Eine Angst geht um in Europa: Die Neue Rechte setzt auf intellektuelle Aufrüstung und auf Erkenntnisse der Wissenschaft. Die Angst ist unbegründet, denn entweder die Argumente überzeugen, oder eben nicht.
Es führt kein Weg daran vorbei: Ich werde in die Ideenwelt der Neuen Rechten eintauchen müssen. Geeignet erscheint mir das Werk Regime Change von rechts – eine strategische Skizze (2023). Der Autor Martin Sellner ist erst kürzlich mit seiner Rede von der Remigration ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Das war Ende November in einem Landhotel bei Potsdam.
Das Buch polarisiert. Die Amazon-Kritiken sind, mit einer Ausnahme, extrem: 46-mal ein Stern und 33-mal alle fünf Sterne. Ich bezweifle, dass viele der Rezensenten des Buch gelesen haben; sie zeigen eine in der Gesellschaft bereits vorhandene Polarisierung.
Begriffsarbeit
Es geht den Neurechten um das durch massenhafte Zuwanderung bedrohte »Volk«. Was genau ist es, was da bedroht wird?
Begriffsbestimmungen haftet etwas Willkürliches an. Das haben wir schon beim Streit um den Begriff der Rasse gesehen. Vorsichtshalber wird von Sellner die genaue Definition auf später verschoben:
Diese weltanschauliche Aufgabe besteht vor allem in einer Arbeit am Begriff (insbesondere an Worten wie »Volk«, »Bevölkerung«, »Staatsbürger«, »Nation«, »Kultur«, »Assimilation«, »Demokratie«, »Staat« etc.).
Viel Glück dabei!
Auch wenn man die Begriffe noch nicht hat, kann man mit der Theoriebildung schon einmal loslegen. Es hebt die Stimmung, wenn einem dazu die passenden Reizwörter oder Trigger einfallen.
Remigration und Reconquista
Der neue Leitbegriff heißt »Remigration«. Als Vorbild für die Rückeroberung des deutschen Lebensraumes dient die spanische Reconquista, eine wechselvolle Geschichte, in deren Verlauf die Moslems weite Teile der iberischen Halbinsel beherrschten aber letztendlich zurückgedrängt wurden. Das ging von 722 bis 1492, nahezu acht Jahrhunderte lang. Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb sich die Reconquista nicht als Schnittmuster für neurechtes Gedankengut eignet.
Der spanische Nationalheld El Cid war mal auf der christlichen Seite und auch mal auf der maurischen Seite tätig. In den 770 Jahren dieser Epoche war allerlei Gelegenheit für die Übernahme der jeweils anderen Kultur.
Der bedeutende jüdische Philosoph Moses Maimonides (1138-1204) verweist auf die muslimischen Mutakallimūn, denen das Abendland die Überlieferung griechischen, also heidnischen Wissens verdankt. Von Aristoteles hätten wir ohne sie möglicherweise nie erfahren.
Die Mauren, die Mohren also, brachten aus ihrer Heimat ein bereits voll ausgereiftes Instrument mit, eine arabische Laute. Daraus entwickelte sich die Gitarre und das Genre der arabisch-andalusischen Musik.
Dann lese ich von großartigen Bauten, beispielsweise von der Kathedralmoschee in Cordoba und der Alhambra. (Das Tárrega-Stück Recuerdos de la Alhambra habe ich in meiner Schulzeit in einem kleinen Gitarre-Konzert als Zugabe gespielt.)
Migration
Das Ende der Reconquista ist nicht das Ende der Geschichte. Danach ging es erst richtig los: Es folgten die „Eroberung des Paradieses“, die Vernichtung zweier Großkulturen im Süden und die Entwürdigung der Eingeborenen im Norden Amerikas. Danach kamen der Sklavenhandel und die Aneignung der Bodenschätze Afrikas.
Die Rechnung für den Imperialismus wird uns Europäern heute präsentiert: die Migration. Der Kreis schließt sich.
Die Neue Rechte gibt eine Antwort auf die befürchtete Überfremdung durch Einwanderung. Die Rede ist von einem Bevölkerungsaustausch.. Anlass ist die sogenannte Flüchtlingskrise mit ihrem Höhepunkt im Herbst 2015. Im Gesamtjahr wurden nahezu eine Million Schutzsuchende registriert.
Man kann keiner Nationen verwehren, seine Einwanderungspolitik zu bestimmen, und zwar nach Interessenlage. Reizwörter (Trigger) wie »Remigration« und »Reconquista« schüren Emotionen und behindern die sachgerechte Entscheidungsfindung. Ideologisierung ist keine passende Antwort auf solch praktische Fragen. Das gilt auch für eine ideologisch oder religiös aufgeladene Willkommenskultur („Wir schaffen das“).
Basis und Überbau
Ganz irre wird es bei dem Versuch, die Strategie der Linken zu kopieren. Martin Sellner fordert ein Primat der Ideologie. Er kennt die Analyse von Karl Marx, in der die Ökonomie als Basis benannt wird. Darüber erhebt sich der Überbau, die Ideologie. Sellner folgt lieber Lenin, der es andersherum sieht: Die ökonomischen Bedingungen eines Landes werden revolutioniert durch eine Idee:
Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.
Die Idee hat nichts getaugt und unter Stalin Millionen von Todesopfern in den Sowjetrepubliken zur Folge gehabt. Noch während meiner Kindheit in der DDR verschwand dann Stalin aus den offiziellen Bildern. Das Ende der Geschichte haben wir 1991 erlebt. Es ist nicht zu erwarten, dass die Neue Rechte mit dem Vorschlag, Marx von den Füßen auf den Kopf zu stellen, erfolgreicher sein wird.
Schlussbemerkung
Der Verlag für neurechte Literatur nennt sich Antaios. Namensgeber ist der Riese Antaios; dieser lebte in einer Höhle und jagte Fremde, Löwen und Einwohner seines Landes. Keiner war ihm gewachsen. Soweit kann man die Namensgebung ja noch verstehen. Die Geschichte nimmt ihre Wendung, als Herakles dem Riesen begegnet. Dieser erkennt, dass der Riese seine Kraft von der Erde, seiner Mutter Gaia bezieht. Herkules macht kurzen Prozess, hebt den Riesen hoch, beraubt ihn so seiner Kräfte und erwürgt ihn.
Vor der intellektuellen Schärfe der Neuen Rechten und der identitären Bewegung müssen wir keine Angst haben.
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