Skeptizismus und Skeptikerbewegung

Vortragsankündigung

Angekündigt hatte die Würzburger Regionalgruppe der GWUP einen Vortrag mit dem Titel „Fragen an einen Skeptiker“ und lieferte einen Katalog möglicher Fragen gleich mit: „Wer sind diese Skeptiker? Seit wann gibt es sie? Was untersuchen sie? Mit welchen Methoden tun sie das? Wissen Skeptiker mehr? Handelt es sich um eine neue Religion? Woran glauben sie? Darf ein Skeptiker auch Kirchenmitglied sein? Was sind für Skeptiker eigentlich Parawissenschaften?“

Und weiter: „All diese Fragen kann man an einen der führenden Skeptiker stellen. Herzlich willkommen zu einem Abend mit Prof. Dr. Timm Grams.“ (Termin: 30.1.2017, 19.00 Uhr in der Gaststätte Herieden in Würzburg/Heidingsfeld.)

Ich dachte mir damals: Nach der Veranstaltung sollte den Besuchern klar sein, dass die Wendung „führender Skeptiker“ ein Oxymoron ist. Ein Skeptiker, der führt, macht etwas falsch! Ich beließ es bei dem Formulierungsvorschlag der Regionalgruppe in der Ahnung, dass er zur Überhitzung manch eines empfindsamen Gemüts führen würde. Nun zur Veranstaltung selbst.

Vor Beginn der Diskussion stellte ich den Denkrahmen der Veranstaltung vor, insbesondere meinen Zugang zum Thema über meine Beschäftigung mit Denkfallen. Daran schloss sich ein Exkurs über den Skeptizismus als Ausgangspunkt aller Philosophien der Erkenntnis an. Dem folgte ein Abriss der Geschichte der Skeptikerbwegungen in den USA und in Deutschland.

Im philosophischen Skeptizismus geht es um die Frage:

Fällt der Skeptiker aus der Wirklichkeit?

Bereits die Denkfallen zeigen, dass wir nicht alles für bare Münze nehmen dürfen: Unsere Wahrnehmungs- und Denkmechanismen sind zwar bewährt, in manche Situation aber verkehrt. Es kommt zu Täuschungen. Manches Sein entpuppt sich als Schein. Unsere Sicherheit schwindet und auf nichts scheint mehr Verlass zu sein. Das Bild von der Realität zerfließt und es stellt sich die Frage, ob es diese Realität, dieses von unserem Bewusstsein unabhängige Sein, das von Recht und Ordnung stabil zusammengehalten wird, überhaupt gibt. Das Einzige, was wir erkennen, sind die Erscheinungen, das was auf unsere Sinne trifft und unsere Erfahrung ausmacht.

Und genau das ist der erste Schritt, den wohl jeder gehen muss, der über die Frage nachdenkt, was wir wissen können. Er startet als Skeptiker, genauer: als Außenweltskeptiker. Das war bei Platon so, bei Descartes, bei Kant, bei Hilary Putnam und vielen anderen. Man beachte, dass in diesem Begriff des Skeptikers bereits eine leichte Bedeutungsverschiebung steckt: Eigentlich bedeutet das aus dem Griechischen stammende Wort soviel wie „genaue Untersuchung“, die natürlich mit Zweifel einhergehen kann. Heute versteht man unter Skepsis den systematischen Zweifel.

Im Laufe der Zeit wurde eine ganze Reihe von skeptischen Szenarien formuliert. Heute findet man diese im  Film wieder. Das Gehirne-im-Tank-Szenario (Hilary Putnam) wurde in den Matrix-Filmen der Wachowski-Geschwister, in „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder, in „The 13th Floor“ von Roland Emmerich, in „Open your eyes“ und „Vanilla Sky“ (beide mit Penelope Cruz) künstlerisch umgesetzt. Das Traum-Szenario (Platon, Descartes) begegnet uns in den Filmen „Inception“ (mit Leonardo di Caprio) und in „A beautiful mind“ (mit Russell Crowe).

Immer geht es darum, dass wir die uns im Traum oder von einem Computer vorgespiegelte Wirklichkeit nicht von der „wirklichen Wirklichkeit“ unterscheiden können – falls es letztere überhaupt gibt. Diese Szenarien sind unwiderlegbar. Wir landen im „Abgrund des Skeptizismus“ (Immanuel Kant). Für den Skeptiker ist die Vorstellung einer bewusstseinsunabhängigen Realität das unbegreifliche Jenseits. Davon wendet er sich ab.

Und über die Jahrhunderte stellten sich Philosophen immer wieder die Frage, wie man diesem „Abgrund des Skeptizismus“ am besten entkommen könne.

Descartes hatte für sich einen Ausweg gefunden.  Er meinte, „dass die Dinge, welche wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, alle wahr sind, aber dass allein darin einige Schwierigkeit liege, wohl zu bemerken, welches die Dinge sind, die wir deutlich begreifen.“ (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, viertes Kapitel, 1637). Er sah es als erwiesen an, dass „es vollkommener sei, zu erkennen als zu zweifeln“. Er schreibt: „Denn vor allem ist selbst jener Satz, den ich eben zur Regel genommen habe, dass nämlich alle Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, wahr sind, nur deshalb sicher, weil Gott ist oder existiert und weil er ein vollkommenes Wesen ist und alles in uns von ihm herrührt.“ Ich sage es etwas flapsig: Es muss einen Gott geben, der uns – dank seiner Vollkommenheit – nicht hinters Licht führen kann.

Für den Skeptiker gibt es andere Auswege. Er findet vielleicht Trost bei Immanuel Kant, für den die Welt der Erscheinungen selbst bereits die Realität bildet. Kant wendet sein Denken ganz dem Diesseits zu und formuliert den empirischen Realismus, also den allein auf Erfahrung basierenden Realismus.

Wir wollen diese veränderte Bedeutung des Wortes Realismus gleich wieder vergessen und bleiben bei der Gleichsetzung von Realität und Jenseits. Der Gedanke von Kant erscheint in modernisierter Version in Karl Raimund Poppers Logik der Forschung, der er später den Namen kritischer Rationalismus verpasste. Der kritische Rationalismus ist vollkommen dem Diesseits zugewandt und er kommt ohne die Vorstellung einer Realität aus. Er bildet die methodische Basis aller Erfahrungswissenschaft: Kühne Vermutungen über die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen sind die rationale Seite, und die Prüfung dieser Theorien anhand der Fakten die kritische. Wissenschaftliche Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie prinzipiell widerlegt werden können. Mit diesem Kriterium der Falsifizierbarkeit grenzt Popper die Wissenschaft von der Metaphysik ab.

Wir haben also eine Methode für den Wissenserwerb. Dieses Wissen ist objektiv in dem Sinne, dass es intersubjektiv überprüfbar ist. Wir haben die tröstliche Einsicht gewonnen, dass der Skeptiker vielleicht  aus der Wirklichkeit fällt, aber dass er sich in seinem Diesseits sehr gut zurechtfinden kann.

Das moderne skeptische Denken ist wissenschaftsorientiert; es bewegt sich vollständig im Rahmen der oberen Hälfte der folgenden Tabelle. Ein gutes Anwendungsbeispiel für skeptisches Denken, das es erlaubt Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu trennen, bietet die Homöopathie.

Darüber hinaus möchte manch ein Skeptiker mehr Halt, auch sucht er nach einer Verbindung des Alltagsrealismus mit seiner Denkwelt: Wir sagen ja nicht: „Diese Erscheinung, der wir alle den Namen Tasse geben, enthält eine Erscheinung, die wir Tee nennen.“ Wir sagen: „Das ist eine Tasse Tee.“

Dieser Skeptiker – nicht jeder Skeptiker braucht das – erhält Halt durch Karl Raimund Popper, den wohl ein ähnliches Unbehagen mit der Realitätslosigkeit beschlichen hat. Er führt ein regulatives Prinzip ein, nämlich die Vorstellung einer Realität, an die sich der Forscher mit seinen Theorien immer stärker annähert. Dabei bleibt bei Popper offen, wie diese Realität aussieht und wie nah man bereits an ihr dran ist.

Diese Realitätsannahme erlaubte es, von einer Annäherung an die Wahrheit zu sprechen und von relativer Wahrheitsnähe. Diese Annäherung an die Wahrheit – ich habe sie durch mein Stöckchen-Beispiel veranschaulicht – entspricht genau dem Erkenntnisfortschritt, den Popper bereits in seinem kritischen Rationalismus beschrieben hat und der sich auch ohne Realitätsannahme genau fassen lässt.

Da sich die Realitätsannahme nicht prüfen lässt, gehört sie in das Reich der Metaphysik. Die Realität bleibt wesentlich unbestimmt. Der schwache Realismus Poppers erhält in der folgenden Tabelle ein Sternchen (*). Es steht für einen schwachen Anteil an Metaphysik.

Manch ein Skeptiker sucht nach mehr Gewissheit. Ihm steht der wissenschaftliche Realismus (Scientific Realism) des Hilary Putnam zur Verfügung. Er geht davon aus, dass sich die Wahrheit wenigstens approximativ bestimmen lässt. Und er behauptet, dass sich auch ein Maß für die Wahrheitsnähe finden lasse. Die Vorstellung, dass sich die Wahrheitsnähe an der Natur ablesen lässt, ist eine weitere metaphysische Hypothese. So etwas hat eine Art Offenbarung zur Voraussetzung. Deshalb: zwei Sternchen für diesen starken Realismus.

Noch weiter geht der Naturalismus. Er behauptet, dass es eine reale Welt gibt und dass diese auch – zumindest partiell – erkannt werden kann. Und er setzt auf das „Keine-Übernatur-Prinzip“: Die Welt ist kausal geschlossen und es gibt keine Wechselwirkung mit einer Übernatur. Das sind weitere metaphysische Hypothesen, sie sind drei Sternchen wert.

Die Tabelle ist analog zu den russischen Puppen-in-Puppen aufgebaut: Im Innersten steckt der Skeptizismus. Darüber kommen Kants und darauf Poppers Erkenntnissystem. Auch die Glaubenssysteme sind additiv zu sehen: Der Naturalismus impliziert den starken, und dieser wiederum den schwachen Realismus. Aber für alle bildet der kritische Rationalismus des Karl Raimund Popper die Basis. Deshalb stehen bei allen dieser Denksysteme in der letzten Spalte als Methode die kritische Prüfung und das Abgrenzungskriterium der Falsifizierbarkeit. Der Erwerb von Wissen wird immer darauf zurückgreifen.

Der Meinungsaustausch über Glaubensangelegenheiten bringt demgegenüber keinen Erkenntnisgewinn: Dort stehen unprüfbare Aussagen gegen andere, ebenfalls unprüfbare Aussagen. Zirkuläre Diskussionen sind die Folge.

Die Skeptikerbewegung

Die Skeptikerbewegung, die vor etwa 40 Jahren in den USA entstanden ist, bewegt sich gedanklich in dem von mir aufgezeigten Raster. Das Committee for Skeptical Inquiry (CSI) wurde 1976 – damals noch unter dem Kürzel CSICOP – gegründet mit der Zwecksetzung, einer unkritischen Akzeptanz und Verbreitung paranormaler Behauptungen entgegenzuwirken und zum kritischen und wissenschaftlichen Denken zu ermutigen. Die deutsche Skeptikerbewegung, organisiert in der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), entstand etwa ein Jahrzehnt später, nämlich 1987.

Bereits in der Gründungsphase kam es zu einem bemerkenswerten Konflikt. Er zieht sich durch die gesamte Geschichte dieser Bewegung, in deren Verlauf es immer wieder zu Zerwürfnissen und spektakulären Austritten kam. Trotzdem blieb die Bewegung über die Zeit gesehen ziemlich stabil.

Damals ging es um eine Stellungnahme gegen die Astrologie. Diese „Objections to Astrology“ von 1975 wurden von 186 führenden Wissenschaftlern unterschrieben. Die konfliktträchtigen einleitenden Sätze dieser Erklärung sind die Folgenden: “Scientists in a variety of fields have become concerned about the increased acceptance of astrology in many parts of the world. We, the undersigned – astronomers, astrophysicists, and scientists in other fields – wish to caution the public against the unquestioning acceptance of the predictions and advice given privately and publicly by astrologers. Those who wish to believe in astrology should realize that there is no scientific foundation for its tenets.

In ancient times people believed in the predictions and advice of astrologers because astrology was part and parcel of their magical world view. They looked upon celestial objects as abodes or omens of the gods and, thus, intimately connected with events here on earth; they had no concept of the vast distances from the earth to the planets and stars. Now that these distances can and have been calculated, we can see how infinitesimally small are the gravitational and other effects produced by the distant planets and the far more distant stars. It is simply a mistake to imagine that the forces exerted by stars and planets at the moment of birth can in any way shape our futures.”

Die treibende Kraft hinter dieser Erklärung war Paul Kurtz, der bald darauf mit Gründung des Skeptikerkomitees auch dessen Vorsitz übernahm. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben ihm James Randi, Marcello Truzzi, Ray Hyman, Martin Gardner, Carl Sagan, Isaac Asimov. Weitere Wissenschaftler von Rang und Namen waren dabei.

Der berühmte Philosoph Paul Feyerabend („Anything goes“) monierte bereits den ersten Satz der Erklärung und verglich ihn mit der Einleitung zum Hexenhammer, einem berüchtigten Machwerk, das Kirchenleute über Hexerei informieren sollte: “The book has an introduction, a bull by Pope Innocent VIII, issued in 1484. The bull reads ‚It has indeed come to our ears, not without afflicting us with bitter sorrow, that in …‘ – and now comes the long list of countries and counties – ‚many persons of both sexes, unmindful of their own salvation have strayed from the Catholic Faith and have abandoned themselves to devils… ‚ and so on.”

Carl Sagan verweigerte die Unterschrift unter die Stellungnahme, weil er ihren Ton für autoritär hielt und er schreibt über seine damaligen Beweggründe: „Die Frage ist doch nicht, aus welchen unsicheren und rudimentären Wissensquellen die Astrologie stammt, sondern worin ihre gegenwärtige Gültigkeit besteht.“ Weiter meint Sagan: Dass wir uns keinen Mechanismus vorstellen können nach dem die Astrologie funktionieren könnte, sei sicher ein wichtiger Punkt, aber an sich noch kein überzeugendes Argument („Der Drache in meiner Garage“, Kapitel 17. Original: The Demon-Haunted World, 1996).

Ich erinnere daran, dass Isaac Newton einst auch auf dem Feld der Alchemie gearbeitet hat und daran, dass das heliozentrische Weltsystem, wie Karl Raimund Popper im 8. Kapitel seiner Vermutungen und Widerlegungen „Über die Stellung der Erfahrungswissenschaft und der Metaphysik“ schreibt, religiös-neuplatonische Wurzeln hat.

Ein Skeptiker der ersten Stunde, Marcello Truzzi, kennzeichnet die von Sagan angeprangerte Art des Skeptizismus so (1987): „Weil sich der Begriff ‚Skeptizismus‘ korrekterweise auf den Zweifel und nicht auf eine Verneinung (also einen Unglauben anstelle eines Glaubens) bezieht, sind Kritiker, die statt einer agnostischen eine negative Haltung einnehmen und sich trotzdem ‚Skeptiker‘ nennen, in Wirklichkeit Pseudoskeptiker.“

Der Naturalist, der seinen (Nicht-)Glauben in dieser Weise gegen die Homöopathie beispielsweise in Stellung bringt, ist ein solcher Pseudoskeptiker. Er pflegt eine Art „Skeptizismus für Faulpelze und Dummköpfe“: Anstatt sich in die Niederungen der wissenschaftlichen Arbeit zu begeben und sich mit Testplanung, Testauswertung und der Interpretation von statistischen Kennzahlen zu quälen, führt er einfach seinen Glaubenssatz „Es gibt keine Übernatur“ gegen die ebenfalls metaphysischen Begründungen der Homöopathieanhänger ins Feld. Das Beharren der Homöopathen auf „geistartige Kräfte“ steht dann der ebenfalls metaphysischen Aussage gegenüber, dass solche Kräfte zur Übernatur zu rechnen seien und dass es eine solche nicht geben könne.

Der Skeptiker muss nicht Naturalist sein. Aber nach meiner Kenntnis sehen sich wohl die meisten Skeptiker, die über derartige Grundlagen nachdenken, als Realisten oder Naturalisten. Aber in der praktischen Arbeit merkt man davon im besten Falle nichts.  Ein gutes Beispiel ist der Psi-Test der GWUP, der seit einiger Zeit jährlich in Würzburg durchgeführt wird (skeptiker 3/2016, S. 125-129).

Zu diesen Tests mit Aussicht auf ein Preisgeld können sich Personen melden, die sich für Psi-begabt halten: Wünschelrutengänger, Wahrsager usw. Im vergangenen Jahr war unter den Kandidaten eine Homöopathin, die angab, Verunreinigung in Pflanzenerde erkennen zu können.

Die Versuchsleiter sind bekennende Naturalisten. Aber Metaphysisches wurde ausschließlich seitens der Kandidatin geäußert: Sie führt ihre Fähigkeit darauf zurück, dass sie ihre Informationen im Dialog mit „Besserwissern“ aus einer anderen Welt erfahren könne und dass sich richtige Antworten dadurch bemerkbar machten, dass es „wie Wellen durch meinen Körper“ gehe.

Davon geben sich die Versuchsleiter ziemlich unbeeindruckt und sie schreiten zur wissenschaftlichen Tat. Sie füllen zehn Petrischalen mit Blumenerde, in einer davon ist – für die Kandidatin unsichtbar – kontaminierte Erde. Die Kandidatin muss nun ihre Fähigkeit nachweisen, indem sie die Schale mit kontaminierter Erde herausfindet. Das wird dreizehn Mal gemacht. Schließlich hat die Kandidatin zwei Treffer zu verzeichnen, was sich sehr gut mit der Annahme verträgt, dass es ein Zufallsergebnis ist und dass sich ihre Psi-Fähigkeit zumindest hier nicht gezeigt hat.

Die Versuchsleiter belassen es bei dieser Mitteilung und überlassen es der Kandidatin, mit ihren „Besserwissern aus der anderen Welt“ zu hadern. So funktioniert guter Skeptizismus.

Beantwortung der Fragen und Diskussion

Wer sind diese Skeptiker? Jeder, der sich das kritische Hinterfragen zur Regel macht, insbesondere die Anhänger der Skeptikerbewegungen.

Seit wann gibt es sie? In den USA seit 1976 und in Deutschland, Österreich und Schweiz seit 1987.

Was untersuchen sie? Außergewöhnliche Ansprüche, die mit der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis unvereinbar scheinen.

Mit welchen Methoden tun sie das? Sie führen den Stand der Wissenschaft ins Feld; sie schauen nach, ob es bereits qualifizierte Testberichte zum Thema gibt und sie führen selbst Tests auf wissenschaftlicher Grundlage durch.

Wissen Skeptiker mehr? Besserwisserei ist dem Skeptiker fremd. (Beim Pseudoskeptiker bin ich mir da nicht so sicher.) Zu bevorzugen ist der dialogische Prozess der Erkenntnisgewinnung, wie das auf dem Feld der Wissenschaft üblich ist.

Handelt es sich um eine neue Religion? Auch wenn viele Skeptiker dem Glauben an den Naturalismus anhängen, ist diese „Religion“ nicht verbindlich. Solange man sich auf die wissenschaftliche Arbeitsweise verständigen kann, ist Pluralismus angesagt: Gottgläubige, Naturalisten, Agnostiker usw. – alle finden hier eine geistige Ankerstelle.

Woran glauben sie? An alles Mögliche, mancher auch an nichts oder fast nichts. Der Glaube setzt auf Behauptungen. Der Skeptiker hingegen setzt auf den Zweifel. Der gläubige Skeptiker gibt seinen Glauben an der Tür zum Labor ab. Dann geht es nur noch darum, Sachverhalte zu prüfen und nicht deren jenseitige Ursachen.

Darf ein Skeptiker auch Kirchenmitglied sein? Ein prominentes Gründungsmitglied der amerikanischen Skeptiker, Martin Gardner, hat sich zum Glauben an Gott bekannt, was ja bekanntlich mit dem Naturalismus unverträglich ist. Auch ein Kirchenmitglied kann Skeptiker sein.

Was sind für Skeptiker eigentlich Parawissenschaften? Alles, was sich als Wissenschaft ausgibt und diesen Anspruch nicht oder möglicherweise nicht einlösen kann.

In der Diskussion sprach ein Naturalist die Frage an, ob die „Keine-Übernatur-Hypothese“ nicht vielleicht doch falsifizierbar sei. Er meinte, wenn sich über ihm die Wolken auftäten und zwischen ihnen ein Bild Gottes (was auch immer er sich darunter vorstellt) erschiene, dann könne ihn das in seiner Ansicht schwanken lassen. Ich frage mich: warum eigentlich? Diese Erscheinung hat für ihn ja nur widerlegt, dass es nicht passieren könne, dass sich die Wolken teilen und zwischen ihnen ein Gottesbild erscheint. Weitergehende Schlüsse hinsichtlich einer Übernatur lässt die Beobachtung nicht zu. So lässt sich die Keine-Übernatur-Hypothese jedenfalls nicht widerlegen. Soweit ich sehen kann, entgeht sie unter allen Umständen der Falsifizierung. Sie ist nicht wissenschaftlich.

Nachtrag vom 11. Juni 2018

Der etwas skurrile Feodor-Text Skepsis, Wissenschaft und Skeptikerbewegung ist offenbar eine Replik auf den vorstehenden Artikel.

Was der Feodor-Text soll und inwieweit er sein Ziel erreicht, möge jeder Leser selbst herausfinden. Ich bin über sonderbare Begriffsbestimmungen gestolpert und habe mich über ein paar waghalsige Schlussfolgerungen gewundert. Mit den folgenden Bemerkungen habe ich versucht, das Ganze für mich in Reih und Glied zu bringen.

Die antike Skepsis verneint die Möglichkeit einer zureichenden Begründung („Letztbegründung“). Diese Auffassung ist ziemlich modern und prägt auch die heutige Wissenschaft.

Urteilsenthaltung ist keineswegs eine Konsequenz dieser Ansicht. Die antike Skepsis zeigt sogar, dass die Empfehlung einer universalen Urteilsenthaltung paradox ist (Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis, 2008, S.83 ff.).

Normale Wissenschaft unterliegt dem Wandel. Das Anomale steht definitionsgemäß im Widerspruch zur Normal-Wissenschaft. Folglich unterliegt auch die Auffassung vom Anomalen dem Wandel. Genau die Anomalien sind es nämlich, die den Fortschritt der Wissenschaft bewirken (Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. IX. Das Wesen und die Notwendigkeit wissenschaftlicher Revolutionen):

Wenn eine existierende Theorie den Wissenschaftler nur in Bezug auf existierende Anwendungen bindet, dann kann es keine Überraschungen, Anomalien oder Krisen geben. Aber gerade dies sind die Wegweiser, die den Pfad zur außerordentlichen Wissenschaft zeigen.

Ich halte es für einen Fehler, den wissenschaftlichen Skeptizismus über die normale Wissenschaft definieren zu wollen. Das wäre letztlich dogmatisch und dann doch wieder eine Art zureichende Begründung. Thomas Kuhn hat eine solche statische Auffassung von Wissenschaft jedenfalls nicht gemeint.

Die streng agnostische Annahme (am 12.6.18 umbenannt in streng skeptische Annahme) ist ein Popanz: Der Agnostiker enthält sich eines Urteils in Angelegenheiten der Metaphysik und nicht notwendigerweise auch im Allgemeinen. Der Skeptiker — meist in Personalunion — tut es ihm gleich.

Psi meint etwas Übernatürliches und wird beispielsweise der Gedankenübertragung und der Wünschelrutengängerei zugeschrieben. Das aber sind keine Anomalien. Diese Effekte verschwinden beim näheren Hinsehen. Und wo kein Effekt, da keine Anomalie. Für derartige effektfreie Bemühungen gibt es eine gut definierte Sammelbezeichnung: Pseudowissenschaft (oder Anwartschaft darauf).

Psi gehört ins Reich der Metaphysik und ist daher kein Thema für den Agnostiker. Folglich sind auch alle Gedankenspiele, in denen Psi vorkommt, für den Agnostiker sinnlos. Dasselbe gilt auch für den Skeptiker, denn der übt Urteilsenthaltung zwar nicht allgemein, jedoch in Angelegenheiten der Metaphysik und des Glaubens. Insofern ist er auch Agnostiker.

Nachtrag vom 2.8.2020

Aktuelle Hoppla!-Artikel zum Thema sind

Siebtes Intermezzo: Der Skeptiker in seiner Welt

Pseudoskeptiker

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Der Realist und seine Echokammer

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners
Heinz von Foerster

Ins Fadenkreuz eines missionierenden Realisten geraten sind „Instrumentalisten, die auf Logik bestehen und bei anderen, vor allem bei Realisten, gar Denkfehler diagnostizieren wollen“  und die damit lediglich ihr Elend der philosophischen Inkonsequenz demonstrieren würden (skeptiker 4/2016 (S. 176). Dahinter steckt die Ansicht, dass die Wahrheit kennen müsse, wer einen Denkfehler feststellen will. Der Realist traut sich das zu. Dem Instrumentalisten spricht er diese Fähigkeit ab.

Obwohl ungenannt gilt der Angriff auf „das Elend des Instrumentalismus“ ganz offensichtlich meinem Buch „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“, insbesondere dem 9. Kapitel „Um Wahrheit geht es nicht“.

Gern würde ich den Ausführungen dieses Realisten direkt entgegnen. Aber der hat sich in seine Echokammer eingeschlossen: Leserbriefe an den skeptiker werden allein mit der Begründung, dass man nicht zustimmen könne, abgewiesen. Das einschlägige Internetforum lässt Kommentare eines ernsthaften Kritikers nicht zu. Da ein Diskurs unterbunden ist, kann unser Realist seine Rede und den Beifall seiner Anhänger ungeschmälert genießen.

Die Fehldeutungen, die Rabulistik und die Manipulationsversuche kann ich so jedoch nicht stehen lassen. Eine Replik ist unvermeidbar – dann eben auf dem Umweg über dieses Hoppla!-Blog.

Was ist ein Instrumentalist?

Ein Instrumentalist ist einer, für den die Naturgesetze nichts weiter als Werkzeuge sind, die in einem gewissen Weltausschnitt ihren Dienst tun wie beispielsweise die Newtonschen Gesetze im Maschinenbau. Ingenieure sind demnach Instrumentalisten: Der Ingenieur benutzt weiter die newtonsche Formel „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“, obwohl er weiß, dass er im allgemeinen Fall relativistisch in Sinne Einsteins rechnen sollte.

Aber auch ein „Skeptiker“ aus der Echokammer ist ein Instrumentalist in diesem Sinne, wenn er von unwandelbaren Naturgesetzen  spricht und damit meint, dass viele Naturgesetze  in gewissen Grenzen nach wie vor gültig bleiben, selbst wenn sie durch genauere, weiterreichende übertrumpft werden.

Karl Raimund Popper meint, dass dem Instrumentalisten das Streben nach Erkenntnis – der Entdeckergeist also – fehle (Vermutungen und Widerlegungen, 1963/1994, Kapitel 3). Er stellt dem Instrumentalisten den wahrheitsliebenden Realisten gegenüber. Dabei meint er eine sehr milde Form des Realismus, denn er spricht nur von einer Annäherung an die Wahrheit und vermeidet konsequent Aussagen über die Güte der Annäherung im Sinne einer partiellen oder approximativen Wahrheit. Wenn man genau hinsieht, kann man seine Wendung von der Annäherung an die Wahrheit verlustfrei ersetzen durch den Begriff des Erkenntnisfortschritts. Er braucht den Begriff der Realität (Wirklichkeit) für seine Logik der Forschung, den kritischen Rationalismus, eigentlich nicht und er sagt das auch selbst: „Die Idee der Wahrheit und insbesondere auch die der Annäherung an die Wahrheit, spielt in der Logik der Forschung eine wichtige Rolle, obwohl die in diesem Buch entwickelte Theorie an keiner Stelle von dieser Idee abhängt“ (Anhang *XV. Über Wahrheitsnähe).

Glaube und Wohlgefühl

Die poppersche milde Form des Realismus ist zwar unnötig, aber auch – aus meiner Sicht jedenfalls – unschädlich: Der Realismus bleibt bescheiden und vermeidet Rechthaberei. Über den missionierenden Realisten lässt sich das nicht sagen.

Wofür braucht Popper den Realitätsbegriff? Ich habe da eine Vermutung: Der Glaube an eine wie auch immer ausgeprägte bewusstseinsunabhängige Realität erleichtert das Formulieren. Wir alle sind Realisten des Alltags. Eine Übertragung der Alltagssprache in die Welt der Wissenschaft vermeidet sprachliche Brüche und Umständlichkeiten. Das dient dem Wohlgefühl und der Eleganz. Es ist wie bei den traditionellen chinesischen Kampfkünsten: Bildhafte Vorstellungen wie „das Chi in die eigene Faust fließen zu lassen“, könne korrekte Ausführungen bestimmter Bewegungen durchaus erleichtern, meint Holm Hümmler in seinem Artikel über „Das Geheimnis des Kung Fu“ (skeptiker 3/2006, 112).

Kurz gesagt: Gegen den Realismus in milder Form spricht nichts. Aber es gibt alternative und ebenso harmlose Vorstellungen, die dem Gläubigen von Nutzen sein mögen. Ich plädiere für einen Pluralismus der Weltanschauungen, weil dieser das Leben unserer modernen Gesellschaften in Bewegung hält und dem Fortschritt dient.

Worum geht’s bei „Klüger irren“?

Mir geht es nicht vorrangig um die Philosophien der Leute. In meinem Buch stelle ich ins Zentrum die Aussage, dass wir alle mehrere Spiele spielen: Wissenschaft, Mathematik, Esoterik, Gottglauben, … Und für diese Spiele gelten Regeln. Wer meint, sich an die Regeln zu halten und dabei in die Irre geht, der ist womöglich in eine Denkfalle geraten: Wer auf die Müller-Lyer-Täuschung oder die sandersche Figur hereinfällt, hat eben im Spiel der Geometrie daneben gelegen. So etwas kann man durchaus als Fehler ansehen, ohne dabei gleich die ewig gültigen Wahrheiten ins Spiel zu bringen. Fehler sind Abweichungen von der Norm, nichts weiter. Da ist kein Tiefsinn dahinter und auch keine „Korrespondenztheorie der Wahrheit“, wie die Philosophen sich auszudrücken pflegen. Wobei ich dem Fehler bei der Weiterentwicklung von Normen eine tragende Rolle zubillige.

Der Angriff des missionierenden Realisten verfehlt folglich sein Ziel:  Ich bin nicht im „Elend der philosophischen Inkonsequenz“ gelandet. Die Fähigkeit der Fehlervermeidung, wie ich sie voranzubringen versuche, steht im Dienste des Erkenntnisfortschritts. Um Wahrheit geht es nicht.

Detaillierte Erwiderung des skeptiker-Aufsatzes

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Scientabilität – ein überflüssiger Begriff?

In einem Interview zu seinem Buch „Die Homöopathie-Lüge“ im skeptiker 4/2012, S. 181-185, erklärt Christian Weymayr den von ihm vorgeschlagenen Begriff der Scientabilität am Beispiel der  Homöopathie: „Homöopathische Arzneimittel sind ‚nicht scientabel‘, also nicht mit den üblichen Werkzeugen der evidenzbasierten Medizin greif- und erforschbar, weil sie Naturgesetzen widersprechen. Allein schon deswegen ist ihre Untersuchung von vorneherein sinnlos und die Methodik der Evidenz-basierten Medizin nicht anwendbar.“

Und weiter: „Bevor es an klinische Studien geht, sollte man erst einmal fragen, ob das behauptete Verfahren im Einklang mit den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaften steht. Ist das nicht der Fall, sollte es keine klinische Untersuchung geben, weil die Ergebnisse irrelevant sind. Damit wird sichergestellt, dass positive Ergebnisse, die zum Beispiel auf dem Hidden Bias oder auch nur auf Zufall beruhen, nicht missbraucht werden können.“

Am 20. April 2013 mische ich mich als „Till“ in die laufende Diskussion ein:

Christian Weymayr behauptet, „dass alle klinischen Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel irrelevant sind“, wo doch das Credo der Skeptiker ist, dass allein die Prüfung entscheidet, was Wissenschaft ist und was Pseudowissenschaft oder Metaphysik. Als neues Abgrenzungskriterium schlägt er demgegenüber „Scientabilität“ vor. – Mit Neologismen hat bereits Martin Heidegger die Welt genervt. Aber es ist nicht nur die phantasievolle Wortwahl, die mich stört. Es ist die Absicht, die dahinter steckt.

Nach Weymayrs Ansicht sind homöopathische Arzneimittel „nicht scientabel“. Er meint damit, dass eine Überprüfung der Wirksamkeit dieser Mittel entbehrlich ist, da das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht und folglich ganz offensichtlich Quatsch ist.

Die „gesicherte Erkenntnis“ – was immer das sein mag – scheidet nach dieser Ansicht in absoluter Weise Sinn von Unsinn. Für mich ist das ein Dogmatismus, der dem Skeptiker eigentlich fremd sein sollte. Schauen wir uns die Konsequenzen von Weymayrs Abgrenzungskriterium an einem uns allen wohlbekannten historischen Beispiel einmal an: Von der Antike bis in die Neuzeit galt das ptolemäische Weltbild als „gesicherte Erkenntnis“. Kopernikus‘ Hypothese war folglich „nicht scientabel“, eine Überprüfung entbehrlich. Gut, dass sich Galileo Galilei nicht daran gehalten hat.

„Scientabilität“ als Abgrenzungskriterium verhindert, zu Ende gedacht, jeglichen wissenschaftlichen Fortschritt. Ich halte den Begriff bereits aus forschungslogischen Gründen für unhaltbar. Dabei ist mir klar, dass der Irrtum der hässliche Bruder der Erkenntnis ist. Prüfungen sind fehlerträchtig und es kann immer wieder einmal zur Bestätigung von Humbug kommen. Damit müssen wir leben.

Die Einlassungen von Amardeo Sarma zum Thema leuchten mir ein. Er sieht „drei Prozesse, die für wissenschaftliches Vorgehen relevant sind: Aussagen und Behauptungen müssen erst einmal verstanden und auf ihre innere Konsistenz geprüft werden. Danach sollte zweitens geklärt werden, wie sich eine Aussage mit bestehendem, verlässlichem Wissen verhält. Das ist eine Plausibilitätsprüfung. Drittens sollte eine allgemeine Behauptung getestet oder ein bestimmtes Phänomen, zum Beispiel eine Spukbehauptung, recherchiert werden.“

Der Skeptiker arbeitet mit Logik, wendet wissenschaftliche Erkenntnisse an, wohl wissend, dass auch diese kein endgültiges Wissen darstellen – und er prüft. Da ist nicht die Rede davon, dass man sich die Prüfung schenken kann, wenn etwas als nicht plausibel erscheint. Es existiert kein Filter, der das Untersuchenswerte vom –unwerten trennt.

Der Skeptiker wird angreifbar, wenn er Dogmen verkündet und Selbstgewissheit ausstrahlt. Er sollte besser Widersprüche aufzeigen, Fragen aufwerfen und zum Selberdenken anregen. Das Finden von Antworten kann er dem Adressaten überlassen. Ein gebildeter Mensch wird sich schon selbst darüber klar werden, welchen Hypothesen er eher vertrauen will: denen der weithin akzeptierten Wissenschaft oder denen der Scharlatane und Beutelschneider.

Wir sollten dort ansetzen, wo wir etwas bewirken können, bei der Jugend und in der Bildung. Kritisches Denken gehört auf den Lehrplan. Mathematik und empirische Wissenschaften müssen in der Gesellschaft wieder zu höherem Ansehen kommen. Demgegenüber hat es kaum Sinn, sich mit eingefleischten Anhängern einer Pseudowissenschaft herumzustreiten. Aus diesem Grunde halte ich jedes weitere Buch zur Homöopathie für vergebene Liebesmüh.

Christian Weymayr antwortet (22.4.2013):

Ich habe den Begriff “Scientabilität” vorgeschlagen, weil es manchmal praktisch ist, einen Namen für etwas zu haben.

Natürlich muss die Prüfung entscheiden, ob etwas wirkt. Ich fordere allerdings, dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss. So heißt es im Methodenpapier des IQWiG, dass für dramatische Effekte klinische Studien unnötig sind, für die üblichen medizinischen Fragen sind klinische Studien notwendig, und ich ergänze:

Für angebliche Effekte, die Naturgesetze über den Haufen werfen, sind klinische Studien irrelevant.

Man braucht für sie eine Prüfmethode, die ähnlich fehlerrobust ist wie die gesicherte Erkenntnis (weil theoretisch plausibel und praktisch bislang widerspruchsfrei), die der angebliche Effekt in Frage stellt. Eine klinische Studie ist dagegen durchaus fehleranfällig.

Ich nenne es das EbM-Paradoxon, dass man sich einerseits der Fehlanfälligkeit klinischer Studien bewusst ist, und sie andererseits für aussagekräftig genug hält, um Naturgesetze zu bestätigen oder zu widerlegen.

Ich sage also nicht, dass die Überprüfung der Wirksamkeit homöopathischer Arzneien entbehrlich ist, sondern dass klinische Studien dafür ebenso wenig geeignet sind, wie eine handelsübliche Stoppuhr zur Überprüfung der Lichtgeschwindigkeit, oder eine Fotografie zur Überprüfung der Existenz von Einhörnern.

Eine verbreitete These ist noch keine gesicherte Erkenntnis.

Aber wenn noch niemals etwas Geistartiges nachgewiesen wurde, und wenn so etwas wie eine geistartige Heilkraft auch den Gesetzen der Physik und Chemie widerspricht, sehe ich es eine gesicherte Erkenntnis an, dass es solche Heilkräfte nicht gibt. Auch das mag in Ihren Augen ebenso sehr nur eine These sein wie die Behauptung, dass Sie gerade in einen Computermonitor schauen, aber das sind Gedankenspiele und theoretische Überlegungen, die mit der sehr konkreten Frage, ob Kochsalz C30 im realen Leben Haarausfall stoppen kann, nichts zu tun haben.

Dass mein Buch vergebene Liebesmüh ist, stimmt natürlich.

Meine Replik vom selben Tag:

Dass EbM-Prüfmethoden vergleichsweise unscharf sind, gehört zum Geschäft; das trifft aber nicht ganz den Punkt.

Es geht um das Objekt der Prüfung, nämlich um die von der Homöopathie behaupteten messbaren Zusammenhänge einerseits (Heilwirkung durch Globulikonsum) und um Modellvorstellungen von den Wirkmechanismen andererseits (geistartige Heilkraft).

Wenn Modellvorstellungen („Geistartiges“) über den Haufen geworfen werden – und genau die sind wohl das Ziel des Angriffs seitens der etablierten Wissenschaft –, kann dennoch das Erkenntnissystem (die „Theorie“) überstehen. Im Rahmen der etablierten Physik hat beispielsweise die Überwindung der Ätherhypothese dem Kern der elektromagnetischen Theorie nicht geschadet. Eine Debatte über Geistartiges finde ich nicht übermäßig interessant.

Das Hauptargument gegen die Homöopathie ist für mich, dass sie ihre Wirksamkeit eben nicht prüft und dass sie sich deshalb auch nicht entwickeln kann, selbst wenn prinzipiell die Möglichkeit dazu bestünde. Angesichts der Scheu vor Prüfungen sehe ich diese Möglichkeit jedoch nicht.

Die Homöopathie ist zu einem Glaubenssystem geworden, fernab jeder Wissenschaft. Sie ist unfruchtbar.

Den Reigen beendet Christian Weymayr am 26.4.2013:

Ihrem letzten Satz stimme ich zu. Ihrem vorletzten nur eingeschränkt, denn Homöopathie war von jeher ein Glaubenssystem, und sie ist in der Wissenschaft stärker verankert denn je.

Bezeichnend finde ich allerdings auch, dass der ganz normale Otto-Normal-Homöopath das Verfahren nicht überprüft, obwohl es ganz einfach wäre. Man nehme verdeckt eine von zwei stark unterschiedlich “wirkenden” Substanzen und versuche anhand der Symptome herauszufinden, welche man genommen hat. Wenn die Trefferquote dauerhaft von 50% abweicht, kann man schon mal bei der GWUP vorsprechen, und sich für die 1 Mio Euro Preisgeld vormerken lassen.

Mag sein, dass es noch Alternativ-Erklärungen zu den geistartigen Kräften für die Wirkung homöopathischer Arzneien gibt. Allerdings bleibt die Behauptung bestehen, dass Substanzen in physiologisch unwirksamen Konzentrationen wirken sollen. Diese Behauptung, egal mit welcher Theorie man sie zu erklären versucht, widerspricht Erkenntnissen, die so gesichert sind, dass klinische Studien sie nicht erschüttern können.

Meine Kritik am Scientabilitätskonzept bedeutet nicht, dass ich die Idee dahinter in Bausch und Bogen ablehne. Ich stimme Weymayrs Auffassung zu, „dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss“. Das bringe ich im Hoppla!-Beitrag Oberflächenkompetenz und Tiefenscheinwissen auch zum Ausdruck.

Aber braucht man für das Naheliegende wirklich einen neuen Begriff?

Der Begriff kann sogar Schaden anrichten, besonders dann, wenn man das Konzept auf die Spitze treibt und folgert, dass es nicht geben könne, was gegen die Naturgesetze verstößt oder dass eine Überprüfung entbehrlich sei, wenn die Begründung für das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht. So würde dann tatsächlich der Blick auf Neues verstellt.

 

Zum Schluss bringe ich eine Buchwerbung in eigener Sache:

KlügerIrren

 

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„Terror“ – ein moralisches Dilemma?

Am 17. Oktober 2016 wurde uns ein Fernsehereignis der Extraklasse geboten. Das Erste zeigte den Fernsehfilm „Terror“, eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach.

Der Film handelt von einer Gerichtsverhandlung. Angeklagt ist ein junger Bundeswehrpilot. Er hatte eine Lufthansa-Maschine mit 164 Passagieren abgeschossen, weil sich dieser von Terroristen gekaperte Airbus im Anflug auf die mit 70.000 Menschen vollbesetzte Allianz-Arena in München befand.

Das moralische Dilemma – aktiv Menschen töten um viele zu retten – steht im Zentrum des Films und die Zuschauer waren aufgefordert, in die Rolle von Schöffen zu schlüpfen und ihr Urteil abzugeben: Schuldig oder nicht schuldig.

Mein Bauchgefühl sagte mir an  diesem Abend: Da stimmt etwas nicht. Ich habe ganz bewusst entschieden, nicht zu entscheiden. Mein Verdacht war, dass im Film der Falsche vor Gericht steht.

Bestärkt darin hat mich das sehr engagierte Eintreten des früheren Innenministers Gerhart Baum für das oberste Grundrecht „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in der anschließenden Sendung „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg. Es war für mich das wahre Highlight des Abends.

Auch in den späteren Diskussionen im privaten Kreis konnte ich mich nicht der Mehrheit derer anschließen, die auf „unschuldig“ erkannten. Ich zweifelte und zweifle immer noch daran, dass es wirklich nötig war, den Piloten in die Dilemma-Situation zu bringen.

Im Laufe der Gerichtsverhandlung des Films hat die Anklägerin ausreichend Zeit, deutlich zu machen, dass eine rechtzeitige Evakuierung des Stadions möglich gewesen wäre und dass es weitere Auswege aus dem drohenden Desaster gab. Sie weist auf ein mögliches Fehlverhalten der Administration und eine Fehlfunktion der Befehlskette hin: Die höherrangigen Verantwortlichen haben sich an die rechtlichen Vorgaben gehalten und den Abschuss nicht freigegeben; dabei wussten sie, dass der Pilot so ausgebildet war, dass er die eigentlich gewünschte Entscheidung zum Abschuss treffen würde.

Der Darstellung dieser für mich wirklich erschreckenden Konstellation wird im Film genügend Zeit gegeben.

Damit komme ich zum für mich entscheidenden Punkt: In anschließenden Diskussionen unter Freunden und Bekannten wurde mir vorgehalten, dass die Dilemma-Situation allein ausschlaggebend sei. Die mir wichtige Betrachtung der Umstände wurde als Nebensache abgetan, obwohl der Film darin durchaus explizit war. Ich halte das für eine Denkfalle: Das emotional aufwühlende moralische Dilemma drängt sich in den Vordergrund des Denkens; die Vernunft muss ihm Platz machen.

Dabei sind wir sehr wohl in der Lage, den Verstand einzuschalten. Das braucht etwas Zeit. Vermutlich hatten die Theaterbesucher mehr davon: Nach dem Theaterstück stimmten im Schnitt dreimal mehr „Schöffen“ für die Verurteilung als unmittelbar nach dem Fernsehfilm.

Das hervorstechende Dilemma zwingt die „Schöffen“ zu einem unmenschlichen Urteil, wie auch immer sie sich entscheiden. Das eigentliche Problem, nämlich dass am Recht und dessen Umsetzung etwas nicht stimmen könnte, wird dadurch aber nicht gelöst und leider an den Rand gedrängt.

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Determinismus kontra Freiheit?

Was muss ich da lesen? Neben den allseits bekannten drei Kränkungen des Menschen sind ihm inzwischen noch neun weitere widerfahren. So schreibt Micheal Schmidt-Salomon in seinem „Manifest des evolutionären Humanismus“ (2005).

Daran, dass wir nicht mehr  im Mittelpunkt der Welt stehen, an diesen Gedanken konnten wir uns ja seit vier Jahrhunderten gewöhnen. Dass wir – die Krone der Schöpfung – unseren Stammbaum in Affennähe finden, haben wir auch verdaut. Das 19. Jahrhundert hielt neben dieser zweiten noch eine dritte Zumutung parat: Wir sind noch nicht einmal Herr im eigenen Gedankengehäuse. Soweit die Aufklärung durch Kopernikus, Darwin und Freud.

Als hätten wir der Selbstkasteiung noch nicht genug und als lechzten wir nach mehr davon, kommen uns die sogenannten evolutionären Humanisten und die neuen Atheisten mit einem Haufen neuer Kränkungen. Die letzte davon soll mein Thema sein. Es ist die neurobiologische Kränkung, zugespitzt auf die Formulierung: Die Willensfreiheit ist eine Illusion (Benjamin Libet, Gerhard Roth, Wolf Singer).

Ja, das haben wir schon gehört: Der Weltenlauf folgt Gesetzen, die wir erkennen können. Der Ablauf ist in groben Zügen vorhersehbar und alternativlos – so würde man es heute ausdrücken.

Insbesondere Karl Marx folgte dieser famosen Idee. Die zukünftig vermeintlich Begünstigten nahmen die Verkündigung mit Dankbarkeit auf. Sie glaubten daran, mit einigen unangenehmen Folgen. An der Beseitigung der Spuren arbeiten wir heute noch.

Wir sind also wieder dort angekommen, wo wir hergekommen sind, bei der Schicksalsergebenheit der Antike. Damals waren es die Götter, die unser Schicksal bestimmten, heute ist es eben die Realität mit ihren Gesetzen und Kausalitäten. Dieser Rückfall mag dem einen oder anderen bequem erscheinen: Er kann über diese Abhängigkeiten, den Lauf der Geschichte und über die Zwangsläufigkeit persönlicher Schicksale belehrend tätig werden. Und er kann sich der Verantwortung für sein Tun enthoben fühlen. Schuld und Sühne verlieren für ihn an Bedeutung.

Eins vergisst er dabei, nämlich dass Freiheit und Verantwortung sich nicht mit Naturgesetzen begründen und schon gar nicht durch diese eliminieren lassen. Es sind menschengemachte Begriffe; sie gehören in das Reich der Moral. Immanuel Kant hat dieses Reich wohlweislich nicht unter der Frage „Was kann ich wissen?“ abgehandelt, sondern unter der Frage: „Was soll ich tun?“. Und er hat über seine Antworten auf die beiden Fragen auch zwei Bücher geschrieben, eins über die Möglichkeiten des Erfahrungswissens („Kritik der reinen Vernunft“) und das andere über die Grundlagen der Moral („Kritik der praktischen Vernunft“).

Entscheidungsfreiheit setzt voraus, dass uns Alternativen unseres zukünftigen Handelns ins Bewusstsein kommen, wie kausal bedingt dieses Erscheinen auch immer sein mag. Und wir können entscheiden, welche der Alternativen wir wählen. Auch diese Entscheidungen sind wohl durch unser Wissen und durch die Situation, also materiell, bedingt. Aber zu diesem Wissen und zu diesen Bedingungen gehört eben auch das Bewusstsein, dass wir für das schließlich gewählte Handeln zur Verantwortung gezogen werden können. Durch diese Rückkopplung entwickelt das Bewusstsein der Freiheit eine regulative Kraft.

Die Anerkenntnis dieser regulativen Kraft der Freiheit ist meines Wissens gar nicht so alt. Die Griechen schoben die Schuld an ihrem Schicksal noch weitgehend den Göttern in die Schuhe. Die Freiheitsidee muss aber schon damals entstanden sein. Ein Dokument, das uns vor Augen führt, wie der Mensch die Verantwortung für sein Tun übernimmt, ist für mich das erste Buch Mose.

Der Schreiber dieses Buches hatte eine tolle Idee: Er erfand die Geschichte vom Baum der Erkenntnis, von dessen Früchten der Mensch verbotenerweise naschte. Gott, um seine Alleinstellung fürchtend, vertrieb den Menschen daraufhin aus dem Paradies. Und dieser hatte von nun an zwar Mühsal und Plage am Hals, aber eben auch die Freiheit gewonnen, insbesondere die Freiheit der Entscheidung. Die Entscheidungsfreiheit wurde ihm von Gott gewährt: „Und Gott der Herr sprach: Siehe der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ (1. Mose 3, 22)

Diese Geschichte führt uns auch vor Augen, dass die Freiheit nicht umsonst zu haben ist. Unter Mühe und Plage muss das Bewusstsein dafür immer neu wach gehalten werden. Und das halte ich gerade heute, wo sich an allen Ecken der Welt totalitäre Tendenzen bemerkbar machen, für außerordentlich wichtig.

Es ist nur eine Geschichte, aber eine, die dem Menschen verdeutlicht, dass er mit seiner Freiheit verantwortungsvoll umzugehen hat. Freiheit ist heute die Basis funktionierender Gesellschaften und sie steht auch in der Liste der Grundrechte ganz weit oben, unter anderem im zweiten Artikel unseres Grundgesetzes. Dass es bei dieser Hochachtung bleibt, dafür lohnt es sich einzusetzen.

Wem diese Bemerkungen, die eines Ingenieurs, der sich ins Philosophische verirrt hat, zu oberflächlich sind, dem kann vielleicht der eine oder andere Fachphilosoph weiter helfen. Kurz und gut schreibt beispielsweise Michael Pauen in  „Eine Frage der Selbstbestimmung“ über Freiheit, Verantwortung, Strafjustiz, Schuld und Sühne (Spektrum der Wissenschaft  3/2011, 68).

In „Wie frei ist der Mensch?“ bekundet Eddy Nahmias: „Die meisten philosophischen Theorien entwickeln eine Idee vom freien Willen, die sich durchaus mit einer naturwissenschaftlichen Auffassung der menschlichen Natur vereinbaren lässt.“ (Spektrum der Wissenschaft 9/2015, 60-63)

Lüder Deecke, einer der Entdecker und Namensgeber des Bereitschaftspotentials, wendet sich  im Spiegel-Interview „Keinen Kobold im Kopf“ (Der Spiegel 34/2016, 104) gegen die „entgleiste Debatte“, zu der die deterministischen Deutungen seiner Versuche geführt haben. In den Versuchen wurde das Bereitschaftspotential einer Handlung bereits 1,2 Sekunden vor der Handlung und auch vor deren Bewusstwerdung messbar. Lüder Deecke sagt: „Wir haben das Unbewusste immer als einen superintelligenten Filter angesehen. Das Unbewusste sortiert vor und legt dem Bewusstsein sozusagen nur unterschriftsreife Entscheidungen vor.“ Bei schwierigen Entscheidungen sollten wir „nicht sofort entscheiden, sondern erst nach reiflicher Überlegung. Bei schwierigen Fragen ist es immer hilfreich, eine Nacht darüber zu schlafen, um am nächsten Morgen zu wissen, was man tun muss.“

Kurz gesagt: Naturgesetzlichkeit und Freiheit vertragen sich sehr gut miteinander. Die Vorstellung eines totalen Determinismus hilft nicht weiter.

Bei meinen Arbeiten zum Thema Denkfallen geht es darum, Teile des Unbewussten ans Licht des Bewusstseins zu zerren und der rationalen Entscheidung zugänglich zu machen. Das heißt: Freiheit gewinnen im Gewebe der Kausalitäten.

Zum Schluss bringe ich eine Buchwerbung in dieser Sache.

Timm Grams: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer, Berlin Heidelberg 2016 (http://www.springer.com/de/book/9783662502792)

KlügerIrren

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„Skeptiker“: Grenzen der Verständigung

Friedemann Schulz von Thun erinnert sich an einen Vorfall gescheiterter Verständigung (2014) . Er liegt offenbar lange zurück und hat mit einer damals in Hamburg aktiven linksradikalen Sekte zu tun. Diese  Leute kamen in gut besuchte Vorlesungen, ergriffen das Wort um „den Hörsaal in ein Absurdistan zu verwandeln und mich verächtlich zu machen“. Diese Gruppe habe – so Schulz von Thun – die Toleranz des Vortragenden für die eigene Intoleranz missbraucht und ihn in eine Zwickmühle gebracht: „Reagiere ich nämlich dialogisch aufgeschlossen, bin ich der Dumme und gehe ihnen auf den Leim. Reagiere ich abweisend und repressiv, bin ich der Böse, dessen wahres Gesicht jetzt entlarvt werden kann.“

Der Diskussionsprozesses von Himmelfahrt 2014 bis 2015 unter  „Skeptikern“ ist ein weiteres Beispiel für die Grenzen der Kommunikation. Hier will ich analysieren, woran dieser Diskurs scheitern musste.

Basis der Analyse: Grundregeln gelingender Kommunikation

Die Grundregeln gelingender Kommunikation entnehme ich den Büchern „Menschliche Kommunikation“ (Watzlawick, 1969) und „Kommunikation als Lebenskunst“ (Pörksen/Schulz von Thun, 2014).

Grundlegend für die Analyse ist die Aufgliederung des Kommunikationsprozesses in eine Beziehungsebene  und eine Sachebene (Inhaltsebene).

Die dialogische Erarbeitung von neuem Wissen gelingt, wenn auf der Beziehungsebene Stimmigkeit herrscht. Grundlegende Voraussetzung ist die menschliche Begegnung auf Augenhöhe. Gegenseitiger Respekt und Empathie sind unerlässlich: Man muss auch dem anderen eine Chance geben zu überzeugen. So funktioniert partnerschaftliche Kommunikation. Absolutheitsansprüche und Bevormundung, autoritäres Verhalten und die Zuweisung eines Oben und eines Unten sind für den dialogischen Prozess tödlich.

Was die Sachebene angeht, sollte man etwas zu sagen haben. In der wissenschaftsorientierten Kommunikation setzt das eine angemessene Vertrautheit mit dem Gegenstand voraus. Der Sprachgebrauch sollte der allgemein übliche sein (Duden, Enzyklopädie, Fachwortlexika). Nötige Abweichungen sind zu erklären. Die Darstellung sollte einfach, gut gegliedert und in sich schlüssig sein.

Verkorkste Beziehung

Wie man bereits auf der Beziehungsebene daneben liegen kann, zeigt der Vortrag eines „Skeptikers“ am 12.10.2016 in Würzburg. Angekündigt ist Stephan Angene mit dem Thema „Auf welche Art sollte man Menschen überzeugen?“

Bereits das Thema signalisiert: Hier spricht ein Wahrheitsbesitzer zu Leuten, die er für arm an Wahrheit hält. Wenn man im Blog des Vortragenden stöbert, stößt man bereits in der Selbstdarstellung auf diesen irritierenden Satz: „Ganz ehrlich, Menschen haben ein Recht darauf, dumm zu sein, und ich wäre der letzte, der ihnen dieses Recht absprechen würde.“  Der Titel des Blogs lautet „Nachdenken … bitte“. Der Blogger meint wohl, dass seine Adressaten Leute sind, die sich ihrer grauen Zellen gewohnheitsmäßig nicht bedienen.

Schon diese verkorkste Voreinstellung – Wissensbesitzer hier, Dumme da – verhindert, dass die partnerschaftliche Kommunikation gelingen kann. Sie lässt keine Begegnung auf Augenhöhe erwarten. Unser Blogger ist mit dieser Einstellung nicht allein. Im Internet finde ich auf den „Skeptiker“-Seiten Vergleichbares, nämlich Blogs mit den Namen „Less Wrong“, „Die Wahrheit“, „You are not so smart“ und „The Quackometer“.

Hier werden Autoritätsgefälle konstruiert. Offenbar geht es um Missionierung der Wahrheitsbedürftigen durch die Wahrheitsbesitzer. Diese herablassende Haltung vernichtet die Chancen für ein dialogisches Miteinander.

Wie geben sich solche Missionare zu erkennen? Unter anderem durch Beteuerungen, nicht missionieren zu wollen und mit Floskeln wie dieser: „Ehrlich, ich würde sofort meine Ansicht ändern, wenn ich ernstzunehmende Belege präsentiert bekommen würde.“

Wirrwarr auf Sachebene

Auf der Sachebene erreichen die Wortführer der „Skeptiker“, gemessen an den formalen Bildungsabschlüssen in dieser Gemeinschaft, nur ein unterdurchschnittliches Niveau. Der Sprachgebrauch weicht vom Üblichen ab. Vorherrschend ist Vermengung von Begriffen und mangelnde Differenzierung. Ich habe ein paar Beispiele  aufgelistet:

  1. Realismus = Skeptizismus
  2. Wahrheit = Erkenntnis (Wissen)
  3. Approximative Wahrheit = relative Wahrheitsnähe
  4. Religionskritik = Kirchenkritik
  5. Atheismus = Agnostizismus
  6. Wahrscheinlichkeit = Plausibilität

Nicht alle dieser Vermengungen sind in der „Skeptiker“-Szene durchgängig in Gebrauch. Konstant ist die Verwechslung von Realismus mit Skeptizismus, von Wahrheit mit Erkenntnis. Mit der Differenzierung approximativ-relativ will sich der Normal-„Skeptiker“ offenbar nicht auseinandersetzen. Dasselbe gilt wohl für die Differenzierungen der Religionskritik. Aber manche Vermengungen dienen ausschließlich dem Augenblicksdogmatismus, sind pure Rabulistik. Besonders auffällig ist das im Zusammenhang mit dem Atheismus, der bei passender Gelegenheit zum Agnostizismus verharmlost wird.

Auch wenn ich oben Gleichheitszeichen verwende: Um exakte Gleichheit geht es nicht, nur um die Vermengung von Begriffen, um die Verwischung der Bedeutungsgrenzen. Das ist ein Zug unserer Zeit: In den Internetlexika und in den Internetforen darf jeder seine Auffassung zum Besten geben. Die Interpretationen stehen nebeneinander und jeder kann sich das herauspicken, was ihm gerade passt. Die ordnende Kraft der klassischen Lexika schwindet. Begriffsbestimmungen werden zunehmend zur Privatsache. Damit wird das Feld für die Missionare und Augenblicksdogmatiker bereitet.

Für jede der Vermengungen bringe ich Zitate und meinen Kommentar dazu.

  1. Aus der Selbstdarstellung eines „Skeptikers“: „In aller Kürze gesagt bin ich ein Realist, kritischer Rationalist, Skeptiker und Naturalist.“  Kommentar: Der Realist behauptet, dass es die bewusstseinsunabhängige Realität gibt und dass wir die Wahrheit darüber wenigstens partiell oder approximativ erkennen können. Der Skeptiker demgegenüber behauptet gar nichts. Er stellt in Frage, sät Zweifel und überlässt es seinem Gegenüber, sich seine Meinung zu bilden. Ein Realist kann nicht zugleich Skeptiker sein.
  2. Derselbe „Skeptiker“ traut sich zu, über Wahrheit und Realität Profundes von sich zu geben: „Die mächtigste, stärkste und, ich behaupte, einzig funktionierende Möglichkeit und Methode, wie man die Übereinstimmung mit der Realität (und damit Wahrheit) entscheiden kann, sind Vernunft und Verstand, also Rationalität und der sich daraus entwickelte einzigartige Werkzeugkasten: Die Wissenschaften.“ Kommentar: Die Wissenschaftler, die ich kenne, interessieren sich nicht für die Wahrheit. Ihnen geht es um Erkenntnis, um Wissen. Auch dem Skeptiker im eigentlichen Sinn geht es nicht um die Wahrheit. Ganz in Gegenteil: Durch die skeptischen Szenarien (Traumargument, Descartes‘ böser Dämon, Brain in a Vat) wird die Realitätsannahme ja gerade infrage gestellt. Anders als die Skeptiker neigen Realisten dazu, Wissen (intersubjektiv nachprüfbare Erkenntnisse) für die zutreffende Beschreibung einer bewusstseinsunabhängigen Realität – für die Wahrheit also – zu halten. Das ist eine Glaubensangelegenheit. Dagegen ist nichts zu sagen. Unserer Gesellschaft ist auf Pluralismus, auf die Koexistenz verschiedener Weltanschauungen angelegt. Der Realist findet darin seinen sicheren Platz. Die Selbstbezeichnung „Skeptiker“ steht ihm jedoch nicht zu (Grams, 2016, Kapitel „Um Wahrheit geht es nicht“).
  3. Den etwas diffizilen Punkt approximativ kontra relativ behandle ich im Hoppla!-Artikel „Skeptiker“ über Wissenschaft und Wahrheit.
  4.  Der „Skeptiker“ Martin Mahner schreibt im skeptiker 4/2009: „Schließlich können sogar Religionen [unter die Parawissenschaften] fallen, insofern sie Erkenntnisansprüche erheben. In der Tat kommt letztlich keine Religion – wenn sie einen Wahrheitsanspruch geltende machen will – ohne Tatsachenbehauptungen über den Menschen und sein Verhältnis zu den jeweiligen angenommenen Kräften und Wesenheiten aus.“ Kommentar: Dogmen (Tatsachenbehauptungen) fallen in das Gebiet der Kirche. Und die katholische Kirche beispielsweise verzichtet heute bekanntlich auf Tatsachenbehauptungen, die der Wissenschaft widersprechen. In seiner Botschaft Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien  erkennt Papst Johannes Paul II. die Rolle der modernen Wissenschaft als eigenständig an (22.10.1996). Kirchenkritik gibt es schon seit Jahrhunderten auf ziemlich hohem Niveau. In jüngerer Zeit haben sich Karlheinz Deschner und Joachim Kahl auf diesem Feld hervorgetan. Auf eine grobschlächtige, an Richard Dawkins orientierte Religionskritik scheint man in diesen Kreisen nicht gerade gewartet zu haben.
  5. Glaubensbekenntnis  eines „Skeptikers“: „Ich denke auch nicht, dass es Gott gibt. Atheist bin ich daher praktisch automatisch als Folge meines Naturalismus.“ Im direkten Gedankenaustausch hat der „Skeptiker“ seine Ansicht präzisiert: „Atheismus ist nur die Position zu einer einzigen Frage, nämlich ‚Denkst du, dass Gott existiert?‘ Jede andere Antwort als Ja, macht einen zum Atheisten.“ Demzufolge stellt unser „Skeptiker“ die Atheisten den Agnostikern gleich. Anders sieht das Richard Dawkins, ein Vordenker der „Skeptiker“-Szene in Sachen Religionskritik. Dieser Atheist schüttet in seinem Buch „The God Delusion“ alles was er an Häme finden kann über die Agnostiker aus. Ich bevorzuge die klassischen und eventuell behutsam weiterentwickelten Begriffe: Der Agnostiker hält das Übersinnliche und Göttliche für unerkennbar oder gar für zu unbestimmt, als dass sich sinnvoll darüber reden ließe. Der Atheist leugnet die Existenz eines persönlichen Gottes. Insofern ist Richard Dawkins nahe an der klassischen Definition, obwohl er, so wie seinerzeit Blaise Pascal, unpassenderweise die Wahrscheinlichkeitsrechnung für seine Differenzierung in Anspruch nimmt.
  6. Aus Scientabilität – Kritik einer Gegenrede: „Erstens gibt es unendlich (wortwörtlich!) viele Behauptungen, die falsch sind, man fährt also schon aus Wahrscheinlichkeitserwägungen besser, wenn man eine Behauptung für falsch hält, weil die Wahrscheinlichkeit viel höher ist, dass sie [eher] falsch als wahr ist (es gibt mehr falsche, als wahre Behauptungen!).“ Kommentar: Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist hier fehl am Platz und das implizit vorausgesetzte Indifferenzprinzip ganz offensichtlich nicht anwendbar (Grams, 2016). Die Aussage ist Nonsens.

Auf Sachebene wird also ebenfalls nichts dem Dialog Förderliches geboten. Die Regeln gelingender Kommunikation werden sowohl auf Beziehungs- wie auf Sachebene verletzt.

Gescheiterte Kommunikation: die Echokammer

Die Kommunikation muss scheitern, weil die Grundanforderungen an einen partnerschaftlichen Meinungsaustausch nicht erfüllt werden: ausreichendes und sorgfältig in Worte gefasstes Wissen einerseits und dialogisches Prinzip andererseits. Was also ist der Zweck der „Skeptiker“-Aktionen?

Es geht meines Erachtens vor allem um ein positives Selbstbild, um die fortwährende Bestätigung der eigenen Überlegenheit. Die Herablassung gilt Leuten, die argumentativ noch weniger zu bieten haben als sie selbst: Astrologiegläubige, Wünschelrutengänger, Wahrsager,  Esoteriker, Anhänger der Homöopathie. In den Blogs der „Skeptiker“ wird in vielen Fällen Humor mit Häme und Verächtlichmachung verwechselt.

Das funktioniert natürlich nur, wenn sich die Akteure im Besitz der Wahrheit wähnen können. Jede Verunsicherung ist abzuwehren, sonst geht das Geschäftsmodell baden.

Unliebsame interne Kritiker werden an den Rand gedrängt. Gewöhnlich verlassen diese die Gesellschaft freiwillig. Ab und zu begegne ich solchen Versprengten im Internet. Andere werden auf die Liste der unerwünschten Kommentatoren gesetzt; so ist es mir beim offiziellen Internetforum der „Skeptiker“, dem GWUP-Blog, ergangen.

Übrig bleiben die, die sich in ihrer Meinung gegenseitig stützen. Abweichler, die nicht ernsthaft die Grundlagen der Gesellschaft infrage stellen, sind durchaus geduldet. Das verschafft den Eindruck der Toleranz und des Pluralismus, den man aus propagandistischen Gründen gern pflegt. Eine tiefere Wirkung dürfen diese Kritiker allerdings nicht entfalten.

Es entsteht eine Echokammer, in der jeder sein Überlegenheitsgefühl ausleben kann und nach Lust und Laune die vermeintlich dümmeren Leuten außerhalb der Echokammer verhöhnen darf. Von denen hört aber keiner zu. Häme und Herablassung werden nur von Gleichgesinnten innerhalb der Meinungsblase goutiert und sorgen dort für ausgelassene Fröhlichkeit.

Mir geht es nicht darum, „Skeptiker“-Aktionen wie den Würzburger „Psi-Test“ oder die Verleihung des „Goldenen Bretts vor dem Kopf“ in Wien zu verdammen, obwohl auch diese ein gewisses „Geschmäckle“ haben. Wenn es um die Erregung von Aufmerksamkeit geht, können derartige PR-Veranstaltungen ihren Zweck erfüllen. Aber dabei sollte es nicht bleiben.

Mich bekümmert die gesellschaftliche Geringschätzung der Mathematik wesentlich mehr als die Tatsache, dass einige meiner Freunde der Homöopathie anhängen oder den Verheißungen des Neurolinguistischen Programmierens Glauben schenken.

Wichtiger noch als die PR-Aktionen wäre ein partnerschaftlicher Dialgog mit den Leistungsträgern unseres Bildungswesens. Wünschenswert sind Veranstaltungen mit dem Ziel, der Jugend eine bessere Orientierung zu ermöglichen darüber, was Wissenschaft ist und was Scharlatanerie.

Eine Überwindung der Grenzen der Verständigung ist grundsätzlich möglich.

Literaturhinweise

Paul Watzlawick, Janet  H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Hans Huber, Bern 1969

Bernhard Pörksen, Friedemann Schulz von Thun: Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens. Carl-Auer, Heidelberg 2014

Timm Grams: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer, Berlin Heidelberg 2016 (http://www.springer.com/de/book/9783662502792)

KlügerIrren

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Das Geburtstagsparadoxon

In einem Mathe-Blog wird gefragt: Wie groß muss eine wild zusammengewürfelte Personengruppe sein, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von wenigstens 50 Prozent darunter zwei Personen sind, die am selben Tag Geburtstag haben? Die Antwort: Die Gruppe muss aus 23 Personen bestehen.

Dann wird diese Herleitung angeboten: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einer Gruppe (wenigstens) eine Person befindet, die an einem bestimmten Tag Geburtstag feiert, steigt mit der Gruppengröße; bei 253 Personen beträgt diese Wahrscheinlichkeit 50%, vorausgesetzt, die Geburtstage der Leute verteilen sich gleichmäßig über das Jahr von 365 Tagen.

Besteht eine Gruppe aus 23 Personen, dann ergibt das 23·22/2 = 253 mögliche Paarungen. Es gibt also ebenfalls 253 paarweise Vergleiche der Geburtstage von je zwei Partygästen. Folglich muss die Trefferwahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeit wenigstens einer Übereinstimmung) ebenfalls 50% betragen.

Den errechneten Wert finde ich plausibel. Mir ist nur rätselhaft, was an der Sache paradox sein soll.

Aber Hoppla! Mein Bauchgefühl sagt mir: Mit der Berechnung stimmt etwas nicht. Nur was?

An der ersten Aussage, nämlich dass es 253 Personen braucht, um darunter mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine zu finden, die an einem vorbestimmten Tag Geburtstag hat, ist gewiss nichts auszusetzen, denn: Eine beliebig herausgegriffene Person hat mit der Wahrscheinlichkeit 364/365 nicht diesen Geburtstag. Dass alle 253 Personen nicht diesen Geburtstag haben, hat die Wahrscheinlichkeit (364/365)253 und diese liegt knapp unter 50%. Die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer ist das Komplement zu eins dieses Wertes; sie beträgt 50,05%.

Auch die Aussage, dass es in einer Gruppe von 23 Personen 253 verschiedene Paarungen gibt, ist unstrittig. Aber wie steht es mit der Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens eines dieser Paare einen gemeinsamen Geburtstag hat? Die Potenzformel setzt voraus, dass die Trefferwahrscheinlichkeiten für alle diese Paare voneinander statistisch unabhängig sind. Und daran hapert es. Die Kandidaten für jede der Paarungen werden ja alle aus derselben Grundgesamtheit von nur 23 Leuten ausgewählt; nur deren Geburtstage stehen zur Debatte. (Bei 366 Personen wäre mit 100-prozentiger Sicherheit ein Paar mit gemeinsamem Geburtstag vorhanden. Die Potenzformel – jetzt mit wahnsinnig großem Exponenten – liefert aber einen Wert unter 100%, zwar sehr geringfügig darunter, aber immerhin.)

Ich habe ein kleines Experiment gemacht und die Trefferwahrscheinlichkeit bei einer Gruppe von 23 Personen mittels stochastischer Simulation ermittelt. Es ergab sich eine Trefferwahrscheinlichkeit  von 50,727% mit einer zweifachen Standardabweichung von ±0,01%. Die Trefferwahrscheinlichkeit liegt also deutlich höher als zunächst berechnet.

Rechnen wir genauer. Vor allem: Wählen wir ein stimmiges Modell! Wir berechnen zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Gruppe von 23 Leuten keinen gemeinsamen Geburtstag gibt.

Wir entnehmen der Gruppe die erste Person. Sie kann mit den bereits entnommenen – da ist keine – keinen gemeinsamen Geburtstag haben. Wir entnehmen der Gruppe die zweite Person. Die hat mit den entnommenen (vorerst nur eine) mit der Wahrscheinlichkeit 364/365 keinen gemeinsamen Geburtstag. Für die nächste sind noch 363 von 365 Tagen übrig. Sie hat mit den bereits entnommenen mit der Wahrscheinlichkeit von 363/365 keinen gemeinsamen Geburtstag. Und so weiter.

Zusammengefasst: Unter der Bedingung dass unter den m bereits entnommenen Personen keine gemeinsamen Geburtstage zu finden sind, beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch die Person m+1 keinen Treffer bringt, (365-m)/365. Wir errechnen das Produkt all dieser Wahrscheinlichkeiten von m=1 bis m=22.

Dieser Wert ist noch von eins abzuziehen und schon haben wir das Resultat: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass in einer Gruppe von 23 Personen zwei mit gleichem Geburtstag zu finden sind, beträgt 50,7297%. Das passt zum Ergebnis der stochastischen Simulation.

(Ich werde jeden Kommentar schnellstmöglich bearbeiten. Wie in anderen Fällen auch, werde ich notfalls vor der Freischaltung mit den Einsendern per E-Mail diskutieren. Das soll den Diskussionsfaden vor einer Anhäufung von Wirrtümern bewahren und die Redundanz reduzieren. Ich will vermeiden, dass die Unterhaltungsmathematik hier ebenso ungenießbar wird, wie in manch anderem Internetforum.)

KlügerIrrenWerbung in eigener Sache

 

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Denkfallen vermeiden mit System (Buch)

Seit über 30 Jahren gehört das Thema Denkfallen zu meinem Interessengebiet. Dem Leser dieses Weblogbuchs ist das eine oder andere Resultat meiner Anstrengungen schon begegnet.

Anfangs lag mein Schwerpunkt auf der Entlarvung von Irrtümern auf dem Gebiet  meiner Berufstätigkeit: Ingenieurwissenschaft und Informatik. Daraus entstand im Jahr 1990 das Springer-Buch „Denkfallen und Programmierfehler“. Das war der Anfang der Taxonomie System der Denkfallen.

Ich habe gemerkt, dass sich das System und die damit einhergehende negative Methode auf Alltagssituationen gewinnbringend anwenden lassen.

In einem früheren Artikel, habe ich darüber berichtet, dass ein Verlag an dem Thema interessiert war und dass meine Ernüchterung über das Vorhaben dazu führte, dass ich das Buch nicht mehr machen wollte. Jetzt habe ich es doch gemacht – im renommierten Springer-Verlag. Er hat meine Intention aufs Beste umgesetzt:

KlügerIrrenhttp://www.springer.com/de/book/9783662502792
http://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-662-50280-8

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Der Scheuklappen-Effekt

Wer Scheuklappen trägt, den erschreckt nichts, was abseits seines Weges liegt. Für Pferde ist das im Allgemeinen eine gute Sache. Beim Menschen nicht immer.

Dass auch er Scheuklappen trägt, hat einen einfachen Grund: Er muss mit begrenzten mentalen Ressourcen zurechtkommen: Sein Gehirn hat nun einmal eine begrenzte Kapazität für die Speicherung und die Verarbeitung von Informationen. Der von den Sinnesorganen erfasste Informationsfluss ist um viele Millionen Male größer als das, was er wahrnehmen kann. Er muss den Scheinwerfer seiner Aufmerksamkeit auf das momentan jeweils Wichtigste ausrichten – eine im Grunde gute Sache.

Zuweilen empfiehlt es sich, die Scheuklappen abzusetzen. Nur wann? Die folgenden Beispiele geben Hinweise.

Das Neun-Punkte-Problem

Ich beginne mit einer Denksportaufgabe. Sie werden das Problem kennen: Gegeben sind neun im Quadrate regelmäßig angeordnete Punkte. Je drei nebeneinander, je drei untereinander. Diese Punkte sind in einem Zug durch vier gerade Linien zu verbinden.

Erstaunlicherweise vereinfacht sich die Lösungssuche, wenn Sie zwei weitere Punkte hinzunehmen: Einen Punkt zusätzlich in der ersten Zeile und einen in der ersten Spalte. Das Punktemuster sieht nun so aus:

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Eine Lösung ist leicht zu finden: Zuerst verbindet man die Punkte der ersten Reihe und zieht den Stift von links nach rechts, dann folgt die Diagonale von rechts oben nach links unten. Danach geht es senkrecht nach oben zurück zur ersten Zeile. Schließlich zieht man von links oben zum Punkt rechts unten. Fertig. Mit dem Elf-Punkte-Problem ist natürlich auch das Neun-Punkte-Problem gelöst.

Warum ist es bei den neun Punkten so schwer, die Lösung zu finden, und warum ist es bei den elf Punkten so leicht? Einfach weil der Denksportler bei der ursprünglichen Aufgabe die Scheuklappen absetzen muss. Er muss seinen Blick weiten und erkennen, dass er zur Lösungsfindung den vorgegebenen Rahmen, der durch die neun Punkte abgesteckt ist, verlassen darf.

Verzerrte Stichproben

Mit der Statistik wird viel Schindluder betrieben. Spektakuläres und stimmige Storys engen das Blickfeld ein. Ich berichtete darüber im Artikel Proben mit Stich.

Besonders dreist geschieht das bei den sogenannten TED-Umfragen, die von den Tageszeitungen, dem Rundfunk oder auch im Internet initiiert werden. Niemand weiß etwas über den Teilnehmerkreis einer solchen Umfrage, nur die Antworten sind bekannt. Das Ergebnis solcher Umfragen ist genauso interessant und informativ wie das wöchentliche Horoskop.

In einem Fall wurde um Antwort gebeten auf die Frage „Glauben Sie an (den christlichen) Gott?“ Für die Antwort konnte aus fünf Abstufungen gewählt werden. Fast alle Teilnehmer wählten eine der beiden Extremantworten: Ja oder Nein. Die Agnostiker waren zusammen mit den Wachsweichen der einen oder anderen Neigung klar in der Minderheit. Man sieht: Um sich zur Teilnahme aufraffen zu können, braucht man schon etwas Enthusiasmus. Der ist sowohl bei den Gläubigen als auch bei den Atheisten offenbar vorhanden. Wahrlich keine weltbewegende Erkenntnis.

Ebenso unsinnig ist es, die Besucher eines Kneipenviertels danach zu fragen, wie oft sie hierher kommen und dann deren Antworten zum Maßstab der Beliebtheit des Viertels zu machen. Da man nur die fragen kann, die da sind, müssen die Vielbesucher in der Stichprobe zwangsläufig überrepräsentiert sein.

Risikofaktoren

Im Artikel über Wundersame Geldvermehrung erzähle ich von einem Politiker, der uns weismachen will, dass der Ankauf von Staatsanleihen ursächlich für den Zusammenbruch einer Währung ist. Nach derselben „Logik“ könnte man aus der Tatsache, dass den meisten Auto-Karambolagen eine Vollbremsung vorausgeht, folgern, dass die Vollbremsung ein Risikofaktor ist und deshalb besser unterbleiben sollte.

In dem Artikel können Sie auch sehen, wie professionelle Unfallforscher zum Opfer des Scheuklappeneffekts werden. Das geschieht beispielsweise dann, wenn bei der Analyse von Unfallursachen nur die tatsächlichen Unfälle in Betracht gezogen werden. Charles Perrow stellte anhand einer Statistik fest, dass bei einer Reihe von Schiffszusammenstößen in den meisten Fällen ein Ausweichmanöver vorausgegangen ist. Er macht dann die Ausweichmanöver für die Kollisionen verantwortlich. Das ist zu eng gesehen.

In Weitwinkelperspektive geraten auch die Beinaheunfälle ins Blickfeld, die durch Ausweichmanöver verhindert worden sind. Das Urteil, dass Ausweichmanöver ein Risikofaktor sind, relativiert sich dann.

Patientenzufriedenheit

Eine Studie zur Patientenzufriedenheit ermittelte für zufällig ausgewählte Arztpraxen das Verhältnis aus erzielter Zufriedenheit in Relation zu den Anforderungen der Patienten. Die Einschätzungen der Ärzte und Medizinischen Fachangestellten wurde mit dem Ergebnis einer Patientenbefragung abgeglichen.

Die Patientenbefragung ergab einen Durchschnittswert von 48,6%. „Die in den Praxen arbeitenden Ärzte gingen davon aus, eine Betreuungsqualität von 81,4% zu erzielen, also nahezu das Optimum. Das Personal zeigte sich hingegen mit einer mittleren Einschätzung von 53,9% deutlich kritischer.“

Der Bericht über die Studie trägt die Überschrift „Der Scheuklappen-Effekt: Gravierende Diskrepanzen zwischen Eigen- und Fremdbild in Arztpraxen“.

Ballerspiele für Terroristen und Amokläufer

Dem Bericht „Unter Beschuss“ der Zeitschrift Stern vom 4.8.2016, S. 112-115, entnehme ich: Der 18-Jährige, der vor Kurzem in München neun Menschen erschoss, hatte Shooter-Spiele auf seinem Computer, ebenso die Schützen von Littleton (1999), der Menschenjäger auf der Insel Utøya, die Jugendlichen, die 2002 in Erfurt und 2009 in Winnenden insgesamt 27 Menschen töteten.

Der Schluss liegt nahe, dass Ballerspiele auf dem Computer Böses mit sich bringen, dass sie ursächlich für die Taten sind.

Weiten wir den Blick. Virtuelle Ballerspiele werden immer beliebter. Heute werden sie von etwa 17 Millionen Deutschen gespielt. So steht es in dem Stern-Artikel. Die Zahl der Tötungsdelikte sank in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten auf weniger als die Hälfte. Ein möglicher negativer Einfluss von Ballerspielen wird offensichtlich durch mildernde Effekte überdeckt. Vielleicht gibt es diesen negativen Einfluss gar nicht.

Will man etwas über die Kausalbeziehung zweier Erscheinungen erfahren, sollte man immer in Betracht ziehen, dass ein Drittes die gemeinsame Ursache beider Erscheinungen sein kann. Das ist eine einfache Technik der Blickfelderweiterung.

Der Stern hat Experten zu den Einflussfaktoren, die Gewaltbereitschaft betreffend, befragt und ein paar Antworten erhalten: Traumata, Flucht, Vergewaltigung, geraubte Kindheit, genetische Veranlagung. „Die Biografien und Befunde jener Täter, deren Gewaltakte uns einfach nicht in den Kopf wollen, legen tiefe seelische Wunden und womöglich auch psychische Deformationen als hauptsächliche Ursachen nahe. […] Es leuchtet ein, dass jemand, der das Leiden anderer als Befriedigung erlebt, auch Spaß am virtuellen Töten haben kann. Der Umkehrschluss hingegen gilt nicht – wer ‚Counter-Strike‘ mag, ist nicht schon Sadist.“

Prognosen: Laien schlagen Experten

Der Spiegel (33/2016, S. 124-125) berichtet unter der Überschrift „Anleitung zum Wahrsagen“, dass gerade die Gurus eines Fachgebiets mit ihren Prognosen daneben liegen. Mehrere Gründe werden gesehen.

Der Experte hat seine Theorie, mit der er steht und fällt. Er ändert sie möglichst nicht, da er Gesichtsverlust befürchtet. Er trifft auf Menschen, die jede Erklärung begierig aufgreifen, die ihnen halbwegs stimmig erscheint. Eine gute Geschichte oder eine halbwegs plausible Analogie stellen sie zufrieden. Außerdem haben die Menschen ein ziemlich schlechtes Gedächtnis, was die Prognosen der Vergangenheit angeht. Die Treffergenauigkeit eines Experten wird daher kaum infrage gestellt. Alles zusammen fördert den Rechthaber-Mechanismus. „Je bekannter ein Experte ist, desto schlechter sind seine Prognosen.“ So zitiert der Spiegel den Psychologen und Politikwissenschaftler der University of Pennsylvania Philip Tetlock.

Sie ahnen es schon: Es liegt an der Blickverengung. Vielleicht aber haben Sie auch noch andere Erklärungen.

Tetlock stellte den Expertenaussagen die Aussagen von Laien gegenüber. Unter diesen Laien gab es Superprognostiker, die besser abschnitten als beispielsweise die Analysten der Geheimdienste. Was zeichnet sie aus? „Sie lesen viele Bücher, sie informieren sich vorrangig aus sogenannten Qualitätsmedien, sie können gut mit Zahlen umgehen. Und sie zählen zu den intelligentesten 20 Prozent der Bevölkerung. Aber: Sie sind, gemessen an ihrem Intelligenzquotienten, keine Genies.“ Philip Tetlock charakterisiert die erfolgreichen Prognostiker als offen, vorsichtig, selbstkritisch und bescheiden. Sie nutzten die Meinungsvielfalt der Masse und sie kombinierten die verschiedenen Perspektiven. Und das geschehe in einem einzigen Kopf.

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Fünftes Intermezzo: Der Agnostiker

Till ist einer, den ich sehr gut kenne – besser als jeden anderen. Heute schreibe ich über ihn, vor allem darüber, wie er die Welt sieht.

Diesseits

Die Welt besteht für Till aus den Vorstellungen in seinem Kopf. Die innere Welt in seinem Kopf ist das Resultat eigenen Erlebens, das Wissen über die Erscheinungen und Phantastisches aus allen möglichen Kunstgattungen. Diese innere Welt ist ein Vorstellungsbild.

Ob es eine äußere Welt gibt, die vom Bewusstsein unabhängig ist, dafür interessiert sich Till nicht sonderlich. Er kann nichts damit anfangen, wenn Realisten behaupten, dass sich die Außenwelt, die Realität, sogar erkennen ließe. Auch lässt ihn die Frage nach den Ursachen, nach dem Schöpfer der hypothetischen Realität kalt: Das alles sind Fragen, die sich seinem Erleben und seiner Erkenntnis entziehen und die für ihn deshalb belanglos sind.

Gottgläubige und Realisten kann er nicht so recht voneinander unterscheiden: Er meint, der Realist schließe nur die Augen vor der Frage, wer die von ihm so geschätzte Außenwelt eigentlich geschaffen hat. Till ist Agnostiker durch und durch und Skeptiker im klassischen Sinn (Sextus Empiricus, 2. Jahrhundert).

Till denkt über Welt in seinem Kopf nach. Er will wissen, wie sein Weltbild zustande kommt und ob es ihn verlässlich leitet oder ob es ihn manchmal auch narrt. Dazu muss er sich die Welt in seinem  Kopf vorstellen. Wer so etwas tut, begibt sich in höchste Gefahr: Das Nachdenken über diese Welt gehört selbst zur inneren Welt. Der Denker droht, in einen Teufelskreis zu geraten. Er muss darauf achten dass ihm vor lauter Reflexion seine Welt nicht abhanden kommt.

Till kennt einen Weg aus der Gefahr: „Meine Gedanken über die Welt in meinem Kopf betreffen ein abgeleitetes Vorstellungsbild, eines, das mein Vorstellungsbild von der Welt zum Gegenstand hat. Mit meinem Vorstellungsbild von der Welt, diesem von einem Vorstellungsbild abgeleiteten Vorstellungsbild, kann ich machen, was ich will. Ich entferne daraus das Denken über Vorstellungsbilder; ich denke einfach nicht weiter darüber nach.“ Das klingt nach Trotz. Aber es hilft.

Das Nachdenken über die Welt im Kopf ist offenbar eine halsbrecherische Sache. Für seine Gewaltlösung holt sich Till Unterstützung bei einem Großdenker von Format: Immanuel Kant wies seinerzeit darauf hin, dass „das denkende Subjekt ihm selbst in der inneren Anschauung bloß Erscheinung“ ist (Kritik der praktischen Vernunft, 1788 , Akademie-Ausgabe AA6). Es ist ja gut, dass Till das versteht. Ich will versuchen, mit einer Grafik Klarheit in die Sache zu bringen (Bild: Diesseits 1).

 

Diesseits 1

Wichtig für ein Ende der Reflexionskette ist, dass das eingebettete Vorstellungsbild der inneren Welt keine weitere rückbezügliche Einbettung enthält! Es gibt keinen unendliche Regress und auch keinen teuflischen Zirkelbezug.

Aber etwas Wichtiges fehlt noch. Es betrifft Tills Hobby: Er sammelt Denkfallen und versucht diese in ein Klassifikationsschema zu bringen. Indem er das tut, bewegt sich sein Denken auf einer weiteren Ebene: Till denkt über das Nachdenken nach. Eingebettet in die innere Welt ist nun auch die Reflexion über die Reflexion des Vorstellungsbilds (Bild Diesseits 2).

Diesseits 2

Diesseits 2

Es ist wie im Film „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder: Fred Stiller – der Held der Geschichte – ist Herr über eine Simulation der Welt. Ein Wesen dieser simulierten Welt erkennt seine Lage und will heraus aus der Simulation und aufsteigen in Stillers Realität. Stiller erkennt schließlich, dass er selbst Teil einer Simulation ist. Als er aus dieser simulierten Welt heraufsteigt, bleibt unklar, ob er jetzt in der wirklichen Wirklichkeit gelandet ist oder ob es sich wieder nur um eine virtuelle Realität handelt.

Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Unserem Weltbild aber schon. Prinzipiell hat Till recht: Irgendwann ist Schluss mit der Reflexion der Reflexionen. Das Nachdenken über die innere Welt bleibt notgedrungen bruchstückhaft und endlich – allein aus Gründen der Kapazitätsbeschränkung. Es gibt keinen Zirkel und auch keinen unendlichen Regress. Es ist schon komisch: Die Endlichkeit des Denkens ermöglicht, dass wir uns einen Begriff von der „Welt“ machen.

Wissen

Es gibt viele Menschen und deshalb auch viele Welten. Dennoch bleiben Sprachverwirrung und grundlegendes gegenseitiges Unverständnis aus. Denn glücklicherweise können wir uns über wesentliche Teile unserer Vorstellungsbilder einigen, meistens jedenfalls. Die intersubjektiv nachprüfbaren Bestandteile nennen wir Wissen. Glaubensakte sind für den Wissenserwerb nicht erforderlich. Die Regeln des kritischen Rationalismus genügen (Karl Raimund Popper, 1902-1994).

Dass unsere innere Welt von Recht und Ordnung zusammengehalten wird und dass wir uns über das Wissen darüber verständigen können, ist ein großes Wunder. Der Realist versucht dieses Wunder zu eliminieren, indem er sich eine bewusstseinsunabhängige Realität vorstellt, die kausal für alle Erscheinungen ist (Hilary Putnam, On Not Writing Off Scientific Realism, 2010). Till ist von der Idee nicht angetan und sagt: „Anstelle der wunderbaren Ordnung der Erscheinungen tritt dann doch bloß die Realität, und die ist nicht weniger wunderbar. Der Gedanke einer bewusstseinsunabhängigen Realität schafft das Wunder nicht aus der Welt.“

Aufgabe der Wissenschaft ist, Hypothesen über die Erscheinungen zu prüfen und in Kommunikationsprozessen die besten Hypothesen herauszufiltern. Das Wissen über die Welt ist letztlich die Gesamtheit der gut geprüften und bewährten Hypothesen; es beinhaltet die allgemein akzeptierten und bewährten Erkenntnisse über das kommunizierbare Erleben aller; Dieses Wissen wird zumindest auszugsweise zum Bestandteil von Tills innerer Welt. Wissen und Weltbild befinden sich im dauernden Wandel.

Tun

Aber nicht nur Objektives, also intersubjektiv Nachprüfbares, gehört zum diesseitigen Weltbild. Die innere Welt ordnet sich nicht nur nach der ersten der berühmten drei Kantschen Fragen, nämlich: „Was kann ich wissen?“, sondern wenigstens noch nach der zweiten: „Was soll ich tun?“

Das ist das Feld der praktischen Vernunft. Dort herrschen Wertvorstellungen und die Moral, und dafür gibt es keine empirische Basis. Der naturgesetzliche Zwang entfällt. Hier herrscht die Freiheit, die Freiheit in der Wahl der Weltanschauung und der sie regierenden Maximen, Grundsätze und Dogmen.

Till gesteht jedermann die Freiheit zu, sich seine eigene Weltanschauung zuzulegen. Er verträgt sich mit Atheisten, weltlichen Humanisten, Juden, Katholiken, Moslems – also Gläubigen jedweder Couleur. Er hat Verständnis für alle, die einen festen Halt für ihr Weltbild suchen und die diesen in irgendeiner Weise gefunden haben: in Gott, in der Materie, in der Natur.

Till selbst ist toleranter Agnostiker. Er meint, dass sein Weltbild denkbar sparsam und friedfertig sei. Bekehrungseifer ist ihm fremd. Die Vielfalt der Überzeugungen, das Bunte in der Welt, ist für ihn der wesentliche Fortschrittsmotor. So wie die biologische Evolution die Variabilität braucht (Charles Darwin, 1859), so braucht die Gesellschaft den weltanschaulichen Pluralismus.

Nach Tills Überzeugung lässt sich für kein Glaubenssystem ein Überlegenheitsanspruch herleiten. Es geht nur darum, wie es sich auf dem Feld der „praktischen Vernunft“ (Kant) im friedlichen Wettstreit mit anderen bewährt. Es kommt nicht darauf an, was einer glaubt, sondern was er tut.

Tills Dogmen zeichnen sich aus durch die Hochschätzung von Freiheit, Toleranz und Pluralismus.

Tills Friedfertigkeit hat Grenzen. Er leistet Widerstand, wenn jemand seinen Glauben dort ins Spiel bringt, wo er nichts zu suchen hat – insbesondere in der Wissenschaft. Wer die Bibel wörtlich nimmt und diese Interpretation gegen die Naturwissenschaften ins Feld führt, wie es die US-amerikanischen Kreationisten und Anhänger des Intelligent Design tun, ruft ihn auf den Plan. Auch wenn ihm jemand weismachen will, dass der Realismus eine unabdingbare Voraussetzung der empirischen Wissenschaft sei und dass es so etwas wie „approximative oder partielle Wahrheit“ geben müsse, dann regt sich sein Widerspruchsgeist.

Veröffentlicht unter Biologie, Glaube und Agnostizismus, Intermezzo, Moral und Ethik, Skeptizismus, Spiritualität, Wissenschaft und Pseudowissenschaft | Verschlagwortet mit | 8 Kommentare