Was für ein tolles Buch – und was für ein unsäglicher Titel: „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ (Droemer, München, 2021). Die Autorin Mai Thi Nguyen-Kim betreibt erfolgreich und in meinen Augen beste Populärwissenschaft. Sie widmet sich hochaktuellen Themen, darunter Gewalt und Videospiele, Impfrisiken und Impfverweigerung; daneben stehen Dauerbrenner wie die Legalisierung von Drogen, das Gender Pay Gap, das Verhältnis zwischen Alternativmedizin und Big Pharma, die Erblichkeit von Intelligenz, die Unterschiede im Denken von Frau und Mann und schließlich die Vertretbarkeit von Tierversuchen.
Die Autorin wendet sich an Teens und Twens, wie wir früher sagten. Die Sprache des Buchs mag diesem jugendlichen Publikum heute angemessen sein. Zu meiner Studienzeit gab es noch Studienkollegen, die sich das vertrauliche „Du“ verbaten. Das ist offenbar vorbei. Wer das lockerer sieht und wer sich an schnoddriger Sprache („Matschepampe“) nicht stört, dem kann ich das Buch sehr empfehlen, selbst wenn er zu den höheren Semestern gehört. Ich will das Buch meinen Söhnen schenken, und das, obwohl sie das Jugendalter bereits deutlich überschritten haben. Die folgende Buchkritik soll auch Warnung sein: uneingeschränkter Enthusiasmus ist nicht angebracht.
Statistik lernen – Denkfallen meiden
Statistiken begleiten unser Leben. Die Nachrichten in Zeitungen, Funk und Fernsehen sind voll davon. Leider gilt auch, dass man Statistiken – anders als Churchill meinte – gar nicht zu fälschen braucht, um damit zu lügen. In diesem Hoppla!-Blog bringe ich viele Beispiele zum Thema „How to Lie with Statistics“ (Darrell Huff, 1954/1982). Das Buch der Mai Thi will, wie auch mein Blog, den Leser gegen solche Gefahren wappnen. Das beste Rüstzeug gegen Fehlschlüsse ist eine gute Wissensportion in beschreibender und schließender Statistik.
Und genau diese bietet das Buch der Mai Thi. Sie gibt die wichtigsten Kenngrößen und Zusammenhänge an und veranschaulicht diese mit bestens ausgewählten Grafiken. Wer die genauen Definitionen wissen will, der benötigt darüber hinaus noch etwas Formelkram. Den findet er in den Lehrbüchern oder auch im Internet. Die Wikipedia ist hier zu empfehlen, da es sich um Sachmaterial und nicht um Meinungsfragen handelt.
Ich gehe so weit, das Buch als Begleitmaterial zu Statistikkursen zu empfehlen: Hier wird an aktuellen Fällen Anschauungsmaterial geboten; die notorischen Denkfallen werden sichtbar gemacht. Das so ermöglichte Lernen aus den Fehlern reicht weit über die konkreten Fälle hinaus. Nach diesen Lektionen ist man sicher gut gewappnet für Streitgespräche mit sogenannten Skeptikern hinsichtlich Klimawandel, Impfen und Schulmedizin, und auch für Auseinandersetzungen mit Verschwörungstheoretikern schwacher Ausprägung.
Wissenschaftskonsens oder Konsens von Wissenschaftlern
Die Metapher vom „kleinsten gemeinsamen Nenner“ habe ich nie verstanden. Eigentlich will man damit das benennen, was allen Teilnehmern gemeinsam ist, und das soll ja möglichst groß sein. Diesen Sachverhalt aber trifft die Metapher vom „größten gemeinsame Teiler“ besser. In diesem Sinne würde eine Streichung des Wortes „kleinste“ dem Titel von Mai This Buch gut tun, denn genau darum geht es ihr: Wissenschaft hilft dabei, sich in einer Debatte auf eine möglichst große „gemeinsame Wirklichkeit“ zu verständigen. Weiterlesen