Argumentationsweisen und insbesondere Propaganda sind zentrale Themen dieses Blogs. Der Spiegel (5/2024, S. 23) hat mich auf eine mögliche Fundgrube für Derartiges aufmerksam gemacht: das Buch Systemfrage – vom Scheitern der Republik und dem Tag danach. Es ist vom Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage, von dem das Buch außerdem verrät, dass er als rechter Islam- und Globalisierungskritiker bekannt ist. Björn Höcke hat eine Leseempfehlung für dieses Buch ausgesprochen (Facebook, 31. 01 22).
Ich werde mich auf den Argumentationsstil konzentrieren und die politischen Aussagen nur zitieren, sofern sie für die Erläuterung der Meinungsbeeinflussung erforderlich sind. Eine moralische Bewertung ist grundsätzlich nicht beabsichtigt. Es dürfte klar sein, dass es sich in den meisten Fällen im Propaganda handelt. Eine inhaltliche Analyse solcher Aussagen ist meistens aussichtslos, da ein einheitlicher Interpretationsrahmen nicht zur Verfügung steht. Es geht also nicht um wahr oder falsch. Der Propagandist behauptet, wiederholt, emotionalisiert und er verzichtet auf Begründungen. Beispiele bieten Donald Trump und Kellyanne Conway mit ihren alternativen Fakten. Siehe auch das Word of the Year 2022 Gaslighting. Ich werde mich auf die formale Analyse der Argumentationsmuster beschränken.
Etikettierung
Der Verfasser des Buches bekennt sich zum Grundgesetz, insbesondere zu Artikel 20 und dem darin festgelegten Widerstandsrecht:
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. […]
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Wer nun meint, dieses Widerstandsrecht richte sich gegen die etwa 400 Personen, die am 29. August 2020 versuchten, das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen, oder gegen die Reichsbürger um Heinrich XIII. Prinz Reuß, der wird eines Besseren belehrt (S. 214):
Dieser Verfassungskern soll gerade gegen die Usurpationen von Machthaben verteidigt werden, die ihre Ämter auf eine formal verfassungskonforme, materiell aber verfassungswidrige Weise erlangt haben oder ausüben – insbesondere, wenn Sie sie in einer Weise ausüben, die die freiheitlichdemokratische Grundordnung zerstört.
Das Etikett Verfassungsfeind wird also denjenigen angeheftet, die der Artikel eigentlich schützen soll. Für diese Umetikettierung gibt es Anlässe: Eurokrise, Fukushima, Flüchtlingskrise, Klimapolitik, Corona, NetzDG. Ob eine Meinungsbeeinflussung durch Umetikettierung gerechtfertigt ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Ich hatte damals bei der Debatte um das Netzdurchsetzungsgesetz auch ein äußerst mulmiges Gefühl. Das NetzDG schafft ja keine neuen Straftatbestände, es dient der Überwachung und Durchsetzung. Den Zensurvorwurf konnte ich nicht entkräften.
Ich war der Meinung, der Umgang mit Hassbotschaften beispielsweise sollte sich im WWW selbst regeln. Totalkontrolle habe ich während meiner Kindheit in der DDR und durch meine Mitgliedschaft in der GWUP fürchten gelernt. Ich habe im WWW, auch im Rahmen dieses Hoppla!-Blogs, einiges an Beschimpfungen aushalten müssen: „Lassen sie sich mal auf ihre geistige Gesundheit untersuchen!“, „Vorbereitung von Völkermord“, „Putintroll“.
Die Notwendigkeit der Resilienz ist eine neue Erfahrung. Mit der Zeit ändern sich die Gepflogenheiten, so ist das nun mal. Nicht zu empfehlen ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Kausalitätserwartung
Dem Buch zufolge liegt dies im Argen:
Praktisch niemandem geht es besser – aber vielen schlechter – dadurch, daß der Euro eingeführt und „gerettet“, Migranten in Millionenstärke ins Land gelassen, Zensurgesetze, Atomausstieg, Windräder, Lockdown und De-facto-Impfzwang befohlen wurden, von Gender Mainstreaming, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und surrealistischen Datenschutzvorgaben selbst für Kleinstunternehmen ganz zu schweigen.
Nun ist es eine angeborene Neigung des Menschen, für alles eine Ursache zu suchen. Für das Unglück auf dieser Welt braucht es einen Schuldigen. Der ist hier schnell gefunden. Es ist das Kartell, die in ihre Echokammer eingeschlossene politische Klasse der BRD (S.81), die
die Interessen des eigenen Volkes und sogar des von ihr geführten Staates grundsätzlich hinter der Verwirklichung globalistischer Utopien und hinter den Interessen von Machtkonglomeraten hintanstellt, die für sich beanspruchen, „die Menschheit“ oder wenigstens „Europa“ zu repräsentieren, insbesondere also UNO und EU-Institutionen.
Das ist eine ausgewachsene Verschwörungstheorie; die Beantwortung der Frage, ob diese wahr oder falsch ist, überlasse ich der Diskussion.
Kontrastbetonung
Zur Klimadebatte finden wir dies (S. 43):
Es ist in höchstem Maße unplausibel, um nicht zu sagen absurd zu glauben, dass die Welt untergehen soll, wenn der Anteil eines in der Natur von vorkommenden Gases und der Zusammensetzung der Atmosphäre von zwei Zehntausendstel auf vier Zehntausendstel steigt. In der Erdgeschichte sind schon ganz andere Schwankungen sowohl des CO2- Gehalts als auch der mittleren Lufttemperatur vorgekommen […] Noch absurder für jeden Menschen, der sich schon einmal mit komplexen Systemen beschäftigt hat, ist die Vorstellung, man könne bei einem System wie der Ökologie willkürlich eine einzelne Zielvariable (die mittlere Lufttemperatur) herausgreifen und diese durch eine einzige Einflussvariable (nämlich den CO2-Gehalt der Luft) manipulieren.
Die Ergebnisse der Klimaforschung und deren Maßstäbe werden also grundsätzlich angezweifelt. Die derart kritisierte „Klima-Theologie“ wird so beschrieben (S. 45):
Wer nämlich für sich in Anspruch nimmt, nicht weniger als den Weltuntergang zu verhindern, verschafft nicht nur seinen Anliegen dadurch naturgemäß die Pole Position auf der Rangliste der politischen Relevanz, sondern stempelt jeden Andersdenkenden zum Feind der Menschheit […] Die manichäische Schwarzmalerei der Klimajünger, die sich in einen apokalyptischen Endkampf des schlechthin „Guten“ mit dem schlechthin „Bösen“ verstrickt wähnen, gehört zu jenem Giftcocktail, der die politische Kultur, auf der eine liberale Demokratie beruht, in bemerkenswerter kurze Zeit zerstört hat.
Diese starke Polarisierung kommt unserem Hang zur Kontrastbetonung entgegen.
Es gibt noch einiges zu diesem Buch zu sagen. Aber die Grundmuster der Argumentation dürften bereits klar geworden sein.