Propagandamasche Gegenfeuer

Eine Früherkennungssoftware enttarnte

von Ende vergangenen Jahres an eine neue deutschsprachige Welle russischer Versuche, die Debatten in sozialen Medien zu manipulieren. Ein wiederkehrendes Muster war auch hier: Die Bundesregierung vernachlässige die eigene Bevölkerung zugunsten der Ukraine.

Das berichtet die aktuelle Ausgabe des Spiegel (28/2024, S. 32).

Zuerst habe ich das für einen schwachen Witz gehalten. Um die Vernachlässigung der eigenen Bevölkerung, insbesondere ihres armen Teils, zugunsten der Ukraine zu bemerken, braucht es wirklich keine russische Desinformationskampagne. Der Blick in Tagesschau oder heute Sendung genügt. Die Ukraine Flüchtlinge werden besser gestellt als andere Flüchtlinge. Das geht natürlich zu Lasten der übrigen Bevölkerung.

Ganz offensichtlich wird hier von einer Spezialeinheit des Bundesinnenministeriums eine Propagandamasche angewendet, die man gemeinhin Gegenfeuer nennt. Dabei geht es darum, bestimmte Flächen (der Volksmeinung) kontrolliert abzubrennen, um sich ausbreitenden Flächenbränden (der feindlichen Propaganda) Brennstoff zu nehmen und diese somit einzudämmen.

Bitte fragen Sie mich nicht, ob ich die Propaganda oder die Gegenpropaganda gut finde, und auch nicht, ob die Bevorzugung der Ukraine-Flüchtlinge gerechtfertigt ist. Es geht allein um das Propagandamuster. Die Sache liegt hier ganz ähnlich wie bei den Faktenchecks: Das Etikett macht eine Meinung noch nicht zu einem unbezweifelbaren Faktum. Allein die Qualität der Begründung zählt. Meinen Studenten musste ich klar machen, dass die Aussage „Es ist wahr, dass die Sonne scheint“ der Aussage „Die Sonne scheint“ nichts hinzufügt. Mag sie nun wahr sein oder nicht. Weiterlesen

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Hochschule zwischen Demokratie und Ökonomie

Das Folgende ist keine Kritik an Präsidium und Leitungsgremien der Hochschule Fulda. Soweit ich es beurteilen kann, tut man dort genau das, was die deutsche Hochschullandschaft zulässt; alles ist im wohlverstandenen Sinne der Studentenschaft und der Stakeholder – wohlverstanden im Rahmen der vorgefundenen Strukturen und Bedingungen. Diese sollten wir genauer betrachten. Der Blick wird geweitet und geht über den Campus dieser Hochschule hinaus.

Den noch druckfrischen Prachtband zur 50-Jahrfeier meiner Hochschule in Händen stelle ich fest: Die Hochschule hat noch immer acht Fachbereiche wie vor drei Jahrzehnten: Sozial- und Kulturwissenschaften, Wirtschaft, Angewandte Informatik, Ökotrophologie, Lebensmitteltechnologie, Sozialwesen, Elektrotechnik und Informationstechnik und Gesundheitswissenschaften. Aufgebläht wurde die Hochschule durch immerhin 66 Studiengänge. Dabei hat sie nicht ganz 150 Professoren.

Die zu enge Orientierung der Ausbildung an spezifischen Praxisfeldern halte ich für eine Fehlentwicklung. Wichtig sind die Grundlagen: Sprachen, Mathematik Naturwissenschaften und Vertrautheit mit den elementaren Werkzeugen. Was das Berufsleben verlangt, wird man nach dem Studium sehen.

Die technischen Fachbereiche Lebensmitteltechnologie, Elektrotechnik und Informatik spielen in der Festschrift so gut wie keine Rolle. Auf den folgenden Gebieten wird Exzellenz ausgewiesen: Lebensqualität und Gesundheit, Akademisierung der Pflegeberufe („Die Puppen können sogar grün erbrechen“, so wurde mir berichtet.), Diätetik, Hebammenkunde, frühkindliche Bildung.

Besonders herausgestellt wird die Diversitätskultur und die Tatsache, dass die Gleichstellungsarbeit der Hochschule Fulda deutschlandweit eine Spitzenposition einnimmt. Das Gender-Sternchen wurde erfolgreich verteidigt, entgegen den Wünschen des hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein. Stolz ist man auf das Selbstlernzentrum. Es erinnert mich an die Lernmethoden nach Klippert. Eine hoffentlich vergangene Modeerscheinung.

Auf solchen Nebenkriegsschauplätzen zu reüssieren allein, wird der Leistungsfähigkeit der Hochschule Fulda m. E. nicht gerecht.

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Universalisierung der Menschenrechte – eine Ideologie?

Auch Die Ideologie des Westens hätte als Überschrift gepasst. Ich empfehle, diesen Artikel von Bettina Gaus zu lesen – vor meinem zum Aufwärmen oder danach als Ausklang.

Die Truman Show

Der Nationalstaatsgedanke entstand im Gefolge des Dreißigjährigen Kriegs und des Westfälischen Friedens. Zwischen dem Nationalstaatsgedanken und den allgemeinen Menschenrechten besteht ein Spannungsverhältnis, das Stefan-Ludwig Hoffmann unter Bezugnahme auf das 20. Jahrhundert so beschreibt:

Die zweite Jahrhunderthälfte wurde bestimmt von der geopolitisch lückenlosen Nationalstaatsbildung und der zunehmenden Aushöhlung staatlicher Souveränität unter anderem durch transnationale Rechtsnormen wie den Menschenrechten.

Im westlichen Lager sorgen die Menschenrechte für Harmonie und gedeihliches Miteinander. Da kommt kaum einer auf die Idee, dass es sich um eine Ideologie handeln könnte.

Dem Hauptdarsteller der Truman Show, Truman Burbank, musste eine Jupiterlampe vor die Füße fallen, so dass er den Verdacht schöpfte, dass die glänzende Welt, in der lebte, nicht real, sondern eine Show ist.

Unsere Jupiterlampen sind die Kriege in Europa und Nahost, die Flüchtlingsströme und die Messerstechereien wie beispielsweise die von Mannheim. Offenbar braucht es mehrere davon, bis wir merken, was los ist.

Die Idee

Alle Menschen sollen frei und glücklich leben können. Das wird zumindest den US-Bürgern durch die Verfassung versprochen. Gemeint ist jeder Einzelne, das Individuum also. Damit geht die Auffassung einher, dass ein jeder Mensch auf dieser Erde einen Anspruch darauf hat, dass diese Menschenrechte also universelle Gültigkeit besitzen. Das ist die Idee, der geistig-moralische Überbau der erstrebten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Weiterlesen

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Emotionen verbieten

Emotionen verbieten: Dieses Paradoxon schließt an den letzten Artikel an.

Gerade schreibe ich über Abscheu und Überempfindlichkeit, da erreichte mich die Nachricht vom Messerangriff in Mannheim.

Der Messerangriff auf dem Marktplatz von Mannheim am 31. Mai 2024 ist unentschuldbar. Ein Polizist ist das Opfer eines radikalen Islamisten aus Heppenheim an der Bergstraße geworden. Täter-Opfer-Umkehr ist nicht erlaubt.

Dennoch ist die Frage zulässig, warum PAX Europa e.V. gerade dort gegen den politischen Islam demonstrieren muss. Der Tatort Marktplatz ist nicht weit weg vom Jungbusch-Viertel. Dieses ist spätestens seit dem Song „Iwwa die Brick“ von Joy Fleming ins Blickfeld der interessierten Öffentlichkeit geraten. Dort findet man viele Clubs, Treffpunkte junger Leute. Ich bin dort gern ins Kino gegangen. (Der großartige Thriller „Diva“ rund um eine Opernsängerin ist dort monatelang gelaufen und sonst wohl nirgends.) Zwei von drei Bewohnern haben einen Migrationshintergrund.

Der eigentlich gegen den anti-islamistischen Aktivisten Michael Stürzenberger gerichtete Messerangriff ist durch nichts zu rechtfertigen. Stürzenberger wurde verletzt. Auch ihm gilt unser Mitgefühl.

Dennoch sollten wir nachsehen, auf welchem Boden solch ein Unwesen gedeihen kann. Stürzenberger hat in der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) für einen radikalen Kurs mit Nähe zur Pegida-Bewegung gesorgt. In einer Rede bezeichnete Stürzenberger Geert Wilders

angesichts seines mutigen Einsatzes für Freiheit und Demokratie als einen „Helden unserer Zeit“.

In der Sendung Markus Lanz vom 4.6.24 nannte die Journalistin Anna Lehmann den Polizeieinsatz in Mannheim bei einer Veranstaltung der islamkritischen Bewegung Pax Europa, bei dem ein Polizist tödlich verletzt wurde, „dilettantisch“. An der Wortwahl sieht man, wie aufwühlend das Ereignis ist.

Jedenfalls war Polizei vor Ort, man ahnte also, dass Unheil droht. Der Konflikt zeigt sich in voller Schärfe: Der leidenschaftliche Islamverächter zieht Hass auf sich, die Emotionen werden unbeherrschbar.

Von Migranten hört man immer wieder den Ruf nach Respekt. Das könnte ein Zauberwort zur Lösung der Probleme sein. Ist es aber nicht.

Fehlender Respekt ist eine der Ursachen für die Krisen dieser Welt. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise beispielsweise schreibt Fiona Hill: „Putin will Respekt“ (DER SPIEGEL 7/2015, S. 91). Putin hat in seiner Münchner Rede 2007 Respekt eingefordert. Niemand hat ihn ernst genommen. Die Ostererweiterung der NATO war dem Westen wichtiger.

Der Respekt hat in der aufgewühlten Stimmung unserer Zeit keine Chance. Sogar die schwachen Schutzwände, die unsere Gesetze bieten, werden infrage gestellt. Der humanistische Pressedienst beispielsweise fordert anlässlich der Messerattacke in Mannheim hpd eine Streichung des §166 StGB,

wegen dem die Organisatoren der Veranstaltung in zynischer Weise für das Attentat verantwortlich gemacht werden könnten.

Dieser Gesetzestext wäre demzufolge zu streichen:

(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Auch wer angesichts der Verrohung unserer Debattenkultur von der Streichung nichts hält, sollte bedenken, was Michel Abdollahi im aktuellen Spiegel über  die singenden Ausländerfeinde auf Sylt schreibt (DER SPIEGEL 23/2024, S. 38 f.):

Man kann Symbole und Aussprüche verbieten. Aber glauben wir wirklich, indem wir das Singen und Sagen verbieten, können wir auch das Denken und das Handeln verbieten? […] Wir müssen unsere Kritik laut äußern und in den Konflikt gehen.

Dafür braucht es Begeisterung. Womit wir wieder beim Anfang dieses Artikels wären. Wenn Paradoxien überhaupt etwas leisten, dann das: Diskussionen anstoßen.

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Aufklärung paradox

Paradoxien sind für Paul Watzlawick Quellen der Erkenntnis. Ein prägnantes Beispiel ist die Aufforderung „Sei spontan“. Paradoxien sind alltäglich.

Wohlwollende Menschen mit guter Erziehung und Mitgefühl hat man gerne zum Freund. Sie beeindrucken mit ihrem Einsatz für die Menschenrechte und gegen den Rassismus. Alle Menschen sollen frei und glücklich leben können. Das wird zumindest den US-Bürgern durch die Verfassung versprochen. Gemeint ist jeder Einzelne, das Individuum also.

Dieser westliche Individualismus war ein Erfolgsrezept. Es hat für Wohlstand gesorgt – für üppigen bei wenigen und für bescheidenen bei vielen. Die Wohlmeinenden sind von dem Wunsch getrieben, diese Wohltaten der ganzen Welt zukommen zu lassen, indem sie den Menschenrechten universale Geltung zumessen. Ziemlich unerwartet verkehren sich die hehren Absichten ins genaue Gegenteil. Wie das?

Zwei Beweggründe kann ich ausmachen. Der erste ist vernünftig, der zweite gefühlsbedingt. Im ersten Fall liegt es an einer scheiternden Universalisierung der Regeln des Zuammenlebens und im zweiten an den Eigenheiten eines jeden. Das werde ich noch erläutern. Eine Vorbereitung brauche ich noch.

Sein und Denken

Wir leben in einer Zeit, in der der Glaube verbreitet ist, dass man nur das Denken und die Sprachen ändern müsse, um zu einer besseren Gesellschaft zu kommen. Sicht- und hörbaren Ausdruck findet dieser Trend im Gendern. Die Bedeutung des wohlmeinenden Denkens wollte mir ein Freund mit dem folgenden Zitat vor Augen führen (Tschingis Aitmatow):

Das Niveau der geistigen und sittlichen Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft sollte stets ein wenig höher sein als das Niveau des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.

Ich versuche, dem Satz Sinn abzuringen. Vielleicht meint der Autor, dass die geistige Entwicklung der technischen immer ein wenig voraus sein sollte, so dass erstere die letztere kontrolliert. Karl Marx sieht das wohl eher andersherum: Auf der realen Basis der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung erhebt sich der geistige und administrative Überbau.

Da habe ich Anschauungsmaterial zu bieten. Acht Jahre lang war ich Angestellter eines KKW-Herstellers und habe nachgedacht: Nach dem Krieg und nach dem Atombombenabwurf gab es den Ruf nach einer friedlichen Nutzung der Kernenergie. Diese versprach eine lange dauernde und saubere Energieversorgung. Es war moralisch geboten, auf diese Karte zu setzen. Die politischen Parteien stimmten zu. Mit der Zeit wurden die Probleme sichtbar: Die Sicherheit (mein Arbeitsgebiet) erschien zunehmend fraglich. Die Frage, wohin mit den Abfällen, wurde immer dringlicher; sie ist noch heute unbeantwortet. Dass Frankreich seinen Atomstoff aus Niger und prospektiv aus Mali bezieht, dürfte inzwischen jedem als eine der Ursachen der Misere in der Sahelzone aufgefallen sein. Fazit: Die moralische Aufbereitung folgt den Geschehnissen – bestenfalls und eher zögerlich.

Kommunistische Führer maßen den Intellektuellen eine Avantgardefunktion zu und die Neue Rechte glaubt an die Gestaltungskraft einer großen umfassenden Idee. Vom Leninismus und Stalinismus wissen wir, dass das nicht klappt.

Also Vorsicht mit den großen und universalen Ideen zur Fortentwicklung der Gesellschaft. Der zitierte Satz von Aitmatow klingt gut, hat aber kaum Substanz.

Alles ist Zahl

Die Aufklärung hat uns die moderne Wissenschaft gebracht und die Illusion, dass alles messbar und berechenbar ist. Die Zahlen haben universelle Gültigkeit und verleihen Herrschaft über Dinge und Menschen. Insofern knüpft die Moderne an die Mythologie der antiken Pythagoräer an, die meinten, alles sei Zahl. Max Horkheimer erklärt den „Begriff der Aufklärung“ so (Dialektik der Aufklärung, 1969/1988, Seite 32):

Die Entfernung des Denkens von dem Geschäft, das Tatsächliche zuzurichten, das Heraustreten aus dem Bannkreis des Daseins, gilt der szientifischen Gesinnung ebenso als Wahnsinn und Selbstvernichtung, wie dem primitiven Zauberer des Heraustreten aus dem magischen Kreis, den er für die Beschwörung gezogen hat

.
Der Anspruch der universellen Gültigkeit erstreckt sich auch auf die Regeln des Zusammenlebens. Die Rede von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte begleitet die Missionstätigkeit des Westens, die den Boden bereitet für die Herrschaft des Kapitals. Dieser Zusammenhang wird derzeit sichtbar, weil sich der globale Süden gegen die Bevormundung durch die westliche Welt wehrt. Paul Kagame, Präsident von Ruanda:

Afrika braucht keine Babysitter. Je weniger sich die Welt um Afrika kümmert, umso besser geht es Afrika.

Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen gibt es Rassismus. Das ist die rationale Seite des Paradoxons.

Überempfindlichkeit

Beim Auswringen von Wäsche kriege ich eine Gänsehaut. Von anderen höre ich, dass sie das Kratzen von Messern auf einem Topfboden kaum aushalten können. Viele Leute, die ich kenne, haben ein Geräusch, das sie nervt. Das sind Beispiele für Überempfindlichkeit (Idiosynkrasie). Ich erkläre mir diese Eigenheiten so: Diese Geräusche erfährt das Baby immer genau dann, wenn es die Mutter vermisst. Die hat ja offenbar gerade etwas anderes zu tun. Möglicherweise ist das Erlebnis so intensiv, dass es im Gefühlsleben hängen bleibt. In der fünften These der „Elemente des Antisemitismus“ aus dem Buch „Dialektik der Aufklärung“, geschrieben vermutlich von Leo Löwenthal, finde ich Folgendes:

»Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiss das nicht so leicht« sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkasie.

Wenn ein wohlmeinender Verfechter der Menschenrechte die Regeln und Gepflogenheiten des Islam abscheulich, zum Kotzen oder widerlich findet, dann ähnelt das den Idiosynkrasien von Rassisten und Antisemiten. Das ist die emotionale Seite des Aufklärungsparadoxons. Weiterlesen

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Ein Skeptikerverein – geht das?

Wenn man die Geschichte des Skeptizismus betrachtet, fragt man sich, ob es so etwas wie einen Skeptikerverein wirklich braucht. Der Skeptiker ist eigentlich kein Rudeltier. Auf der anderen Seite ist es sicherlich eine feine Sache, sich unter Skeptikern auszutauschen und das kritische Denken zu popularisieren. Die diesbezüglichen Formate der GWUP habe ich immer geschätzt. Schade, dass das aufgrund des aktuellen Zoffs in Gefahr ist. Das Problem sind die ideologischen Kämpfe im Hintergrund, die für das Publikum im Grunde keine Rolle spielen.

Wurzel des Übels

Der momentane Zoff ist bereits in der alten GWUP angelegt und hat seine Wurzeln im „angelsächsischen Denken“: Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit des Individuums sind universelle Werte, denen alle Menschen folgen sollen – dann ist das „Ende der Geschichte“ da und Frieden überall.

In der Wissenschaft hat dieser Universalitätsanspruch Ausdruck gefunden im kritischen Rationalismus des Karl Raimund Popper, der Ideen von John Locke und David Hume aufgreift. Das war ein sehr erfolgreiches Programm infolge der Aufklärung, die der Naturwissenschaft einen atemberaubenden Triumphzug beschert hat.

Das, was ich die „alte GWUP“ nenne, hat den Fortschrittsglauben der Aufklärung verinnerlicht und ideologisch vertieft.

Der Frieden der Welt ist fern wie eh und je und gesellschaftliche Probleme verweigern sich dem kritisch-rationalen Zugriff. So kam, was kommen musste: Alternative Denkrichtungen verschafften sich Gehör, insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Im letzten Artikel habe ich eine der kritischen Studien besprochen: White Fragility von Robin DiAngelo.

Positionen

Die aktuellen Spannungen in dem Verein finden Ausdruck in zwei Briefen: Erstens im Austrittsschreiben von Florian Aigner und zweitens in der darauffolgenden Replik von Ulrich Berger.

Aigner beklagt die

Auseinandersetzung zwischen den gesellschaftspolitischen Strömungen „woke“ und „anti-woke“. Plötzlich wurde nicht mehr über naturwissenschaftliche Fakten diskutiert, sondern über Identitätspolitik, über postmoderne Philosophie, über Gendersprache und Cancel Culture.

Er findet es unpassend, dass sich der Verein in solchen Fragen positioniert.

Innerhalb der GWUP gab es die Forderung, den gesamten Bereich der „Critical Studies“ (ein weites Feld, von Gender-Studies bis hin zu Critical Race Theory) als Pseudowissenschaft zu deklarieren und den Einsatz dagegen als Teil der Vereinsarbeit zu sehen

Aigner findet es zwar wichtig, solche Fragen im Spannungsfeld von „Wokeness“ und „Anti-Wokeness“ zu diskutieren, jedoch nicht in der GWUP. Er schreibt:

In der Skeptikerbewegung geht es um Rationalität und Aufklärung, um Fragen, die man mit naturwissenschaftlichen Methoden klar beantworten kann.

Das ist ein Plädoyer für die fortgesetzte Engführung des Vereins, eine ideologische Fixierung, wie ich meine. Berger hält dagegen:

Nein, es ging niemals nur um solche Fragen. Das wäre eine radikale, willkürliche und unnötige Einschränkung. Vor 15 Jahren schon gab es z.B. im Skeptiker eine Diskussion darüber, ob die Volkswirtschaftslehre eine Pseudowissenschaft sei

Den hier angesprochenen Disput zwischen Mario Bunge (kontra VWL) und Ulrich Berger (pro) fand ich sehr interessant. Er erschien im skeptiker-Heft übrigens unmittelbar hinter meinem ersten Auftritt in dieser Zeitung: Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution (skeptiker 2/2009).

Besinnung auf den klassischen Skeptizismus

Den Skeptiker zeichnet ja aus, dass er keine Begründung braucht, anders als der Ideologe und der Philosoph. Dass bereits die alten Griechen eine Philosophie aus dem Skeptizismus gemacht haben, interessiert hier nicht weiter. Ich halte mich an die Basics für Skeptiker. Diese reichen für das Programm eines Skeptikervereins aus. Mit diesem Instrumentarium kann man sich kritisch alle möglichen Aussagesysteme vornehmen, sogar deren Überbau wie den Kritischen Rationalismus und die Kritische Theorie.

Ulrich Bergers Standpunkt halte ich für zukunftsweisend. Wenn der vereinsorganisierte Skeptizismus in Deutschland überhaupt eine Chance haben soll, dann so: Ohne Ideologie, ohne ontologische Festlegungen, offen für den gepflegten Streit über alles, was die Menschen interessiert, der Kritik zugänglich ist und nicht schon anderweitig gründlich beackert wird. (Damit sind Religionen, einige Weltanschauungen und die Politik schon draußen.)

So könnte es gehen.

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Rasse, Wissenschaft, Rassismus

Am 30. Juni 2021 schrieb ich:

Mit Abschaffung des Begriffs der Rasse verschwindet der Rassismus leider nicht.

Das kann ich jetzt präzisieren, und zwar mit Hilfe eines Buches von Robin DiAngelo: White Fragility (2018). Über dieses Buch meint Martin Mahner, es sei Antiwissenschaft. Für mich ist das Buch zwar keine Wissenschaft im Sinne des kritischen Rationalismus, aber es enthält einige bemerkenswerte Aussagen und Denkansätze. Der Denkrahmen ist hier eben nicht gegeben durch die Naturwissenschaften, die Biologie und ihre Taxonomien, sondern durch die »Totalität« (Adorno) der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Robin DiAngelo schreibt (S. 41 f.):

One line of [Martin Luther] King’s speech in particular – that one day he might be judged by the content of his character and not the color of his skin – was seized upon by the white public because the words were seen to provide a simple and immediate solution to racial tensions: pretend that we don’t see race, and racism will end. Color blindness was now promoted as the remedy for racism, with white people insisting that they didn’t see race or, if they did, that it had no meaning to them. […] While the idea of color blindness may have started out as well-intentioned strategy for interrupting racism, in practice it has served to deny the reality of racism and thus hold it in place.

(Eine Zeile von [Martin Luther] Kings Rede – dass er eines Tages nach dem Inhalt seines Charakters und nicht nach seiner Hautfarbe beurteilt werde möge – wurde von der weißen Öffentlichkeit aufgegriffen, weil sie eine einfache und unmittelbare Lösung für die rassischen Spannungen bieten würde: Tun wir so, als ob wir die Rasse nicht sehen, und der Rassismus wird aufhören. Farbenblindheit wurde nun als Heilmittel gegen Rassismus propagiert, wobei die Weißen darauf bestanden, dass sie die Rasse nicht sahen oder, wenn sie sie doch sahen, dass sie keine Bedeutung für sie hatte. […] Während die Idee der Farbenblindheit vielleicht als gut gemeinte Strategie zur Überwindung des Rassismus begann, hat sie in der Praxis dazu gedient, die Realität des Rassismus zu leugnen und ihn somit aufrechtzuerhalten.)

Wenn Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, sagt, der im Grundgesetz genutzte Begriff »Rasse« solle unbedingt darin erhalten bleiben, der Begriff erinnere an die deutsche Geschichte, vor allem

an die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen, in erster Linie Jüdinnen und Juden; an die Schrecken der Schoa,

dann verstehe ich ihn so, dass er Rasse als Konstruktion im Rahmen sozialer und struktureller Gegebenheiten sieht und weniger als Gegenstand biologischer Klassifizierung.

Robin DiAngelo bezieht ihre Motivation aus den US-amerikanischen Verhältnissen. Sie benennt aber auch die Ursachen, und da kommt sie auf das westliche Wertesystem zu sprechen, auf das sich die Politiker angesichts der Krisen in der Ukraine und Gaza gerne berufen. Die Wurzel des Übels Rassismus liegt für sie im fraglos akzeptierten Denkrahmen (S. 9):

We make sense of perceptions and experiences through our particular cultural lens. This lens is neither universal nor objective, and without it, a person could not function in any human society. But exploring these cultural frameworks can be particularly challenging in Western culture precisely because of two key Western ideologies: individualism and objectivity.

(Wahrnehmungen und Erfahrungen gehen durch unsere besondere kulturelle Brille. Dieser Blick ist weder universell noch objektiv, und ohne ihn könnte der Mensch in der menschlichen Gesellschaft nicht funktionieren. Die Erforschung dieses kulturellen Rahmens kann jedoch in der westlichen Kultur eine besondere Herausforderung darstellen, und zwar gerade wegen der beiden wichtigsten westlichen Ideologien: Individualismus und Objektivität.)

Über Kulturen und Wertesystemen wurde in diesem Hoppla!-Blog bereits mehrfach diskutiert, unter anderem unter dem Titel Zeitenwende.

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Gendern hilft, weil Gendern hilft

Jetzt ist es wissenschaftlich erwiesen: Durch das generische Maskulinum wird ein männerlastiges Bild ausgelöst. Das ist das Ergebnis einer Studie des Würzburger Psychologieprofessors Fritz Strack. Ihn haben wir schon kennengelernt als Träger des Ig-Nobelpreises.

Diese Studie überzeugt mich nicht. Warum? Zwar wird von den meisten Deutschen das Gendern abgelehnt. Wir können aber von etwa zwanzig Prozent ausgehen, die dem Gendern positiv gegenüberstehen. Ich nehme an, dass dieser Prozentsatz auch für die Studienteilnehmer gilt.

Die Genderanhänger kann man zu den aufgeweckten Leuten rechnen (woke). Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Fragen der Studie bei ihnen ein Filter durchlaufen, das für eine Schieflage (Bias) des Studienergebnisse sorgt: Ist kein Hinweis zu finden, dass Nichtmänner mitgemeint sind, dann sind sie für den aufgeweckten Studienteilnehmer eben nicht mitgemeint.

Ich bringe dieses Beispiel, weil es sehr gut zu meinem vorhergehenden Artikel passt: Das Instrumentarium des Naturwissenschaftlers – messen und statistisch auswerten – ist ungeeignet, wenn sich das untersuchte Objekt nicht klar vom Beobachter trennen lässt.

Diese Studie fällt für mich in die Kategorie Statistikplunder, ein zentrales Thema dieses Hoppla-Blogs.

Um mich vor Angriffen der Wokies zu schützen, könnte ich jetzt behaupten, dass der Artikel ironisch gemeint sei. Das hilft leider nichts. Diese Behauptung könnte ja Ironie sein.

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GWUP: Am Ende des Wegs?

Die Skeptikerbewegung in Deutschland, namentlich die GWUP, befindet sich in einer Zerreißprobe, deren öffentlicher Widerhall unüberhörbar ist.

Bisher hat sich die Skeptikerbewegung in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit platten praktischen Dingen wie Homöopathie und Astrologie zur Schulung des kritischen Denkens und mit Verbraucheraufklärung befasst – weniger mit theoretischen Tiefenbohrungen.

Intern aber gab es eine Tiefenbohrung. Diese trat unter der Namen Ontologischer Naturalismus auf. Das führte nach 15 Jahren Mitgliedschaft und siebenjähriger Auseinandersetzung damit zu meinem Austritt aus der GWUP. Dieser Satz von Oscar Wilde fällt mir dazu ein: Those who go beneath the surface, do so at their peril. (Wer sich die Details antun will, der wird im Hoppla!-Blog unter dem Stichwort »Skeptikerbewegung« fündig.)

Der intern spürbare Fanatismus hat mich abgestoßen. Es ist kein Wunder, dass Fanatiker der einen Sorte die einer anderen anziehen. Wer den aktuellen Zwist verstehen will, der muss mehr als ein halbes Jahrhundert zurückgehen, in eine Zeit also, in der es die GWUP noch nicht gab.

Kritisches irgendwas

Gegenpole sind auf der einen Seite die Kritische Theorie, die ein Denksystem oder eine Gesellschaft von innen heraus analysiert und kritisiert und andererseits der Kritische Rationalismus, der versucht, einer vom Denken unabhängigen Realität mit Hilfe von Mathematik und Logik beizukommen. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Denkrichtungen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ist als Positivismusstreit in die Annalen eingegangen. Exponenten und prägende Figuren in diesem Streit waren auf Seite der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno und auf Seite des Kritischen Rationalismus Karl R. Popper.

Kurz gesagt: Für den einen ist der Denkrahmen vorgegeben durch den zu untersuchenden Bereich und für den anderen ist er unabhängig davon. Das sind die jeweiligen Prämissen.

Als Beleg für diese Differenzierung zitiere ich aus Adornos Einleitung zu Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969, 1989, S. 10):

Zu fragen wäre, ob eine bündige Disjunktion gilt zwischen der Erkenntnis und dem realen Lebensprozeß; ob nicht vielmehr die Erkenntnis zu jenem vermittelt sei, ja ob nicht ihre eigene Autonomie, durch welche sie gegenüber ihrer Genese sich produktiv verselbstständigt und objektiviert hat, ihrerseits aus ihrer gesellschaftlichen Funktion sich herleite; ob sie nicht einen Immanenzusammenhang bildet und gleichwohl ihrer Konstitution als solcher nach in einem sie umgreifenden Feld angesiedelt ist, das auch in ihr immanentes Gefüge hineinwirkt.

Gewitterwolken ziehen auf

Aufmerksam geworden bin ich auf den sich entwickelnden Konflikt durch einen Aufsatz von Martin Mahner im skeptiker, dem Vereinsblatt der GWUP, erschienen auch als Gastbeitrag im GWUP-Blog.

Dass der Aufsatz einen GWUP-internen Krach anzeigte, dessen wurde ich erst später über Internet-Medien gewahr, nämlich als bei der Neuwahl des Vorstands auf der letzten Mitgliederversammlung am 20. Mai 2023 nicht der vom scheidenden Vorsitzenden Amardeo Sarma vorgeschlagene Rouven Schäfer gewählt wurde, sondern Holm Hümmler. Von einem Handstreich ist die Rede.

Die beiden werden offenbar verschiedenen Fraktionen zugeordnet:

  • Schäfer der „alten GWUP“ (kritisch rational bis szientistisch, universell orientiert und Objektivität beanspruchend, anti-woke).
  • Hümmler der „neuen GWUP“ (der Critical Theory zugeneigt, partikularistisch und relativistisch, pro-woke).

Diese Sortierung ist in einer Reihe von Videos und Podcasts klar gemacht worden:

Austritte

Es häufen sich die Austritte, darunter Prominente wie Edzard Ernst (2.2.2024) und Florian Aigner (April 2024).

Ergänzung am 11.4.2024: Wie unversöhnliche es inzwischen zugeht, das zeigt ein offener Brief von Ulrich Berger, in dem er den Austritt Aigners kommentiert.

Rücktrittsforderung und Rücktritt

Offenbar können sich einige Leute, deren Herzensangelegenheit die GWUP ist, das nicht länger mit ansehen. Ulrich Berger, dem wir im Hoppla!-Blog schon begegnet sind, kündigte im Gespräch mit André Sebastiani an, Holm Hümmler auf der Mitgliederversammlung am 11. Mai 2024 zum Rücktritt aufzufordern. Dem kam Holm Hümmler zuvor, was Andreas Edmüller ziemlich gnadenlos kommentierte.

Schlussbemerkung

Die Skeptikerbewegung hatte nie etwas mit Skeptizismus zu tun. Skeptikerbewegung ist ein Widerspruch in sich. Der Skeptiker ist kein Rudeltier. Die Kontroverse pro und kontra woke ergibt sich auch aus diesem Selbstwiderspruch. Dennoch: Sollte der Verein untergehen, täte es mir leid. Ich habe durch die Auseinandersetzungen viel gelernt.

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Die Neue Rechte wird grundsätzlich – und irrt herum

Eine Angst geht um in Europa: Die Neue Rechte setzt auf intellektuelle Aufrüstung und auf Erkenntnisse der Wissenschaft. Die Angst ist unbegründet, denn entweder die Argumente überzeugen, oder eben nicht.

Es führt kein Weg daran vorbei: Ich werde in die Ideenwelt der Neuen Rechten eintauchen müssen. Geeignet erscheint mir das Werk Regime Change von rechts – eine strategische Skizze (2023). Der Autor Martin Sellner ist erst kürzlich mit seiner Rede von der Remigration ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Das war Ende November in einem Landhotel bei Potsdam.

Das Buch polarisiert. Die Amazon-Kritiken sind, mit einer Ausnahme, extrem: 46-mal ein Stern und 33-mal alle fünf Sterne. Ich bezweifle, dass viele der Rezensenten des Buch gelesen haben; sie zeigen eine in der Gesellschaft bereits vorhandene Polarisierung.

Begriffsarbeit

Es geht den Neurechten um das durch massenhafte Zuwanderung bedrohte »Volk«. Was genau ist es, was da bedroht wird?

Begriffsbestimmungen haftet etwas Willkürliches an. Das haben wir schon beim Streit um den Begriff der Rasse gesehen. Vorsichtshalber wird von Sellner die genaue Definition auf später verschoben:

Diese weltanschauliche Aufgabe besteht vor allem in einer Arbeit am Begriff (insbesondere an Worten wie »Volk«, »Bevölkerung«, »Staatsbürger«, »Nation«, »Kultur«, »Assimilation«, »Demokratie«, »Staat« etc.).

Viel Glück dabei!

Auch wenn man die Begriffe noch nicht hat, kann man mit der Theoriebildung schon einmal loslegen. Es hebt die Stimmung, wenn einem dazu die passenden Reizwörter oder Trigger einfallen.

Remigration und Reconquista

Der neue Leitbegriff heißt »Remigration«. Als Vorbild für die Rückeroberung des deutschen Lebensraumes dient die spanische Reconquista, eine wechselvolle Geschichte, in deren Verlauf die Moslems weite Teile der iberischen Halbinsel beherrschten aber letztendlich zurückgedrängt wurden. Das ging von 722 bis 1492, nahezu acht Jahrhunderte lang. Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb sich die Reconquista nicht als Schnittmuster für neurechtes Gedankengut eignet.

Der spanische Nationalheld El Cid war mal auf der christlichen Seite und auch mal auf der maurischen Seite tätig. In den 770 Jahren dieser Epoche war allerlei Gelegenheit für die Übernahme der jeweils anderen Kultur.

Der bedeutende jüdische Philosoph Moses Maimonides (1138-1204) verweist auf die muslimischen Mutakallimūn, denen das Abendland die Überlieferung griechischen, also heidnischen Wissens verdankt. Von Aristoteles hätten wir ohne sie möglicherweise nie erfahren.

Die Mauren, die Mohren also, brachten aus ihrer Heimat ein bereits voll ausgereiftes Instrument mit, eine arabische Laute. Daraus entwickelte sich die Gitarre und das Genre der arabisch-andalusischen Musik.

Dann lese ich von großartigen Bauten, beispielsweise von der Kathedralmoschee in Cordoba und der Alhambra. (Das Tárrega-Stück Recuerdos de la Alhambra habe ich in meiner Schulzeit in einem kleinen Gitarre-Konzert als Zugabe gespielt.)

Migration

Das Ende der Reconquista ist nicht das Ende der Geschichte. Danach ging es erst richtig los: Es folgten die „Eroberung des Paradieses“, die Vernichtung zweier Großkulturen im Süden und die Entwürdigung der Eingeborenen im Norden Amerikas. Danach kamen der Sklavenhandel und die Aneignung der Bodenschätze Afrikas.

Die Rechnung für den Imperialismus wird uns Europäern heute präsentiert: die Migration. Der Kreis schließt sich.

Die Neue Rechte gibt eine Antwort auf die befürchtete Überfremdung durch Einwanderung. Die Rede ist von einem Bevölkerungsaustausch.. Anlass ist die sogenannte Flüchtlingskrise mit ihrem Höhepunkt im Herbst 2015. Im Gesamtjahr wurden nahezu eine Million Schutzsuchende registriert.

Man kann keiner Nationen verwehren, seine Einwanderungspolitik zu bestimmen, und zwar nach Interessenlage. Reizwörter (Trigger) wie »Remigration« und »Reconquista« schüren Emotionen und behindern die sachgerechte Entscheidungsfindung. Ideologisierung ist keine passende Antwort auf solch praktische Fragen. Das gilt auch für eine ideologisch oder religiös aufgeladene Willkommenskultur („Wir schaffen das“).

Basis und Überbau

Ganz irre wird es bei dem Versuch, die Strategie der Linken zu kopieren. Martin Sellner fordert ein Primat der Ideologie. Er kennt die Analyse von Karl Marx, in der die Ökonomie als Basis benannt wird. Darüber erhebt sich der Überbau, die Ideologie. Sellner folgt lieber Lenin, der es andersherum sieht: Die ökonomischen Bedingungen eines Landes werden revolutioniert durch eine Idee:

Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.

Die Idee hat nichts getaugt und unter Stalin Millionen von Todesopfern in den Sowjetrepubliken zur Folge gehabt. Noch während meiner Kindheit in der DDR verschwand dann Stalin aus den offiziellen Bildern. Das Ende der Geschichte haben wir 1991 erlebt. Es ist nicht zu erwarten, dass die Neue Rechte mit dem Vorschlag, Marx von den Füßen auf den Kopf zu stellen, erfolgreicher sein wird.

Schlussbemerkung

Der Verlag für neurechte Literatur nennt sich Antaios. Namensgeber ist der Riese Antaios; dieser lebte in einer Höhle und jagte Fremde, Löwen und Einwohner seines Landes. Keiner war ihm gewachsen. Soweit kann man die Namensgebung ja noch verstehen. Die Geschichte nimmt ihre Wendung, als Herakles dem Riesen begegnet. Dieser erkennt, dass der Riese seine Kraft von der Erde, seiner Mutter Gaia bezieht. Herkules macht kurzen Prozess, hebt den Riesen hoch, beraubt ihn so seiner Kräfte und erwürgt ihn.

Vor der intellektuellen Schärfe der Neuen Rechten und der identitären Bewegung müssen wir keine Angst haben.

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