sie nicht gestört werden wollen, schließen Sie die Tasche einfach vollständig, sodass Signale nicht mehr beim Handy ankommen. Handwaschbar bis max. 30°.“ Zumindest das Handy erhält auf diese Weise einen „hervorragenden Strahlenschutz“. Mehr wird übrigens auch nicht versprochen!

„2012 und die Zeitenwende fordern uns heraus: Höchstes Bewusstsein soll nunmehr nicht alleine mit und durch unser liebendes Herz gelebt werden. Das spirituelle Bewusstsein muss auch in den Körper, die Zellen und die Organe gebracht werden. Einer Aufgabe werden wir uns 2012 besonders stellen müssen: dem Zell-Leuchten! Das Zell-Leuchten beinhaltet einen eigenen Transformationsprozess. Dieser beginnt nicht erst am Esstisch. Es ist notwendig, dass die ganze Nahrungsmittelkette in höchstem Bewusstsein schwingt… Es ist an der Zeit, dieses Bewusstsein zu entwickeln und in das Quantenfeld von Superfood einzutauchen. Unser Körper bekommt dadurch eine Art Update und wir unterstützen ihn dabei, moderne Alltags-Spiritualität zu leben und das Ur-Programm der Zellen wieder zu aktivieren. Damit bringen wir das Zellbewusstsein zum Leuchten.“ 112 Seiten, Paperback, farbig für 6,95 €.

Wer gern einen „Teller Lebensfreude für alle Jahreszeiten“ hätte, für den gibt es das Kochbuch „Engelkraftsüppchen“. Als idealer „Begleiter für die Schule oder den Kindergarten“ ist der „Schutzengel … mit Schlaufe“ für 16,90 € zu haben.

Wenn Sie noch mehr darüber lesen wollen: Bestellen Sie den Katalog; er informiert Sie über Einhörner, Amulette, Handtücher in Feng-Shui-Maßen, energetische Hausreinigung, Chakra-Windlichter, Herz-Meditationen, naturreine Räucherstäbchen-Sortimente, zerlegbare Mini-Reise-Einhandruten  und vieles mehr.

It’s the economy, stupid

Ob Humbug oder tiefe Wahrheit: Mit Esoterik lässt sich viel Geld verdienen. Überlassen wir einem Großverdiener auf dem Gebiet, Deepak Chopra, das letzte Wort, entnommen dem TIME-Interview 10 Questions for Deepak Chopra: „Machen Sie es wie meine Kinder und meine Frau; sie nehmen mich niemals ernst.“

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Zweites Intermezzo

Alles ist Spiel

Der jüngste Artikel dieses Weblogbuchs („Quantenmystik“) hat den einen oder anderen Leser irritiert: Er liegt für sie nicht ganz auf der Linie der anderen Artikel, denn er berührt Fragen der Metaphysik und Sinnsuche, Fragen die den Rahmen des Weblogbuchs scheinbar sprengen.

Deshalb ist es an der Zeit, einmal kurz innezuhalten und über die Leitlinien dieses Weblogbuchs nachzudenken. Um „sonderbare Nachrichten und alltäglichen Statistikplunder“ soll es gehen. Die Frage ist, was an den Meldungen, die hier angesprochen werden, so sonderbar ist.

Die Antwort: Im Weblogbuch werden Meldungen aufgespießt, die gegen die Regeln des Spiels verstoßen, das zu spielen die Meldung vorgibt. Der Verstoß ist entweder dem Autor der Meldung nicht bewusst, dann ist es ein Irrtum seinerseits, oder aber er unternimmt ihn absichtlich,  dann begeht er eine Täuschung. In beiden Fällen sollte der Leser und Adressat der Meldung gewarnt sein. Manchmal lassen die Regeln auch mehrere Auffassungen zu, dann geht es nicht um Irrtum oder Täuschung. Dass es sich um ein subjektives Urteil handelt, sollte vor dem Leser allerdings nicht verborgen werden.

Der Stil des Weblogbuchs ist subversiv. Es deckt Widersprüche auf, und das allein durch Bezugnahme auf die selbstverständlichen Regeln (beispielsweise der Logik und Mathematik) sowie auf die Regeln des Spiels, das der Urheber der Meldung vorgeblich oder tatsächlich spielt. Die Diskussion bleibt so innerhalb des vom Autor der irreführenden Meldung gesteckten Rahmens.

Gegenstand des Weblogbuchs ist nicht irgendwelcher Tiefsinn, irgendeine Metaphysik; Fragen nach dem Urgrund allen Seins bleiben außen vor, insbesondere die Frage, warum es etwas gibt und nicht etwa nichts. Um Spielregeln geht es hier und inwieweit diese auch eingehalten werden. Ich hoffe, dass diese Klarstellung meine Leser beruhigt.

Auf die Spielregeln kommt es an

Da sind zunächst einmal die grundlegenden Regeln der Mathematik: Logik, Arithmetik, Algebra und Grenzwertrechnung. Dazu kommen die Regeln der schließenden Statistik und die Regeln für die grafische Darstellung von Zusammenhängen. Dies alles setze ich als allgemein akzeptiert voraus. Verstöße gegen diese Basisregeln begegnen uns täglich in Tageszeitungen, Magazinen, Rundfunk- und Fernsehsendungen. Beispiel: Guter Mond…

Dazu kommen die vielen Nonsense-Meldungen aus dem Bereich der Statistik. Ein herausragendes Beispiel dafür wird im Artikel Sex ist gesund aufgespießt. Krasse Betrugsfälle und gefälschte Statistiken sind eher selten: Anders als Churchill meinte, muss man Statistiken nicht fälschen, wenn man damit betrügen will. Man braucht die Daten nur geeignet zusammenzufassen. Aber Fälschungen kommen vor, und solche finden sich sogar in amtlichen Statistiken: Ein X für ein U.

Einen aufschlussreichen Sonderfall bietet der Artikel Schöne Mathematik. Hier halten sich nämlich alle, Autoren wie Kommentatoren, an die Regeln der Mathematik. Da diese Regeln so eindeutig und klar sind, sollte ein Disput eigentlich ausgeschlossen sein. Aber nein: Der Mathematiker will nicht nur Richtiges behaupten. Er legt auch Wert auf Eleganz. Folglich gehören zum Regelkatalog der Mathematiker auch Regeln der Ästhetik. Und damit verlässt der Mathematiker  den Reinraum objektiver mathematischer Beziehungen.

Es gibt objektive Kriterien für Schönheit, wie beispielsweise die Symmetrie, die wir schon aus rein biologischen Gründen mögen. Aber pure Schönheit kann langweilig sein und die Kunst kennt gezielte Verstöße gegen die Prinzipien glatter Schönheit.  Umberto Eco hat dementsprechend zwei herrliche Bücher über Ästhetik herausgebracht: „Die Geschichte der Schönheit“ und „Die Geschichte der Hässlichkeit“ (2004, 2007). Das Urteil über die Eleganz mathematischer Formeln muss letztlich persönlich bleiben. Und das ist eine Regel des Spieles Mathematik: Über die Eleganz einer Formel kann und soll man streiten, Einigkeit muss nicht sein.

Im Zentrum dieses Weblogbuchs stehen die Spielregeln des Spiels empirische Wissenschaft, insbesondere die Regeln der Generalisierung, Falsifizierbarkeit und Objektivität. Der Artikel Wie wissenschaftlich ist die Homöopathie handelt von Regelverstößen auf diesem Gebiet.

Insbesondere auf die Spielregeln der empirischen Wissenschaften gehen die Erfolge von Physik, Chemie und Biologie zurück. Und diese Wissenschaften sind es, denen wir nahezu alle technischen Dinge verdanken, die heute unser Leben bestimmen. Es ist kein Wunder, dass Metaphysiker und Esoteriker, Ratgeber, Quacksalber und Beutelschneider versuchen, von der Reputation der empirischen Wissenschaften zu profitieren und ihre Angebote als Ergebnis wissenschaftlicher Bemühungen darstellen und deren vermeintliche Wirkung als streng geprüfte und gesicherte  Erkenntnis verkaufen. Diese Leute beanspruchen für ihr Tun Wissenschaftlichkeit, sie lösen diesen Anspruch aber nicht ein — das kennzeichnet Pseudowissenschaft.

Die Verlockung zu Täuschung und Camouflage ist groß. Beispiele für derartige Täuschungsmanöver bieten die Artikel über Quantenmystik und Neurolinguistisches Programmieren.

Kampf der Manipulanten

Auch im Quantenmystik-Artikel geht es nur darum, Verstöße gegen die Regeln des vorgeblichen Spiels aufzuzeigen, nicht um die moralische Bewertungen dieser  Verstöße. Tarnen und Täuschen gehören so sehr zum Leben auf dieser Erde (man denke nur an die Geweihe der Hirsche, die Mimikri der Schmetterlinge, die Scheinmuskeln der Männer, das Imponiergehabe in den Chefetagen und die Werbung), dass man sich generelle moralische Urteile über dieses Verhalten besser verkneift.

Wer mehr über die Mechanismen und Auswirkungen von Täuschung und Selbstbetrug erfahren will, dem empfehle ich die Lektüre des Buches „Deceit and Self-Deception“ von Robert Trivers (2011).

Täuschung und Manipulation abzuschaffen, ist schon aus Gründen des Wettbewerbs aussichtslos: Wer will schon auf große Vorteile verzichten, die zu moderaten Kosten zu haben sind. Die Alternative wäre Totalitarismus, und der ist die Supertäuschung schlechthin.

Ein Ziel dieses Weblogbuchs steht nun klar vor Augen: Waffengleichheit. Jedermann sollte grundsätzlich die Möglichkeit erhalten, manipulationstechnisch nachzurüsten, so dass er im heutigen Gewühl aus Manipulation, Manipulationsabwehr und Gegenmanipulation seine Chancen wahren kann.

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