Das alte Denken im neuen

Analogy as the Fuel and Fire of Thinking. Douglas Hofstadter & Emmanuel Sander

Eine Theorie der Welt müsse mit dem Trennen anfangen, nicht mit dem Messen und Abwägen, meint die Anthropologin Mary Douglas, und sie bezieht sich dabei auf das Klassifikationssystem für die natürlichen Arten: „The problem of natural kinds surely begins with the elementary classification processes and the principles used for sorting. A theory of the world would need to start with dividing, not with grading“ (1986, S. 62).

Trennen

Um Klarheit und Sicherheit zu gewinnen, teilen wir die Gegenstandsbereiche vorzugsweise auf in Gegensätzliches. Uns drängt es zur Schwarz-Weiß-Malerei.

Diese Art Kontrastbetonung rechne ich den angeborenen Lehrmeistern zu. Sie sind überlebensdienlich, haben aber auch eine dunkle Kehrseite. Manche Denkfalle lässt sich damit erklären (Grams, 2020).

Das Klassifizieren ist charakteristisch für das Denken der klassischen Epoche (Barockzeit); Michel Foucault (1966/2012) grenzt es ab vom Denken der Antike mit ihren Analogien. Hervorstechendes Beispiel ist die Taxonomie der Arten von Carl von Linné (1735).

Analogien

Die Samenkörner des Eisenhuts sehen Augen ähnlich, also sollte die Pflanze gegen Augenkrankheiten helfen. Die Walnuss soll Kopfschmerzen lindern, denn ihr Inneres ähnelt dem Gehirn.

Solcherart magisches Denken ist heute keineswegs überwunden. Die populäre Homöopathie lebt davon, und in Esoterikkreisen wirkt die Lehre des Hermes Trismegistos bis heute: „Wie oben, so unten; wie innen, so außen; wie der Geist, so der Körper“.

Die Uhrmacher-Analogie zieht sich durch die Jahrhunderte und wird in unserer Zeit durch die Intelligent-Design-Bewegung aufgegriffen. Sie vergleicht die planvolle Bewegung der Welt mit einer Uhr: Wie es eines Uhrmachers bedarf, so auch eines Schöpfers der Welt (Lennox, 2007).

Dass sich Reste des alten Denkens bis heute erhalten haben, ist bemerkenswert. Weitaus interessanter finde ich jedoch, dass dieses Denken auch im heutigen Wissenschaftsbetrieb eine tragende Rolle spielt.

Es ist zwar etwas Neues entstanden, aber dieses Neue enthält Einsprengsel vom Alten, so wie es umgekehrt in der Antike wissenschaftliches Denken gab (Eratosthenes). Warum nur kommt mir jetzt ein altes chinesisches Symbol in den Sinn?

Yin und Yang

Unser Schwarz-Weiß ist Metaphysik vs Wissenschaft. Als Abgrenzungskriterium nehmen wir die Falsifizierbarkeit nach Karl Raimund Popper: Falsifizierbare Aussagen konstituieren die Wissenschaft, alles andere ist Metaphysik. Übersetzen wir die Dichotomie in Kants Vokabular: Auf der einen Seite haben wir die Erfahrung und die Dinge des Verstandes; jenseits sind die transzendentalen Ideen.

Verstandesdinge lassen sich überprüfen, transzendentale Ideen fallen in das Herrschaftsgebiet der Vernunft. Dort wird nichts widerlegt oder bewiesen; es geht um Analogien, deren Plausibilität und um den Wettstreit der Argumente.

Im Hoppla!-Blog sind uns schon Beispiele für transzendentale Ideen begegnet: Das Ich (damit verbunden: die erwartungsgetriebene Wahrnehmung) und die Gruppenselektion. Da gibt es immer eine ganze Menge Wissenschaft aber auch tragende Elemente, die der Metaphysik zuzuordnen sind.

Unsere mathematischen Modelle sind dann nicht Abbilder dessen, was ist. Sie sind Analogien; ihr Verhalten ist dem der modellierten Naturprozesse ähnlich.

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Pastell

Dichotomien haben in meinem Leben eine große Rolle gespielt. Ende der 70er Jahre entdeckte ich Karl Raimund Popper für mich. Er erlöste mich von dem Zweifel an meinem Verstand: Mein Versuch in meiner Studienzeit die 68er-Kommilitonen zu verstehen, führte mich seinerzeit zu Hegel. Das Resultat: Ich verstand gar nichts mehr.

Das hat mich jahrelang belastet. Dann kam das „Erweckungserlebnis“: ein großer Artikel von Ralf Dahrendorf in der Wochenzeitung Die Zeit, in dem er das Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von Karl Raimund Popper zum Jahrhundertbuch erklärte. Ich las und meinte, etwas von zeitgenössischer Philosophie zu verstehen. Außerdem gewann ich die Gewissheit, dass ein Ingenieur Hegel gar nicht verstehen kann. Mein Selbstbewusstsein erholte sich.

Mit Lektüre der Logik der Forschung wurde ich Popperianer und die Welt schwarz-weiß: hier Wissenschaft, da Metaphysik. Während meines Berufslebens in der Industrie fand ich das unproblematisch. Unter Ingenieuren gibt es dazu ja keinen großen Widerspruch. Anfangs hatte ich eine fast szientistische Einstellung – etwas gemildert durch Zweifel an der diesbezüglich extremen Einstellung des Karl Steinbuch.

Ich wurde Professor und begann weiter über die Sache nachzudenken. Die Skeptikerbewegung zog mich an. Ich wurde Mitglied in der GWUP und blieb dort 15 Jahre. Ich trug sogar dazu bei, die dort übliche Schwarz-weiß-Malerei noch zu vertiefen, worüber ich im Artikel Pseudowissenschaft – Kampfbegriff oder mehr? berichte.

Anlässlich der Erstellung eines Webauftritts für den Fachbereich ET musste ich mich (als Gründungsdekan) auch mit Farben und deren Komposition beschäftigen. Pastell entsteht, wenn man einer Farbe alle anderen Farben beimischt, kurz: weißer macht. Geht man von Schwarz aus, dann entsteht Grau. Grau ist das Pastellste aller Pastelle, sagte ich mir damals. Ich füge das ein, weil sich allmählich meine Weltsicht zu ändern begann.

Die Schwarz-weiß-Malerei der extremen Skeptiker begann mich zu stören. Man sieht sich auf der Seite der Wissenschaft und weiß was wirklich ist, kennt die Wahrheit.

Ich begann Zwischentöne zu entdecken. Die Welt wurde für mich bunter, mit Beimischungen der Extreme, pastell sozusagen. Und das waren die Stufen meines Lernprozesses:

Was mich zuallererst störte, war der Wahrheitsanspruch der Naturalisten unter den Skeptikern. Mir wurde bewusst, dass auch Poppers Logik der Forschung einen solchen Wahrheitsanspruch nicht hergibt.

Mit der Zeitenwende kam dann auch noch der moralische Relativismus ins Spiel.

In diesem Hoppla!-Blog treten immer mal wieder Vertreter der Extrempositionen auf. Sie haben leider einen Hang zum Missionarischen und machen einem das Leben schwer. Aber ich muss zugeben: Ich brauche sie. Von den Diskussionen mit den Missionaren habe ich viel gelernt – mühsam zwar, aber dennoch.

In der Diskussion über Soziobiologie lernte ich, dass es neben der Dichotomie Wissenschaft vs Metaphysik mit der Unterabteilung Pseudowissenschaft noch eine ganze Menge gibt; nämlich Wissensgebiete, denen man die Wissenschaftlichkeit schwerlich absprechen kann und die in ihrer Gesamtheit das Popperkriterium nicht erfüllen. Es sind Weltbilder oder Weltanschauungen, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse oder zumindest wissenschaftliche Methoden getragen werden, die aber auch metaphysische und transzendentale Bestandteile haben.

Das ist das Feld der Diskurse. Die besseren Argumente gewinnen. Aussicht auf absolute Gewissheit besteht nicht. Hin und wieder muss man konkurrierende Ideen nebeneinander bestehen lassen.

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Jim Knopf und die Walpurgisnacht

Gerade haben wir die neueste Ausgabe unserer Tageszeitung in den Händen. Bei der Überschrift

Kein N-Wort mehr in „Jim Knopf“

gerät meine Partnerin aus dem Häuschen.

Ohne besonderes Interesse an der Angelegenheit erfahre ich, dass ein offenbar beliebtes Kinderbuch eine zeitgeistige Überarbeitung erfahren hat: Das Wort „Neger“ wird nicht mehr verwendet, „Indianerjunge“ wird zu „Junge“ und „Eskimokind“ zu „Inuitkind“.

Meine Freundin: Das ist ja das allerletzte, worüber sich die Leute so aufregen. Das ist ein Raub unserer Kultur.

Ich werde wach und wiegele ab: Man muss bei manchem Exzess der Cancel Culture nicht gleich an die Zensur im Dritten Reich oder in der DDR denken. Zur Beruhigung erzähle von einer Begebenheit aus meiner Schulzeit.

Der Lehrplan verpflichtete uns Schüler, Goethes Faust 1 zu lesen. Der Lehrer organisierte eine Sammelbestellung eines Taschenbuchs. Ich meldete mich und sagte: das Buch haben wir zu Hause. Ich wurde von der Beschaffung befreit und saß dann folglich mit meinem DDR-Buch „Goethes Werke in Auswahl – Sechster Band“ vom Aufbau Verlag Berlin 1949 unter meinen Mitschülern mit ihren neuen Taschenbüchern aus der BRD.

Das lief problemlos, bis wir zum Abschnitt Walpurgisnacht kamen. Bei mir las ich: Es f–t die Hexe, es st–t der Bock. Etwas verwundert stellte ich fest, dass meine Mitschüler lasen: Es furzt die Hexe, es stinkt der Bock.

Später dann spricht Mephisto in meiner Ausgabe:

Einst hatt‘ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt‘ ein ––—;
So – es war, gefiel mir’s doch.

Und die Alte antwortet:

Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt‘ Er einen –– bereit,
Wenn Er ––– nicht scheut.

Bei meinen Schulkameraden stand:

Einst hatt‘ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt‘ ein ungeheures Loch;
So groß es war, gefiel mir’s doch.

Und

Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt‘ Er einen rechten Pfropf bereit,
Wenn Er das große Loch nicht scheut.

Dass auch Klassiker zensiert werden, finde ich nicht wirklich erstaunlich. Aber für die DDR war gerade das eher untypisch. Vor allem ist sie ja nicht durch allzu große Prüderie aufgefallen. Anders die BRD: Zur Zeit unserer Lektüre war gerade die prüde Zeit; 68 lag noch vor uns. Sonderbar.

Das veranlasste mich jetzt zu einer kleinen Recherche mit diesem Ergebnis: Die Auslassungszeichen stehen bereits in der ersten vollständigen Augabe von Der Tragödie erster Teil von 1808. Das Original wurde in späteren Ausgaben offenbar rekonstruiert.

Dass ich nicht falsch verstanden werde: Zensur war schon zu Goethes Zeit keine gute Sache, heute ist sie es erst recht nicht.

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Pseudowissenschaft – Versuch einer Klärung

Der letzte Hoppla‐Artikel hat heftigen Widerspruch erfahren:

Sie erklären einmal kurz eine der wichtigsten Wissenschaften und ihre Auseinandersetzungen zur Pseudowissenschaft!? Bei der Evolutionsbiologie soll es sich dabei nicht um „prüfbare Theorien“ handeln? […] Bei Verschwörungsmythikern ist diese Lösung auch beliebt, d.h. im Fall des Klimawandels ist alles nur Pseudowissenschaft, wodurch das Problem auf sehr einfache und bequeme Weise erledigt ist und alles so bleibt wie es ist. Toll.

Dazu kommt noch Sarkasmus:

Sowohl Soziobiologie als auch Wilson zusammen mit dem mathematischen Beleg ist alles nur Pseudowissenschaft. Erkennt man wahrscheinlich schon daran, dass es in „Nature“ erschienen ist.

Von Pseudowissenschaft hatte ich es in diesem Hoppla!-Blog schon öfter, unter anderem vor über 10 Jahren im dritten Intermezzo. Grundsätzlich gesprochen geht es um Erkenntnis, also um die Frage, welchen Aussagen über die Welt wir trauen können und welchen nicht.

Poppers Dichotomie – hier Wissenschaft dort Metaphysik – ist gewöhnungsbedürftig. Der Einfachheit halber schließe ich mich diesem Denken an und will unter Metaphysik alle Theorien und Aussagesysteme verstehen, die nicht prüfbar sind, die also an keiner erdenklichen Erfahrung scheitern können. Wissenschaft steht für Erfahrungswissenschaft. Als Pseudowissenschaften gelten

metaphysische Aussagesysteme, die mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftreten

Das ist der Denkrahmen für die folgenden Erläuterungen.

Für die menschliche Vernunft ist die Metaphysik eine unentbehrliche Wissenschaft, meint Immanuel Kant. In Transzendentale Elementarlehre (drittes Hauptstück, fünfter Abschnitt) seiner Kritik der reinen Vernunft schreibt er zwar von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes, aber auch:

Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts anderes, als ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen nothwendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen, und ist nicht eine Behauptung einer an sich nothwendigen Existenz.

(Mit dem letzten Teilsatz werden die Grenzen aufgezeigt, die dem Verstand gesetzt sind zur Erkenntnis einer objektiven Realität Gottes.)

Nach dem gesetzten Denkrahmen, fällt alles, was die reine Vernunft an transzendentalen Gedanken hervorbringt, in das Kästchen Metaphysik. Auch das, was ich zum Thema Denkfallen schreibe, ist keine Wissenschaft und gehört in diese Rubrik, besonders die Aussagen zur erwartungsgetriebenen Wahrnehmung. Pseudowissenschaft ist es nicht. Dazu fehlt der Anspruch der Wissenschaftlichkeit.

Kurzum: In der Rubrik Metaphysik ist neben Feen, Trollen, Wunderheilmitteln und viel Unfug auch viel Nützliches zu finden. Die Modelle der Soziobiologie und deren Konkurrenten gehören meines Erachtens dazu. Zur Pseudowissenschaft wird das aber erst, wenn der Anspruch der Wissenschaftlichkeit und Falsifizierbarkeit hinzutritt.

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Hat E. O. Wilson seine Soziobiologie falsifiziert?

Wenn sich zwei Gruppen von Biologen einander angiften, dann kann der durch Karl Raimund Popper geschulte Ingenieur nur verwundert zusehen. Er wird keine Partei ergreifen. Aber er kann sich den Stein des Anstoßes etwas näher ansehen.

Der Streit zwischen der Nature-Fraktion, repräsentiert durch Richard Dawkins, und der Nurture-Fraktion, repräsentiert durch Edward Osborne Wilson, kam im Laufe der Diskussion des letzten Artikels ausgiebig zur Sprache.

Im Diskussionsfaden wird die Meinung vertreten, dass Edward Osborne Wilson das von ihm selbst geschaffene Gedankengebäude der Soziobiologie zum Einsturz gebracht habe. Nach dieser Auffassung

hat Wilson die Verwandtenselektion seit 2010 und vor allem in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Erde” eindeutig und komplett falsifiziert, ganz nach der von mir glaube ich auch schon mehrfach vorgebrachten Aussage: „Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ (Wilson 2013, S. 68)

Der Anlass

Stein des Anstoßes ist ein Nature-Aufsatz vom August 2010: The evolution of eusociality. Martin A. Nowak, Corina E. Tarnita & Edward O. Wilson.

Darum geht es: Wie kann sich Altruismus, allgemeiner gesprochen: soziales Verhalten, in einer Welt entwickeln, die von egoistischen Genen regiert wird.

Darin wenden sich Wilson und Mitstreiter von der Gesamtfitnesstheorie und dem Prinzip der Verwandtschaftselektion ab. Sie räumen der kulturellen Evolution Vorrang vor der genetischen ein: Nurture besiegt Nature, zumindest dann, wenn es um die Evolution sozialen Verhaltens geht.

Das konnte dem Verkünder des egoistischen Gens, Richard Dawkins, nicht gefallen. Er wurde ausfällig wie beispielsweise in seiner berühmten Besprechung des Wilson-Buchs The Social Conquest of Earth.

Der Stil in diesem Streit ist unpassend, er geht wohl auf die uns angeborene Neigung zur Kontrastbetonung zurück. Es steht mir nicht zu, zu entscheiden, wer in diesem Streit mehr recht hat. Aber eins traue ich mir zu, nämlich die Bewertung, ob der Stein des Anstoßes wirklich Anlass bietet, die Theorie der Verwandtschaftsselektion für falsifiziert zu erklären.

Das statistische Argument

Gemäß dem Lehrbuchwissen wird das Sozialverhalten staatenbildender Insekten wie das der Bienen mit dem besonders hohen Verwandtschaftsgrad innerhalb dieser Völker erklärt: Haplodiploid-Hypothese. Wilson und seine Mitstreiter halten dagegen:

The association between haplodiploidy and eusociality fell below statistical significance.

Zwei Fragen drängen sich auf:

1. Wird durch Widerlegung einer speziellen Subtheorie (Haplodiploid-Hypothese) zugleich die sie überwölbende allgemeine Theorie der Verwandtschaftsselektion widerlegt?

2. Was ist, wenn trotz bester Fortpflanzungsmöglichkeiten die auslösende Mutation für Sozialverhalten ausbleibt?

Wilson und seine Mitstreiter berichten von Arten mit Haplodiploidie, die kein Sozialverhalten entwickelt haben. Das muss ja auch nicht sein, denn die Haplodiploidie ist für das Entstehen von Sozialverhalten keine hinreichende Bedingung. Andererseits kann neben weiteren Faktoren die Verwandtschaftselektion wirksam sein, auch wenn, wie bei den Termiten, keine Haplodiploidie vorliegt. Die Haplodiploidie ist also auch im Rahmen des gängigen Wissens keine notwendige Bedingung für die Entstehung von Sozialverhalten.

Also: Das statistische Argument kann mich nicht überzeugen, und das hat nichts mit Biologie zu tun, sondern allein mit Logik. Aber das ist ja noch nicht alles. Jetzt geht es erst richtig los mit der neuen Theorie.

Der Ansatz

Die Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie beansprucht, eine vollständige Theorie der Entstehung des Sozialverhaltens (eusoziale Evolution) zu sein. Sie besteht aus einer Reihe von Stufen. Dazu gehören auf den untersten Stufen präadaptive Merkmale, die zu einer engen Gruppenbildung führen, ein verteidigbares Nest (defensible nest) und das Auftreten von Mutationen, die das Ausbreitungsverhalten unterdrücken.

Zu einer falsifizierbaren Theorie wird das natürlich erst, wenn man es weiter präzisiert. Das geschieht mit einem mathematischen Modell.

Das Modell

Die Welt ist nicht in unserem Kopf. Es ist die Vorstellung von der Welt, die in unserem Kopf ist. Damit kommen wir gut zurecht, weil die Vorstellungen zunehmend besser zu unserem Erfahrungen passen. Der Mathematiker macht die Vorstellungen zu Modellen, auf deren Basis der Informatiker blendende Simulationsexperimente macht. Wir erliegen leicht einer Täuschung, indem wir die Modelle für die Realität halten.

Damit sind wir bei der Nowak-Tarnita-Wilson-Theorie: Sie besteht im Kern aus mathematischen Modellen, genauso wie die Theorie der inklusiven Fitness Basis der hamiltonschen Ungleichung ist.

Diese mathematischen Modelle beruhen auf mehr oder weniger plausiblen Annahmen. Eine Verifizierung oder Falsifizierung der Theorien ist anhängig.

Im Dokument konnte ich keine Stelle finden, wo die gewählten Modellstrukturen und Parameter mit irgendwelchen Erfahrungswerten oder Messungen abgeglichen wurden. Wir haben es mit Setzungen zu tun, die dazu dienen, das qualitative Verhalten von Populationsdynamiken zu reproduzieren.

Prognostischen Wert hat das alles nicht. Und danach wollen wir doch wissenschaftliche Theorien beurteilen, oder? In der Arbeit von Nowak, Tarnita & Wilson geht es immer nur um das Modell und nicht um das, was sich in der Natur tatsächlich abspielt.

Auch die Nützlichkeit dieser Art der Modellierung, nämlich Gleichungen und Differentialgleichungen für aggregierte Größen, stelle ich für den vorliegenden Zweck infrage. Dieser Ansatz wurde seinerzeit schon im Zusammenhang mit den Grenzen des Wachstums und bei Global 2000 kritisiert. Mir schien das damals vertretbar zu sein. Auch dem Selektionsprozess in der biologischen Evolution kann man so näher kommen.

Niemand aber wird wohl auf die Idee kommen, den Geistesblitz oder den schöpferischen Prozess mit Differentialgleichungen zu modellieren. Bei der Evolution sozialen Verhaltens traut man sich das aber zu. Ich habe den Verdacht, dass da eine Pseudowissenschaft entstanden ist.

Die Schlussfolgerungen

Die Autoren schreiben

If you have a theory that works for all cases (natural selection) and a theory that works for only some cases (kin selection) and where it works, it agrees with the general theory, why not simply use the general theory everywhere?

Das besagt doch nur, dass ihre Theorie – ob richtig oder falsch – die Verwandtschaftsselektion abdeckt. Es heißt nicht, dass sie diese widerlegt.

Ich bleibe bei meinem Urteil: Wilson hat die Verwandtschaftsselektion nicht falsifiziert. Damit ist auch die Titelfrage negativ beantwortet.

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Argumentationsweisen rechts außen

Argumentationsweisen und insbesondere Propaganda sind zentrale Themen dieses Blogs. Der Spiegel (5/2024, S. 23) hat mich auf eine mögliche Fundgrube für Derartiges aufmerksam gemacht: das Buch Systemfrage – vom Scheitern der Republik und dem Tag danach. Es ist vom Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage, von dem das Buch außerdem verrät, dass er als rechter Islam- und Globalisierungskritiker bekannt ist. Björn Höcke hat eine Leseempfehlung für dieses Buch ausgesprochen (Facebook, 31. 01 22).

Ich werde mich auf den Argumentationsstil konzentrieren und die politischen Aussagen nur zitieren, sofern sie für die Erläuterung der Meinungsbeeinflussung erforderlich sind. Eine moralische Bewertung ist grundsätzlich nicht beabsichtigt. Es dürfte klar sein, dass es sich in den meisten Fällen im Propaganda handelt. Eine inhaltliche Analyse solcher Aussagen ist meistens aussichtslos, da ein einheitlicher Interpretationsrahmen nicht zur Verfügung steht. Es geht also nicht um wahr oder falsch. Der Propagandist behauptet, wiederholt, emotionalisiert und er verzichtet auf Begründungen. Beispiele bieten Donald Trump und Kellyanne Conway mit ihren alternativen Fakten. Siehe auch das Word of the Year 2022 Gaslighting. Ich werde mich auf die formale Analyse der Argumentationsmuster beschränken.

Etikettierung

Der Verfasser des Buches bekennt sich zum Grundgesetz, insbesondere zu Artikel 20 und dem darin festgelegten Widerstandsrecht:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. […]
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Wer nun meint, dieses Widerstandsrecht richte sich gegen die etwa 400 Personen, die am 29. August 2020 versuchten, das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen, oder gegen die Reichsbürger um Heinrich XIII. Prinz Reuß, der wird eines Besseren belehrt (S. 214):

Dieser Verfassungskern soll gerade gegen die Usurpationen von Machthaben verteidigt werden, die ihre Ämter auf eine formal verfassungskonforme, materiell aber verfassungswidrige Weise erlangt haben oder ausüben – insbesondere, wenn Sie sie in einer Weise ausüben, die die freiheitlichdemokratische Grundordnung zerstört.

Das Etikett Verfassungsfeind wird also denjenigen angeheftet, die der Artikel eigentlich schützen soll. Für diese Umetikettierung gibt es Anlässe: Eurokrise, Fukushima, Flüchtlingskrise, Klimapolitik, Corona, NetzDG. Ob eine Meinungsbeeinflussung durch Umetikettierung gerechtfertigt ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Ich hatte damals bei der Debatte um das Netzdurchsetzungsgesetz auch ein äußerst mulmiges Gefühl. Das NetzDG schafft ja keine neuen Straftatbestände, es dient der Überwachung und Durchsetzung. Den Zensurvorwurf konnte ich nicht entkräften.

Ich war der Meinung, der Umgang mit Hassbotschaften beispielsweise sollte sich im WWW selbst regeln. Totalkontrolle habe ich während meiner Kindheit in der DDR und durch meine Mitgliedschaft in der GWUP fürchten gelernt. Ich habe im WWW, auch im Rahmen dieses Hoppla!-Blogs, einiges an Beschimpfungen aushalten müssen: „Lassen sie sich mal auf ihre geistige Gesundheit untersuchen!“, „Vorbereitung von Völkermord“, „Putintroll“.

Die Notwendigkeit der Resilienz ist eine neue Erfahrung. Mit der Zeit ändern sich die Gepflogenheiten, so ist das nun mal. Nicht zu empfehlen ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Kausalitätserwartung

Dem Buch zufolge liegt dies im Argen:

Praktisch niemandem geht es besser – aber vielen schlechter – dadurch, daß der Euro eingeführt und „gerettet“, Migranten in Millionenstärke ins Land gelassen, Zensurgesetze, Atomausstieg, Windräder, Lockdown und De-facto-Impfzwang befohlen wurden, von Gender Mainstreaming, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und surrealistischen Datenschutzvorgaben selbst für Kleinstunternehmen ganz zu schweigen.

Nun ist es eine angeborene Neigung des Menschen, für alles eine Ursache zu suchen. Für das Unglück auf dieser Welt braucht es einen Schuldigen. Der ist hier schnell gefunden. Es ist das Kartell, die in ihre Echokammer eingeschlossene politische Klasse der BRD (S.81), die

die Interessen des eigenen Volkes und sogar des von ihr geführten Staates grundsätzlich hinter der Verwirklichung globalistischer Utopien und hinter den Interessen von Machtkonglomeraten hintanstellt, die für sich beanspruchen, „die Menschheit“ oder wenigstens „Europa“ zu repräsentieren, insbesondere also UNO und EU-Institutionen.

Das ist eine ausgewachsene Verschwörungstheorie; die Beantwortung der Frage, ob diese wahr oder falsch ist, überlasse ich der Diskussion.

Kontrastbetonung

Zur Klimadebatte finden wir dies (S. 43):

Es ist in höchstem Maße unplausibel, um nicht zu sagen absurd zu glauben, dass die Welt untergehen soll, wenn der Anteil eines in der Natur von vorkommenden Gases und der Zusammensetzung der Atmosphäre von zwei Zehntausendstel auf vier Zehntausendstel steigt. In der Erdgeschichte sind schon ganz andere Schwankungen sowohl des CO2- Gehalts als auch der mittleren Lufttemperatur vorgekommen […] Noch absurder für jeden Menschen, der sich schon einmal mit komplexen Systemen beschäftigt hat, ist die Vorstellung, man könne bei einem System wie der Ökologie willkürlich eine einzelne Zielvariable (die mittlere Lufttemperatur) herausgreifen und diese durch eine einzige Einflussvariable (nämlich den CO2-Gehalt der Luft) manipulieren.

Die Ergebnisse der Klimaforschung und deren Maßstäbe werden also grundsätzlich angezweifelt. Die derart kritisierte „Klima-Theologie“ wird so beschrieben (S. 45):

Wer nämlich für sich in Anspruch nimmt, nicht weniger als den Weltuntergang zu verhindern, verschafft nicht nur seinen Anliegen dadurch naturgemäß die Pole Position auf der Rangliste der politischen Relevanz, sondern stempelt jeden Andersdenkenden zum Feind der Menschheit […] Die manichäische Schwarzmalerei der Klimajünger, die sich in einen apokalyptischen Endkampf des schlechthin „Guten“ mit dem schlechthin „Bösen“ verstrickt wähnen, gehört zu jenem Giftcocktail, der die politische Kultur, auf der eine liberale Demokratie beruht, in bemerkenswerter kurze Zeit zerstört hat.

Diese starke Polarisierung kommt unserem Hang zur Kontrastbetonung entgegen.

Es gibt noch einiges zu diesem Buch zu sagen. Aber die Grundmuster der Argumentation dürften bereits klar geworden sein.

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Denkfalle Simulationsexperiment – der Irrtum des E. O. Wilson

Für mich ist der Begründer der Soziobiologie Edward Osborne Wilson einer der Größten des Fachs. Auch solche Leute dürfen sich irren. Aber der Reihe nach.

Simulation der Realität

Wer macht sich schon Gedanken darüber, was es heißt, eine 7-Tage- Prognose des Wetters zu erstellen? Abermilliarden von Datenpunkten für Temperatur, Druck, Feuchte, Luftbewegung sind miteinander in Beziehung zu setzen und über einen längeren Zeitraum Schritt für Schritt zu verfolgen. Je genauer, desto mehr ist zu rechnen. Und das dauert – auch bei den heutigen schnellen Rechnern mit ihren riesigen Datenspeichern. Beliebig viel Zeit steht nicht zur Verfügung, denn das Wetter darf nicht eher da sein als die Prognose.

Niemand erwartet, dass die Prognosen hundertprozentig stimmen. Das gilt ja für alle unsere Erkenntnisse: Die Realität ist nicht greifbar. (Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Weblogbuch.)

Wenn José Encarnaçao von der Technischen Universität Darmstadt, die Virtualisierung als Abfolge „Reale Umgebung → Abstraktes Modell → Digitale Repräsentation“ darstellt, dann übersieht er, dass wir gar nicht wissen, was real ist und dass es die Hauptaufgabe der Wissenschaft ist, auf die Frage nach der Realität brauchbare Antworten zu liefern.

(Davon berichte ich in meinem Artikel über Oberflächenkompetenz, 2006.)
José Encarnaçao spricht aus, was Realisten denken.

Wir bilden Modelle der Realität und gleichen sie mit den vorhandenen Daten ab. Wenn es nur um Prognosen geht, dann erkennen wir die Güte der Modelle an der Qualität der Vorhersagen.

Was aber, wenn wir mit Modellen die Wirkmechanismen unserer Welt erkunden, wenn es um das Formulieren und Prüfen von Theorien für nur vermutete Sachverhalte geht und wenn Beobachtungsdaten nur in geringem Maße zur Verfügung stehen und die Kategorien für das, was man beobachten will, noch nicht festgefügt sind? Dann besteht die Gefahr, dass die Modelle ein Eigenleben entwickeln und wir das, was sie zeigen, für die Realität halten. Ich meine, einem solchen Fall, in dem sich sogar ein von mir hoch geschätzter und prominenter Forscher hat täuschen lassen, auf die Spur gekommen zu sein. (Ich greife die Diskussion zum Artikel Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich auf.)

Die Kontroverse Dawkins–Wilson

Für mich ist Richard Dawkins ein orthodoxer Darwinist. Für ihn ist einzig das Gen die Einheit, an der die Selektion angreift, und alle Lebensformen sind nur Überlebensmaschinen für diese Gene (Dawkins, 1976/1978). In seinem Buch Das egoistische Gen beklagt er, dass der von ihm verehrte Wilson von dieser Linie abweicht, mit diesen Worten (S. 112):

Die Familienselektion erklärt den innerfamiliären Altruismus; je näher die Verwandtschaft, desto stärker die Auslese. […] E. O. Wilson definiert in seinem ansonsten bewundernswerten Buch Sociobiology. The New Synthesis die Familienselektion als einen Sonderfall der Gruppenselektion […] Nun bedeutet Gruppenselektion – sogar nach Wilsons eigener Definition – das unterschiedliche Überleben von Gruppen von Individuen.

Für Wilson ist die Gruppe zentral. Wird die Gruppe durch Familienbande erzeugt, wirkt die Verwandtschaftsselektion: ein Altruisten-Gen stärkt die Gruppe und breitet sich in ihr aus. Damit sind die Eckpunkte der Debatte definiert: Genselektion kontra Gruppenselektion – Dawkins kontra Wilson. In seinem Nachruf auf Wilson erzählt Dawkins von diesem Streit.

Und so stellt sich mir die Sache dar: In seinem Buch Sociobiology präsentiert Wilson zwei Modelle, die zeigen sollen, wie Gruppenselektion funktioniert. Eins davon habe ich in meinen Kurs Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation in einfacher Form aufgenommen: Metapopulation – ein Modell für die Evolution altruistischen Verhaltens.

Diese Modelle haben Wilson nicht überzeugt und er neigte dazu, die allgemeine, nicht familiengebundene, Gruppenselektion zu verwerfen. Die zwei von ihm untersuchten Modelle zeigten, dass die Evolution altruistischer Gene mittels reiner Gruppenselektion ein unwahrscheinliches Ereignis sei und dass die alternativen Hypothesen der Verwandtschaftsselektion und der individuellen Selektion (Genselektion) zu bevorzugende Alternativen seien (S. 113). Ich habe den Verdacht, dass er die Unzulänglichkeit der von ihm benutzten mathematischen Modelle zunächst dem Untersuchungsgegenstand Gruppenselektion angelastet hat. Später hat er seinen Irrtum wohl bemerkt.

So gesehen hätte Dawkins damals wenig Grund gehabt, Wilson frontal anzugehen. Ihn scheint aber zu stören, dass Wilson die Erklärungsmöglichkeit Gruppenselektion grundsätzlich ins Auge fasst. Richtig in Rage geriet Dawkins aber, als sich Wilson mit seinem Buch The Social Conquest of Earth von 2012 dann doch zur Theorie der allgemein gefassten und nicht notwendig auf die Familie bezogenen Gruppenselektion bekannte. Die daraus folgende Auseinandersetzung ist im Prospect-Magazin nachzulesen. Dort finden Sie Dawkins‘ Buchbesprechung The descent of Edward Wilson sowie einige Antworten darauf, unter anderem die von Wilson selbst. Das ist Wissenschaft mit Schmackes.

 

Literaturhinweise

Wilson, Edward Osborne: Sociobiology. The New Synthesis. 1975/2000

Wilson, Edward Osborne: The Social Conquest of Earth. 2012

Dawkins, Richard: The Selfish Gene/Das egoistische Gen. 1976/1978

Grams,Timm: Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation. 1999

Grams,Timm: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung. THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6

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Warum funktioniert das Völkerrecht nicht?

Zeitenwende

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vom 24.2.22 zerstörte die Hoffnungen auf ein friedliches Miteinander aller Völker. Unsere Empörung war groß, so groß, dass keine Beschreibung groß genug schien; Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte das Ereignis zur Zeitenwende – angesichts der ihm eigenen Zurückhaltung geradezu eine Explosion der Gefühle.

Als Laie, als Nichtfachmann sowohl in Biologie als auch in Völkerrecht, kann man sich die Freiheit herausnehmen, zwischen beiden Gebieten kühne Verbindungen herzustellen. Ich mache das jetzt.

Sowohl die Universalisierung der Menschenrechte als auch die Konstitutionalisierung des Völkerrechts scheinen auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen: Vietnam, Afghanistan, Irak, Mali, Libyen, Syrien, Ukraine, Gaza, …

In der Gesellschaft wie in der Biologie ist die Entstehung des Neuen unvermeidlich. Es ist ein Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit. Schon in meiner Schulzeit war mir klar, dass die Heranzüchtung von Supermenschen keine gute Idee ist. Warnende Beispiele sind die Qualzüchtungen bei Haustieren.

Optimierung auf ein Ziel hin heißt immer: Reduktion der Vielfalt. Die Anpassungsfähigkeit eines Volkes an sich ändernde Lebensbedingungen geht verloren. Mit dem Klimawandel stehen wir gerade vor einer existenzbedrohenden Veränderung.

Kreativität

Das Ideal einer gleichgerichteten Gesellschaft ist von vornherein unerreichbar: Die Natur sorgt für Abweichler. In meinem Buch Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System (2016, 2020, S. 238) schreibe ich:

Neue Lösungen und Entdeckungen werden keinesfalls in Teamarbeit und zielgerichtet angegangen. Der Geistesblitz ereignet sich stets in einem einzigen Kopf! Meist entdecken die Genies rein zufällig Lösungen für Probleme, die sie eigentlich gar nicht hatten. Und das ist wunderbar.

Die Entdeckung oder Erfindung macht derjenige, der das Problem als erster sieht. Dazu braucht es dann eine gehörige Portion Fachwissen und Kombinationsgabe – das Rüstzeug der Genies.

Es scheint ein allgemeines Prinzip der Natur zu sein: Neues entsteht unplanmäßig und einiges davon hat Gelegenheit und Kraft, in Konkurrenz zum Alten zu treten. Der sich anschließende Selektionsprozess ist alles andere als friedvoll. Zum Beispiel: Mit dem Auftreten des Internets verschwand die Telegrafie weitgehend und im Büro wurde das aufkommende Teletex im Keim erstickt und durch Telefax ersetzt. Das WWW bringt auch diese Technik in Bedrängnis.

Das verteidigbare Nest

Zurück zur Biologie. Das Neue, die Abweichung, wird vom Volk abgelehnt und ausgemerzt. Es sei denn, die Neuen können für Abstand oder Isolation und eine anfangs ungestörte Entwicklung des entstehenden Volkes sorgen.

Für den Insektenforscher Edward Osborne Wilson fördert die Existenz eines verteidigbaren Nestes die Entstehung von Sozialbeziehungen eines neuen Volkes. Mit meinem Programm KoopEgo habe ich die Unverzichtbarkeit von Isolation und Lokalität für die Entwicklung neuer Arten studiert.

Der Überlebenskampf

Der natürliche Drang der Verbreiterung der Lebensbasis führt zum Zusammenstoß von Völkern mit gegenläufigen Interessen.

Es sind wohl prinzipielle Gründe, die gegen eine Erzwingung des Völkerrechts sprechen. Die dafür notwendige Konstitution ist zwar wünschenswert, sie wird aber nicht kommen, es sei denn man akzeptiert doppelte Standards. Es ist beispielsweise unvorstellbar, dass sich ein US-Amerikaner vor einem internationalen Strafgericht verantworten muss.

Dennoch: Die Regelungen des Völkerrechts brauchen wir, auch wenn ihre Durchsetzung mithilfe der internationalen Gerichtshöfe (IGH, IStGH) und des Weltrechtsprinzips offensichtlich nicht gut funktioniert. Jeder unserer Soldaten weiß von der roten Linie und dass deren Überschreitung dem Feind das Recht gibt, das ebenfalls zu tun.

Wenn es so etwas wie Humanismus im Krieg gibt, dann drückt er sich wohl darin aus, dass man im anderen einen Feind, nicht aber einen Verbrecher sieht. Im Nahen Osten und in der Ukraine sehen wir Grenzüberschreitungen; aber es gibt dank des Völkerrechts auch eine Debatte darüber.

Beängstigend finde ich, was im Internet passiert. Der jeweils andere wird oftmals nicht als Feind wahrgenommen, sondern als verkommenes Geschöpf, das keinerlei Gnade verdient. Wut und Hass übernehmen. Das zeigt sich beim Aufmarsch der Internet-Trolle hier und da.

Geotheologie

Zwischen den Staaten, also organisierten Völkern in ihren Territorien, gibt es Kriege. Für diese gilt das Völkerrecht. Was aber, wenn sich einer nicht an die Regeln hält? Herfried Münkler bezieht sich auf Michael Silnizki, wenn er schreibt (Welt in Aufruhr 2023, S. 175):

Um das Völkerrechtsprinzip der Souveränität auszuhebeln, verstecke sich der westliche Anspruch auf globale Hegemonie hinter einer Fassade der Humanität, die immer dann ins Spiel gebracht werde, wenn es darum gehe, in wertfremde Räume einzudringen.

Die folgende Aussage Silnizkis deckt sich mit den Informationen, die mich aus der Mainstream-Presse erreichen (Geopolitik, 2015, S. 23):

Hinter der Humanität verbirgt sich ein ökonomischer und monetärer Hegemonialanspruch, legitimiert durch die raumübergreifende, geologische Permeabilität. Dieser strukturelle Zusammenhang von geotheologisch legitimierter und geoökonomisch expandierender Geopolitik ist der integrale Bestandteil des raumaufhebenden und das innere Gefüge der wertfremden Machträume sprengenden, westlichen Universalismus.

(Davon hatte ich es bereits in einer Diskussion mit Eike – nur etwas einfacher ausgedrückt.) Selbst ein Ingenieur wie ich kann verstehen, dass in der derzeitigen Situation das geltende Völkerrecht nicht greift. Weiterlesen

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Ding und Idee – Körper und Geist – Sache und Wert

Anna-Lena Baerbock scheint in den vergangenen Monaten die Sphären gewechselt zu haben. Sie nähert sich einer geopolitischen Bewertung der Krisen dieser Welt: „Der Angriff Russlands auf die Ukraine macht die EU-Erweiterung um den Westbalkan zu einer geopolitischen Notwendigkeit.“ Es nicht sehr lange her, da war ihr noch die wertegeleitete Außenpolitik ein besonders Anliegen. Ich werde zum Schluss noch einmal auf den mutmaßlichen Sinneswandel zurückkommen.

Im vorletzten Hoppla!-Artikel habe ich über meine Ratlosigkeit angesichts der aktuellen Nachrichtenlage geschrieben. Die Kommentare zum Artikel haben die Verwirrung nicht beseitigt sondern eher noch gesteigert. Das Widersprüchliche scheint der Wesenskern der Politik zu sein und ist vermutlich grundsätzlich nicht eliminierbar.

Leib und Seele

Im Laufe der Aufklärung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Seele ohne den Leib nicht sein kann. René Descartes hat das noch anders gesehen. Dann wurde die Seele zum irdischen Geist reduziert und der Leib als Körper verallgemeinert. Das heißt aber nicht, dass sich das Verhältnis der beiden zueinander entspannt hätte.

Um die gedankliche Aufspaltung des Lebens in zwei Sphären kommt man nicht herum. Wer aber genau wissen will, wie die Bereiche zueinander stehen, landet in schier unüberwindlichen Schwierigkeiten. Für Emil du Bois-Reymond ist es das fünfte Welträtsel.

Dazu hatten wir eine ausgiebige Diskussion, die ich hier nicht erneut aufgreifen will. Ich will den Leser nur an meiner Verblüffung teilhaben lassen darüber, wo überall die Zweiteilung des Menschen eine Rolle spielt. Es beginnt bei den alltäglichen Auseinandersetzungen.

Aus einer Diskussion

Jüngst habe ich einen Diskussionsfaden des Hoppla!-Blogs gewaltsam beendet. Dort finde ich die Klage, dass die „grüne Ideologie an der Realität scheitert“. So wird ein mutmaßlich falsches Bewusstsein dessen, was sein SOLL, dem gegenübergestellt, was nach Ansicht des Diskutanten tatsächlich IST.

Was sein soll, ist Angelegenheit des Geistes. Was tatsächlich ist, gehört zur Welt der Körper. Auch das, was ist, wird über den Geist vermittelt. Aber wir haben ein gutes Verständnis dessen, was Fakten sind und was nicht.

Die Ideologie ist ausschließlich, Geistesprodukt. Ihr Prüfstein ist die mögliche zukünftige Realität, nicht die aktuelle. Den flüchtigen Charakter des Geistigen macht Realo deutlich.

Der Kommunismus scheint völlig vernünftig, viele Intellektuelle haben daran „geglaubt“. Aber der Mensch ist nicht wirklich „vernünftig“ und der Kommunismus hat sich in Europa von selbst zerlegt.

Selbst die Fakten sind nicht leicht dingfest zu machen, wie der folgede Gegenangriff des NonRealo zeigt:

Der Kommentator Realo zieht gerne irgendwelche geglättenen Zahlen und Durchschnittswerte heran, ignoriert, wie man diese Zahlen manipulieren kann, ignoriert, wie der Energiemarkt funktioniert, anstatt die Realität zu sehen… Hier soll im Sinne der neoliberalen Panikpropheten manipuliert werden, so mein Eindruck.

An dem kleinen Gesprächsausschnitt zeigt sich, warum sich solche Diskussionen endlos fortsetzen lassen: Es gibt vage Vorstellungen von zwei Sphären, der Versuch einer Präzisierung sorgt für neue Unklarheiten.

Wenn Gedanken die Seite wechseln

Gesetze und Regeln sind Geistesprodukte. Aber einmal aufgeschrieben und von maßgebenden Institutionen für verbindlich erklärt, werden sie zu Fakten. Was aber hat es mit den Grundrechten auf sich? Für die Bundesrepublik sind sie in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes gefasst. Dieser Wertekatalog enthält die Zielvorgaben der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (GG Artikel 5, 3, 14 Absatz 2). Dazu kommen die Prinzipien der Marktwirtschaft: Schutz des Eigentums und des Erbrechts (GG 14). Die Sorge gilt vor allem dem Individuum.

Es gibt Alternativen dazu. Das Wertesystem des Konfuzius beispielsweise stellt die Gemeinschaft in den Vordergrund.

All diesen Wertesystemen ist gemeinsam, dass sie auslegungsbedürftig sind. Das Grundgesetz bindet Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (GG Artikel 1). Der Justiz wird ein großer Gestaltungsspielraum eingeräumt. Dieser wird vom Bundesverfassungsgericht auch genutzt, wie wir am Urteil vom 15. November 2023 zum zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 erfahren durften: Die werteorientierte Politik schlägt zurück.

Geopolitik und Wertebindung

Wenn wir von Wert reden, dann meinen wir zunächst einmal den Tauschwert einer Sache. Sogar in der Ökonomie ist der Wert einer Sache keine ihrer intrinsischen Eigenschaften: Der Wert der Dinge wird in der Marktwirtschaft durch ihren Preis bestimmt, und nicht etwa der Preis durch den Wert.

In der Politik wird der Wertbegriff transzendentiert. Er wird erklärungsbedürftig.

Die wertegeleitete Außenpolitik ist ein Beispiel dafür, was Carl Schmitt als Die Tyrannei der Werte bezeichnete. Es verwundert nicht, dass sich einer der Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid, durch Hinzufügen eines „o“ zu seinem Vornamen von diesem Namensvetter abgesetzt hat.

Mit der Hochschätzung der Werte geraten wir in ein Paradoxon: Die Wertfreiheit der Wissenschaft ist für uns ein hoher Wert der Wissenschaft.

Die Werteorientierung hat praktische Folgen: die Verneinung eines negativen Wertes ist ein positiver Wert. Dieser Satz erlaubt es,

Böses mit Bösem zu vergelten und auf diese Weise unsere Erde in eine Hölle, die Hölle aber in ein Paradies der Werte zu verwandeln.

Dieser Gedanke des ehemaligen Nationalsozialisten Carl Schmitt (Die Tyrannei der Werte, 1967/2020, S. 51) hat nun wohl auch Annalena Baerbock erreicht. Auch das ist paradox, oder etwa nicht?

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Fördermittel sind kein Grund zur Freude

Es ist guter Brauch, dass der Starke dem Schwachen beisteht. Für uns Bürger laufen solche Unterstützungsleistungen vorwiegend über den Staat. Gegen den kommunalen Finanzausgleich und gegen den Länderfinanzausgleich ist kaum etwas zu sagen. Aber was ist, wenn Mittel zurückfließen an diejenigen, die eingezahlt haben?
Dann wandelt sich eine Abgabe zu einem Geschenk. Für eine solche Umwegfinanzierung besteht kein Grund, wenn eine Finanzierung über den normalen Haushalt und vorübergehende Verschuldung prinzipiell möglich ist.

Fulda-Uferweg am Freibad

Nach Auskunft der Stadt ging es bei den Stegen, die am Uferweg der Fulda neu gebaut wurden, darum, die vormals vorhandenen der Flussbadeanstalt in Erinnerung zu rufen. Zu 100% finanziert wurde das Vorhaben durch das Förderprogramm „Wachstum und nachhaltige Erneuerung“ des Bundes (420.000 Euro).

Steg an der Fulda

Aktuelles Ziel: Naturerleben. Bei der Plattform des Bildes waren die alten Fundamente nicht nutzbar. Deshalb sieht das jetzt so aus wie auf dem Bild. Die Büsche sollen noch gestutzt werden, um den Blick auf den Verlauf der Fulda freizugeben. Begründung: Lückenschluss und Schaffung von punktuellen Wasserzugängen unter Berücksichtigung der schützenswerten Auenstrukturen und der Hochwasserbelange. Das findet alles zur Landesgartenschau Fulda 2.023 statt.

Wir erinnern uns, dass der flussnahe Wander- und Radweg auf der gegenüberliegenden Flussseite anlässlich der Landesgartenschau 1994 verlegt wurde. Der Wasserzugang war damals offenbar nicht so wichtig.

Kommentare in der FB Gruppe „Fulda – meine Stadt“: Wir verschandeln alles, nur damit sich Politiker ein Denkmal setzen… Schön ist anders, sinnvoll auch… Schwachsinnige Geldverbrennung… durch nichts zu rechtfertigende Baumaßnahmen, aber das Geld muß weg… Vielleicht noch ’ne Krone draufgesetzt, damit das unnütze Ding zur Schlossturm-Krone passt.

In Kritische Gedanken zur Landesgartenschau Fulda 2.023 erinnere ich an die meines Erachtens gewalttätige Umgestaltung eines Quartiersplatzes, eine missglückte Förderung durch das weit entfernte Brüssel. Solche Erlebnisse haben meine Meinung zu Fördergeldern aus Wiesbaden, Berlin oder Brüssel geprägt.

Das Schwarzbuch

Durch die Umwegfinanzierung entstehen Scheingeschenke. Manches wird nur gemacht, weil das Geld nun schon einmal da ist. Es kommt zur Verschwendung von Steuergeldern. Mich wundert es nicht, dass viele der Projekte, die im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler „Die öffentliche Verschwendung“ aufgeführt werden, vom Land, vom Bund oder von Europa gefördert worden sind. Ich bringe Auszüge aus dem Schwarzbuch 2023/2024.

  • Fulda (HE). Schlossturm setzt Steuergeldverschwendung die Krone auf. Eigentlich waren in Fulda nur die Instandsetzung und barrierefreie Erschließung des vom Verfall bedrohten Schlossturms vorgesehen – doch Fördermittel machen nun eine umfassende historische Aufarbeitung möglich. Damit nicht genug: Der Turm soll in Anlehnung an seine historische Überdachung eine Krone aus Edelstahl erhalten, was die immensen Gesamtkosten noch einmal deutlich steigert.
  • Heikendorf (SH). Holzdeck ohne Nutzen. Die geplanten 280.000 Euro verdoppelten sich in der Endabrechnung auf 560.000 Euro. Für die Gemeinde-Verantwortlichen war dies kein Beinbruch, werden doch auch die erhöhten Kosten zu 90 Prozent von EU, Bund und Land gefördert.
  • Etzelwang (BY). Ein teures „Multifunktionsgebäude“ für Etzelwang. An Baukosten sind für das Mehrzweckgebäude 587.316 Euro angefallen, wovon 313.723 Euro durch das Amt für ländliche Entwicklung gefördert wurden. In Etzelwang bekommt man für knapp 590.000 Euro zu einer Küche, einem Lager sowie einem Klo [soweit das Bauvorhaben] sicher noch ein ganzes Haus, inklusive Heizung dazu.
  • Wiesbaden (HE). Vom einstigen Kulturpalast zur Ruine. Um bereits zugesagte Fördermittel nicht zu verlieren, ist im Jahr 2024 zwingend der Beginn der Baumaßnahmen erforderlich. Dem Grundsatzbeschluss von 2022 lag eine Konzeptstudie zugrunde, in der die Kosten bereits mit knapp 50 Mio. Euro beziffert wurden. Angesichts des noch immer fehlenden Nutzungskonzepts sowie der allgemeinen Baukostensteigerungen der jüngeren Vergangenheit dürfte jedoch auch diese Kalkulation nicht zu halten sein.
  • Wiesbaden (HE). Wiesbaden fährt Wasserstoffbusse vor die Wand. Nachdem sie bereits zahlreiche elektrisch betriebene Fahrzeuge angeschafft hatte, bestellte die Wiesbadener Verkehrsgesellschaft ESWE Verkehr nach europaweiter Ausschreibung 2020 auch zehn Brennstoffzellenbusse für insgesamt mehr als 6 Mio. Euro, wofür es großzügige Förderzusagen aus Bundes- und EU-Töpfen gab. Verklausuliert teilte ESWE Verkehr mit, es strebe „mit einer Neuausrichtung seines Fuhrparks die Verabschiedung der Brennstoffzellenbusse an“. Grund für die Kehrtwende war offenbar Überforderung.
  • Grebenhain (HE). Aufgetürmt: Aus einfachem Sendemast soll teurer Multifunktionsturm werden. In Grebenhain im Vogelsbergkreis ist ein Funksendemast geplant, um das bundesweite 450-Megahertz-Funknetz auszubauen. Im Laufe der Planungen wurde daraus – auch dank mehrerer Fördertöpfe – ein Multifunktionsturm mit Aussichtsplattform. Das macht das Projekt für den Steuerzahler fünf Mal so teuer.
  • Berlin. Riesenrad und „Eierhäuschen“. Mit dem Spreepark [bekannt aus dem Film Wer ist Hanna?] kann das Land zwar Fördermittel vom Bund nach Berlin holen. Zusätzliche Mittel für Baukostenüberschreitungen und jährliche Defizite fehlen aber bei der Sanierung der maroden Berliner Infrastruktur.

Zum Schluss

Bürgerbeteiligung macht das System der Förderungen nicht besser. Der Mechanismus der Scheingeschenke funktioniert sowohl in einem paternalistischen System als auch in einem demokratischen. Letzteres sorgt für allgemeine Zustimmung und dafür, dass der PR-Schwindel hinter den Autobahneröffnungen, Einweihungsfeiern und Stadtteilfesten schwer zu durchschauen ist.

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