Argumentationsweisen rechts außen

Argumentationsweisen und insbesondere Propaganda sind zentrale Themen dieses Blogs. Der Spiegel (5/2024, S. 23) hat mich auf eine mögliche Fundgrube für Derartiges aufmerksam gemacht: das Buch Systemfrage – vom Scheitern der Republik und dem Tag danach. Es ist vom Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage, von dem das Buch außerdem verrät, dass er als rechter Islam- und Globalisierungskritiker bekannt ist. Björn Höcke hat eine Leseempfehlung für dieses Buch ausgesprochen (Facebook, 31. 01 22).

Ich werde mich auf den Argumentationsstil konzentrieren und die politischen Aussagen nur zitieren, sofern sie für die Erläuterung der Meinungsbeeinflussung erforderlich sind. Eine moralische Bewertung ist grundsätzlich nicht beabsichtigt. Es dürfte klar sein, dass es sich in den meisten Fällen im Propaganda handelt. Eine inhaltliche Analyse solcher Aussagen ist meistens aussichtslos, da ein einheitlicher Interpretationsrahmen nicht zur Verfügung steht. Es geht also nicht um wahr oder falsch. Der Propagandist behauptet, wiederholt, emotionalisiert und er verzichtet auf Begründungen. Beispiele bieten Donald Trump und Kellyanne Conway mit ihren alternativen Fakten. Siehe auch das Word of the Year 2022 Gaslighting. Ich werde mich auf die formale Analyse der Argumentationsmuster beschränken.

Etikettierung

Der Verfasser des Buches bekennt sich zum Grundgesetz, insbesondere zu Artikel 20 und dem darin festgelegten Widerstandsrecht:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. […]
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Wer nun meint, dieses Widerstandsrecht richte sich gegen die etwa 400 Personen, die am 29. August 2020 versuchten, das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen, oder gegen die Reichsbürger um Heinrich XIII. Prinz Reuß, der wird eines Besseren belehrt (S. 214):

Dieser Verfassungskern soll gerade gegen die Usurpationen von Machthaben verteidigt werden, die ihre Ämter auf eine formal verfassungskonforme, materiell aber verfassungswidrige Weise erlangt haben oder ausüben – insbesondere, wenn Sie sie in einer Weise ausüben, die die freiheitlichdemokratische Grundordnung zerstört.

Das Etikett Verfassungsfeind wird also denjenigen angeheftet, die der Artikel eigentlich schützen soll. Für diese Umetikettierung gibt es Anlässe: Eurokrise, Fukushima, Flüchtlingskrise, Klimapolitik, Corona, NetzDG. Ob eine Meinungsbeeinflussung durch Umetikettierung gerechtfertigt ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Ich hatte damals bei der Debatte um das Netzdurchsetzungsgesetz auch ein äußerst mulmiges Gefühl. Das NetzDG schafft ja keine neuen Straftatbestände, es dient der Überwachung und Durchsetzung. Den Zensurvorwurf konnte ich nicht entkräften.

Ich war der Meinung, der Umgang mit Hassbotschaften beispielsweise sollte sich im WWW selbst regeln. Totalkontrolle habe ich während meiner Kindheit in der DDR und durch meine Mitgliedschaft in der GWUP fürchten gelernt. Ich habe im WWW, auch im Rahmen dieses Hoppla!-Blogs, einiges an Beschimpfungen aushalten müssen: „Lassen sie sich mal auf ihre geistige Gesundheit untersuchen!“, „Vorbereitung von Völkermord“, „Putintroll“.

Die Notwendigkeit der Resilienz ist eine neue Erfahrung. Mit der Zeit ändern sich die Gepflogenheiten, so ist das nun mal. Nicht zu empfehlen ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Kausalitätserwartung

Dem Buch zufolge liegt dies im Argen:

Praktisch niemandem geht es besser – aber vielen schlechter – dadurch, daß der Euro eingeführt und „gerettet“, Migranten in Millionenstärke ins Land gelassen, Zensurgesetze, Atomausstieg, Windräder, Lockdown und De-facto-Impfzwang befohlen wurden, von Gender Mainstreaming, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und surrealistischen Datenschutzvorgaben selbst für Kleinstunternehmen ganz zu schweigen.

Nun ist es eine angeborene Neigung des Menschen, für alles eine Ursache zu suchen. Für das Unglück auf dieser Welt braucht es einen Schuldigen. Der ist hier schnell gefunden. Es ist das Kartell, die in ihre Echokammer eingeschlossene politische Klasse der BRD (S.81), die

die Interessen des eigenen Volkes und sogar des von ihr geführten Staates grundsätzlich hinter der Verwirklichung globalistischer Utopien und hinter den Interessen von Machtkonglomeraten hintanstellt, die für sich beanspruchen, „die Menschheit“ oder wenigstens „Europa“ zu repräsentieren, insbesondere also UNO und EU-Institutionen.

Das ist eine ausgewachsene Verschwörungstheorie; die Beantwortung der Frage, ob diese wahr oder falsch ist, überlasse ich der Diskussion.

Kontrastbetonung

Zur Klimadebatte finden wir dies (S. 43):

Es ist in höchstem Maße unplausibel, um nicht zu sagen absurd zu glauben, dass die Welt untergehen soll, wenn der Anteil eines in der Natur von vorkommenden Gases und der Zusammensetzung der Atmosphäre von zwei Zehntausendstel auf vier Zehntausendstel steigt. In der Erdgeschichte sind schon ganz andere Schwankungen sowohl des CO2- Gehalts als auch der mittleren Lufttemperatur vorgekommen […] Noch absurder für jeden Menschen, der sich schon einmal mit komplexen Systemen beschäftigt hat, ist die Vorstellung, man könne bei einem System wie der Ökologie willkürlich eine einzelne Zielvariable (die mittlere Lufttemperatur) herausgreifen und diese durch eine einzige Einflussvariable (nämlich den CO2-Gehalt der Luft) manipulieren.

Die Ergebnisse der Klimaforschung und deren Maßstäbe werden also grundsätzlich angezweifelt. Die derart kritisierte „Klima-Theologie“ wird so beschrieben (S. 45):

Wer nämlich für sich in Anspruch nimmt, nicht weniger als den Weltuntergang zu verhindern, verschafft nicht nur seinen Anliegen dadurch naturgemäß die Pole Position auf der Rangliste der politischen Relevanz, sondern stempelt jeden Andersdenkenden zum Feind der Menschheit […] Die manichäische Schwarzmalerei der Klimajünger, die sich in einen apokalyptischen Endkampf des schlechthin „Guten“ mit dem schlechthin „Bösen“ verstrickt wähnen, gehört zu jenem Giftcocktail, der die politische Kultur, auf der eine liberale Demokratie beruht, in bemerkenswerter kurze Zeit zerstört hat.

Diese starke Polarisierung kommt unserem Hang zur Kontrastbetonung entgegen.

Es gibt noch einiges zu diesem Buch zu sagen. Aber die Grundmuster der Argumentation dürften bereits klar geworden sein.

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Denkfalle Simulationsexperiment – der Irrtum des E. O. Wilson

Für mich ist der Begründer der Soziobiologie Edward Osborne Wilson einer der Größten des Fachs. Auch solche Leute dürfen sich irren. Aber der Reihe nach.

Simulation der Realität

Wer macht sich schon Gedanken darüber, was es heißt, eine 7-Tage- Prognose des Wetters zu erstellen? Abermilliarden von Datenpunkten für Temperatur, Druck, Feuchte, Luftbewegung sind miteinander in Beziehung zu setzen und über einen längeren Zeitraum Schritt für Schritt zu verfolgen. Je genauer, desto mehr ist zu rechnen. Und das dauert – auch bei den heutigen schnellen Rechnern mit ihren riesigen Datenspeichern. Beliebig viel Zeit steht nicht zur Verfügung, denn das Wetter darf nicht eher da sein als die Prognose.

Niemand erwartet, dass die Prognosen hundertprozentig stimmen. Das gilt ja für alle unsere Erkenntnisse: Die Realität ist nicht greifbar. (Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Weblogbuch.)

Wenn José Encarnaçao von der Technischen Universität Darmstadt, die Virtualisierung als Abfolge „Reale Umgebung → Abstraktes Modell → Digitale Repräsentation“ darstellt, dann übersieht er, dass wir gar nicht wissen, was real ist und dass es die Hauptaufgabe der Wissenschaft ist, auf die Frage nach der Realität brauchbare Antworten zu liefern.

(Davon berichte ich in meinem Artikel über Oberflächenkompetenz, 2006.)
José Encarnaçao spricht aus, was Realisten denken.

Wir bilden Modelle der Realität und gleichen sie mit den vorhandenen Daten ab. Wenn es nur um Prognosen geht, dann erkennen wir die Güte der Modelle an der Qualität der Vorhersagen.

Was aber, wenn wir mit Modellen die Wirkmechanismen unserer Welt erkunden, wenn es um das Formulieren und Prüfen von Theorien für nur vermutete Sachverhalte geht und wenn Beobachtungsdaten nur in geringem Maße zur Verfügung stehen und die Kategorien für das, was man beobachten will, noch nicht festgefügt sind? Dann besteht die Gefahr, dass die Modelle ein Eigenleben entwickeln und wir das, was sie zeigen, für die Realität halten. Ich meine, einem solchen Fall, in dem sich sogar ein von mir hoch geschätzter und prominenter Forscher hat täuschen lassen, auf die Spur gekommen zu sein. (Ich greife die Diskussion zum Artikel Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich auf.)

Die Kontroverse Dawkins–Wilson

Für mich ist Richard Dawkins ein orthodoxer Darwinist. Für ihn ist einzig das Gen die Einheit, an der die Selektion angreift, und alle Lebensformen sind nur Überlebensmaschinen für diese Gene (Dawkins, 1976/1978). In seinem Buch Das egoistische Gen beklagt er, dass der von ihm verehrte Wilson von dieser Linie abweicht, mit diesen Worten (S. 112):

Die Familienselektion erklärt den innerfamiliären Altruismus; je näher die Verwandtschaft, desto stärker die Auslese. […] E. O. Wilson definiert in seinem ansonsten bewundernswerten Buch Sociobiology. The New Synthesis die Familienselektion als einen Sonderfall der Gruppenselektion […] Nun bedeutet Gruppenselektion – sogar nach Wilsons eigener Definition – das unterschiedliche Überleben von Gruppen von Individuen.

Für Wilson ist die Gruppe zentral. Wird die Gruppe durch Familienbande erzeugt, wirkt die Verwandtschaftsselektion: ein Altruisten-Gen stärkt die Gruppe und breitet sich in ihr aus. Damit sind die Eckpunkte der Debatte definiert: Genselektion kontra Gruppenselektion – Dawkins kontra Wilson. In seinem Nachruf auf Wilson erzählt Dawkins von diesem Streit.

Und so stellt sich mir die Sache dar: In seinem Buch Sociobiology präsentiert Wilson zwei Modelle, die zeigen sollen, wie Gruppenselektion funktioniert. Eins davon habe ich in meinen Kurs Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation in einfacher Form aufgenommen: Metapopulation – ein Modell für die Evolution altruistischen Verhaltens.

Diese Modelle haben Wilson nicht überzeugt und er neigte dazu, die allgemeine, nicht familiengebundene, Gruppenselektion zu verwerfen. Die zwei von ihm untersuchten Modelle zeigten, dass die Evolution altruistischer Gene mittels reiner Gruppenselektion ein unwahrscheinliches Ereignis sei und dass die alternativen Hypothesen der Verwandtschaftsselektion und der individuellen Selektion (Genselektion) zu bevorzugende Alternativen seien (S. 113). Ich habe den Verdacht, dass er die Unzulänglichkeit der von ihm benutzten mathematischen Modelle zunächst dem Untersuchungsgegenstand Gruppenselektion angelastet hat. Später hat er seinen Irrtum wohl bemerkt.

So gesehen hätte Dawkins damals wenig Grund gehabt, Wilson frontal anzugehen. Ihn scheint aber zu stören, dass Wilson die Erklärungsmöglichkeit Gruppenselektion grundsätzlich ins Auge fasst. Richtig in Rage geriet Dawkins aber, als sich Wilson mit seinem Buch The Social Conquest of Earth von 2012 dann doch zur Theorie der allgemein gefassten und nicht notwendig auf die Familie bezogenen Gruppenselektion bekannte. Die daraus folgende Auseinandersetzung ist im Prospect-Magazin nachzulesen. Dort finden Sie Dawkins‘ Buchbesprechung The descent of Edward Wilson sowie einige Antworten darauf, unter anderem die von Wilson selbst. Das ist Wissenschaft mit Schmackes.

 

Literaturhinweise

Wilson, Edward Osborne: Sociobiology. The New Synthesis. 1975/2000

Wilson, Edward Osborne: The Social Conquest of Earth. 2012

Dawkins, Richard: The Selfish Gene/Das egoistische Gen. 1976/1978

Grams,Timm: Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation. 1999

Grams,Timm: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung. THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6

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Warum funktioniert das Völkerrecht nicht?

Zeitenwende

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vom 24.2.22 zerstörte die Hoffnungen auf ein friedliches Miteinander aller Völker. Unsere Empörung war groß, so groß, dass keine Beschreibung groß genug schien; Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte das Ereignis zur Zeitenwende – angesichts der ihm eigenen Zurückhaltung geradezu eine Explosion der Gefühle.

Als Laie, als Nichtfachmann sowohl in Biologie als auch in Völkerrecht, kann man sich die Freiheit herausnehmen, zwischen beiden Gebieten kühne Verbindungen herzustellen. Ich mache das jetzt.

Sowohl die Universalisierung der Menschenrechte als auch die Konstitutionalisierung des Völkerrechts scheinen auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen: Vietnam, Afghanistan, Irak, Mali, Libyen, Syrien, Ukraine, Gaza, …

In der Gesellschaft wie in der Biologie ist die Entstehung des Neuen unvermeidlich. Es ist ein Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit. Schon in meiner Schulzeit war mir klar, dass die Heranzüchtung von Supermenschen keine gute Idee ist. Warnende Beispiele sind die Qualzüchtungen bei Haustieren.

Optimierung auf ein Ziel hin heißt immer: Reduktion der Vielfalt. Die Anpassungsfähigkeit eines Volkes an sich ändernde Lebensbedingungen geht verloren. Mit dem Klimawandel stehen wir gerade vor einer existenzbedrohenden Veränderung.

Kreativität

Das Ideal einer gleichgerichteten Gesellschaft ist von vornherein unerreichbar: Die Natur sorgt für Abweichler. In meinem Buch Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System (2016, 2020, S. 238) schreibe ich:

Neue Lösungen und Entdeckungen werden keinesfalls in Teamarbeit und zielgerichtet angegangen. Der Geistesblitz ereignet sich stets in einem einzigen Kopf! Meist entdecken die Genies rein zufällig Lösungen für Probleme, die sie eigentlich gar nicht hatten. Und das ist wunderbar.

Die Entdeckung oder Erfindung macht derjenige, der das Problem als erster sieht. Dazu braucht es dann eine gehörige Portion Fachwissen und Kombinationsgabe – das Rüstzeug der Genies.

Es scheint ein allgemeines Prinzip der Natur zu sein: Neues entsteht unplanmäßig und einiges davon hat Gelegenheit und Kraft, in Konkurrenz zum Alten zu treten. Der sich anschließende Selektionsprozess ist alles andere als friedvoll. Zum Beispiel: Mit dem Auftreten des Internets verschwand die Telegrafie weitgehend und im Büro wurde das aufkommende Teletex im Keim erstickt und durch Telefax ersetzt. Das WWW bringt auch diese Technik in Bedrängnis.

Das verteidigbare Nest

Zurück zur Biologie. Das Neue, die Abweichung, wird vom Volk abgelehnt und ausgemerzt. Es sei denn, die Neuen können für Abstand oder Isolation und eine anfangs ungestörte Entwicklung des entstehenden Volkes sorgen.

Für den Insektenforscher Edward Osborne Wilson fördert die Existenz eines verteidigbaren Nestes die Entstehung von Sozialbeziehungen eines neuen Volkes. Mit meinem Programm KoopEgo habe ich die Unverzichtbarkeit von Isolation und Lokalität für die Entwicklung neuer Arten studiert.

Der Überlebenskampf

Der natürliche Drang der Verbreiterung der Lebensbasis führt zum Zusammenstoß von Völkern mit gegenläufigen Interessen.

Es sind wohl prinzipielle Gründe, die gegen eine Erzwingung des Völkerrechts sprechen. Die dafür notwendige Konstitution ist zwar wünschenswert, sie wird aber nicht kommen, es sei denn man akzeptiert doppelte Standards. Es ist beispielsweise unvorstellbar, dass sich ein US-Amerikaner vor einem internationalen Strafgericht verantworten muss.

Dennoch: Die Regelungen des Völkerrechts brauchen wir, auch wenn ihre Durchsetzung mithilfe der internationalen Gerichtshöfe (IGH, IStGH) und des Weltrechtsprinzips offensichtlich nicht gut funktioniert. Jeder unserer Soldaten weiß von der roten Linie und dass deren Überschreitung dem Feind das Recht gibt, das ebenfalls zu tun.

Wenn es so etwas wie Humanismus im Krieg gibt, dann drückt er sich wohl darin aus, dass man im anderen einen Feind, nicht aber einen Verbrecher sieht. Im Nahen Osten und in der Ukraine sehen wir Grenzüberschreitungen; aber es gibt dank des Völkerrechts auch eine Debatte darüber.

Beängstigend finde ich, was im Internet passiert. Der jeweils andere wird oftmals nicht als Feind wahrgenommen, sondern als verkommenes Geschöpf, das keinerlei Gnade verdient. Wut und Hass übernehmen. Das zeigt sich beim Aufmarsch der Internet-Trolle hier und da.

Geotheologie

Zwischen den Staaten, also organisierten Völkern in ihren Territorien, gibt es Kriege. Für diese gilt das Völkerrecht. Was aber, wenn sich einer nicht an die Regeln hält? Herfried Münkler bezieht sich auf Michael Silnizki, wenn er schreibt (Welt in Aufruhr 2023, S. 175):

Um das Völkerrechtsprinzip der Souveränität auszuhebeln, verstecke sich der westliche Anspruch auf globale Hegemonie hinter einer Fassade der Humanität, die immer dann ins Spiel gebracht werde, wenn es darum gehe, in wertfremde Räume einzudringen.

Die folgende Aussage Silnizkis deckt sich mit den Informationen, die mich aus der Mainstream-Presse erreichen (Geopolitik, 2015, S. 23):

Hinter der Humanität verbirgt sich ein ökonomischer und monetärer Hegemonialanspruch, legitimiert durch die raumübergreifende, geologische Permeabilität. Dieser strukturelle Zusammenhang von geotheologisch legitimierter und geoökonomisch expandierender Geopolitik ist der integrale Bestandteil des raumaufhebenden und das innere Gefüge der wertfremden Machträume sprengenden, westlichen Universalismus.

(Davon hatte ich es bereits in einer Diskussion mit Eike – nur etwas einfacher ausgedrückt.) Selbst ein Ingenieur wie ich kann verstehen, dass in der derzeitigen Situation das geltende Völkerrecht nicht greift. Weiterlesen

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Ding und Idee – Körper und Geist – Sache und Wert

Anna-Lena Baerbock scheint in den vergangenen Monaten die Sphären gewechselt zu haben. Sie nähert sich einer geopolitischen Bewertung der Krisen dieser Welt: „Der Angriff Russlands auf die Ukraine macht die EU-Erweiterung um den Westbalkan zu einer geopolitischen Notwendigkeit.“ Es nicht sehr lange her, da war ihr noch die wertegeleitete Außenpolitik ein besonders Anliegen. Ich werde zum Schluss noch einmal auf den mutmaßlichen Sinneswandel zurückkommen.

Im vorletzten Hoppla!-Artikel habe ich über meine Ratlosigkeit angesichts der aktuellen Nachrichtenlage geschrieben. Die Kommentare zum Artikel haben die Verwirrung nicht beseitigt sondern eher noch gesteigert. Das Widersprüchliche scheint der Wesenskern der Politik zu sein und ist vermutlich grundsätzlich nicht eliminierbar.

Leib und Seele

Im Laufe der Aufklärung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Seele ohne den Leib nicht sein kann. René Descartes hat das noch anders gesehen. Dann wurde die Seele zum irdischen Geist reduziert und der Leib als Körper verallgemeinert. Das heißt aber nicht, dass sich das Verhältnis der beiden zueinander entspannt hätte.

Um die gedankliche Aufspaltung des Lebens in zwei Sphären kommt man nicht herum. Wer aber genau wissen will, wie die Bereiche zueinander stehen, landet in schier unüberwindlichen Schwierigkeiten. Für Emil du Bois-Reymond ist es das fünfte Welträtsel.

Dazu hatten wir eine ausgiebige Diskussion, die ich hier nicht erneut aufgreifen will. Ich will den Leser nur an meiner Verblüffung teilhaben lassen darüber, wo überall die Zweiteilung des Menschen eine Rolle spielt. Es beginnt bei den alltäglichen Auseinandersetzungen.

Aus einer Diskussion

Jüngst habe ich einen Diskussionsfaden des Hoppla!-Blogs gewaltsam beendet. Dort finde ich die Klage, dass die „grüne Ideologie an der Realität scheitert“. So wird ein mutmaßlich falsches Bewusstsein dessen, was sein SOLL, dem gegenübergestellt, was nach Ansicht des Diskutanten tatsächlich IST.

Was sein soll, ist Angelegenheit des Geistes. Was tatsächlich ist, gehört zur Welt der Körper. Auch das, was ist, wird über den Geist vermittelt. Aber wir haben ein gutes Verständnis dessen, was Fakten sind und was nicht.

Die Ideologie ist ausschließlich, Geistesprodukt. Ihr Prüfstein ist die mögliche zukünftige Realität, nicht die aktuelle. Den flüchtigen Charakter des Geistigen macht Realo deutlich.

Der Kommunismus scheint völlig vernünftig, viele Intellektuelle haben daran „geglaubt“. Aber der Mensch ist nicht wirklich „vernünftig“ und der Kommunismus hat sich in Europa von selbst zerlegt.

Selbst die Fakten sind nicht leicht dingfest zu machen, wie der folgede Gegenangriff des NonRealo zeigt:

Der Kommentator Realo zieht gerne irgendwelche geglättenen Zahlen und Durchschnittswerte heran, ignoriert, wie man diese Zahlen manipulieren kann, ignoriert, wie der Energiemarkt funktioniert, anstatt die Realität zu sehen… Hier soll im Sinne der neoliberalen Panikpropheten manipuliert werden, so mein Eindruck.

An dem kleinen Gesprächsausschnitt zeigt sich, warum sich solche Diskussionen endlos fortsetzen lassen: Es gibt vage Vorstellungen von zwei Sphären, der Versuch einer Präzisierung sorgt für neue Unklarheiten.

Wenn Gedanken die Seite wechseln

Gesetze und Regeln sind Geistesprodukte. Aber einmal aufgeschrieben und von maßgebenden Institutionen für verbindlich erklärt, werden sie zu Fakten. Was aber hat es mit den Grundrechten auf sich? Für die Bundesrepublik sind sie in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes gefasst. Dieser Wertekatalog enthält die Zielvorgaben der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (GG Artikel 5, 3, 14 Absatz 2). Dazu kommen die Prinzipien der Marktwirtschaft: Schutz des Eigentums und des Erbrechts (GG 14). Die Sorge gilt vor allem dem Individuum.

Es gibt Alternativen dazu. Das Wertesystem des Konfuzius beispielsweise stellt die Gemeinschaft in den Vordergrund.

All diesen Wertesystemen ist gemeinsam, dass sie auslegungsbedürftig sind. Das Grundgesetz bindet Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (GG Artikel 1). Der Justiz wird ein großer Gestaltungsspielraum eingeräumt. Dieser wird vom Bundesverfassungsgericht auch genutzt, wie wir am Urteil vom 15. November 2023 zum zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 erfahren durften: Die werteorientierte Politik schlägt zurück.

Geopolitik und Wertebindung

Wenn wir von Wert reden, dann meinen wir zunächst einmal den Tauschwert einer Sache. Sogar in der Ökonomie ist der Wert einer Sache keine ihrer intrinsischen Eigenschaften: Der Wert der Dinge wird in der Marktwirtschaft durch ihren Preis bestimmt, und nicht etwa der Preis durch den Wert.

In der Politik wird der Wertbegriff transzendentiert. Er wird erklärungsbedürftig.

Die wertegeleitete Außenpolitik ist ein Beispiel dafür, was Carl Schmitt als Die Tyrannei der Werte bezeichnete. Es verwundert nicht, dass sich einer der Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid, durch Hinzufügen eines „o“ zu seinem Vornamen von diesem Namensvetter abgesetzt hat.

Mit der Hochschätzung der Werte geraten wir in ein Paradoxon: Die Wertfreiheit der Wissenschaft ist für uns ein hoher Wert der Wissenschaft.

Die Werteorientierung hat praktische Folgen: die Verneinung eines negativen Wertes ist ein positiver Wert. Dieser Satz erlaubt es,

Böses mit Bösem zu vergelten und auf diese Weise unsere Erde in eine Hölle, die Hölle aber in ein Paradies der Werte zu verwandeln.

Dieser Gedanke des ehemaligen Nationalsozialisten Carl Schmitt (Die Tyrannei der Werte, 1967/2020, S. 51) hat nun wohl auch Annalena Baerbock erreicht. Auch das ist paradox, oder etwa nicht?

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Fördermittel sind kein Grund zur Freude

Es ist guter Brauch, dass der Starke dem Schwachen beisteht. Für uns Bürger laufen solche Unterstützungsleistungen vorwiegend über den Staat. Gegen den kommunalen Finanzausgleich und gegen den Länderfinanzausgleich ist kaum etwas zu sagen. Aber was ist, wenn Mittel zurückfließen an diejenigen, die eingezahlt haben?
Dann wandelt sich eine Abgabe zu einem Geschenk. Für eine solche Umwegfinanzierung besteht kein Grund, wenn eine Finanzierung über den normalen Haushalt und vorübergehende Verschuldung prinzipiell möglich ist.

Fulda-Uferweg am Freibad

Nach Auskunft der Stadt ging es bei den Stegen, die am Uferweg der Fulda neu gebaut wurden, darum, die vormals vorhandenen der Flussbadeanstalt in Erinnerung zu rufen. Zu 100% finanziert wurde das Vorhaben durch das Förderprogramm „Wachstum und nachhaltige Erneuerung“ des Bundes (420.000 Euro).

Steg an der Fulda

Aktuelles Ziel: Naturerleben. Bei der Plattform des Bildes waren die alten Fundamente nicht nutzbar. Deshalb sieht das jetzt so aus wie auf dem Bild. Die Büsche sollen noch gestutzt werden, um den Blick auf den Verlauf der Fulda freizugeben. Begründung: Lückenschluss und Schaffung von punktuellen Wasserzugängen unter Berücksichtigung der schützenswerten Auenstrukturen und der Hochwasserbelange. Das findet alles zur Landesgartenschau Fulda 2.023 statt.

Wir erinnern uns, dass der flussnahe Wander- und Radweg auf der gegenüberliegenden Flussseite anlässlich der Landesgartenschau 1994 verlegt wurde. Der Wasserzugang war damals offenbar nicht so wichtig.

Kommentare in der FB Gruppe „Fulda – meine Stadt“: Wir verschandeln alles, nur damit sich Politiker ein Denkmal setzen… Schön ist anders, sinnvoll auch… Schwachsinnige Geldverbrennung… durch nichts zu rechtfertigende Baumaßnahmen, aber das Geld muß weg… Vielleicht noch ’ne Krone draufgesetzt, damit das unnütze Ding zur Schlossturm-Krone passt.

In Kritische Gedanken zur Landesgartenschau Fulda 2.023 erinnere ich an die meines Erachtens gewalttätige Umgestaltung eines Quartiersplatzes, eine missglückte Förderung durch das weit entfernte Brüssel. Solche Erlebnisse haben meine Meinung zu Fördergeldern aus Wiesbaden, Berlin oder Brüssel geprägt.

Das Schwarzbuch

Durch die Umwegfinanzierung entstehen Scheingeschenke. Manches wird nur gemacht, weil das Geld nun schon einmal da ist. Es kommt zur Verschwendung von Steuergeldern. Mich wundert es nicht, dass viele der Projekte, die im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler „Die öffentliche Verschwendung“ aufgeführt werden, vom Land, vom Bund oder von Europa gefördert worden sind. Ich bringe Auszüge aus dem Schwarzbuch 2023/2024.

  • Fulda (HE). Schlossturm setzt Steuergeldverschwendung die Krone auf. Eigentlich waren in Fulda nur die Instandsetzung und barrierefreie Erschließung des vom Verfall bedrohten Schlossturms vorgesehen – doch Fördermittel machen nun eine umfassende historische Aufarbeitung möglich. Damit nicht genug: Der Turm soll in Anlehnung an seine historische Überdachung eine Krone aus Edelstahl erhalten, was die immensen Gesamtkosten noch einmal deutlich steigert.
  • Heikendorf (SH). Holzdeck ohne Nutzen. Die geplanten 280.000 Euro verdoppelten sich in der Endabrechnung auf 560.000 Euro. Für die Gemeinde-Verantwortlichen war dies kein Beinbruch, werden doch auch die erhöhten Kosten zu 90 Prozent von EU, Bund und Land gefördert.
  • Etzelwang (BY). Ein teures „Multifunktionsgebäude“ für Etzelwang. An Baukosten sind für das Mehrzweckgebäude 587.316 Euro angefallen, wovon 313.723 Euro durch das Amt für ländliche Entwicklung gefördert wurden. In Etzelwang bekommt man für knapp 590.000 Euro zu einer Küche, einem Lager sowie einem Klo [soweit das Bauvorhaben] sicher noch ein ganzes Haus, inklusive Heizung dazu.
  • Wiesbaden (HE). Vom einstigen Kulturpalast zur Ruine. Um bereits zugesagte Fördermittel nicht zu verlieren, ist im Jahr 2024 zwingend der Beginn der Baumaßnahmen erforderlich. Dem Grundsatzbeschluss von 2022 lag eine Konzeptstudie zugrunde, in der die Kosten bereits mit knapp 50 Mio. Euro beziffert wurden. Angesichts des noch immer fehlenden Nutzungskonzepts sowie der allgemeinen Baukostensteigerungen der jüngeren Vergangenheit dürfte jedoch auch diese Kalkulation nicht zu halten sein.
  • Wiesbaden (HE). Wiesbaden fährt Wasserstoffbusse vor die Wand. Nachdem sie bereits zahlreiche elektrisch betriebene Fahrzeuge angeschafft hatte, bestellte die Wiesbadener Verkehrsgesellschaft ESWE Verkehr nach europaweiter Ausschreibung 2020 auch zehn Brennstoffzellenbusse für insgesamt mehr als 6 Mio. Euro, wofür es großzügige Förderzusagen aus Bundes- und EU-Töpfen gab. Verklausuliert teilte ESWE Verkehr mit, es strebe „mit einer Neuausrichtung seines Fuhrparks die Verabschiedung der Brennstoffzellenbusse an“. Grund für die Kehrtwende war offenbar Überforderung.
  • Grebenhain (HE). Aufgetürmt: Aus einfachem Sendemast soll teurer Multifunktionsturm werden. In Grebenhain im Vogelsbergkreis ist ein Funksendemast geplant, um das bundesweite 450-Megahertz-Funknetz auszubauen. Im Laufe der Planungen wurde daraus – auch dank mehrerer Fördertöpfe – ein Multifunktionsturm mit Aussichtsplattform. Das macht das Projekt für den Steuerzahler fünf Mal so teuer.
  • Berlin. Riesenrad und „Eierhäuschen“. Mit dem Spreepark [bekannt aus dem Film Wer ist Hanna?] kann das Land zwar Fördermittel vom Bund nach Berlin holen. Zusätzliche Mittel für Baukostenüberschreitungen und jährliche Defizite fehlen aber bei der Sanierung der maroden Berliner Infrastruktur.

Zum Schluss

Bürgerbeteiligung macht das System der Förderungen nicht besser. Der Mechanismus der Scheingeschenke funktioniert sowohl in einem paternalistischen System als auch in einem demokratischen. Letzteres sorgt für allgemeine Zustimmung und dafür, dass der PR-Schwindel hinter den Autobahneröffnungen, Einweihungsfeiern und Stadtteilfesten schwer zu durchschauen ist.

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Was ich nicht verstehe

Die aktuellen Nachrichten verwirren mich, da werden Dinge als Fakten dargeboten, die einfach nicht zusammenpassen. Ich greife ein paar Themenfelder heraus.

I
• Der Mossad gilt als der beste Geheimdienst der Welt.
• Israel wurde durch den Hamas-Angriff vom 7.10.23 überrascht.
• Durch die Kriegshandlungen sterben überwiegend Zivilisten, auf Seite der Palästinenser vor allem Kinder und Frauen.
• Israel wird der westlichen Wertegemeinschaft zugerechnet, die sich besonders dem Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet sieht.

II
• Dr Sultan, CEO des weltweit zwölftgrößten Ölkonzerns in Abu Dhabi, ist Vorsitzender der 28. UN-Klimakonferenz in Dubai 2023.
• Konferenzteilnehmer – unter anderen Olaf Scholz – beschwören die Einhaltung der 1,5-Grad-Schranke des Klimaabkommens von Paris 2015 und fordern den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen.
• Wer gerade einen Blick aus dem Fenster des Fortschrittszugs wirft, der kann diese Schranke vorüberhuschen sehen.

III
• Es gibt den Diener des Robert Habeck vor dem Emir von Katar am 20.3.2022.
• Katar ist ein autoritäres System und Unterstützer der Terrororganisation Hamas.
• Mehr Fortschritt wagen (Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen SPD, GRÜNEN und FDP), dort steht: „Unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden wir wertebasiert und europäischer aufstellen … [wir] werden […] uns für […] den Schutz von Frieden und Menschenrechten weltweit einsetzen. Dabei leiten uns unsere Werte und Interessen.“

IV
• Die USA gelten als Anführer der westlichen Wertegemeinschaft.
• Die USA liefern Streubomben an die Ukraine.
• Streubomben wirken hauptsächlich gegen Zivilbevölkerung, die durch das Völkerrecht geschützt sein sollte.

V
• Die Außenpolitik wird wertorientiert und feministisch genannt.
• Es werden Pakte und Verträge auch zwischen demokratischen und autoritären Staaten geschlossem.
• Inklusiver Multilateralismus ist das (Deutsche Bundestag Drucksache 20/6247 und Drucksache 19/30294).

VI
• Die Fortschrittskoalition hat sich der Einhaltung der Klimaziele verschrieben.
• Sie ist in Teilen gegen Subventionen.
• Kerosin wird subventioniert und bleibt steuerfrei. Das wollen die Subventionsgegner.
• Ein Tempolimit auf Autobahnen ist tabu.
• Die Klimaziele bezogen auf jeden Sektor werden aufgeweicht und in ein ressortübergreifendes Klimaschutzprogramm eingebettet. Kurz gesagt: Das unverdauliche Ende bleibt bis zum Schluss.

VII

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75 Jahre AEMR

Am 10. Dezember jährt sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte AEMR zum 75. Mal. Einige geraten darob aus dem Häuschen vor Begeisterung; sogar mit einer Art Gospel Song wollen sie den Geburtstag der AEMR öffentlich feiern.

Ich bin kein Philosoph und auch kein Kenner der Materie. Allein das, was ich den Nachrichten entnehmen kann, bremst meine Begeisterung für die AEMR. Ein Blick auf die Geschichte der Menschenrechte und auf die Außenpolitik von deren Proponenten macht die Ernüchterung komplett.

UNO-Skulptur Schwerter zu Pflugscharen

Das UNO Gebäude steht in Manhattan am East River. Die Skulptur Schwerter zu Pflugscharen im Garten des UNO-Hauptgebäudes schenkte die Sowjetunion der UNO im Jahr 1959. Im Jahr 2001, einen Monat vor den Anschlägen auf das World Trade Center, stand ich vor diesem eindrucksvollen Exemplar sozialistischer Ästhetik. Es appelliert an das Friedensziel der UN-Charta und zielte damals, 1959, auf die friedliche Koexistenz der Machtblöcke UdSSR und NATO. Danach ging das Wettrüsten erst richtig los. Auch der Blick in die Ukraine heute und in den Irak 2003 zeigt uns, was von solchen Appellen zu halten ist: Propaganda.

Dass die USA und Russland sich nicht an den Friedenszweck der UN-Charta und der AEMR binden wollen, zeigt auch ihre Weigerung, dem Internationalen Gerichtshof (IGH) beizutreten.

Aus meiner Sicht wesentlich folgenreicher als die AEMR ist ein anderes Vertragswerk, nämlich der drei Jahrhunderte ältere Westfälische Friede, der den Dreißigjährigen Krieg beendete (24. Oktober 1648). Er definiert für mich auch heute noch das Muster für das friedliche Miteinander von Nationalstaaten.

Anders als die AEMR war der Westfälische Friede keine reine Absichtserklärung, sondern für die vertragschließenden Parteien verbindlich; er ist nicht von Moral, sondern von Interessen bestimmt; er ist weniger herzergreifend – sozusagen nicht singbar; er polarisiert nicht. Er sorgte für Frieden.

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Ad hominem – unverzichtbar

Ad hominem nennt man Argumente, die auf die Glaubwürdigkeit der Quelle einer Behauptung und nicht auf deren Aussage selbst abzielen. Daran ist im Grunde nichts Schlechtes.

Ich erinnere mich an einen Vortrag eines berühmten, damals bereits emeritierten, Professors der allgemeinen Topologie, es muss 1975 gewesen sein. Er berichtete von einem Satz, an dessen Beweis sich schon viele Mathematiker lange Zeit ergebnislos abgearbeitet hatten. Jetzt sei die Forschung endlich abgeschlossen, der Satz widerlegt und das negative Ergebnis in einem Beweis niedergelegt, für den es zwei Buchbände brauchte. Diese Koryphäe auf dem Gebiet sagte nun, dass der Beweis eine Zumutung sei. Er habe nicht versucht ihn zu verstehen, aber er traue den Autoren. „Ich kenne sie gut.“ – Das ist ein typisches Ad-hominem-Argument. Verwerflich ist es nicht.

Quellen sind wichtig

Unser ganzes Wissen beruht letzlich auf Vertrauen: Vertrauen in Lehrer, Forscher, Lektoren, Redakteure, Journalisten, Moderatoren, Verlage. Kaum jemand hat Galileis Erkenntnisse über die Venusphasen oder Newtons Gesetze der Mechanik selbst nachgeprüft. Die wenigstens von uns werden die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik verstehen wollen. Wir vertrauen der Überlieferung und den Berichterstattern. Wenn uns neue spektakuläre Ergebnisse der Wissenschaft präsentiert werden, fragen wir am besten zuerst nach der Glaubwürdigkeit der Quelle. Es hat einen guten Grund, weshalb man in wissenschaftlichen Arbeiten auf einwandfreie Quellenangaben besteht. Und damit sind wir schnurstracks bei den Ad-hominem-Argumenten gelandet. Unvermeidlich.

In Skeptikernreisen wirft man dem Debattengegner gern vor, ad-hominem zu argumentieren, beispielsweise auch mir. Darin steckt der Vorwurf, dass der andere nicht auf das vorgebrachte Argument eingehe, sondern die Quelle angreife oder herabwürdige, um nicht auf das vorgebrachte Argument eingehen zu müssen.

Genau diesen negativen Sinn des Ad-hominem-Arguments finden wir bei Arthur Schopenhauer in Kunstgriff 16 seines Büchleins Die Kunst, Recht zu behalten:

Bei einer Behauptung des Gegners müssen wir suchen, ob sie nicht etwa irgendwie, nötigenfalls auch nur scheinbar, im Widerspruch steht mit irgend etwas, das er früher gesagt oder zugegeben hat, oder mit den Satzungen einer Schule oder Sekte, die er gelobt und gebilligt hat, oder mit dem Tun der Anhänger dieser Sekte, oder auch nur der unechten und scheinbaren Anhänger, oder mit seinem eigenen Tun und Lassen.

Die Doppelgesichtigkeit des Ad-hominem-Arguments zeigt uns Hubert Schleichert in seinem Buch Wie man mit Fundamentalisten diskutiert ohne den Verstand zu verlieren (1997/2004, S. 45):

Bei der Bewertung von Zeugenberichten über seltsame, wunderbare Ereignisse (von göttlichen Offenbarungen bis zu fliegenden Untertassen) sind zum Beispiel allgemeine Sätze wie die folgenden zu finden:
– Wunderberichte aller Art kommen regelmäßig von Exzentrikern, Drogensüchtigen, Psychopathen…
– Die Zeugen haben ein tiefes (eventuell unbewusstes) Bedürfnis nach Mysterien und Irrationalität.
– Die Berichte werden durch den Medienrummel stimuliert, Wunder geschehen nur dort, wo die Leute schon darauf warten.

Weiter schreibt Schleichert:

Gegen jeden skeptischen Einwand betreffs eines Wunderberichtes lässt sich natürlich auch eine Gegenthese aufstellen, so etwa: In der Regel sind es ehrenwerte, normale gesunde Menschen, die von dem wunderbaren Ereignis überwältigt und gerade zu vergewaltigt wurden.

Als Beispiel bringt er Piloten, die von fliegenden Untertassen berichten.

Also: Ad-hominem-Argumente sind nicht grundsätzlich verwerflich. Es kommt darauf an, ob die behauptete Glaubwürdigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Quelle belegt werden kann.

Man kann es auch übertreiben

In meiner Abschlussvorlesung (Alles wurde ein erstes Mal gemacht) sagte ich:

Hundert kluge Köpfe bringen nicht hundertmal klügere Ideen zum Vorschein als einer allein. Der Geistesblitz ereignet sich notgedrungen in einem einzigen Kopf.

Ein Kollege sagte mir einmal: In seinem Fachgebiet würden die wissenschaftlichen Arbeiten meist von Autorenkollektiven hervorgebracht. Ich habe mir seinerzeit verkniffen, ihm zu sa­gen, dass ich Arbeiten mit mehr als zwei Autoren normalerweise nicht lese. Denn die Erfah­rung hat mich gelehrt, dass in solchen Arbeiten eigentlich nie etwas wirklich Interessantes zu finden ist.

Das ist die fundamentale Schwäche der Veröffentlichungen von Kollaborationen, Arbeitskreisen, Gremien und Diskussionsplattformen.

Ein Leser des Hoppla!-Blogs empfahl mir die Lektüre dieses Papiers des Amtes für Veröffentlichungen der Europäischen Union:

Politisches Verhalten verstehen: Wie Wissen und Vernunft zentrale Bedeutung für politische Entscheidungen erlangen

Daran haben 60 Fachleute verschiedener Fachgebieten mitgewirkt. Das Ergebnis ist danach. Die Veröffentlichung bewegt sich überwiegend an der Oberfläche und sollte sich wirklich etwas Bedeutsames darin finden, ist es unter einem Wust von Gemeinenplätzen verborgen. Leicht aufzufinden hingegen war diese Aussage:

Ergebnisse empirischer Forschungen in diesem immer noch verhältnismäßig neuen Gebiet deuten darauf hin, dass kollektive Intelligenz mehr ist als die minimale, maximale oder durchschnittliche Intelligenz der einzelnen Mitglieder einer Gruppe.

Ich denke, dass sie in dieser Allgemeinheit nicht stimmt.

Eine Sammlung von nützlichen Schlagwörtern für Politiker aber ist das Papier allemal.

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Die Ironie der Automatisierung

Der Wirbel des KI-Hypes, ausgelöst von ChatGPT, zieht vorbei, ohne allzu großen Eindruck bei mir zu hinterlassen.

Ich bin ziemlich stark beeinflusst vom Denken des Josef Weizenbaum und von manch anderem kritischen Geist. (Auf meiner Seite Das System der Denkfallen sind unter den im Folgenden genannten Autorennamen die Quellen der Zitate zu finden.)

Steuern oder überwachen?

Mit dem Namen dieses Artikels „Die Ironie der Automatisierung“ zitiere ich Lisanne Bainbridge. Während meiner Industrietätigkeit bin ich auf sie aufmerksam geworden und habe Folgendes mitgenommen: Ein weitgehend automatisiertes System enthält dem Bediener die Gelegenheiten zum Einüben der im Ernstfall wichtigen Fertigkeiten vor. Der Gewinn, den die Automatisierung verspricht, wird durch das zusätzlich erforderliche Operator-Training teilweise wieder aufgefressen. Ein anderer Punkt, der unter Sicherheits- und Zuverlässigkeitsleuten eine Rolle spielt, ist die Langeweile. Nancy Leveson stellt folgenden Zusammenhang her: Wenn vom Operateur nur geringe Mitwirkung gefordert wird, kann das zu einer geringeren Wachsamkeit und zu einem übermäßigen Vertrauen in das automatisierte System führen. Mica R. Endsley stößt ins gleiche Horn, wenn sie konstatiert, dass das Situationsbewusstsein verloren gehen kann, wenn die Rolle des Bedieners auf passive Kontrollfunktionen reduziert wird. Felix von Cube sagt es so: Dadurch, dass der Unterforderte seine Aufmerksamkeit nicht oder nur zum geringen Teil für seine Arbeit einzusetzen braucht, richtet er sie auf andere Bereiche. So wird sie unter Umständen ganz von der Arbeit abgezogen, es kommt zu gefährlichen Situationen.

Kurz gesagt: Wer in einen Prozess aktiv eingebunden ist, der lernt, ihn zu beherrschen. Die Kehrseite: Der Mensch ist ein schlechter Kontrolleur. Computergenerierte Texte beispielsweise zwingen uns in die Rolle des Kontrolleurs. Das wird nicht gut gehen.

Was tun?

Unter dem Titel Ironie der Automatisierung widmet sich das Weizenbaum Institut diesem Problem, dessen Lösung oftmals in der Technologie selbst gesucht werde: Assistenzsysteme sollen den Menschen bei der Problemlösung anleiten. Dieser rein technischen Ansatz „Mehr desselben“ wird wohl zu Recht infrage gestellt. Demgegenüber wird in dem Projekt auf ein ganzheitliches Verständnis des Prozesses gesetzt:

Erste Befunde aus diesem Experiment zeigen, dass die Probanden, die über die Anleitung durch das Assistenzsystemen hinaus auch eine persönliche Einführung in den gesamten Arbeitsprozess erhielten, zwar zunächst mehr Fehler bei der Arbeitsausführung machten, in der Schlussphase aber eine geringere Fehlerzahl erreichten. Übertragen auf reale Beschäftigte, deutet diese darauf hin, dass holistisches Prozesswissen sogar im Bereich einfacher Maschinenbedingung durchaus einen Mehrwert für die Unternehmen hat. Das wäre ein klares Argument für Investitionen in Qualifizierung und Ausbildung und ein klarer Hinweis auf die Grenze von Assistenzsystemen.

Auch bei diesem Ansatz übernimmt der Mensch die Rolle des Kontrolleurs. Das Grundproblem der Automatisierung bleibt, möglicherweise in verringertem Maße, aber es bleibt.

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Federalist 10

Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.
Horst Seehofer

Ist die Demokratie westlicher Prägung überlebensfähig? Woher kommen die selbstzerstörerischen Tendenzen? Wer den Antworten auf diese Fragen näher kommen will, geht am besten zu den Wurzeln.

Im Jahr 1787 schrieb James Madison (Präsident der USA von 1809 bis 1817) das Federalist-Papier Nummer 10.

Ihn bewegte das Problem, dass Güter und Einkommen in einer liberalen Demokratie zunehmend ungleich verteilt sind. Es entstehen Partikularinteressen, die einem einvernehmlichen Regierungshandeln entgegenstehen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob und inwieweit die Klüngelei mit dem Volkswillen vereinbar ist. Ich habe mir in den folgenden Zitierungen des Papiers erlaubt, das Wort „Faction“ mit „Klüngel“ zu übersetzen. Das trifft die Absicht des Autors besser als das üblicherweise eingesetzte Wort „Fraktion“. (Ansonsten war mir DeepL Übersetzungshilfe.)

Um den Ton zu setzen, beginne ich mit einem Absatz, der erst ganz am Schluss des Papiers zu finden ist:

Eine Sucht nach Papiergeld, nach Abschaffung der Schulden, nach gleicher Aufteilung des Eigentums oder nach irgendeinem anderen unangemessenen oder bösen Projekt wird weniger geeignet sein, den ganzen Körper der Union zu durchdringen, als ein einzelnes Mitglied davon; im gleichen Verhältnis, wie eine solche Krankheit eher geeignet ist, eine bestimmte Grafschaft oder einen Bezirk zu befallen, als einen ganzen Staat. (A rage for paper money…)

Reich regiert, Arm schafft

Die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen ist Folge und Fluch des Liberalismus – so scheint es. Aber bereits für die Denker der Aufklärung war die Ungleichverteilung ein konstitutives Merkmal der liberalen Demokratie.

Madison schreibt:

Maßnahmen werden allzu oft nicht nach den Regeln der Gerechtigkeit und den Rechten der kleineren Partei entschieden, sondern durch die überlegene Kraft einer interessierten und anmaßenden Mehrheit (Measures are too often decided, not according to the rules of justice…)

Dagegen steht:

Die Regierung schützt die verschiedenen und ungleichen Fähigkeiten, Eigentum zu erwerben. Daraus ergibt sich unmittelbar der Besitz verschiedener Grade und Arten von Eigentum; und aus dem Einfluss dieser auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer ergibt sich eine Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Interessen und Parteien. (From the protection of different and unequal faculties…)

Die Vermögens- und Einkommensungleichheit wird von den Befürwortern eines grenzenlosen Liberalismus beharrlich kleingeredet. Aber schon die Gründungsväter der modernen Demokratie wussten, dass genau diese von zentraler Bedeutung für das Gemeinwesen ist.

Madison:

Die häufigste und dauerhafteste Quelle für Klüngel war jedoch die unterschiedliche und ungleiche Verteilung des Eigentums. Diejenigen, die Eigentum haben, und diejenigen, die kein Eigentum haben, haben immer unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft gebildet. Diejenigen, die Gläubiger sind, und diejenigen, die Schuldner sind, fallen unter eine ähnliche Unterscheidung. Ein Grundbesitzinteresse, ein Produktionsinteresse, ein Handelsinteresse, ein Geldinteresse und viele geringere Interessen entstehen notwendigerweise in zivilisierten Nationen und unterteilen sie in verschiedene Klassen, die von unterschiedlichen Gefühlen und Ansichten geleitet werden. Die Regulierung dieser verschiedenen und sich überschneidenden Interessen bildet die Hauptaufgabe der modernen Gesetzgebung und bezieht den Geist der Partei und der Fraktion in die notwendigen und gewöhnlichen Operationen der Regierung ein. (The most common and durable source…)

Sündenböcke

James Madison streicht die Vorzüge einer repräsentativen Demokratie gegenüber der direkten Demokratie heraus. Es seien

erstens die Übertragung der Regierungsgewalt an eine kleine Anzahl von Bürgern, die von den übrigen gewählt werden; zweitens die größere Anzahl von Bürgern und die größere Fläche des Landes, über die sich die Republik erstrecken kann.
Die Wirkung […] besteht einerseits darin, die öffentlichen Ansichten zu verfeinern und zu erweitern, indem sie durch ein ausgewähltes Gremium von Bürgern vermittelt werden, deren Weisheit das wahre Interesse ihres Landes am besten erkennen kann und deren Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe am wenigsten dazu neigen, es vorübergehenden oder partiellen Erwägungen zu opfern. (The two great points of difference between a democracy and a republic are…)

Entscheidungen und die Kontrolle der Regierung werden bei der repräsentativen Demokratie nicht unmittelbar vom Volk, sondern von einer Volksvertretung ausgeübt. Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist in diesem Sinne repräsentativ. Die Lobby des Parlaments ist Namensgeber für die Lobbyisten. Parlamentarismus und Lobbyismus sorgen dafür, dass die Wenigen, die etwas zu sagen haben, im Dunkeln bleiben und kaum zur Verantwortung gezogen werden können. Das Parlament hebt so seine Kontrollfunktion auf. Die Politiker dienen bestenfalls als Sündenböcke.

Wir neigen dazu, an allem was schief läuft, dem Politiker die Schuld zu geben. Ein Beispiel aus heutigen Tagen. Solange ich denken kann, lautet die Parole: Vorrang der Bahn gegenüber dem Straßenverkehr. Was aber ist bisher passiert: Die Bahn wurde kaputt gespart. Die Verkehrsminister geben dem die Namen.

Matthias Wissmann, in diesem Amt von 1993 bis 1998, ist bekannt vor allem wegen seiner Lobbyarbeit für die Automobilindustrie. Auch die CSU-Minister Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und Andi Scheuer waren für die bayerische Automobilindustrie verdienstvoll tätig. Von der Lobbyarbeit des momentanen Verkehrsministers Volker Wissing hatten wir es schon.

Die Systemfrage

Es stellt sich die Systemfrage: Ist die Demokratie westlicher Prägung zum Scheitern verurteilt und muss sie durch etwas Neues ersetzt werden?

Beim Blick in die Vergangenheit sehen wir als Alternativen den Kommunismus und den Faschismus, beide mit Millionen von menschlichen Opfern verbunden und offensichtlich gescheitert. Im Osten haben wir das Einparteiensystem Chinas und weltweit noch ein paar hässliche Diktaturen – auch nicht verlockend.

Ich bevorzuge die Weiterentwicklung unseres Systems. Eine solche Weiterentwicklung hat bereits stattgefunden, indem europäische Länder den weitgehend unbegrenzten Liberalismus der USA-Verfassung nicht eins zu eins übernommen, sondern durch progressive Elemente überformt haben.

In den westeuropäischen Ländern ist ein progressiver Liberalismus vorherrschend. Der Maastricht-Vertrag vom 7.2.1992 definiert in Artikel 3 den europäischen Binnenmarkt als soziale Marktwirtschaft.

In den USA gilt für die Risikovermeidung das Nachsorgeprinzip (Scientific Principle) und in Europa das Vorsorgeprinzip (Prudent Avoidance Principle). Die Tauchgänge zum Wrack der Titanic ohne vorherige Kontrolle des Vorhabens durch unabhängige Prüfstellen hätte es nach europäischem Recht wohl nicht gegeben. Das U-Boot Titan implodierte am 18.6.2023, dabei kamen fünf Menschen ums Leben. Der Liberalismus ist fortschrittsfreundlich und riskant!

Vorstellbar ist, dass die Globalisierung durch weitgehende Regionalisierung zurückgedrängt wird. Das Netz der Verflechtungen würde so überschaubarer. Auch der Grundsatz Small is Beautiful könnte im Rahmen unseres Regierungsystems Fortschritte bringen. Größere Transparenz des parlamentarischen Betriebs, wie sie von den Vereinen LobbyControl und Abgeordnetenwatch vorangetrieben wird, sorgt ebenfalls für mehr Demokratie.

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