Verschwörungstheorien – Warnzeichen erkennen und deuten

 

Falsche Verschwörungstheorien sind Denkfallen. Früher oder später musste ich darauf stoßen. Nun hat es mich erwischt und ich sehe mich einer neuen Situation gegenüber. Die klassischen Waffen gegen Denkfallen – nachsehen, messen, rechnen, prüfen – erweisen sich gegen Verschwörungstheorien als ziemlich stumpf, denn: Verschwörungstheorien sind Phantasiegebilde auf spärlicher Faktenlage.

Wichtig ist das Wort „spärlich“. Denn nur das unterscheidet sie von den wissenschaftlichen Theorien. Aufgrund einer meist beklagenswerten Faktenlage bietet sich viel Raum für einen Haufen an Theorien; der Selektionsprozess der Wissenschaft lahmt aufgrund eines Mangels an Prüfmöglichkeiten.

Oft hilft nur noch das Sparsamkeitsprinzip weiter: Nimm die nächstliegende Erklärung, die am wenigsten spektakuläre, die mit der geringsten Zahl an nicht prüfbaren Annahmen. Wie das gehen kann, habe ich im Falle der Corona-Verschwörung gezeigt.

So etwas kann auch ins Auge gehen. Am Beispiel der Flachdachpyramide zeige ich, dass die einfachere Interpretation einer Faktenlage nicht immer die bessere ist. (Das diesbezügliche dynamische Flachdachlogo in der Kopfzeile meiner Web-Page ist zwar außer Betrieb gesetzt, da Java-Applets von den Browsern nicht mehr unterstützt werden, aber Sie können mithilfe des „Starreogramms“ sehr gut nachvollziehen, wie bei passendem Blickwinkel die Pyramide nur noch als einfacher Necker-Würfel erscheint. Die einfachere Hypothese ist falsch.)

Woran nun kann der Unvorbereitete eine Verschwörungstheorie als solche erkennen? Wie kann er sich vor falschen Verschwörungstheorien schützen? Geht es auch ohne exzessives Quellenstudium?

Ich denke: ja. Es gibt ein paar einfache Regeln, die dem Immunschutz gegen falsche Verschwörungstheorien dienen. Von ausschlaggebender Bedeutung ist das Erkennen von Warnzeichen. Wie man solche Warnzeichen findet, werde ich anhand eines einzigen Falles entwickeln, nämlich anhand des 2017 erschienenen Buches „Geheimgesellschaften 3“ von Jan van Helsing (bürgerlich: Jan Udo Holey).

Das Buch

Kurz gefasst, beinhaltet Jan van Helsings Buch Folgendes: Eine Geheimgesellschaft mit der Wurzel im Freimaurertum strebt eine Neue Weltordnung an. Zu deren „abscheulichen“ Zielen gehören die Bevölkerungsreduzierung, die Subventionierung der Abtreibung, die Förderung der Homosexualität, die Zerstörung der Familie, die Unterdrückung medizinischer Hilfen, Auslösung von Herzattacken, Verbot alter Religionen, Förderung des Drogenkonsums, Beschränkung der Bürgerrechte, Wetterkontrolle, Ersetzung der Wissenschaft durch Indoktrination, Terrorismus und vieles mehr. Kurz gesagt: Die Geheimgesellschaft strebt ein totalitäres globales System an.

Kaum ein Krimi vergisst, die Hauptfrage zu stellen, nämlich die nach dem Motiv des Täters. Die Frage Cui bono spielt im Buch aber seltsamerweise keine Rolle. Offen bleibt, was das Ganze soll. In anderen Verschwörungstheorien „sieht man klarer“: Gerade poppt im Internet die  Idee auf, dass der Milliardär Bill Gates mithilfe einer Pandemie die Kontrolle über die Gesundheitssysteme der Welt erlangen und Profit daraus schlagen wolle.

Aber zurück zum Buch: Die Chemtrail-Verschwörung ist Teil der beschriebenen weltweiten Verschwörung, ebenso das, was   hinter den Georgia Guidestones vermutet wird, nämlich dass das vorsätzlich entfesselte Corona-Virus dazu dient, die Weltbevölkerung zu selektieren oder zu überwachen. Und so weiter.

Michael Butter nennt so etwas Superverschwörungstheorie (2018). Eine solche entsteht durch das Verschmelzen verschiedener Verschwörungstheorien. Die Verschwörungstheorien einer solchen Kollektion dürfen durchaus zueinander im Widerspruch stehen. Vor allem über die jeweiligen Hintermänner herrscht in dem Buch völlige Konfusion. Jedenfalls haben sie mit den Freimaurern und den Illuminaten zu tun. Aber die sind ja, zwar oft verborgen, allgegenwärtig.

Das Buch gibt sich als Interview, als Zwiegespräch zwischen dem Autor Jan van Helsing und einem anonymen Freimaurer. Das Buch ist eine freie Gestaltung des Überläufer-Motivs: Überläufer genießen Vertrauen. Der Whistleblower offenbart unter  Lebensgefahr sein Wissen über Vergehen seiner Organisation. Damit entsteht der Anschein der Authentizität.

Der anonyme Freimaurer spricht von einem Geheimwissen, das nur wenigen zuteil wird. Bei Geheimnisverrat droht sogar die öffentliche Hinrichtung (S. 72). Andererseits plaudert der Freimaurer durchweg von diesen Geheimnissen. Bleibt ein Überläufer  ungenannt, wie hier, kann das Überläufermotiv nur den Naiven beeindrucken. Der aufmerksame Leser hingegen wird einen Schwindel dahinter vermuten.

Ich erinnere mich an den Coen-Film „Fargo“: Im Vorspann wird eine wahre Geschichte versprochen. Was folgt, ist äußerst grotesk. Im Abspann kommt der Hinweis, dass alle Personen und Ereignisse fiktional sind.

Genauso kann man das Interview verstehen: als Fiktion, als Witz. Dann hat man seinen bescheidenen Spaß daran.

Beliebigkeit der Deutungen

Sollte es den Whistleblower geben, dann ist er jedenfalls nicht ernst zu nehmen. Er verwickelt sich fortwährend in Widersprüche: Einerseits lehrt die Freimaurerei gar nichts (S.154), andererseits ist ihr Ziel die Neue Weltordnung (S. 117); alle Religionen stehen für den Freimaurer gleichberechtigt nebeneinander (S. 114), andererseits ist er gegen den Islam und für den Papst (S. 81); die Freimaurer-Logen sind eng vernetzt und verbunden (S. 66), aber es gibt einen Krieg der Logen (S. 126); die Deutschen werden im denkerischen Bereich die Führung übernehmen, obwohl sie absolut obrigkeitshörig und des Denkens entwöhnt sind (beides auf S. 199); einmal liegt die Steuerung des Weltgeschehens bei den Lenkern der Zentralbanken – alles Freimaurer –, ein andermal sind es wir alle, die über das weltumspannende morphogenetische Feld zu Steuermännern, zu Entscheidern über Krieg und Frieden werden (beides auf S. 152).

Das Buch bietet einen bunten Strauß an Verschwörungstheorien. Beim Ausleuchten der Hintergründe wird es konfus. Hinter allem stecke ein Kreis von Mächtigen, heißt es. Manche dieser Mächtigen werden benannt, wie Barack Obama, der Papst, Helmut Kohl, Angela Merkel – da hätte man auch selber drauf kommen können. Fragt der Interviewer Jan van Helsing, wer denn nun eigentlich die Kontrolle ausübt, lautet die Antwort des anonymen Freimaurers: „Ich nenne keine Namen.“  (S. 129)

Das Vage und das Chaos scheinen zum System zu gehören.

Den Verschwörungstheoretiker schreckt es nicht. Er weiß, dass der Gläubige im Chaos immer genau das sieht, was er sehen will. Anders der an Aufklärung interessierte Skeptiker. Für ihn ist das Chaos ein erstes Warnzeichen: Es zeugt von der Beliebigkeit und der fehlenden Erklärungskraft der Verschwörungstheorien.

Sackgassen des Denkens

Weiteres Merkmal von Verschwörungstheorien ist ihre Begründung im Denken der Antike. Als Fuldaer Bürger hat man einen Zugang zu dieser Denkwelt. Athanasius Kircher lehrte hier. Von ihm und von seinem Begriff der Weltharmonie war bereits die Rede, auch vom Analogiegesetz als Schlüssel für das Weltverständnis: Wie oben so unten – der Mikrokosmos als Spiegelbild des Makrokosmos.

Von noch größerer Bedeutung ist Hrabanus Maurus. Er lehrte in Fulda und war von 822 bis 842 Abt des hiesigen Klosters. Am Pfaffenpfad vom Kloster (Dom) hinauf zum Petersberg gibt es eine Tafel mit Erläuterungen zu einem seiner Figurengedichte, das „in besonderer Weise die innige Verbindung zwischen natürlichem und himmlischem Weltlauf“ verkörpert. Sein Titel: „Über die vier Elemente, die Reihenfolge der Jahreszeiten, die vier Erdteile, die vier Teile des natürlichen Tages und wie sie ihren Platz im Kreuz finden und durch das Kreuz geheiligt werden“.

Auf dieses antike Denken berufen sich heutzutage die Esoteriker. Ihre Grundsätze sind dem Corpus Hermeticus entlehnt, einem Kompendium dieses Denkens (Ehmer, 2016). Im Freundeskreis werde ich immer wieder einmal mit Feststellungen aus dieser Denkwelt konfrontiert:

  1. Alles hat eine Ursache
  2. Zufall gibt es nicht
  3. Alles ist miteinander verbunden
  4. Wie oben, so unten

Ursachen haben selbst wiederum Ursachen. Damit die Ursachensuche nicht zu einem unendlichen Regress führt, beendet der Esoteriker die Suche, indem er sich, Hermes Trismegistos folgend, auf eine welt-immanente mystische „Kraft eines ruhenden Dinges“ beruft, auf einen unbewegten Beweger also, von dem bereits Aristoteles sprach.

Dieses Ideengut hat die „alten Griechen“ nicht allzu weit gebracht, es führt  in Sackgassen des Denkens. Es erwachte in der Renaissance aufs Neue, und damals wurde es auch weitgehend überwunden. Es entstand das, was wir heute Wissenschaft nennen.

Auch heute noch gibt es das hermetische Denken; es wird von den Esoterikern aller Schattierungen gepflegt. In diesen toten Winkeln des Denkens finden wir das Intelligent Design, die morphogenetischen Felder des Rupert Sheldrake und auch Hans-Peter Dürrs Weltbewusstsein. Diese Theorien  erklären alles – und genau darum rein gar nichts.

Dem Jan van Helsing haben es offenbar die morphogenetischen Felder angetan. Und genau diese Bezugnahme auf die Hermetik ist für mich das zweite Warnzeichen einer falschen Verschwörungstheorie.

Kontiguität – Korrelation – Kausalität

Unsere Neigung, in allem Möglichen einen Sinn zu suchen und zu finden, zeigt sich, wenn wir in den Zufallsmustern von Badezimmerkacheln Gesichter erkennen, oder wenn sich das Wolkenbild zu einem Hund zu formen scheint. Vom erzählerischen Chaos, das in unserem Kopf zu einer Verschwörungstheorien wird, war bereits die Rede. Aber nicht nur das Chaos hat etwas zu bieten. Manche sinnstiftende und dabei völlig sinnfreie Konfiguration wird vom Verschwörungstheoretiker vorsätzlich erzeugt.

Die zeitliche oder räumliche Nähe zweier Gegenstände oder Gedanken empfinden wir bereits als Zusammenhang oder Korrelation. Und dieser Zusammenhang reichern wir dann gern mit noch mehr Sinn an und interpretieren ihn im Sinne einer Kausalität.

Diesen Mechanismus nutzt das Buch. Beispielsweise steht da: “Das Ziel [der Mächtigen] ist es, die Menschenmehrheit, eine Volksmehrheit ruhig zu halten, so wie die heutige Jugend“. Anschließend steht: „Die junge Generation unserer Zeit hat keine Zukunftsperspektive, und die Jugendlichen verfallen in Depression. Dennoch verhalten sie sich ruhig, weil sie durch Drogen und irgendwelche Spielprogramme an ihren Bildschirmen beschäftigt sind.“ (S. 87f.) Es steht zwar nicht so da, aber wer nicht aufpasst, hat schon den Schluss vollzogen: Die Mächtigen versetzen die Jugendlichen vorsätzlich in den Cyberspace, in eine Welt, die eigentlich keine ist.

Also Achtung: Das dritte Warnzeichen zeigt sich, wenn zwei Gedankengänge einfach nebeneinandergestellt werden und wenn der Autor offenbar darauf vertraut, dass wir die „richtigen Zusammenhänge“ schon herstellen werden.

Es gibt weitere Möglichkeiten, Zusammenhänge zu insinuieren und sich dabei jeglicher Haftung für die Schlussfolgerungen zu entziehen. Gern genommen wird die Frageform: „Man wird ja noch einmal fragen dürfen.“ Auch die Möglichkeitsform ist sehr beliebt: „Es könnte ja sein, dass …“ Die Verlautbarung, dass die Vereinigten Staaten über eine „Erdbebenwaffe“ verfügen und dass diese auch schon eingesetzt worden sei, wird folgendermaßen in den Bereich des Möglichen gerückt: „Wir können es zwar nicht beweisen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas schon vorgekommen ist, ist sehr groß.“ (S. 193)

Zum Schluss

Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich mir antue, ein solches Schrottwerk zu studieren, wo doch ein kurzer Blick ins Internet zeigt, dass Jan van Helsing als rechtsextremistischer Esoteriker bekannt ist und dass er auch vom Verfassungsschutz so gesehen wird und dass einige seiner Bücher auf dem Index jugendgefährdender Schriften stehen.

Obwohl ich das alles weiß, spielt es bei meinen Überlegungen keine Rolle. Dem Verschwörungstheoretiker fällt es nämlich leicht, diese Urteile als Verunglimpfung anzusehen, die von den Verschwörern selbst  in die Welt gesetzt worden sind.

Ein jeder von uns muss sich schon selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen.

Quellen

Butter, Michael: Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien. 2018

Dürr, Hans-Peter: Geist, Kosmos und Physik. Gedanken über die Einheit des Lebens. 2011

Ehmer, Manfred: Das Corpus Hermeticum. Weisheit, die aus dem Ewigen fließt. 2016

Helsing, Jan van: Geheimgesellschaften 3. Krieg der Freimaurer. Ein Hochgradfreimaurer packt aus. 2017

Oepen, Irmgard; Federspiel, Krista; Sarma, Amardeo; Windeler, Jürgen (Hrsg.): Lexikon der Parawissenschaften. 1999

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Die Corona-Verschwörung

Remember, remember the fifth of November,
gunpowder, treason and plot,
I know of no reason why gunpowder treason
should ever be forgot.

Das neue Corona-Virus macht uns fertig. Wem Angstvermeidung durch Verdrängung nicht hilft, der kann sich entlasten, indem er sich auf die Suche nach einem Sündenbock macht. Dafür gibt es Spezialisten – die Verschwörungstheoretiker. Sie sind, so scheint es mir, unablässig auf der Suche nach dem Geheimnisvollen, dem Mystischen oder gar dem Grauenerregenden. Das sind dann die Projektionsflächen für Ängste. Kürzlich machte mich eine Freundin auf eine solche Projektionsfläche aufmerksam.

Die Georgia Guidestones

Auf Klagemauer TV (kla.tv) wird unter dem Datum 29. November 2014 über die Georgia Guidestones berichtet: „In Elbert County im US-Bundesstaat Georgia befindet sich ein gigantisches Granit-Monument mit seltsam verschlüsselten Botschaften. Dieses Mahnmal ist in etwa 7 m hoch, mit einem sagenhaften Gesamtgewicht von rund 120.000 kg. Die erstaunlichsten Details dieses Monuments sind aber nicht seine Ausmaße, sondern die in Granit gemeißelten Botschaften: zehn Regeln für ein »Zeitalter der Vernunft«.“

In der Wikipedia finde ich die 10 Gebote der Georgia Guidestones (25.3.2020):

  1. Halte die Menschheit unter 500.000.000 in fortwährendem Gleichgewicht mit der Natur
  2. Lenke die Fortpflanzung weise – um Tauglichkeit und Vielfalt zu verbessern
  3. Vereine die Menschheit mit einer neuen, lebenden Sprache
  4. Beherrsche Leidenschaft – Glauben – Tradition und alles Sonstige mit gemäßigter Vernunft
  5. Schütze die Menschen und Nationen durch gerechte Gesetze und gerechte Gerichte
  6. Lass alle Nationen ihre eigenen Angelegenheiten selbst/intern regeln und internationale Streitfälle vor einem Weltgericht beilegen
  7. Vermeide belanglose Gesetze und unnütze Beamte
  8. Schaffe ein Gleichgewicht zwischen den persönlichen Rechten und den gesellschaftlichen/sozialen Pflichten
  9. Würdige Wahrheit – Schönheit – Liebe – im Streben nach Harmonie mit dem Unendlichen
  10. Sei kein Krebsgeschwür für diese Erde – lass der Natur Raum

Weiter mit kla.tv: „Diese Richtlinien sprechen von einer »Neuen Weltordnung«, einschließlich massiver Reduzierung der Weltbevölkerung, einer einzigen Weltregierung, die Begründung einer neuen Form von Spiritualität und einigem mehr. Die Verfasser dieser Regeln verbergen sich in strikter Anonymität, sodass die Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag keine Ahnung hat, wer die Macher dieser Steine sind. Doch hat diese mysteriöse Gruppe in einem bislang kaum diskutierte[n] Text die Gründe erläutert, die hinter ihren neuen Regeln stecken. Neueste Erkenntnisse bringen Licht in den hinter diesen Guidestones stehenden Zweck, sodass kaum noch Raum für Hypothesen verbleibt. Die Guidestones beschreiben die zukünftige Welt, wie sie von okkulten Geheimgesellschaften geplant ist. Somit liefert das Monument den Beweis für die bestehenden Beziehungen zwischen solchen äußerst umstrittenen Geheimgesellschaften, der selbst ernannten Weltelite, und deren Drängen hin zu einer »neuen Weltordnung«.“

Klagemauer TV schließt daraus, dass es sich bei den Guidestones um das Werk einer okkulten Geheimgesellschaft handele und dass es unter dem Einfluss solch einer Geisteshaltung es keine Kunst mehr sein dürfte, die Auslöschung fast der gesamten Weltbevölkerung aus Vernunftgründen salonfähig zu machen: Entvölkerung, Geburtenkontrolle und Eugenik.

Bei den Georgia Guidestones scheine es sich um ein freimaurisches Rosenkreuzer-Manifest zu handeln. Zwischen den idealistischen Worten der Auftraggeber der Guidestones und der realen Art und Weise, wie diese Regeln von machthungrigen und gierigen Politikern angewendet würden aber lägen Welten.

Den Bogen spannen zu Corona

Die Online-Publikation Aiken Standard stellt den Zusammenhang mit den Laboratorien für Kriegsforschung her und schreibt am 20.2.2020, dass der momentane Coronaviren-Ausbruch von  Wuhan auf Agenten des chinesischen Programms für biologische Waffen zurückgeführt werden könne. Sie hätten das Virus aus einem kanadischen Labor und der Harvard Universität entwendet. (Letter: Biological warfare is real)

Weiter berichtet die Veröffentlichung über ein Interview, in dem der Professor für internationales Recht, Francis Boyle, sagt, dass das Wuhan Corona Virus von 2019 eine Waffe der biologischen Kriegsführung sei. Dies sei von der WHO auch bestätigt worden.

Der Autor des Artikels, Andy Windham, ergänzt, dass eine weltweite Virus-Pandemie die Weltbevölkerung im großen Maßstabe reduzieren würde. Dann stellt er den Zusammenhang her: Es geschehe genau das, was das erste Gebot der Georgia Guidestones sagt: „Halte die Menschheit unter 500.000.000 in fortwährendem Gleichgewicht mit der Natur.“ Zum Verlust an Leben käme dann das Kriegsrecht mit seinen Beschränkungen der Grundrechte: Meinungsfreiheit, Freizügigkeit und Versammlungsfreiheit.

Da haben wir es: Hinter all dem stecken die geheimen Machenschaften einer mächtigen Weltelite – eine Verschwörung – wie sie von Klagemauer TV in weiser Voraussicht bereits angekündigt wurde. Eine Verschwörungstheorie ist geboren.

Was ist eine Verschwörungstheorie?

Als Verschwörung gilt die Verabredung

  1. einer Gruppe von Menschen
  2. zur Begehung rechtswidriger Handlungen
  3. unter dem Siegel der Geheimhaltung.

Eine Verschwörungstheorie – besser: Verschwörungshypothese oder Verschwörungsvermutung – erklärt einen Missstand  als das Ergebnis einer Verschwörung.

Aufgabe des Skeptikers ist, die Stichhaltigkeit derartiger Vermutungen gründlich zu untersuchen, plausible Gegenhypothesen darzustellen und alle diese Hypothesen kritisch gegeneinander abzuwägen.

Schauen wir uns an, was Karl Raimund Popper in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ über Verschwörungstheorien sagt.

Bekanntlich ist für Popper die Methode des Planens im großen Stil nicht Erfolg versprechend: „Das soziale Leben ist so kompliziert, dass nur wenige Menschen oder überhaupt niemand fähig ist, den Wert eines Bauplans für soziale Maßnahmen im großen  Maßstab richtig einzuschätzen.“ (Band I, 1957/1980, Neuntes Kapitel: Ästhetizismus, Perfektionismus, Utopismus, S. 213 ff.)

„Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft […] behauptet, dass die Erklärung eines sozialen Phänomens in dem Aufweis der Menschen und Gruppen besteht, die am Eintreten dieses Phänomens ein Interesse haben (dieses Interesse ist manchmal verborgen und muss erst enthüllt werden) und die zum Zwecke seiner Herbeiführung Pläne gemacht und konspiriert haben. […]  Der Glaube an die homerischen Götter, deren Verschwörungen die  Geschichte des Trojanischen Kriegs erklären, ist verschwunden. Die Götter sind abgeschafft. Aber ihre Stelle nehmen nun mächtige Männer oder Gruppen ein – unheilvolle Druckgruppen, deren Bosheit für alle Übel verantwortlich ist, unter denen wir leiden – wie die Weisen von Zion, die Monopolisten, die Kapitalisten oder die Imperialisten.“  (Band II, 1958/1980, Viertes Kapitel: Die Autonomie der Soziologie, S. 119 f.)

Popper fährt fort: „Ich will damit nicht sagen, dass sich Verschwörungen niemals ereignen. Im Gegenteil: Verschwörungen sind ein typisches soziales Phänomen. Sie werden zum Beispiel immer dann wichtig, wenn Menschen an die Macht kommen, die an die Verschwörungstheorie glauben. Und Menschen, die allen Ernstes zu wissen glauben, wie man den Himmel auf Erden errichtet, werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Verschwörungstheorie übernehmen, und sie werden sich in die Gegenverschwörung gegen nicht existierende Verschwörer verwickeln lassen. […] Verschwörer vollenden ihre Verschwörung nur selten.“ (Karl Raimund Popper hat beim Schreiben der Worte sicher auch an Adolf Hitler gedacht.)

Alternative Erklärung zu den Georgia Guidestones

Offensichtlich verbreitet Klagemauer TV mit seinem Video „Die Georgia Guidestones“ eine Verschwörungstheorie. Ich biete hier eine weit plausiblere Erklärung an:

Da hat sich wohl eine Gruppe von gutmeinenden Reichen getroffen, die den in den Siebzigerjahren virulenten Ideen ein Mahnmal gesetzt haben. Wir erinnern uns: „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome war anfangs des Jahrzehnts erschienen. 1975 setzte Herbert Gruhl noch eins drauf mit seinem wirkmächtigen Buch „Ein Planet wird  geplündert“. Dieses Werk hat viel zum Entstehen der Bürgerbewegungen dieser Zeit beigetragen und auch zum Erscheinen der Grünen. Die Überbevölkerung war damals ein großes Thema, die Kernkraft auch. Bereits 1964 hatte Julian Huxley, der erste UNESCO-Präsident, mit „Evolutionary Humanism“ ein Plädoyer für die Eugenik abgeliefert. In diesem Buch finden wir weitere Eckpunkte der Guidestones, nämlich die Zahl 500 Mio. für die Zahl der  menschlichen Erdbewohner unmittelbar vor der Bevölkerungsexplosion der Neuzeit und auch die Mahnung, dass der Mensch nicht zum Krebsgeschwür dieses Planeten werden möge.

Das Monument wurde in demselben Jahr eingeweiht, in dem die Umweltstudie „Global 2000“ erschien, die der US-Präsident Jimmy Carter in Auftrag gegeben hatte: 1980.

Man kann die 10 Gebote also durchaus ohne Verschwörungstheorie ziemlich gut verstehen. Hier hat vermutlich eine Gruppe von Idealisten den Zeitgeist der Siebzigerjahre in Granit hauen lassen. Gegen die Verschwörungstheorie spricht auch, dass es in den USA offenbar eine große Zahl an philanthropischen Milliardären gibt. Beispiele sind Bill Gates und George Soros. Und warum sollte jemand, der die Weltherrschaft anstrebt, diese Absicht monumental veröffentlichen und dabei selber anonym bleiben wollen?

Es kann sein, dass die Gruppe, die das Monument hervorgebracht hat, schon Jahrzehnte bestanden hat, dass sie den Freimaurern angehört, oder den Illuminaten, oder auch den Rosenkreuzern. Aber daraus wird immer noch keine Verschwörung, da es keinen begründeten Verdacht auf rechtswidriges Verhalten dieser Gesellschaften gibt. Eine Verschwörung wird erst daraus, wenn man – konsequent in Möglichkeitsform – Zusammenhänge mit bösen Mächten herstellt.

Ich jedenfalls kann nur Regeln der Vernunft erkennen. Wir hätten sie wohl besser beherzigen sollen.

Hintergrund

Die Wikipedia schreibt über Klagemauer TV und dessen Initiator Ivo Sasek: „Saseks Onlinesender Klagemauer.tv veröffentlicht zahlreiche Videos zu aktuellen politischen Ereignissen. In einem professionell aufgemachten Studio verliest eine Sprecherin diverse „Nachrichten“, die die „Mainstreammedien“ angeblich unterdrücken. Laut Media-Beobachtern erinnern die Sendungen an die früheren Nachrichtensendungen des Kopp Verlags und versuchen wie diese, verschwörungstheoretischen Meldungen ein seriöses Gepräge zu geben. […] Der Sender verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien zum 11. September 2001: Die US-Regierung habe die Terroranschläge am 11. September 2001 selbst verübt. Hinter ihr stehe die «Familie Rothschild», die weltweit die Kontrolle über die Nationalbanken anstrebe. […] Eine „Finanzoligarchie“ der USA benutze Flüchtlingsströme nach Europa, um Chaos in Deutschland auszulösen, die Bevölkerung zu spalten und in einen Bürgerkrieg zu treiben. In Predigten behauptet Sasek, Freimaurer, Bilderberger oder eine jüdische Sekte seien heimliche Drahtzieher solcher Vorgänge. Ziel dieser Geheimbünde sei die fast vollständige Vernichtung der Menschheit und die Weltherrschaft des Teufels, dem sie dienten.“ (So vorgefunden am 26.03.2020)

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Gibt es wissenschaftlichen Konsens?

Das ist der hundertste Hoppla!-Artikel

Wer seinen Argumenten Nachdruck verleihen will, der beruft sich gern auf den wissenschaftlichen Konsens (scientific consensus). Für John Cook und seine Mitstreiter ist ein solcher wissenschaftlicher Konsens hinsichtlich des Klimawandels gegeben, denn „97% der Klimaforscher sind der Auffassung, dass der Klimawandel von Menschen gemacht ist“.

Ich will mich, mangels Sachverstand, nicht in die inhaltliche Diskussion zum Klimawandel einmischen. Auch an den Zweifeln bezüglich der Statistik will ich mich nicht beteiligen. Mir geht es um Grundsätzliches, um die Wortwahl nämlich.

Wer angesichts der äußerst verworrenen Sachlage in der Klimaforschung klaren Kopf behalten will, sollte sich zuallererst die verwendeten Begriffe etwas genauer anschauen. Sind schon die Begriffe dunkel und unscharf, wird aus der ganzen Wahrheitssuche nichts.

Was also besagt der Ausdruck vom wissenschaftlichen Konsens?

Wissenschaft ist ein Selektionsprozess; ihr wesentliches Merkmal ist Intoleranz. Es gibt bei Theorien nur Sieg oder Niederlage, auch wenn der Sieger nicht immer gleich fest steht. Wissenschaftlicher Konsens im Sinne des Kompromisses gehört nicht zum Regelwerk des Spiels empirische Wissenschaft. 

Wissenschaft funktioniert bei streng eingegrenzten Fragestellungen. Wenn eine Fragestellung zu komplex ist, wie beim Klimawandel, muss man tiefer gehen, bis der Detaillierungsgrad erreicht ist, der der Wissenschaft zugänglich ist. Wissenschaft in diesem Sinne ist streng reduktionistisch und gar nicht lieb. Toleranz finden wir auf dem Gebiet der Moral, nicht auf dem der Wissenschaft.

Entscheidungen über komplexe Fragestellungen, bei denen auch persönliche Wertvorstellungen ins Spiel kommen, sind zunächst einmal Sache eines jeden Einzelnen.  Das Zusammenleben erzwingt den Konsens. Jetzt ist das Wort angebracht: Konsens finden wir im politischen Willensbildungsprozess, nicht auf dem Feld der Wissenschaft.

Skeptiker tun gut daran, bei ihrer gründlichen Untersuchung (Skeptical Inquiry) die Vermischung der verschiedenen Gestaltungsebenen zu vermeiden.

Die Rede vom „wissenschaftlichen Konsens“ verleiht dem Konsens den Anschein der Objektivität. Die den Konsens tragenden Personen, die Akteure, geraten aus dem Blickfeld. Diese haben Interessen und eine Agenda und wer weiß, wie sie ausgewählt worden sind.

Im vorliegenden Fall sind es nicht einmal Personen, sondern nur ausgewählte Veröffentlichungen. Die Autoren waren an der Konsensbildung gar nicht beteiligt. Hinzu kommt, dass der Konsens von Personen festgestellt wurde, die ebenfalls einer Agenda folgen und die ihre eigenen Wertmaßstäbe anlegen. Objektiv ist das alles nicht.

Spiegel Wissenschaft (23.09.2014) wird deutlich: „Das Resümee von Cook und seinen Kollegen: 97 Prozent legten einen menschlichen Einfluss zugrunde. Die Studie belegt also lediglich eine Banalität: Wissenschaftler sind sich weitgehend einig, dass der Mensch zur Klimaerwärmung beiträgt. Selbst hartgesottene Kritiker der Klimaforschung zweifeln nicht an dem physikalischen Grundsatz, dass Treibhausgase aus Autos, Fabriken und Kraftwerken die Luft wärmen.

Zu den eigentlich entscheidenden Fragen jedoch macht die Cook-Studie keine Aussage: Wie groß ist der menschengemachte Anteil am Klimawandel? Und wie gefährlich ist der Klimawandel? Die bedeutendsten Fragen der Umweltforschung sind weitaus schwieriger zu beantworten – und hier gehen die Meinungen der Wissenschaftler weit auseinander. Die Kontroversen und Unsicherheiten dazu dokumentiert sorgsam der aktuelle Uno-Klimabericht auf Tausenden Seiten.“

Die Strategie der Forscher erhält viel Beifall von Umweltverbänden, schreibt der Spiegel. Sie stoße aber auch auf Unverständnis. Derartig einfache Botschaften stärkten meist die Polarisierung der Gesellschaft, so wird der Risikoforscher und Rechtsprofessor Dan Kahan zitiert.

Also Achtung: Wenn vom wissenschaftlichen Konsens die Rede ist, geht es eigentlich um etwas anderes, um den Konsens eines Kreises von Experten nämlich. Und so sollte der Konsens dann auch genannt werden: Expertenkonsens. Mit dieser Wortwahl wäre schon ein erster kleiner Schritt in Richtung Klarheit getan. Die Cook-Studie ist eine Metastudie, die als Expertenkonsens auftritt. Das halte ich nun tatsächlich für eine Irreführung.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ressourcennutzung und Abfallerzeugung empfand ich schon vor über vierzig Jahren als Riesenproblem: unübersehbar und unerträglich. Meine Hauptsorgen waren damals schon der radioaktive Abfall und die klimawirksamen Gase. Wer etwas von Entropie weiß und den Bevölkerungszuwachs sieht, der kann dem Fortschrittsoptimismus mancher Zeitgenossen nicht viel abgewinnen. Vielleicht sollten wir uns zuallererst einmal abgewöhnen, das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ in abschätziger Weise zu benutzen.

Quelle

Cook, J., van der Linden, S., Maibach, E., & Lewandowsky, S. (2018). The Consensus Handbook. DOI:10.13021/G8MM6P. http://www.climatechangecommunication.org/all/consensus-handbook/

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Verschwörungstheorien: Was tun?

Vor einer Woche, am 19. Februar 2020, starben in Hanau elf Menschen durch einen Anschlag. Wie bei den jüngsten Attentaten in Neuseeland (15.3.2019), Wolfshagen (2.6.2019) und Halle (9.10.2019) waren Verschwörungstheorien Teil der Motivationslage des Täters.

Erste Analysen brachten DIE ZEIT und die Süddeutsche. Eine Presseübersicht bietet die GWUP an.

Etwas Ungeheuerliches hat sich allmählich aber unaufhaltsam in unseren Alltag hineingeschlichen. Inzwischen ist es kaum mehr zu vermeiden, dass wir im persönlichen Umfeld mit krausen Verschwörungstheorien konfrontiert werden. Ich habe mich entschlossen, das nicht mehr auf die leichte Schulter zu nehmen.

In meinem Bekanntenkreis im Ernst zum Besten gegeben wurden die Verschwörungstheorien zu 9/11 („Die US-Geheimdienste waren es.“), Bilderberger, Chemtrails und flacher Erde.

Letzterer zufolge ist die Erde eigentlich flach; sie wird uns von interessierter Seite als kugelig vorgegaukelt und die Mondlandung gibt es nur in einem gut inszenierten Film. Da Eratosthenes den Erdumfang vor über 2200 Jahren gemessen haben will, muss die Mär von der Kugelgestalt der Erde schon sehr alt sein. Bereits Columbus ist seinerzeit wohl darauf reingefallen.

Die Flacherdler haben mir die Grenzen meiner Aufklärungsbemühungen vor Augen geführt. Die Hinweise, dass bei einem Flug nach Amerika der Tag um wenigstens fünf Stunden länger wird und dass der optische Eindruck, den ein Schiff hinterlässt, wenn es hinter dem Horizont verschwindet, nicht mit der Annahme einer flachen Erde vereinbar sind, verfangen nicht. Das müssen Täuschungen sein, heißt es. Wenigstens werden solche absurden Theorien als gleichrangig mit den geltenden Auffassungen angesehen, da letztere ja auch nur prinzipiell widerlegbare Wissenschaft seien.

Wie Mythen gehören die Verschwörungstheorien zu den identitätsstiftenden Erzählungen. Bestätigung findet der Verschwörungstheoretiker zuhauf im Netz. Das garantiert das Wohlbefinden. Wer nicht zustimmt, gehört zu den anderen. Diese Haltung vermeidet Unwohlsein und kognitive Dissonanz. Das Freund-Feind-Denken stabilisiert sich selbst und immunisiert den Verschwörungstheoretiker gegen jedwede Aufklärungsarbeit.

Was also kann man da tun? Drei Antworten fallen mir ein:

  1. Dem ausgemachten und missionierenden Verschwörungstheoretiker knapp und fundiert widersprechen und sich dann zurückziehen. Keinesfalls interessiertes Publikum spielen und das Ganze durch Diskussion aufwerten.
  2. Dem Adressaten des Verschwörungstheoretikers zur skeptischen Methode raten: Weitere Erklärungen suchen, vor allem in der normalen Wissenschaft; Alternativen ausgiebig und kritisch gegeneinander abwägen.
  3. An Lehrer und Schulen appellieren und mehr und bessere mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung einfordern.

 

 

 

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Der Spiegel der Natur

Rätsel machen Spaß. Davon war im letzten Artikel die Rede. Manche bieten den schnellen und etwas flachen Erfolg. Andere erfordern mehr Anstrengung und beglücken uns dafür mit überwältigenden Aha-Erlebnissen. Wieder andere führen zu langen Disputen, die ebenfalls ihre Liebhaber finden.

Heute schreibe ich von Rätseln, die lebenslange Grübeleien nach sich ziehen und die letztendlich ohne Lösung bleiben (müssen). Es ist ein besonderer Menschenschlag, der auf so etwa versessen ist. Sie nennen sich Philosophen. Sie fragen, ob die Zeit einen Anfang hat oder ob sie schon ewig da ist, oder auch, ob die Welt unendlich ausgedehnt oder ob sie endlich ist. Lauter so Sachen.

Nun gibt es schon seit Jahrtausenden die Warnung vor derartiger Gehirnakrobatik. Zuletzt, soviel ich weiß, hat vor zweieinhalb Jahrhunderten Immanuel Kant gemahnt: Lasst das! Es bringt nichts. So jedenfalls interpretiere ich die Worte aus dem Abschnitt „Antithetik der reinen Vernunft“ seines Werkes „Kritik der reinen Vernunft“ (1787): „Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß zum Gebrauch der Verstandesgrundsätze auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene über die Grenzen der letzteren hinaus auszudehnen wagen, so entspringen vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen.“ Kant war der Auffassung, dass derartige Probleme nicht gelöst, sondern bestenfalls „unschädlich gemacht“ werden können.

Kant hat seine Mahnung in den Wind geschrieben. Nach wie vor erscheinen dicke Bücher über die grundsätzliche Beschaffenheit der Welt; gemeint ist eine von unserem Denken unabhängige Welt, über die wir nachdenken und die zu erkennen wir befähigt sein sollen. Außer dieser Natur gibt es diesen Büchern zufolge nichts, vor allem keine Übernatur.

Diese Geisteshaltung nennt sich Naturalismus. Ihm zufolge sehen wir die Welt wie in einem Spiegel (Rorty, 1979/2009). Dieser Spiegel der Natur in unserem Kopf gehört, wie der Kopf auch, zur Welt, da es ja voraussetzungsgemäß sonst nichts gibt.

So gerät der Philosoph in eine ausweglose Situation: Er denkt also nach über das Spiegelbild der Natur und über seine – ebenfalls gespiegelten – Gedanken dazu, und über seine Gedanken dazu, und über … Hätte er doch nur auf Kant gehört, der ihm zurief: Lass das!

Obwohl erst einmal nichts gegen den Begriff einer allumfassenden Welt zu sprechen scheint, stellt sie sich doch als undenkbar heraus. Wissen ist offensichtlich nicht naturalisierbar (Rorty, 1979/2009, „Truth without mirrors“, S. 295-299). Andererseits empfinden wir unser Wissen über Zahlen beispielsweise als durchaus real, auch wenn es die Zahlen selbst nicht sind. Aber: Lassen wir das!

Jetzt lässt sich auch verstehen, warum es auf dem Büchermarkt Titel von ernst zu nehmenden Autoren gibt, die einander schreiend widersprechen: „Wieso können wir die Welt erkennen?“ (Vollmer, 2003) und „Warum es die Welt nicht gibt“ (Gabriel, 2013).

Wer diesen Schwierigkeiten entkommen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als dem allumfassenden Realismus adieu zu sagen. Genau das hat Hilary Putnam (2012) getan. Er hat sich von dem von ihm so genannten metaphysischen Realismus abgewandt und propagierte stattdessen eine deutlich schwächere Variante des Realismus, den internen oder wissenschaftlichen Realismus. Demzufolge ist der praktische Erfolg einer Theorie Beleg dafür, dass sich ihre Begriffe auf real existierende Objekte beziehen und dass diese Theorien die Realität wenigstens teilweise richtig erfassen.

Das Problem mit dem Spiegel der Natur ist er so zwar losgeworden, die denkunabhängige Realität gibt es in Putnams Gedankengebäude aber immer noch. Sie ist jetzt zwar lokal begrenzt, eingeschränkt auf das jeweilige Anwendungsgebiet einer Theorie. Das ist ein Rest an Metaphysik. Dieser Rest bringt ihn erneut in Schwierigkeiten, nämlich dann, wenn sich die rätselhaften Erscheinungen der Quantenphysik seiner Vorstellung von Realität verweigern: „We will just fail to find a scientific realist interpretation that is acceptable.“ (Putnam, 2012, S. 145)

Anstatt den Realismus infrage zu stellen, hofft er auf eine noch zu entwickelnde realistische Interpretation der Quantenphysik. Dieses Argumentationsmuster kennen die Skeptiker von den Homöopathen: Auch nach über zwei Jahrhunderten an negativen Erfahrungen stellen sie ihre Auffassung nicht zur Disposition; da müsse eben mehr Forschung her, meinen sie.

Den Witz der Geschichte hätte ich fast unterschlagen. Am Ende seines Weges zieht Putnam den naiven Realismus in Betracht, einen Realismus, den wohl die meisten von uns akzeptieren. — Er hat ihn nur besser durchdacht als manch anderer.

Literaturhinweise

Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt. 2013

Putnam, Hilary: Philosophy in an Age of Science. 2012

Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature. 1979, 2009

Vollmer, Gerhard: Wieso können wir die Welt erkennen? 2003

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Denksport

Denksportaufgaben machen Spaß. Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit nutzte ich sie zum Einstieg in das schöpferische Denken, ein Weg, der auch von den Studenten sehr geschätzt wurde. Kürzlich bin ich wieder über ein paar Rätsel gestolpert und nehme das zum Anlass, über meine Erfahrungen mit Denksportaufgaben zu berichten; nicht alle sind zu jedem Zweck geeignet.

Logikrätsel

Raymond Smullyan (1919-2017)  hat viele Logikrätsel publiziert. Sie sind bestens geeignet für die Einführung in die Informatik und insbesondere für das Einüben logischer Schlussweisen.

Ich zähle diese Logikrätsel zu Kategorie der Aufgaben: Nach einigen Anfangsschwierigkeiten lassen sie sich durchweg nach Rezept lösen; dem kreativen Denken bleibt nur ein geringer Spielraum. Von Problemen spricht man erst, wenn zwar das Ziel bekannt ist, der Weg dahin aber noch im Dunkeln liegt und nur schwer ans Licht zu bringen ist.

Die folgenden Fragen legt Smullyan seinen Lesern als Einführungskurs in die Welt der Ritter und Schurken vor: Die Ritter und Schur­ken sind die ein­zigen Bewohner einer Insel. Ritter sagen stets die Wahrheit und Schurken lügen kon­sequent.

Frage 1: Kann es auf dieser Insel einen Einwohner geben, der behaupten kann, ein Schurke zu sein?

Frage 2: Kann es einen Inselbewohner geben, der behaupten kann, er und sein Bru­der seien beide Schurken?

Frage 3: Angenommen, ein Einwohner sagt über sich und seinen Bruder: „Min­destens einer von uns ist ein Schurke.“ Zu welchem Typ gehören die bei­den?

Frage 4: Angenommen, er würde statt dessen sagen: „Genau einer von uns ist ein Schurke.“ Welche Schlüsse kann man über die beiden ziehen?

Frage 5: Angenommen, er würde statt dessen sagen: „Mein Bruder und ich ge­hö­ren zum gleichen Typ; wir sind entweder beide Ritter oder beide Schurken.“ Was könnte man dann über die beiden schließen?

Smullyans Rätsel brauchen keine Musterlösung: Hat man das Rätsels Lösung gefunden, überprüft man deren Korrektheit einfach anhand des Texts.

Rätsel für’s Glück

Am liebsten sind mir Rätsel, die ohne Musterlösung auskommen und die darüber hinaus echte Herausforderungen sind: Man quält sich stunden-, tage- oder gar wochenlang damit herum; je größer diese Qual, desto stärker das Glücksgefühl, wenn man schließlich auf die Lösung gekommen ist. Dieser Weg zum Rausch ist kostenlos und vor allem straffrei. Diese Rätsel leben davon, dass der Rätselfreund die Lösung zwar schwer findet, sie aber zweifelsfrei als solche erkennt. Es sind echte Probleme mit Aha-Effekt. Es folgen ein paar Beispiele dazu. Mehr davon auf meiner Seite Schöpferisches Denken – Heuristik.

Zerlegung

Zerlegen Sie eine Milliarde in zwei Faktoren, in denen keine Null vorkommt. Gibt es mehrere Lösungen?

Einbahnstraßen

Stellen Sie sich vor, dass in einem Land alle Städte nur über Einbahnstraßen miteinander verbunden sind. Zwischen je zwei Städten gibt es genau eine derartige Straße. Beweisen Sie, dass es in diesem Land eine Stadt geben muss, die von jeder anderen Stadt entweder direkt oder über höchstens eine weitere Stadt erreicht werden kann.

Platzanweisung

Die Passagiere stehen Schlange, um ein vollständig ausgebuchtes Flugzeug zu besteigen. Die erste Person der Schlange hat ihre Bordkarte verloren. Die Stewardess erlaubt ihr, einen beliebigen der freien Plätze zu besetzen. Falls einer der weiteren Passagiere Anspruch auf einen bereits besetzten Platz hat, darf auch er sich unter den verbleibenden einen beliebigen aussuchen. Wie groß ist die Chance des letzten Passagiers, dass er auf dem Platz landet, der ihm gemäß Bordkarte zusteht?

Selbstbezug

Schreiben Sie eine zehnstellige Zahl, deren erste Ziffer angibt, wie viele Nullen in ihr vorkommen, deren zweite sagt, wie viele Einsen, deren dritte, wie viele Zweien, und so weiter.

Ungerade gewinnt

Bei diesem Zweipersonenspiel geht es darum, von einem Stapel mit 19 Münzen im Wechsel Münzen wegzunehmen. In jedem Spielzug können eine oder zwei Münzen genommen werden. Gewonnen hat, wer schließlich eine ungerade Anzahl von Münzen hat. Für einen der beiden Spieler gibt es eine sichere Gewinnstrategie. Wie sieht sie aus? Wer gewinnt? Derjenige, der anfängt oder der andere?

Zehn Logiker

Im Raum sind zehn Logiker und der Spielleiter.  Der Spielleiter verbindet den Logikern die Augen und malt jedem von ihnen einen farbigen Punkt auf die Stirn. Dann nimmt er die Augenbinden ab und sagt: „Jeder von Ihnen hat einen farbigen Punkt auf der Stirn. Jeder von Ihnen kann mit vollkommener Sicherheit schließen, welche Farbe sein Punkt hat. Sobald jemand weiß, welche Farbe sein Punkt hat, verlässt er den Raum. Reden und Zeichengeben sind nicht erlaubt.“ Nachdem sich die Logiker gegenseitig betrachtet haben, verlassen alle den Raum. Was ist passiert?

Rätsel mit offenem Ende

Es gibt Rätsel, mit denen sogar die Meister des Fachs ihre Schwierigkeiten haben. Bereits die Suche nach einer möglichen Lösung ist nicht ganz ohne Komplikationen und dann stellt sich auch noch heraus, dass die Lösung möglicherweise nicht eindeutig ist. Die Suche geht weiter – vielleicht endlos.

Martin Gardner (1914-2010) stellt im Spektrum der Wissenschaft 2/1980 ein Problem vor, das er selbst als „unmöglich“ bezeichnet: Susanne und Peter sind gut in Mathematik; sie bekommen vom Spielleiter zwei Zahlen zugesteckt. Susannes Zahl ist die Summe zweier Zahlen und y, beide wenigstens gleich zwei; Peters Zahl ist das Produkt dieser Zahlen. Nach einiger Zeit sagt Susanne zu Peter: „Ich sehe keine Möglichkeit, wie du meine Summe bestimmen könntest.“ Später antwortet Peter: „Ich kenne jetzt deine Summe.“ Darauf Susanne: „Nun kenne ich auch dein Produkt.“ Wie lauten die beiden Zahlen x und y?

Martin Gardner hat in seiner Aufgabenstellung den Zahlenbereich begrenzt. Als er die Lösung bekanntgeben wollte, fiel ihm auf, dass unter dieser Begrenzung die Aufgabe gar nicht zu lösen war. Ich verzichte auf eine solche Obergrenze und empfehle nur, mit kleinen Zahlen anzufangen; man sieht dann schon selbst, wie weit man gehen muss, um eine Lösung zu finden.

Julian Havil hat in seinem Rätselbuch von 2008/2009 („Das gibt’s doch nicht“) den Zahlenbereich deutlich erweitert und mit Computerhilfe eine ganze Reihe weiterer Lösungen gefunden. Ich werde keine Musterlösung bringen, aber Hinweise in Richtung Lösung. Der Rätselfreund, der sich den Spaß an der Sache nicht verderben will, überspringt besser den Rest dieses Kapitels.

Lösungshinweise (Achtung: Spoiler!). Zunächst einmal machen wir uns klar, dass die Ausgangszahlen keine Primzahlen sein können, denn dann hätte Peter sofort gesehen, was Sache ist, weil es nur eine mögliche Zerlegung des Produkts in zwei Zahlen gibt, nämlich x und y. Susannes Aussage, dass sie für Peter keine Möglichkeit sieht, die zwei Zahlen und damit die Summe zu bestimmen, setzt voraus, dass die ihr bekannte Summe nicht primbar ist. Eine Zahl nenne ich primbar, wenn es zwei Primzahlen mit genau dieser Summe gibt. Beispiele: 11 ist nicht primbar, 12 hingegen schon, da nämlich 12=5+7.

Da wir Susannes Summe nicht kennen, müssen wir uns über die nicht primbaren Zahlen der Lösung nähern. Die Zahlen 11, 17, 23, 27, 29, 31, 35 und 37 sind nicht primbar. Alle anderen Zahlen kleiner 37 sind primbar, kommen für die Lösung also nicht  infrage. (Es gibt größere nicht primbare Zahlen. Wir hoffen jedoch, dass wir mit den hier genannten auskommen und wenigstens eine Lösung finden können.)

Wenn Peter antwortet, dass er nun die Summe kenne, muss die nicht primbare Summe auch für ihn aufgrund seiner Kenntnis des Produkts eindeutig bestimmt sein. Bei der nicht primbaren Summe 11 sind die Produkte 18 (2 mal 9), 24 (3 mal 8) und 28 (4 mal 7) eindeutig. Alle anderen Zerlegungen dieser Produkte laufen auf nicht primbare Summen hinaus. Dasselbe gilt für das Produkt 52 (4 mal 13) in der Reihe der nicht primbaren Summe 17. Wir kennen nicht Peters Produkt und auch nicht, ob 11 oder 17 die Sache trifft.

Nun kommt Susannes Antwort ins Spiel, dass sie inzwischen das Produkt kenne: Hätte sie die Summe 11, gäbe es mehrere Kandidaten und sie könnte sich nicht sicher sein, um welches Produkt es sich handelt. Eindeutigkeit herrscht bei der Summe 17 und dem Produkt 52. Genau das werden wohl die Zahl sein, die Susanne und Peter genannt bekommen haben. Das gesuchte Zahlenpaar (x, y) ist folglich (4, 13).

Rätsel mit Streitpotential

Eine hochinteressante Sorte von Rätseln ist die, bei denen der Rätselfreund schnell fündig wird: Er kennt nach kurzen Überlegungen die Lösung – seine Lösung. Dann geschieht Wunderliches. Der Rätselfreund erfährt, dass es anderen Rätselfreunden genauso geht: Sie haben ihre Lösung schnell gefunden. Jedoch: deren Lösungen sind nicht die seine! Dieser Situation können Dispute entspringen, die sich teilweise über Jahrzehnte hinziehen. In den Hoppla!-Artikeln Kontroverse um das Drei-Türen-Problem (Ziegenproblem) dauert an und  Dornröschen und die subjektiven Wahrscheinlichkeiten habe ich darüber geschrieben.

Ein Rätsel schleicht sich an

Vor über dreißig Jahren sah ich einen Film mit Sean Connery in der Hauptrolle. Etwas verstörend fand ich den Titel des in einem mittelalterlichen Kloster spielenden Films: „Der Name der Rose“. Das habe ich gleich wieder verdrängt. Aber der Titel kam im Bekanntenkreis zur Sprache, der Rundfunk und die Zeitungen brachten ihn in Erinnerung. Der rätselhafte Titel begann zu wurmen.

Beruflich erfuhr ich vom wissenschaftlichen Werk des Schöpfers: Der Semiotiker Umberto Eco (1932-2016) untersuchte Zeichen und deren Bedeutung. Der Titel muss einen tieferen Sinn haben! Das Rätsel wurde jetzt auch mir offenbar.

Ich sehe inzwischen den Titel in Zusammenhang mit dem Universalienproblem. Letzteres war ein Thema der Scholastik und mithin Thema in den mittelalterlichen Klöstern. Das macht den Titel zu einem Paradoxon: Die Rose hat keinen Namen. (Es sei  denn, man meint eine ganz bestimmte individuelle Rose – im Garten oder in der Vase).

Ein Freund hat seine eigene Interpretation: das Mädchen, das ist die Rose. Es passt: Das Mädchen, eine der Hauptfiguren des Films, bleibt namenlos.

Zumindest in der Denkwelt des Umberto Eco stellt sich das so dar: „Semiotische Objekte sind das rechtwinklige Dreieck, die Frau, die Katze, der Stuhl, die Stadt Mailand, der Mount Everest, der Artikel 7 unserer Verfassung, die Pferdheit – und unter den semiotischen Objekten gibt es auch solche, die durch Eigennamen ausgedrückt werden, und in diesem Sinne sind nicht nur Leute wie Julius Cäsar semiotische Objekte, sondern sogar – angenommen es gibt sie irgendwo – Leute wie Fritz Hinz und Franz Kunz und Lieschen Müller, die ja nicht nur physischen Entitäten sind, sondern […] auch Ensembles von Eigenschaften.“ (Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis. 2019, S. 186)

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Joker Trump

Zwei Ereignisse der vergangenen Woche haben mich bewegt. Der Besuch des Films „Joker“ mit Joaquin Phoenix und die Anhörung der Marie Yovanovitch vor dem Ausschuss des Kongresses im Zuge der Vorermittlungen für ein mögliches Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump. Yovanovitch war bis zu ihrer Abberufung im vergangenen Mai Botschafterin der Vereinigten Staaten in der Ukraine.

Gerade als Yovanovitch beschreibt, wie der US-Präsident das Vertrauen in Amerika unterminiert hat, ergreift der Vorsitzende des Ausschusses Adam Schiff das Wort und erklärt, dass der Präsident sie gerade eben erneut über Twitter angegriffen habe mit den Worten: Alles was Marie Yovanovitch angefasst hat, ging schief („Everywhere Marie Yovanovitch went turned bad“). Die Diplomatin ringt sichtlich um Fassung, aber sie wahrt ihre Würde. Auch Schiff rastet nicht aus und meint ziemlich ruhig, dass einige der Anwesenden die Einschüchterung von Zeugen sehr ernst nähmen.

Das ungeheuerliche  Verhalten des US-Präsidenten macht mich fassungslos – ein Rüpel, wie er im Buche steht.

Aber hoppla! Dieser Mann will genauso wahrgenommen werden. Ich erahne, was hinter seinem Verhalten steckt und beginne, die milde Reaktion des Ausschussvorsitzenden zu verstehen.

Der Präsident der Vereinigten Staaten pflegt seinen Ruf als erratischer Wüterich mit einiger Hingabe. Auch die Kampagne zu den „alternativen Wahrheiten“ passt ins Bild. Es steckt ein System dahinter. Führende Demokraten haben Trumps Spiel offenbar durchschaut: Sie lassen sich nicht provozieren.  Mit ihrer Selbstbeherrschung tun sie mehr für die Demokratie als jeder Sonntagsredner.

Wie funktioniert Trumps Spiel?

Nach dem aktuellen Film „Joker“ habe ich mir den Film „The Dark Knight“ von 2008 wieder einmal angeschaut. Darin wird der Joker in Aufsehen erregender Weise durch Heath Ledger verkörpert. Dieser Film bietet eine mögliche Erklärung für die beunruhigenden Ereignisse vom letzten Freitag in Washington.

Niederträchtig bringt der Joker den Batman Bruce Wayne und den Weißen Ritter Harvey Dent in eine Dilemma-Situation. Dent verliert seine Geliebte Rachel Dawes. Dent, der eigentlich zur Rettung der verkommenen Gotham City auserwählt war, beginnt einen Rachefeldzug und will Selbstjustiz üben. Batman greift ein, Dent kommt ums Leben und Batman nimmt Dents Schuld auf sich, um dessen Ruf zu retten. Batman wird zum Dunklen Ritter. Joker hat es geschafft, die „Guten“ auf sein verbrecherisches Niveau herunterzubringen.

Ich sehe Analogien: Trump zielt meines Erachtens darauf ab, dass seine Gegner zu unüberlegten und niederträchtigen Gegenangriffen übergehen. Dann kann er sagen, dass seine Gegner auch nicht besser seien als er selbst. Das immunisiert ihn und er kann ungestraft Lügengespinste als Wahrheiten ausgeben. Bei seinen Anhängern verfangen diese offenbar. Seine Gegner haben, falls Trumps Rechnung aufgeht, keine wirksame Handhabe dagegen. Es läuft wie bei der Tu-quoque-Strategie des Jokers.

Es gibt auch eine Analogie zwischen den USA und Gotham City: Die desolaten Zustände der öffentlichen Versorgung, unter denen viele zu leiden haben, das Auseinanderdriften von Arm und Reich bilden das Milieu, das den Joker ermöglicht. Diese Lage hat der Joker nicht zu verantworten.

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Dornröschen und die subjektiven Wahrscheinlichkeiten

Mag sein, dass wir, Donald Trump folgend, lernen müssen, mit subjektiven Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Es gibt Wahrscheinlichkeitstheoretiker, die meinen, auf die subjektiven Wahrscheinlichkeiten nicht verzichten zu können. Das Dornröschen-Rätsel dient ihnen als Demonstrationsobjekt. Aber das Rätsel lässt sich allein mit Häufigkeitsüberlegungen bewältigen. Diese Lösung ist intersubjektiv vermittelbar, also objektiv. Die Anwendung der subjektiven Wahrscheinlichkeiten führt hingegen zu unnötigen Diskussionen, wie der Artikel von Pöppe (2019) sehr schön klar macht.

Das Problem

Dornröschen ist höchst vergesslich. Heute schon weiß die Schönheit nicht mehr, was gestern war. Der Prinz hat sie gerade wachgeküsst und sagt: „Am vergangenen Sonntag wurde eine Münze geworfen. Sage mir: Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Münze Kopf zeigt? Ich sage Dir jetzt nicht, welchen Tag wir haben, aber Du sollst wissen, dass ich Dir diese Frage am Montag stelle und,  falls am Sonntag Zahl oben war, auch am Dienstag.“

Welche Antwort sollte Dornröschen geben?

Lösungsvorschlag mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten

Der Subjektivist betrachtet die drei möglichen Ereignisse MK, MZ und DZ. M steht dabei für Montag, D für Dienstag, K für Kopf, Z für Zahl und MK für das Produkt (den Durchschnitt) von M und K, und so weiter. Diesen Ereignissen weist er subjektive Wahrscheinlichkeiten zu. Dabei nutzt er das Indifferenzprinzip: „Wenn keine Gründe dafür bekannt sind, um eines von verschiedenen möglichen Ereignissen zu begünstigen, dann sind die Ereignisse als gleich wahrscheinlich anzusehen.“ (Carnap/Stegmüller, 1959)

Dem Indifferenzprinzip folgend ist leicht einzusehen, dass Kopf und Zahl am Montag gleich wahrscheinlich sind: p(MK)=p(MZ). Der Subjektivist nimmt auch für die Ereignisse MZ und DZ die Gültigkeit des Indifferenzprinzips an und setzt p(MZ)=p(DZ). So schließt er darauf, dass die drei Ereignisse alle dieselbe Wahrscheinlichkeit haben und dass, wegen p(MK)=1/3, Dornröschen diese Antwort geben sollte: „Die Wahrscheinlichkeit für Kopf ist gleich 1/3.“

Zweifel an der Lösung

Die Gleichwertigkeit von  MK und MZ ist leicht einzusehen; sie basiert auf der Annahme einer fairen Münze und diese berechtigt zur Anwendung des Indifferenzprinzips.

Aber hoppla! Wie steht es mit den Ereignissen MZ und DZ? Hier ist mir die Anwendung des Indifferenzprinzips nicht geheuer. Diese Ereignisse finden beide statt, oder keines von beiden. Hier taucht ein neuer Gedanke auf, nämlich dass Dornröschen beim Aufwachen mit einem der beiden Ereignisse zu tun hat und nicht weiß, mit welchem von beiden. Sie kann auf Gleichwahrscheinlichkeit tippen und kommt so zur obigen Lösung.

Aber mir will – anders als beim Münzwurf – dieser Gedankengang nicht ohne Weiteres in den Kopf. Andere Subjektivisten treffen tatsächlich auch andere Annahmen, wie Christoph Pöppe berichtet. Aus deren Sicht könnte sich Dornröschen sagen, dass sich die Chancen, die am Montag fifty-fifty stehen, in der Nacht zu Dienstag nicht ändern können.  Daraus schließt sie, dass sie den Wert ½ nennen sollte – sei nun Montag oder Dienstag.

Objektiv gesehen

Mein Gedankengang folgt der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre; er beruht auf dem Häufigkeitsargument und hat den Vorteil, dass sich sein Resultat mittels Experiment nachprüfen lässt.

Um zu einer Statistik zu kommen, denken wir uns den Versuch n mal. An etwa n/2 Montagen trifft die Antwort „Kopf“ zu. Falls diese Antwort nicht stimmt, folgt ein Dienstag, also ein weiterer Tag, für den die Antwort nicht stimmt. Die Zahl der Befragungstage ist gleich n+n/2. An n/2 Tagen liegt Dornröschen mit „Kopf“ richtig, an allen anderen nicht. Das ergibt eine relative Trefferhäufigkeit von 1/3 für Kopf, und genau diese Zahl sollte Dornröschen  nennen.

Das Gedankenexperiment zeigt, dass die einander ausschließenden Ereignisse MK, MZ und DZ bei mehrmaliger Wiederholung des Versuchs im Grenzfall alle mit derselben relativen Häufigkeit auftreten. Daraus folgt, dass sie für das vergessliche Dornröschen gleich wahrscheinlich sind: p(MK)=p(MZ)=p(DZ). Die Gleichwertigkeit von MZ und DZ ist ein Nebenprodukt der frequentistischen Überlegung. Das Indifferenzprinzip wird dafür nicht gebraucht.

Fazit

Wer bei stochastischen Problemen nicht in Schwierigkeiten kommen will, der sucht am besten nach einer Häufigkeitsinterpretation und nach der Möglichkeit experimenteller Belege für seine Lösungsvorschläge. Ein Beispiel ist das Drei-Tassen-Experiment, mit dem ich meine Söhne von der korrekten Lösung des Ziegenproblems überzeugen konnte.

Subjektive Wahrscheinlichkeiten beruhen auf einer ausgiebigen Nutzung des Indifferenzprinzips. Dabei ist zuweilen nicht klar, inwieweit dessen Anwendung berechtigt ist.

Quellen

Carnap, Rudolf; Stegmüller, Wolfgang: Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit. 1959

Pöppe, Christoph: Mathematische Unterhaltungen. Dornröschen und die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Spektum der Wissenschaft 11/2019, S. 80-84

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Wie verlässlich ist die Wissenschaft?

Vertrauen in Kollaborationen

Mit wohl berechtigtem Stolz überreicht mir ein Freund seine neueste wissenschaftliche Veröffentlichung: Sechs Seiten Inhalt plus eineinhalb Seiten für die Auflistung der insgesamt zweihundert Autoren. Meine nur verhaltene Begeisterung erzeugt bei ihm eine leichte Verstimmung. Dem Klima nicht förderlich ist auch mein Hinweis auf den Ig-Nobel-Preis für Literatur(!) des Jahres 1993, der an die 976 Autoren einer knapp zehnseitigen Medizinstudie ging.

Mein Freund meint, dass heute in den üblichen großen Kollaborationen der Teilchenphysik diese Veröffentlichungskultur gang und gäbe und dass die Qualität der Arbeiten durch kollaborationsinterne Gremien und Verfahren sichergestellt sei.

Ich frage mich: Wohin ist sein Urheberrecht verschwunden? Wie lässt sich in einer solchen Kultur die kreative Leistung von Forscherpersönlichkeiten erkennen? In Berufungsverfahren für Professoren spielt ja die Liste der Veröffentlichungen eine zentrale Rolle. Ich kann den Wert solcher Listen nun nicht mehr erkennen. Daran gezweifelt habe ich ja schon vorher. Wenn ein und dieselbe Veröffentlichung auf den Listen von zweihundert Leuten auftaucht, dann handelt es sich um eine Inflation. Ein Leistungsnachweis kann das nicht mehr sein.

Vor allem ist es eins: Gleichmacherei. Im Abspann von Filmen wird wenigstens mitgeteilt, was die Genannten gemacht haben: Produktion, Regie, Schauspielerei, Maske, Schnitt, Musik, Tricktechnik, Brötchen holen, Leute von Ort zu Ort fahren und so weiter.

Wir alle, auch der Wissenschaftler, sind in fast jedem Fach Laien. Unsere Urteilskraft beruht ganz wesentlich auf Auskünften von Leuten, denen wir vertrauen. Woran soll man sich denn halten, wenn nicht an den guten Ruf großer Namen. Wir verlassen uns auf Institutionen und Redaktionen, deren Verfassungen und Statuten vertrauenswürdige Wissenschaftler und Publizisten an die Front bringen. Von den Publikationsprozessen verlangen wir durchschaubare Kompetenzregelungen und Verantwortungsabgrenzungen, kurz: Transparenz.

Durch Gleichmacherei und durch ein für Außenstehende nicht durchschaubares Qualitätswesen entzieht sich Wissenschaft weitgehend der Beurteilung.

Große Kollaborationen sind heute unvermeidbar, die Autorenvielzahl ist es nicht. Es geht anders. Man kann der Kollaboration beispielsweise einen Namen geben und als eigenständigen Organismus behandeln. Als solcher kann er auch Reputation gewinnen.

Ein berühmtes Beispiel aus dem Fach Mathematik ist das Autorenkollektiv unter dem Namen „Nicolas Bourbaki“. Als Autor des Werkes tritt nur das Kollektiv in Erscheinung. Bei Bourbaki wurde sogar geheim gehalten, wer Mitglied ist.

Verantwortung für das Werk trägt das Kollektiv in seiner Gesamtheit. Und nur ihm gebührt der Ruhm und auch nur das Kollektiv hat einen Ruf zu verlieren.

Eine Kollaboration oder ein Kollektiv kann sich nicht um eine Professorenstelle bewerben. Aber es spricht nichts dagegen, wenn Einzelne heraustreten und durch eigene Veröffentlichungen zu persönlicher Reputation gelangen. Genau das ist bei Bourbaki passiert: Durch mein Studium kenne ich Bücher von Henri Cartan und Jean Dieudonné. Allein ihr Schreibstil macht klar: Das sind Bourbakisten. Inzwischen ist bekannt, dass sie Gründungsmitglieder des Autorenkollektivs waren.

Die Arbeit meines Freundes schätze ich, weil ich etwas über seinen Beitrag zur Kollaboration weiß. Der Bericht der zweihundert Autoren hat meiner Wertschätzung nichts hinzugefügt.

Ich kann den Mitgliedern von Berufungskommissionen oder vergleichbaren Gremien nur raten, sich nicht auf die Längen der von den Bewerbern eingereichten Literaturlisten zu verlassen. Gerade bei Arbeiten mit mehreren Autoren lohnt sich die genaue Nachforschung, welchen Beitrag der Bewerber tatsächlichen geleistet hat.

Suche nach dem Gral

Die meisten Skeptikerorganisationen erklären das kritische Denken und die Wissenschaft zur Basis ihrer Arbeit. Nur so könne man zu verlässlichem Wissen kommen, das es erlaubt, rein illusionäres Denken und Pseudowissenschaft als solche zu erkennen.

Im letzten Hoppla!-Artikel war von Skeptikern die Rede, die verblüfft feststellten, dass manches, was sie als „unwissenschaftlich“ bezeichneten, eben doch Wissenschaft im landläufigen Sinne ist. Umgekehrt steht auch die in Skeptikerkreisen beliebte Beteuerung, das eigene Argument sei „wissenschaftlich erwiesen“, auf ziemlich wackeligem Fundament.

Wir wollen einmal davon ausgehen, dass Wissenschaft das ist, was der Wissenschaftsbetrieb ausbrütet und für glaubhaft erklärt. Wir haben auch eine grobe Vorstellung davon, was unter Wissenschaftsbetrieb zu verstehen ist. Ganz grundlos ist unser Vertrauen in die Wissenschaft nicht, denn immerhin funktioniert die uns umgebende Technik ganz ordentlich, und diese ist das gänzlich praktische Resultat wissenschaftlichen Treibens.

Nicht immer liegt die Sache so klar vor uns, vor allem dann nicht, wenn es um die Erforschung des Scheuen und Flüchtigen geht, um schwache und launische Effekte und um Vorgänge, die mutmaßlich spiritueller Natur sind. Dann kommt die wissenschaftliche Vorgehensweise an ihre Grenzen. Es ist Forschung zu Themen, die vielleicht gar keine sind; sie gleicht einer streng wissenschaftlichen Suche nach dem Gral.

Was beispielsweise die Psi-Forscher treiben, sieht nicht nur nach Wissenschaft aus, es genügt auch den strengen Maßstäben der wissenschaftlichen Arbeitsweise. Dennoch bleibt die Frage, ob das, was sie wissenschaftlich (unter)suchen auch tatsächlich existiert. Dem Skeptiker fällt es nicht leicht, eine Tätigkeit, die sich mit etwas Nichtexistenten befasst, als Wissenschaft zu akzeptieren. Aber genau das ist die Frage: Gibt es Psi wirklich nicht? Im vorletzten Hoppla!-Artikel habe ich herausgestellt, wie eine Pattsituation zwischen Forschern und Skeptikern entstehen kann.

Ähnlich sieht es bei einigen Studien der Karl und Veronica Carstens-Stiftung aus. Darin geht es vornehmlich um die Wirksamkeit der Homöopathie. Aber gerade diese Wirksamkeit stellt der Skeptiker grundsätzlich infrage.  Für ihn ist es die wissenschaftliche Untersuchung von etwas, das es nicht gibt. Aber dennoch ist es augenscheinlich Wissenschaft.

Die Übergänge zur Mainstream-Wissenschaft sind fließend. Denn was ist davon zu halten, wenn ein großes staatlich gefördertes Forschungsprojekt darauf angelegt ist, die Neutrinomasse zu bestimmen? Eine frühe Hypothese lautet, dass diese Masse gleich null ist. Das Projekt hat nun ergeben, dass man mit großen messtechnischen Anstrengungen die Abschätzung der Obergrenze der Neutrinomasse von vormals 2 eV auf 1,1 eV hat senken können. (Gemessen wird die der Masse entsprechende Energie.) Da das Projekt noch weiter läuft, kann man nur hoffen, dass im Laufe der Zeit noch eine Untergrenze für die Masse herauskommt. Damit wüsste man dann wenigstens, dass es den Gral tatsächlich gibt. (Es gibt Schätzungen der Untergrenze auf der Grundlage von Modellen. Direkte Messungen haben so etwas bisher nicht ergeben, wie ich auf Nachfrage erfahren habe.)

Spektakuläres zieht – die Widerlegung nicht

Den Ig-Nobel-Preis 2019 für Psychologie bekam der Würzburger Professor Fritz Strack zugesprochen, und zwar für die Entdeckung, dass ein Stift, quer im Mund gehalten, einen zum Lächeln bringt und dabei glücklicher macht – und für die Entdeckung, dass das nicht stimmt.

In den letzten Jahren hatten mehrere Forscher an Tausenden von Probanden Stracks These überprüft. Neun Studien sahen den Effekt, acht Studien fanden das Gegenteil. Dies wirft ein Schlaglicht auf die Replikationskrise in der Psychologie. „Viele Ergebnisse klassischer Experimente dieses Fachs lassen sich nicht reproduzieren, wenn andere Forscher sie nachzumachen versuchen“ (Christoph Drösser in Zeit online vom 13. September 2019).

Es ist eine viel beklagte Tatsache, dass wissenschaftliche Zeitschriften sehr gern spektakuläre Resultate bringen. Gescheiterte Replikationsversuche haben eine geringere Chance, an die breite Öffentlichkeit zu gelangen. Das verzerrt das, was wir den Stand der Wissenschaft nennen.

Das  Bleistift-Beispiel bringe ich, weil es mir meine eigene Leichtgläubigkeit vor Augen geführt hat. Ich schätze die Arbeiten von Daniel Kahneman sehr hoch ein und ich habe einige seiner Ergebnisse in meine Denkfallen-Studien einfließen lassen. Kahneman ist Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2002. Er vertritt Stracks Bleistift-These im Buch „Thinking, Fast and Slow“ (2011, S. 54).  Ich habe die These zwar nicht weiter verbreitet, aber einfach so hingenommen.  Das hätte ins Auge gehen können. Die Lehre daraus: Ein Skeptiker sollte auch angesichts von Autoritäten seine Kritikfähigkeit nicht über Bord werfen.

Fragwürdige Methoden der Wissenschaft

Von den fragwürdigen Methoden der Wissenschaft war im Hoppla!-Artikel über Psi-Forschung die Rede. Sie bedrohen die Glaubwürdigkeit dessen, was wir den Stand der Wissenschaft nennen. Im Buch „Die Pharma-Lüge“ von 2013 stellt Ben Goldacre die Typen schlechter Studien zusammen. Ich liste hier einige der unethischen Methoden auf und charakterisiere sie ganz knapp.

Offener Betrug  liegt vor, wenn ein Wissenschaftler Messergebnisse fälscht oder gar rundheraus erfindet.

Fishing for Significance. Der Forscher erweckt fälschlich den Eindruck, sämtliche Versuche einer Versuchsreihe sauber protokolliert zu haben, stattdessen hat er, zur Erzielung einer spektakulären Veröffentlichung, eine passende Auswahl getroffen. Das damit einhergehende Publication Bias verfälscht das Bild der Wissenschaft. Eine Variante dieser fragwürdigen Praxis ist das vorzeitige Abbrechen einer Studie, wenn das gewünschte Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist. Auch das Gegenteil kommt vor: Weitermachen, bis sich das gewünschte Ergebnis zeigt.

Vorsortierte Test- und Kontrollgruppe. Der Hoppla!-Artikel Artikel „Schlank in 14 Tagen“ mit Skepsis betrachtet zeigt einen solchen Fall: Es ging um den Wirkungsnachweis für ein Fitnessgerät. Für den Test wurden Produktanwender und Kontrollgruppe nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die Leute der Kontrollgruppe waren im Mittel schlanker und ihre Chance abzunehmen dadurch von vornherein geringer. Von verzerrten Stichproben in der Medizin ist die Rede, wenn Goldacre schreibt (2013, S. 208): „Die meisten Studien, auf deren Basis in der Praxis medizinische Entscheidungen getroffen werden, erproben Arzneimittel an nicht repräsentativen Idealpatienten, die häufig jung sind, nur eine einzige Diagnose vorweisen, kaum andere gesundheitliche Probleme haben und so weiter.“

Zu kleine Stichprobe. Die Aral-Studie, von der ich in meinem Buch „Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System“ (2016) berichte, ist ein Beispiel dafür, wie man mit kleinen Stichproben zu reißerischen und zugleich inhaltsarmen Schlagzeilen kommt. Von den dreihundert Personen, darunter gleich viele Frauen und Männer, haben beim Autokauf zwölf Frauen und nur sechs Männer einen Ford gewählt. Zur Sensation aufgebauscht, liest sich das so: „4 % der Männer und 8 % der Frauen würden als nächsten Wagen einen Ford kaufen“.

Kreative Zielsetzung. Sie ist eine Variante des Fishing for  Significance. Hierbei ist es nicht die Vielzahl von Versuchen, aus denen gewählt wird, sondern es ist nur ein Versuch, der aber nach mehreren Beurteilungskriterien bewertet wird. Im Gesundheitswesen sind das beispielsweise Schmerz, Depression, Lebensqualität, Mobilität, Gesamtmortalität oder auch Sterbefälle nach bestimmten Ursachen. „Messen wir viele Faktoren, sind einige von ihnen am Ende nur aufgrund der natürlichen Zufallsvariation, die in allen Studien auftritt, statistisch signifikant verbessert.“ (Goldacre, 2013, S. 233)

Fragwürdige Forschungspraktiken verzerren den „Stand der Wissenschaft“.

Der Matthäus-Effekt

In Mt 13, 12 steht: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“ Volksnah formuliert: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.“ Der Zurückhaltende spricht vom Matthäus-Effekt.

Vor Jahren machte ich diese Erfahrung: Ich hatte einen wissenschaftlichen Beitrag an eine renommierte Zeitschrift eingereicht. Dort durchlief er das übliche Peer-Review-Verfahren. Der Gutachter empfahl mir, doch noch zwei Artikel eines bekannten Autors zu zitieren. Obwohl der Gutachter anonym blieb, war mir schnell klar, dass es sich um just jenen empfohlenen Autor handeln musste. Er war mir persönlich bekannt.

Manch ein Autor geht noch unverfrorener zu Werke. In der Amazon-Rezension zum Buch „Autopilot im Kopf“ schreibt Rolf Dobelli: „Carl Naughton hätte einen einfachen Ratgeber schreiben können, mit Tipps, wie man Denkfallen umgeht. Stattdessen wühlt er in den Tiefen unseres Gehirns und fördert erstaunliche Erkenntnisse zutage[…] Naughtons fundierte und unterhaltsame Überlegungen hätten eine sorgfältigere Gestaltung verdient, und sein Pech ist, dass das Buch kurz nach Rolf Dobellis Bestseller Die Kunst des klaren Denkens erscheint, welcher dasselbe Terrain beackert.“

Autoren bilden zuweilen Grüppchen und jubeln sich gegenseitig hoch, wie man sieht; und manche bejubeln gar sich selbst.

Auch ohne berechnende Absicht entsteht ein Matthäus-Effekt. Berühmte Autoren hält der unbefangene Leser für gut, nicht weil sie gut, sondern weil sie berühmt sind. Es kommt zu einem weitgehend qualitätsunabhhängigen Rückkopplungsprozess. In der Wissenschaft wirkt dasselbe Prinzip: vielzitierte Autoren müssen gut sein, also zitiert man sie ebenfalls und hofft so auf Anerkennung durch das Establishment. Also: Vorsicht bei der Interpretation bibliometrischer Maße und Ranglisten!

Anstelle der inhaltlichen Qualitäten werden Befindlichkeiten zu den treibenden Kräften. Das Resultat ist dann großenteils ohne Relevanz. Manche Diskussionen zu Wikipedia-Artikeln sind wunderbare Beispiele für derart sinnfreie Dynamik. In mehreren Hoppla!-Artikeln seziere ich die Auseinandersetzung zum sogenannten Ziegenproblem und führe vor, wie sich bewegte Diskussionen entwickeln, und zwar weitgehend unabhängig von den Inhalten.

Der Matthäus-Effekt bringt den Stand der Wissenschaft in Schieflage.

Fazit

Der Skeptiker beruft sich besser nicht allgemein auf den „Stand der Wissenschaft“. Er schaut im Zweifelsfall genauer hin und studiert den einen oder anderen Forschungsbericht und Übersichtsartikel, immer eingedenk der Täuschungsmöglichkeit. Er sucht auch nach Gegenmeinungen. Abwägen und zu einem Urteil kommen muss er schließlich selber. Dass bei diesem Prozess keine absolute Sicherheit entsteht, keine Wahrheit herauskommt, gehört zum Wesen der Wissenschaft.

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Pseudowissenschaft – Kampfbegriff oder mehr?

Kürzlich entspann sich unter Mitgliedern der Skeptikerbewegung eine Diskussion darüber, was man unter Wissenschaft und Pseudowissenschaft eigentlich zu verstehen habe.

Hoppla! Das ist doch das Thema der Bewegung von Anfang an, also seit mehr als drei Jahrzehnten. Das offizielle Ziel der Bewegung ist, dass man aus kritischer, wissenschaftlicher Sicht über Pseudowissenschaften informiert. Und es soll bis jetzt nicht gelungen sein, sich über diesen grundlegenden Begriff Klarheit zu verschaffen?

„Pseudowissenschaft“ klingt abschätzig, nach „falscher Wissenschaft“. Es ist also erst einmal ein Kampfbegriff. Die Skeptikerbewegung nutzt ihn gern bei ihren Angriffen auf fragwürdige Praktiken, Behauptungen und Überzeugungen. Dazu rechnet sie  Homöopathie, Astrologie, Telepathie, Intelligent Design, Quantenmystik und vieles andere. Auch Religion und Esoterik würde man am liebsten mit dem Verdikt „Pseudowissenschaft“ belegen.

Aber es geht nicht nur um Kampf. Hinter dem Bemühen um Klarheit der Begriffswelt steckt auch ein aufrichtiges Erkenntnisinteresse. In der Skeptikerbewegung hat es Tradition, sich um eine Definition des  Begriffs „Pseudowissenschaft“ zu bemühen. Ich halte es für ein gutes Zeichen, dass sich die Skeptiker immer wieder die Frage nach ihrem Selbstverständnis stellen.

Eine ungefähre Vorstellung von dem, was Skeptiker unter Pseudowissenschaft verstehen, liest sich in Kurzfassung so: Pseudowissenschaft ist etwas, das sich als Wissenschaft ausgibt aber keine ist.

Poppers Abgrenzung der Aussagesysteme

Wissenschaft hier – Pseudowissenschaft da. Wir brauchen also erst einmal eine Vorstellung davon, was Wissenschaft ist. Die Skeptiker holen sich Rat bei Karl Raimund Popper.

Popper geht es um Aussagen, Sätze und daraus gebildete Aussagesysteme der Erfahrungswissenschaft. Ein solches empirisch wissenschaftliches System müsse an der Erfahrung scheitern können, meint er (Logik der Forschung, Abschnitt 6). Dieses Kriterium der grundsätzlichen Falsifizierbarkeit dient Popper zur Abgrenzung der wissenschaftlichen Aussagesysteme von den nichtwissenschaftlichen.

Zu den nichtwissenschaftlichen Aussagen zählt Popper die metaphysischen und die pseudowissenschaftlichen (Vermutungen und Widerlegungen, Kapitel 11, Abschnitt 2).

Hier hakt der Skeptiker ein: Aussagen, die sich wissenschaftlich geben, die aber dem Kriterium der Falsifizierbarkeit nicht genügen, sind pseudowissenschaftlich.

Die aus dem popperschen Abgrenzungskriterium abgeleitete Definition der Pseudowissenschaft besitzt den Charme, sehr einfach zu sein. Sie hat nach wie vor viele Anhänger unter den Skeptikern. Intelligent Design gehört nach dieser Definition fraglos zu den Pseudowissenschaften, auch die Quantenmystik und allerlei andere fragwürdige Aussagesysteme. Auch die Religionen hat man so beim Wickel und manchen esoterischen Firlefanz.

Aber halt: Religion und Esoterik treten im Allgemeinen nicht mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auf. Sie nehmen sich also selbst aus dem Rennen; sie gehören zwar ins Reich der Metaphysik, nicht aber ins Reich der Pseudowissenschaften. Pseudowissenschaft und Metaphysik sind nicht deckungsgleich; das kommt jetzt zum Tragen. Den Unterschied hat Popper seinerzeit offenbar nicht scharf genug gesehen.

Es klemmt

Den Philosophen unter den Skeptikern fiel die Unzulänglichkeit des popperschen Kriteriums ins Auge: Manches, was für sie ganz eindeutig Pseudowissenschaft ist, erfüllt die Bedingung der Wissenschaftlichkeit: Die Astrologie macht konkrete Vorhersagen und die Homöopathie macht Heilversprechen. Vorhersagen und Heilversprechen lassen sich überprüfen. Also haben wir es mit wissenschaftlichen Aussagesystemen zu tun.

Für manch einen der Philosophen ist deshalb das Kriterium der Falsifizierbarkeit nicht dazu geeignet, die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu bestimmen. Manche von ihnen verwerfen es rundheraus, andere wiederum weisen ihm eine untergeordnete Rolle zu, als ein Unterscheidungsmerkmal unter vielen.

Metaphysik gegen Metaphysik

Gesucht war eine umfassendere Definition des Begriffes der Pseudowissenschaft, eine, die nicht nur die bekannten unprüfbaren Aussagesysteme des Intelligent Design und der Quantenmystik erfasst.

Führende Skeptiker wagten den Sprung ins Transzendente, sie legten sich eine Weltanschauung zu, die sich gegen die von ihnen abgelehnten Überzeugungen in Stellung bringen lässt, den Naturalismus, nach dem es eine denkunabhängige Realität gibt, die sich von uns auch erkennen lässt. Alles was der Erkenntnis dieser Realität mit ihren unwandelbaren Naturgesetzen dient, ist Wissenschaft. Demgegenüber steht das illusionäre Denken und die dadurch bestimmte Pseudowissenschaft.

So wird eine Metaphysik zum Maßstab der Wissenschaftlichkeit gemacht: Erkenntnisbereiche, die dem Maßstab nicht genügen, sind Pseudowissenschaft. Das Verdikt „Pseudowissenschaft“ wird bei dieser generellen Grundlegung zu einer Allzweckwaffe gegen alle ungeliebten Einstellungen. Endlich trifft es auch Religionen, insofern sie Erkenntnisansprüche erheben, und die Esoterik. Was bleibt, ist ein Kampfbegriff.

Ganz aus dem Auge verloren haben wir  nun, dass eine Pseudowissenschaft sich durchaus als Wissenschaft versteht. Manchem Skeptiker hat diese Einschränkung tatsächlich nie gefallen. Da der Wissenschaftsanspruch jetzt keine Rolle mehr spielen soll, kommt es zu einer Umbenennung. Pseudowissenschaften im soeben beschriebenen Sinne erhalten die Bezeichnung Parawissenschaft. Parawissenschaft umfassen die Pseudowissenschaften im herkömmlichen Sinn.

Aber auch der Begriff der Pseudowissenschaft selbst hat sich durch die naturalistische Begründung verändert: Ob etwas der Wissenschaft entspricht oder aber als illusionäres Denken einzustufen ist, dafür bleibt uns als Maßstab allein der Stand der Wissenschaft.

Abgesehen von der eingebauten Fortschrittsfeindlichkeit hat dieser Ansatz den Mangel, dass er eine unwissenschaftliche Metaphysik gegen die unwissenschaftliche Pseudowissenschaft ins Feld führt. Das kann man für absurd halten.

Aus guten Gründen verabschiedet sich die Skeptikerbewegung von dieser metaphysischen Grundlegung der Begriffe allmählich wieder.

Noch ein Ausweg: Kriterienkatalog

Es wächst die Ansicht, „dass ein einziges Allzweckkriterium zur Abgrenzung nicht zu finden ist“ (skeptiker 3/2010, S. 160). An seine Stelle tritt nun eine ganze Liste von Abgrenzungskriterien. Eine solche findet man im Positionspapier der GWUP zum Thema Parawissenschaft – Pseudowissenschaft vom 5.1.2010.

Neben den philosophischen Hintergrundannahmen sind es Kriterien zu folgenden Stichworten: Freiheit der Forschung, Widerspruchsfreiheit, Prüfbarkeit, Erklärungskraft, Vorhersagekraft, Objektivität, Anbindung an Nachbardisziplinen, Objektivität im Sinne der intersubjektiven Nachprüfbarkeit.

Viele der Kriterien – besser: Merkmale  – sind uns von Poppers Logik der Forschung her vertraut.

In dem Papier heißt es: „Mithilfe dieser und weiterer Kriterien lässt sich in aller Regel eine wohlbegründete Entscheidung treffen, ob ein Erkenntnisbereich den Parawissenschaften zuzurechnen ist oder nicht. Auch wenn eine solche Beurteilung nicht in jedem Fall zu einem eindeutigen Ergebnis führen mag, bleibt sie eine rational vertretbare und gut begründete Abgrenzung. Ein Erkenntnisbereich, der nur zu 70 bis 90 Prozent der zur Analyse genutzten Kriterien nicht erfüllt, kann immer noch zu Recht als Parawissenschaft betrachtet werden.“

Jetzt ist zwar nicht mehr die Metaphysik alleinentscheidend. Dafür ist die Beliebigkeit gewachsen.

Eine Debatte unter Skeptikern

Offensichtlich ist es die Unzufriedenheit mit dieser Situation, die einige Skeptiker bewogen hat, jetzt noch einmal in die Diskussion der Begriffe einzutreten.

  • Ich habe mich schon oft in die Nesseln gesetzt, weil ich etwas als „unwissenschaftlich“ bezeichnet habe, was im landläufigen Sinne eben doch der Wissenschaft entspricht.
  • Die Floskel „nach bewährtem Jahrtausende altem Wissen der Menschen …“ findest Du auch in fast jedem Esoterikbuch.
  • Von zentraler Bedeutung für die Erfahrungswissenschaft ist die grundsätzliche Falsifizierbarkeit. Es geht also um Übereinkünfte nach der Maßgabe, dass Widersprüchliches ausgesondert wird. Diese Auslese führt zur Evolution der Erfahrungswissenschaft. Gemeinsames Merkmal der Wissenschaften ist, dass ihnen soziale Prozesse zugrunde liegen: Wissen bildet sich durch Übereinkünfte. So entsteht objektive Erkenntnis.
  • In der Bewertung von Hypothesen oder Theorien ist Falsifizierbarkeit essentiell. Um (wissenschaftlich) nützlich zu sein, sollte ein Gedanke so präzise und nicht trivial formuliert sein, so dass er sich als falsch erweisen kann.
  • Auch wenn man Falsifizierbarkeit nicht binär sondern graduell deutet, liefert sie uns ein Kriterium, das Wissenschaften und Pseudowissenschaften völlig falsch klassifiziert. Nur ein Beispiel: Die vermeintliche Wirksamkeit der Homöopathie wurde durch hochwertige Studien getestet und damit – in einem ziemlich harten Sinne! – falsifiziert.
  • Es bleibt spannend zu sehen, wie lange es noch dauert, bis die Falsifikationisten dieses gescheiterte Abgrenzungskriterium endlich aufgeben.
  • Natürlich sind die Kernaussagen der Homöopathie ursprünglich wissenschaftliche Hypothesen – warum denn nicht? Sie sind halt widerlegt. Auf Basis dieser widerlegten Hypothesen weiterzuarbeiten, als wäre nichts passiert, das ist pseudowissenschaftlich.
  • Dann verwendest Du nicht das Falsifikationskriterium zur Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft, sondern ein anderes. Nach dem Falsifikationskriterium kann man die Pseudowissenschaftlichkeit einer Hypothese nicht datieren. Eine Hypothese ist entweder pseudowissenschaftlich oder nicht, und das gilt dann für alle Zeit.
  • Wie Du am Beispiel der Homöopathie aber richtig aufzeigst, ist der Status als Pseudowissenschaft oft zeitabhängig. Doch dann ist das Abgrenzungskriterium nicht mehr die Falsifizierbarkeit, sondern Anachronismus bzw. irrationales Festhalten an Überkommenem. Zudem meinen wir, wenn wir von Pseudowissenschaften sprechen, üblicherweise immer die Disziplin der Gegenwart.
  • Durch Widerlegung wird eine Wissenschaft nicht zur Pseudowissenschaft. Weitermachen, als sei nichts geschehen: das ist Pseudowissenschaft.
  • Und damit ist das Falsifikationskriterium vom Tisch. Denn hier geht es ja nicht mehr um Falsifizierbarkeit, sondern darum, dass de facto falsifiziert wurde. Das ist ein anderes Kriterium.
  • Für mich ist das Falsifikationskriterium zentral für die Auszeichnung wissenschaftlicher Aussagen. Der Stand der Wissenschaft besteht aus den momentan akzeptierten wissenschaftlichen Aussagen. Daneben gibt es den Abfallkorb der widerlegten Aussagen. Wer widerlegte wissenschaftliche Aussagen weiterhin vertritt, betreibt in meinen Augen Pseudowissenschaft. „Pseudowissenschaft“ meint demnach nicht die Aussagen an sich, sondern deren Gebrauch.
  • Das Falsifikationskriterium, so wie Popper es vertreten hat, ist kein geeignetes Abgrenzungskriterium für die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Popper hat diese Grenze wohl auch gar nicht allzu sehr interessiert. Poppers Abgrenzungskriterium betrifft die Aussagen an sich. Ihm ging es vor allem um wissenschaftliche Theorien und deren Abgrenzung zur Metaphysik.

Was können wir daraus lernen?

Offenbar ist eine neue Unterscheidung erforderlich: Einerseits sind da Aussagesysteme, Hypothese und Theorien – Sätze eben. Hier greift Poppers Abgrenzungskriterium der Falsifizierbarkeit: Wissenschaft einerseits, Metaphysik andererseits. Die Einordnung eines Aussagsystems als wissenschaftlich ist zeitunabhängig.

Andererseits gibt es die Disziplinen, Arbeitsgebiete mit darin akzeptierten Sätzen, Methoden und Verhaltensregeln. Ob eine Disziplin wissenschaftlich ist, kann sich mit der Zeit ändern.

„Pseudowissenschaft“ ist mehr als ein Kampfbegriff. Er steht für eine bedeutsame Abgrenzung. Als Pseudowissenschaften gelten

  1. metaphysische Aussagesysteme, die mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftreten und
  2. Disziplinen, die bereits widerlegte wissenschaftliche Aussagen weiterhin vertreten.

(In einem früheren Aufsatz über Pseudowissenschaft steht der Begriff „Parawissenschaft“ in der damals innerhalb der Skeptikerbewegung gebräuchlichen Bedeutung. Diese hat sich inzwischen verändert. Ich habe mich vor Jahren entschlossen, auf den Begriff zu verzichten und mich von der damit verbundenen Stoßrichtung abzuwenden.)

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